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In diesem Band habe ich 48 Kurzgeschichten, Erzählungen und andere Kurzprosastücke zusammengestellt. Diese reichen bis in den Anfang der 90er Jahre des letzten Jahrtausends zurück. Das 3.Jahrtausend begrüße ich gleich mit einer sarkastischen Kolumne. Ich bin fest davon überzeugt, dass die Welt nicht am Horizont endet. Deshalb thematisiere ich auch gerne meine eigenen Marotten und Schwächen, die ich meinen Protagonisten aufbürde, und mache mich dann gerne auch darüber lustig. Man ist ja nicht mehr der Typ von damals, der so merkwürdige Dinge gemacht hat. Aber nicht alle menschlichen Merkwürdigkeiten, über die ich schreibe, stammen aus meinem eigenen Lebensfundus, sondern aus sorgfältigen Beobachtungen des Geschehens in meinem Umfeld. In einigen Geschichten überzeichne ich menschliche Eigenheiten und Schwächen bis ins Groteske. Menschliche Eigenheiten liebe ich besonders, weil genau das die Menschlichkeit ausmacht. Nehmen wir die Geschichte: "Der pedantische Fluggast." Diese Geschichte schildert in minutiösem Detail die Beobachtung eines korpulenten Passagiers, der sich mit penibler Präzision dem Ritual des Essens während eines Fluges widmet. Manchmal gibt es auch grob betrachtet alberne Geschichten, die genauer gesehen letztendlich gar nicht ganz so albern sind. Betrachten wir: "Aus dem Leben eines Kaugummis." Hier wird eine völlig belanglose Sache aufgebauscht und dramatisch erzählt. Man kann sagen, es gibt eine Wichtigkeit des Belanglosen. Auch das ist menschlich. Ich behandele in meinen Geschichten gerne auch psychologische oder philosophische Aspekte wie z.B. in "Der Feuervogel", in der die Eignung des Homo Sapiens als Krone der Menschheit kritisch hinterfragt wird. Ich drücke mich auch nicht vor psychologisch verstörend wirkenden Erzählungen. Wer z. B. „Das Kindergrab“ liest wird da zustimmen. Verstörend wird es immer dann, wenn menschliche Kälte oder Abgestumpftheit ins Spiel kommt. Ich gebe auch Wissenschaftlern ungeheure Möglichkeiten an die Hand und beschreibe die Überforderung des Menschen beim Umgang damit, z. B. in der Geschichte: „Unsterblichkeit für eine Elite“ oder auch in "Ende eines Chromosoms". Es ist unmöglich, in wenigen Worten die Bandbreite der Geschichten vorzustellen. In Motivationen, Hintergründe und Erläuterungen, einem umfangreichen Anhang, gebe ich Einsicht in die Entstehung dieser Geschichten. Hier findet der Leser auch die Hinweise zur Entstehungszeit der Beiträge. Ich habe mich bemüht, meine eigenen Texte so zu beurteilen, als würde ich fremde Texte analysieren. Das ist natürlich gar nicht so einfach, gerade wenn hinter einem Text ein wahres Erlebnis steckt. Der Text ist aber in der Regel nicht das Erlebnis selbst, sondern eine ausgedachte Geschichte, in die ich die Charaktere und die Zusammenhänge des Erlebnisses verwende und oft pointiert überzeichne. Ich beschreibe keine tatsächlich lebenden Personen. Mit diesem Anhang sollte es dem Leser möglich sein, auch die Bedeutung der schwierigeren oder auch scheinbar belanglosen Beiträge nachzuvollziehen. Ich lade euch ein, mich und meine Geschichten zu hinterfragen.
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Seitenzahl: 424
Veröffentlichungsjahr: 2025
Erich Romberg
Kreise und Horizonte
Unsterblichkeit für eine Elite
Kurzgeschichten
Widmung
Dieses Buch widme ich meiner ziemlich genau 20 Jahre alten Familie: Silvia, meiner Tochter Sarah und meinem Sohn Eric. Sie haben mir nach langem Herumirren in der Welt einen festen Platz in diesem Universum gegeben. Sarah hat mich mit 4 Jahren gelehrt, wie Kinder ticken. Bei meinem Sohn Eric konnte ich zwei Jahre später das Erlernte ausprobieren. Dabei musste ich lernen: Auch Kinder ticken nicht alle gleich. Am besten lässt man sie einfach wachsen und versucht Vorbild zu sein, was auch nicht immer gelingt.
Ich bin jetzt zwar nicht klüger, als zuvor, aber ich kann mit der Ungewissheit besser umgehen.
Danke, Familie!
Vorwort
In diesem Band habe ich 48 Kurzgeschichten, Erzählungen und andere Kurzprosastücke zusammengestellt. Diese reichen bis in den Anfang der 90er Jahre des letzten Jahrtausends zurück. Das 3.Jahrtausend begrüße ich gleich mit einer sarkastischen Kolumne.
Ich bin fest davon überzeugt, dass die Welt nicht am Horizont endet. Deshalb thematisiere ich auch gerne meine eigenen Marotten und Schwächen, die ich meinen Protagonisten aufbürde, und mache mich dann gerne auch darüber lustig. Man ist ja nicht mehr der Typ von damals, der so merkwürdige Dinge gemacht hat.
Aber nicht alle menschlichen Merkwürdigkeiten, über die ich schreibe, stammen aus meinem eigenen Lebensfundus, sondern aus sorgfältigen Beobachtungen des Geschehens in meinem Umfeld. In einigen Geschichten überzeichne ich menschliche Eigenheiten und Schwächen bis ins Groteske. Menschliche Eigenheiten liebe ich besonders, weil genau das die Menschlichkeit ausmacht. Nehmen wir die Geschichte:
"Der pedantische Fluggast." Diese Geschichte schildert in minutiösem Detail die Beobachtung eines korpulenten Passagiers, der sich mit penibler Präzision dem Ritual des Essens während eines Fluges widmet.
Manchmal gibt es auch grob betrachtet alberne Geschichten, die genauer gesehen letztendlich gar nicht ganz so albern sind.
Betrachten wir: "Aus dem Leben eines Kaugummis."
Hier wird eine völlig belanglose Sache aufgebauscht und dramatisch erzählt. Man kann sagen, es gibt eine Wichtigkeit des Belanglosen. Auch das ist menschlich.
Ich behandele in meinen Geschichten gerne auch psychologische oder philosophische Aspekte wie z.B. in "Der Feuervogel", in der die Eignung des Homo Sapiens als Krone der Menschheit kritisch hinterfragt wird. Ich drücke mich auch nicht vor psychologisch verstörend wirkenden Erzählungen. Wer z. B. „Das Kindergrab“ liest wird da zustimmen. Verstörend wird es immer dann, wenn menschliche Kälte oder Abgestumpftheit ins Spiel kommt.
Ich gebe auch Wissenschaftlern ungeheure Möglichkeiten an die Hand und beschreibe die Überforderung des Menschen beim Umgang damit, z. B. in der Geschichte: „Unsterblichkeit für eine Elite“ oder auch in "Ende eines Chromosoms".
Es ist unmöglich, in wenigen Worten die Bandbreite der Geschichten vorzustellen.
In Motivationen, Hintergründe und Erläuterungen, einem umfangreichen Anhang, gebe ich Einsicht in die Entstehung dieser Geschichten. Hier findet der Leser auch die Hinweise zur Entstehungszeit der Beiträge. Ich habe mich bemüht, meine eigenen Texte so zu beurteilen, als würde ich fremde Texte analysieren. Das ist natürlich gar nicht so einfach, gerade wenn hinter einem Text ein wahres Erlebnis steckt. Der Text ist aber in der Regel nicht das Erlebnis selbst, sondern eine ausgedachte Geschichte, in die ich die Charaktere und die Zusammenhänge des Erlebnisses verwende und oft pointiert überzeichne. Ich beschreibe keine tatsächlich lebenden Personen.
Mit diesem Anhang sollte es dem Leser möglich sein, auch die Bedeutung der schwierigeren oder auch scheinbar belanglosen Beiträge nachzuvollziehen.
Ich lade euch ein, mich und meine Geschichten zu hinterfragen.
Prolog
Ein Traktat zur Kunst und DIE ANDERE SEITE
© Erich Romberg, 1998
DIE ANDERE SEITE
Du bist Dir nur des einen Triebs bewusst; oh lerne nie den anderen kennen! Zwei Seelen wohnen, ach! In meiner Brust, die eine will sich von der anderen trennen;
(Zitat: Goethe, Faust1)
DIE ANDERE SEITE ist die zweite Seele des Künstlers. Er hat die Polarität seines Wesens erfahren, in ihm sind Ying und Yang, mütterliches und väterliches Blut, Glücks- und Leidensfähigkeit, sind Abel und Kain sowie Göttliches und Teuflisches. Sein sind zwei Wesen, die das enge Korsett des Körpers sprengen möchten, die er nur unter Kontrolle halten kann, indem er sie als seine Wesensart akzeptieren und lieben lernt, die Polarität als untrennbare Einheit anerkennt, und sie nicht als Zerrissenheit missversteht.
In der Kunst manifestiert sich diese Einheit.
Für den Künstler gilt: Verleugne nicht Deine ANDERE SEITE; unterdrücke nicht die dunkle Seite in Dir, wie die Philister es machen; banne sie auf die Leinwand, schleudere sie auf Papier oder schlage sie in Stein; schockiere die Philister, in dem Du Ihnen DIE ANDERE SEITE, ihre ANDERE SEITE vor die Nase setzt. Durch die Kunst lässt sich erfahren, dass Dunkelheit und Schatten nur durch das Licht geboren werden. So wie Ratio und Irr-Ratio einander bedürfen, wie Raum und Zeit erst durch das Licht und die Materie ihren Sinn erhalten, so wird erst durch die Kunst DIE ANDERE SEITE offenbar, kann der Künstler diejenigen unter uns erreichen, die auch DIE ANDERE SEITE erfahren haben.
Die Kunst ist Ausdruck der Wahrheit und DIE ANDERE SEITE ist Teil dieser Wahrheit.
Meine 2000 Kolumne
Ich weiß, es ist nicht besonders originell, wenn es mich jetzt überkommt, auch noch eine Jahrtausend Kolumne zu schreiben.
Ich reihe mich ein in die abertausend Kolumnenschreiber, die ausgerechnet darüber nachdenken, was im dritten Jahrtausend auf uns zukommt, was wir erwarten, wünschen, fordern. Ich schäme mich dieses Mal auch nicht, ein Teil der großen Kolumnenschreiber-Herde zu sein; denn dieses Ereignis zu erleben ist so unglaublich, dass es angemessen wäre, wenn jeder, der auch nur einigermaßen der Schriftsprache mächtig ist, seine Zweitausend-Kolumne schreiben würde.
Wir überschreiten die Schwelle in ein vermeintlich modernes drittes Jahrtausend, und noch immer gibt es weitaus mehr Analphabeten als auch nur im Ansatz des Schreibens mächtige. Ich gehöre also einer Elite an, die mindestens ihren Namen schreiben kann, in dieser zu einer besonderen Klasse, die wesentlich mehr als das beherrscht und vor denen zeichne ich mich darüber hinaus noch dadurch aus, dass ich mich sogar an einer Zweitausend-Kolumne versuche.
Wie dankbar muss ich also bereits im ausklingenden Millennium sein, dass ich zu einer elitären Herde von Kolumnenschreibern gehöre. Genau diese Dankbarkeit kratzt ein Problem an, dessen ich mir in diesem Augenblick bewusstwerde. Ich habe Dankbarkeit verlernt, genauso wie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eine große Zahl der vielen Kolumnisten.
Viel zu viel ist uns selbstverständlich geworden, so dass wir normalerweise nicht einmal ansatzweise darüber nachdenken, wie wenig selbstverständlich die Errungenschaften der Neuzeit für die Mehrheit der Weltbevölkerung sind. Selbst das Banalste ist nicht die Regel. So gilt folgendes heute noch als normal:
• Kriege werden geführt, auch wenn sie noch nicht bei uns hier stattfinden. Sollen wir darüber froh sein?
• Es leben Millionen von Menschen ohne ausreichendes Obdach, eine Halbemillionen allein im Wohlstandsland Deutschland.
• Abermillionen Menschen hungern und verhungern jedes Jahr,
• Kinder werden ausgenutzt, missbraucht, geschändet und getötet, es wird, es werden, und ... und, ich könnte die Liste beliebig fortsetzen und würde sicher lange kein Ende finden.
Wir werden überhäuft mit Hiobsbotschaften, Katastrophenmeldungen und Kriegsberichterstattungen; Meldungen über Vertreibungen, Menschenrechts Verletzungen, über die Vernichtung von Leibern und Seelen, und doch sind die öffentlichen Paukenschläge nur die Spitze eines riesigen Eisbergs.
Wehe all den vielen kleinen Katastrophen, wenn selbst die lauten Töne ungehört verhallten.
Stelle ich mir leise und verschämt die Frage, was mich und meine Nichtleidens-Genossen vor all diesen Unglücklichen auszeichnet, so muss ich demütig eingestehen: Ich habe keinen eigenen Verdienst daran, ich bin nur zur richtigen Zeit am richtigen Ort in die Welt gesetzt worden. Beinahe jeder um mich herum ist zur richtigen Zeit am richtigen Ort in die Welt gesetzt worden; dennoch dröhnen mir die Ohren von all den Wehklagen der unglücklichen Glücklichen.
Wenn wir also einmal, ignorant wie wir sind, die Straßenkinder in Rumänien außen vorlassen oder die Kinderprostitution auf den Philippinen, d.h. die Kinderschändung nicht zuletzt durch unsere Landsleute, verdrängen, so müssen wir uns fragen: Was ist falsch gelaufen in dieser richtigen Zeit am richtigen Ort? Man würde sicher auch nicht der Wirklichkeit gerecht, wenn all das Leid der persönlichen Katastrophen in unserem Wohlstandsgefüge mit dem Hinweis auf die Elendsbereiche in dieser Welt heruntergespielt würde. Erlaube ich mir also für eine Weile die Ignoranz, im Elend unseres eigenen Überflusses zu verharren. Dieses Elend ist nicht eingebildet. Mir wird das immer wieder bewusst, wenn ich einen Menschen im Abfall nach etwas Essbarem suchen sehe, einen ausgemergelten gelben Junkie zusammengekauert auf einer Bank im Bahnhofsbereich oder sonst wo beobachte. Es schlägt mir entgegen, wenn ich ein Mädchen sehe, in einem Alter, in dem ich meine ersten scheuen Blickkontakte mit dem anderen Geschlecht austauschte, ein heranreifendes Kind also, dass seinen kindlichen Körper den gierigen alles fressenden Männern feilbietet, um sich den nächsten Schuss zu verdienen. Es ekelt mir ins Gesicht, wenn ich die feisten fetten Bürger kopfschüttelnd ob dieser Zumutung ansehen muss, weil dieses Elend die Idylle der Weihnachtseinkäufe stört. Man hatte sich gerade freigekauft, wenn man einem alten Obdachlosen, der offensichtlich in seinem Alter, mit seiner Behinderung, in seiner Verwahrlosung wirklich nicht mehr arbeiten konnte, mit großzügiger Geste ein Fünfzigpfennigstück, eine Mark oder gar ein Zweimarkstück in die Hand drückte. Um wie viel besser dem Wohltäter doch jetzt das Fünfmarks - Würstchen, der Sechsmarks - Punsch oder Champignons auf dem Weihnachtsmarkt schmecken. Wie ultimativ doch der Kick beim Kauf des Schunds für Neunundvierzigfünfzig ausfällt, hat man doch gerade eben seinen Beitrag zur Rettung dieser Welt vom Elend geleistet. Die Intellektuellen unter uns können dann nach drei bis vier Tassen Glühwein oder Punsch in das Kabarett gehen, um lauthals lachend zu brüllen oder intelligent zurückhaltend zu schmunzeln, abhängig davon, ob man die abgedroschene Sozial- oder Gesellschaftskritik verstanden hat oder nicht, um sich den virtuellen Intelligenzorgasmus abzuholen. Jetzt ist man gerüstet für das neue Jahrtausend. Weihnachten kommt und geht. Das Hässliche ist draußen. Es kann gesuhlt werden in familiärer heiler Welt, die Tränen der Sentimentalität fließen im weihnachtlichen Hochgefühl in Strömen, proportional zur Menge des genossenen Alkohols. Die zerstochenen Venen des Abschaums sieht man hier nicht, selbst wenn es die eigenen Kinder sind - sie sind aus der Art geschlagen. Die Wohlgeratenen packen ihre Geschenke aus und freuen sich vorschriftsmäßig brav. Um das Elend draußen muss sich Politik und Polizei kümmern.
Wenn man mich nun fragt, was ich mir für das neue Jahrtausend wünsche, dann kann ich nur sagen:
Solange die Sorge der Menschen sich darauf reduziert, ob aufgrund des Zweitausend-Problems die Automaten der Banken am Ersten Januar Geld ausspucken oder nicht, wünsche ich mir ein großes Rad, an dem wir die Zeit um tausend Jahre zurückdrehen können, um eine neue Chance für die Entwicklung einer wirklichen Menschlichkeit bis zum Dritten Jahrtausend hin zu bekommen.
Analyse
Der Traumdesigner
In jener Zeit, als die Menschen noch Träume hatten, gab es einen Künstler von besonderer Art. Er war der einzige Traumdesigner weit und breit. Der Ruhm seiner Kunst ging weit über die Landesgrenzen hinaus, mehr noch, sein Ruhm überwand Raum und Zeit. So war es kein Wunder, dass dieser Ruhm bis in unsere Gegenwart vordrang.
In dieser Gegenwart gibt es keine Träume mehr, und was die Menschen für Träume halten, sind lauter Illusionen. In dieser traumlosen Gegenwart gibt es einen Mann, der den Täuschungen misstraute, der aber nicht wusste, dass Illusionen keine Träume sind. Er lebte im Meer der Möglichkeiten, doch der Sog der Illusionen ist zu stark, um eine von ihnen zu ergreifen.
Da dringt der Ruhm des Traumdesigners an sein Ohr. Es ist zunächst nur ein flüchtiges Wehen, eines der Elemente aus dem Meer der Möglichkeiten. Doch dieses zarte Lüftchen entfachte sich zum Sturm, und mit einem Mal wird ihm klar, dass seine Illusionen keine Träume sind. Er entschließt sich, diese eine Möglichkeit zu ergreifen, um sich einen wirklichen Traum erschaffen zu lassen. Er wirbelte durch den Strudel der Zeiten, um dort zu landen, wo der berühmte Künstler wirkte. Sofort suchte er diesen auf, um sich einen gewaltigen Traum erschaffen zu lassen.
Doch so einfach konnte man den Traumdesigner nicht engagieren. Als der Mann aus der Gegenwart dort vorsprach, war der Künstler äußerst desinteressiert.
„Du bist nicht qualifiziert, dir einen Traum von mir erschaffen zu lassen. Gehe hin, und erwerbe die notwendigen Qualifikationen.“
Der Mann aus der Gegenwart fragte, wie man sie erwerben könne.
Der Künstler aber antwortete:
„Das musst du selbst herausfinden, es ist ein Teil der Qualifikation.“
Schon überlegte der Mann, ob er nicht in seine Welt der Illusionen zurückreisen solle, denn für Illusionen muss man sich nicht qualifizieren. Doch dann besann sich der Mann und sagte zu sich selbst:
„Bin ich so lange im Nichtsein herumgetrieben“, denn so nannte man das Meer der Möglichkeiten, „um hier bei der ersten Schwierigkeit zu kapitulieren?“
Der Mann aus der Gegenwart entschloss sich, die notwendige Qualifikation zu erwerben. Da er aber noch nicht wusste, was er zu tun habe, fragte er einen Gesellen des Künstlers. Dieser sagte:
„Die Qualifikation ist unsagbar, aber einen Rat gebe ich dir: Suche nach der blauen Blume und bringe sie mir.“
Nun war der Mann aus der Gegenwart ratloser als je zuvor. Deshalb fragte er den Lehrling des Meisters nach der blauen Blume. Der Lehrling jedoch sagte:
„Du kannst die blaue Blume nicht finden, denn der Garten, in dem sie gedeiht, ist nicht von dieser Welt. Ich kann dir aber einen Rat geben. Die blaue Blume muss dich finden. Wenn sie dich gefunden hat, bringe sie zu mir.“
Der Mann aus der Gegenwart fand seine Aufgabe schwieriger als je zuvor. Also zog er aus, die blaue Blume zu suchen, die man nicht finden konnte, die ihn finden sollte. Er wanderte Tage und Wochen, überquerte Hügel und durchmaß Täler, fragte Land und Leute nach der blauen Blume, doch niemand konnte ihm Auskunft geben. So kam er eines Tages erschöpft zu einem kleinen Bauernhaus. Er hatte nur noch den einen Wunsch, auszuruhen. Mit letzter Kraft klopfte er an die Tür, und die Tür öffnete sich, doch niemand hatte sie geöffnet. Da er keine Kraft mehr hatte weiterzureisen, trat er in das Haus und fand einen gedeckten Tisch.
Er war hungrig und ließ sich nieder, um vom reichlich vorhandenen Brot, Fleisch und Wein zu nehmen. Als er gesättigt und sein Durst gestillt war, ging er in einen Nebenraum und fand ein gerichtetes Bett. Er dachte noch, dass dies doch alles nicht wahr sein könne, aber er war zu müde, um der Sache auf den Grund zu gehen. Deshalb ging er zu dem Bett, um seine müden Glieder auszustrecken. Es dauerte wenige Minuten und er war in einen tiefen Schlaf gefallen. Und da träumte ihm, dass die Tür zu seiner Schlafkammer sich öffnete, und eine junge Frau an sein Bett trat. Er konnte diese Frau nicht erkennen, und dennoch konnte er sich des Eindrucks nicht erwehren, dass er sie kannte. Je mehr er sich bemühte diese Frau zu erkennen, umso undeutlicher erschien sie ihm. Doch dann fasste er sich ein Herz und fragte sie nach der blauen Blume. Mit einem Mal sah er sie klar und deutlich vor sich.
„Ich habe so lange auf dich gewartet, mein Geliebter“, sagte sie.
Und tatsächlich strahlte ihr Gesicht aus einer wunderschönen Blume, deren strahlendes Blau ihn blendete, doch er konnte seine Augen nicht mehr abwenden. Sie stand auf einer Wiese mit vielen wundervollen Blumen, doch für ihn gab es nur diese eine, diese zu pflücken war sein sehnlichster Wunsch.
Er erwachte aus seinem Schlaf und wusste, dass seine blaue Blume ihn gefunden hatte. Er eilte zurück durch Täler und über Berge, um freudig zum Hause des Meisters zurück zu eilen. Er bedankte sich bei dem Lehrling für seinen Rat, sagte ihm aber, dass er ihm die blaue Blume nicht geben könne. Er traf den Gesellen und sagte ihm das Gleiche. Dann stand er dem Meister gegenüber, und dieser lächelte. Er ergriff die Hand des Meisters, mit Tränen in den Augen sagte er ihm:
„Meister, dir vor allem danke ich für diesen wundervollen Traum.“
Doch der Meister hob beschwichtigend seine Hände und sagte:
„Diesen Traum hast du selbst erschaffen, ich war nur dein Gehilfe. Bringe die blaue Blume zurück in deine Welt, und die Wirklichkeit wird das gelungenste Design deines Traumes sein.“
Analyse
Dort, wo der Himmel das Land berührt
Die Nacht ist klar und kalt. Fühlbar hat sich Stille über das Land gelegt, nur Leos vertrautes Hecheln durchbricht sie. Er sucht meine Nähe und manchmal spüre ich seinen Körper an meinem Bein. Die Sterne des Universums erfüllen heute eine ganz private Aufgabe; ich weiß, dass sie heute nur für Leo und mich dort oben leuchten. Verstreut liegen Häuser und Hütten, von einem ästhetischen Gott in die Landschaft gemalt. Den Blick noch in das Licht der Unendlichkeit gerichtet tragen mich meine Schritte weiter. In der Nacht lässt der Weg hinunter zum Glore River tausend Dinge in mir entstehen und vergessen; deshalb liebe ich diese späten Spaziergänge.
Plötzlich steht da ein altes, verschrumpeltes Männlein. Begegnungen zu solch später Stunde sind hier selten.
„Ich habe dich erwartet, wie geht es dir? “ spricht es mich an. Eine seltsame Begrüßung; ich kenne es nicht.
„Nicht schlecht“, antworte ich überrumpelt und versuche mich zu erinnern, falls es etwas zu erinnern gibt.
„Es ist schon spät, der Fluss da unten wartet auf uns“, fährt es fort.
„Die Glore?“, frage ich überflüssigerweise. Das Männlein verharrt eine Weile, dann sagt es:
„Ja, ja, mein Fluss, unser Fluss.“
Ich habe mich gefangen und sage, dass ich mich nicht an ihn erinnere.
„Ich bin, wer ich bin - Támé tú Féin.“
Seltsame Worte und ein seltsamer Name, ich weiß, dass ich ihn noch nie gehört habe. Ich frage ihn, wo er wohne.
„Dort, wo der Himmel das Land berührt“, spricht der Alte mehr zu sich selbst als zu mir. Er scheint es zu lieben, vage zu bleiben und deutet mit seinem knochigen Finger auf Leo:
„Das ist ein netter Hund.“
Als hätte Leo ihn verstanden, schmiegt er sich an ihn. Er scheint den Alten zu mögen, denn diese Zutraulichkeit zu Fremden ist ungewöhnlich für ihn. Der Alte tätschelt seinen Kopf. Wir reden über meinen Hund, über das Wetter in dieser Gegend und über diese schöne Nacht. Dann blitzen mich die Augen des Alten mit einem Feuer an, das selbst das Leuchten der Sterne zu übertreffen scheint.
„Wir begegnen uns, weil wir für eine kleine Weile die Zeit zwischen uns überwunden haben“, sagt er geheimnisvoll, „wir müssen sie nutzen, indem du mir einen kleinen Gefallen tust, der auch dir nützt.“
Dieses geheimnisvolle Rätselspiel beginnt mir zu gefallen, oder ist es gar kein Spiel? Ich frage vorsichtig, ob ich dazu in der Lage wäre.
„Ganz gewiss, vom Aufwand her ist es wirklich nur eine Kleinigkeit, kaum der Rede wert. Aber es ist sehr wichtig.“
Es fühlt sich seltsam an und ich sage:
„Kleiner Aufwand und große Bedeutung, was ist es?“
„Das möchte ich dir wegen der Bedeutung des Augenblicks erst kurz vorher mitteilen. Aber so viel kann ich sagen: Es ist etwas Gutes. In dem Moment, in dem du es tust, wirst du die Bedeutung erkennen und danach frei sein.“
„Wenn es gut ist, dann soll es so sein.“
„Großartig“, sagt der Alte, „lass uns zur Glore hinuntergehen.“
Er greift mein Handgelenk und zieht mich mit sich. Als ich neben ihm gehe, lässt er es wieder los. Sein Gang ist entschlossen, die Arme schwingen forsch an seinem Körper. Seine Schritte sind lautlos wie die eines Schattens. Die Stille wird wieder nur durch Leos Trippeln und seinem Hecheln durchbrochen, Gedanken rasen durch meinen Kopf. Verstohlen beobachte ich den hutzeligen Schatten neben mir, nichts an ihm deutet darauf hin, was er von mir erwarten könnte. Dann erreicht uns das vertraute Rauschen der Glore, die hier im Tal mit beachtlicher Geschwindigkeit fließt.
Leos Hecheln wird nun vom Rauschen des Flusses verschluckt und wenig später stehen wir auf der schmalen Brücke. Der Alte ist mir vorausgeeilt, hat das andere Ufer erreicht und schwingt sich mit einer Leichtigkeit, die ich ihm nicht zugetraut hätte, über die hier hüfthohe Bruchsteinmauer auf das dahinter liegende Feld. Leo folgt ihm schwanzwedelnd, er liebt diesen Ort. Ich folge ihm und wir laufen eine Weile in Richtung des Flusses auf dem Feld, der Alte immer drei Schritte voraus. Jetzt springt er über eine niedrige Felskante und bleibt nach wenigen Schritten stehen. Der Alte hat sein Gesicht nach Westen gewandt und blickt stumm in die Strömung. Wie angewurzelt, ein knorriger kleiner Baum, steht er da. Ich habe ihn erreicht, traue mich aber nicht, ihn anzusprechen.
Nachdem er sich eine Weile nicht gerührt hat, setze ich mich auf die Uferböschung, schließe die Augen und lasse die Melodie des Fließens auf mich wirken. Ein Hauch von Frieden und Freiheit erfüllt mich, und weder der alte Mann noch Leo stören mich dabei.
Fast glaube ich, er höre die stillen Legenden dieser klaren Nacht, die berauschende Musik des Flusses, und im synergetischen Erleben des gemeinsamen Genusses liege die Gefälligkeit. Als ich nach langer Zeit aus einer Art Trance erwache, sitzt der Alte neben mir und schaut mich an.
„Hier berührt der Himmel das Land“, sagt er leise flüsternd. Nach einer Weile fragt er im gleichen Flüsterton:
„Bist du bereit, mir jetzt den Gefallen zu tun, dann werde ich es offenbaren?“
„Was soll ich tun?“, hauche ich, die Nacht erlaubt kein lautes Wort.
„Folge mir ins Wasser und reinige mich, wie du es aus der Bibel kennst.“
Seine seltsame Bitte raubt mir den Atem, aber ich sehe an seinem Gesicht, dass er nicht scherzt.
„Ich erwarte nicht, dass du es schon verstehst“, er weiß um meine Verwunderung, „für dich ist das heute keine große Sache, aber für uns bedeutet es viel.“
Er geht die wenigen Schritte zum Ufer und ohne ein weiteres Wort steigt der seltsame alte Mann in den Fluss und kniet sich mitten in die Strömung, das Wasser reicht ihm gerade bis zu den Hüften. Ich mache mir nicht die Mühe, mich meiner Kleider zu entledigen.
Schweigend, gehorsam wie ein Lamm, folge ich ihm. Das kühle Wasser umspült meine Knie, die Strömung zerrt an meinen Beinen. Als ich den Täufling erreiche, hat er die Hände gefaltet und den Kopf gesenkt. Feierlich sagt er: „Tá mé tú féin, uns verbindet nur die Zeit.“
Nach diesen rätselhaften Worten verharre ich noch einen Augenblick neben ihm. Déjà-vu! Ich erkenne, was zu tun ist und ich verstehe, was ich tue. Ich greife seinen Nacken und ziehe ihn sanft nach hinten, willig taucht er unter. Nach wenigen Sekunden schiebe ich auch die andere Hand ins Wasser unter seinen Kopf und hebe seinen Oberkörper heraus. Ohne zu zögern erhebt sich der Alte und sagt mit immer noch gedämpfter Stimme:
„Ich danke dir, mein Junge. Unser Schicksal hat sich erfüllt, wir sind frei. Irrtümer und Torheiten werden unseren Weg begleiten, und mit den Jahren werden wir lernen die Spreu vom Weizen zu trennen. Von meinen Torheiten hast du mich heute Nacht befreit und ich kann zu meinem Ursprung zurückkehren, Gott segne dich.“
Er steigt aus dem Wasser und geht, ohne sich noch einmal umzudrehen, am Ufer entlang den Fluss hinunter. Ich habe die Heiligkeit des Augenblicks erfasst, verharre gedankenverloren und schaue der sich verjüngenden Gestalt des Alten nach. Bald verschwinden ihre Umrisse dort, wo der Himmel das Land berührt.
Analyse
Der Feuervogel
Am Anfang der Zeit erhob sich aus dem Rachen des gewaltigen Vulkans an den östlichen Kreisen der Erde, zusammen mit glühendem Stein und Asche, ein großer schöner Vogel, lange bevor der Urahn unserer Gattung das Wasser verließ.
Myriaden von Jahren hatte das Ei des Feuervogels auf dem Grunde des Vulkans gebrütet um just am ersten Tag der Erdenklichkeit in der brodelnden Glut des Feuers die diamantene Schale zu brechen. So wie die schützende Schale des Eies war das Gefieder des Vogels aus feinsten Diamanten und weit über das Land glitzerte das Feuer seines Kleides.
Tausende von Meilen erhob sich der Feuervogel über dem glühenden Schlund und er trug das Bewusstsein der Welt in sich.
Nachdem er über Tage, Wochen und Monde im steilen Flug den äußersten Erdkreis erreichte, fürchtete er die schützende Kraft der Erde zu verlassen und schwenkte in eine Bahn, auf der er sie fortan umkreiste. Unzählbare Male umflog er die Erde, indessen viele Millionen von Jahren vergingen.
Da der Vogel alles Bewusstsein in sich trug, verging die Zeit nicht vergebens. Er dachte über die Bedeutung seines Seins nach und kam zu dem Schluss, dass all dieses Feuer der Erde der Teil eines großen Ganzen sein müsse, entstanden, um ihn, den Feuervogel, hervorzubringen. Am Anfang war das Ei, dachte er, und dieser Gedanke manifestierte sich in ihm. Im Fluss der Zeit erkannte er hinter all dem Sein eine Bedeutung.
Lange vor seiner Geburt mussten diese Feuer bereits gebrannt haben und die lodernde Glut war kein Selbstzweck. All dies Flackern und Brennen führte zu einem Ziel: Ihn zu gebären und zum Träger des Bewusstseins zu machen.
Es gab viele Feuer im Universum, zahlreicher und gewaltiger als alle auf der Erde und diese sind vor ewigen Zeiten einmal ein großes Ganzes gewesen. Lange nach ihrem Entstehen haben sie sich getrennt, damit mindestens eines von ihnen den Sinn ihres Brennens erfüllen und ein diamantenes Ei hervorbringen konnte.
Nachdem der strahlende Vogel Myriaden von Jahren die Erde umkreist hatte, wurde ihm die tiefere Bedeutung seines Daseins bewusst.
Er hatte die Grenzen seines eigenen Denkens erreicht. Obwohl er glaubte, dass all sein Bewusstsein die Ursache der Existenz war, konnte er doch in den nächsten Jahrmyriaden nicht den Sinn seiner Existenz finden. Er ahnte, dass sich mit ihm allein der Sinn nicht erfüllte. Deshalb entschloss er sich zurückzukehren, um seine Aufgabe zu vollenden.
Aus den tiefen Weiten des Alls stürzte er zur Erde, die mittlerweile eine dichte Atmosphäre gebildet hatte. Wie ein zäher Brei umgab sie diese und als er so unvermittelt darin eintauchte, erhitzte sich das diamantene Gefieder; der Vogel erglühte und ging in loderndes Feuer auf. Als sein Körper die Erde erreichte, war er zu Asche verbrannt.
Und siehe da, aus der Asche stieg der Phönix, schöner und klüger als der alte Feuervogel; doch er trug nicht mehr all das Bewusstsein. Er hatte sich von den Grenzen der Erkenntnis befreit und flog höher hinaus als sein Vater je war.
Ein großer Teil des Bewusstseins blieb zurück auf der Erde. Die Asche vermischte sich in den Sümpfen und nach wenigen Milliarden Jahren kroch eine Echse an Land, die das schlafende Bewusstsein in sich trug. Es dauerte noch sehr lange, bis es erwachte und erkannte, dass es die Ursache des Seins ist.
Das Bewusstsein verteilte sich mit der Zeit auf viele Milliarden Teile, wobei es sich, wie der Phönix, ständig erneuert, um schöner und klüger zu werden als das Alte.
Seit dieser Zeit erblicken unzählige Augen in der Nacht die Sterne und die meisten erkennen nicht, dass sie sich selber anschauen. Die Träger dieser Augen begehen und begehren törichte Dinge und glauben für diese zu leben. Doch der alte Feuervogel wusste von all dem und deshalb hatte er das Bewusstsein so verschwenderisch verteilt.
Eins von Tausenden Augenpaaren einer jeden Generation suchen in der Nacht den Phönix, der mit ihnen das Bewusstsein dieser Welt trägt. Es kommt die Zeit, da er wieder erglüht und das Bewusstsein der Welt sich neu vereint. Aus der Asche wird ein neuer Phönix geboren werden: Größer, gewaltiger und schöner. Er wird wiederum den Sinn des Daseins in sich tragen und seine Brut wird die Erkenntnis sein, lange, nachdem die törichten Dinge dieser Welt verglüht sind.
Am Anfang war das Ei, und am Ende steht die Erkenntnis.
Analyse
Der Junge, der anders war
Es war einmal ein zehnjähriger Junge, der anders war, als andere Kinder. Er wusste nicht, dass er anders war. Deshalb wusste er auch nicht, warum andere Kinder nicht mit ihm spielen wollten.
Er stand am Spielfeldrand und schaute ihnen beim Fußballspiel zu.
Es sah toll aus, wenn sie über das Feld rannten und dem Ball nachjagten. Er wäre gerne mitgejagt, doch niemand mochte ihn dabeihaben. Du kannst das nicht, sagten die Freundlichen, die Bösen, du bist zu doof dafür. Gleichgültig ob sie freundlich oder böse waren, beide wollten ihn nicht mitspielen lassen. Die Schüler durften den Kader selbst zusammenstellen, wenn Turniere anstanden. Da der Junge anders war, hat der Lehrer es geschehen lassen. Auch er glaubte, dass Fußball nicht das Richtige für ihn sei.
Der Junge durfte in der Aufwärmphase beim Training mitmachen, beim Spiel der anderen sollte er aber nur die verschossenen Bälle einsammeln.
Wenn der Junge nach Hause kam war er traurig, doch die Eltern bemühten sich nicht, herauszufinden warum, er war eben anders.
Zuhause hatten sie eine große Wiese und weil niemand mit ihm spielen wollte, spielte er allein mit einem Fußball, wann immer er konnte, und wenn er spielte, war er glücklich. Er machte allein die Übungen mit dem Ball, so wie er es sich abgeschaut hatte und beim Ball jonglieren war er richtig gut. Doch niemand interessierte sich dafür.
Das alles war normal für diesen Jungen und er nahm es hin. Von seinem stillen Leid wusste niemand, nicht die Eltern, nicht die Lehrer, nicht die anderen Kinder.
Doch dann bekam die Mannschaft einen neuen Sportlehrer, der sich beim Training die Leistung der Schüler beim Fußball angeschaut hatte. Da sie die letzten 5 Turniere verloren hatten, beabsichtigte er, die Mannschaft umzustellen. Bei einem Trainingsspiel teilte der Lehrer die Kinder in zwei Gruppen. Als er den Außenseiter der Mannschaft mit den roten Trainingswesten zuteilen wollte, begannen die Kinder zu murren und einer bemerkte halblaut: „Doch nicht den!“ Der Lehrer hatte bereits mitbekommen, dass der Junge als Außenseiter behandelt wurde und ihn der nach seiner Ansicht stärkeren Mannschaft zugeordnet.
Mit dieser Reaktion hatte er gerechnet.
„Was meinst du damit“, fragte der Lehrer den Sprecher herausfordernd.
„Der kann doch nicht Fußball spielen“, erwiderte dieser.
„Wenn das so ist, dann liegt es daran, dass er nie mitspielen durfte und Ihr seid dafür mitverantwortlich, wenn ihm die Praxis fehlt. So wie ich euch aufgestellt habe, seid ihr der Kader für das nächste Turnier. Es liegt in eurem Interesse, dass euer Kamerad bis dahin fit ist.“
Nun musste sich die Mannschaft mit dem Jungen, der anders war, wohl oder übel beschäftigen. Zu ihrer Überraschung war dieser bei diesem Trainingsspiel am Ball gar nicht so ungeschickt. Der Junge wuchs in den nächsten Wochen in den Kader hinein und fühlte endlich Glück.
Am Tage des Turniers sicherte er in der letzten Minute mit einem Traumtor den Sieg der Mannschaft. Jetzt war er ihr Held!
Analyse
Der Junge, der seinen Schatten suchte
Der Junge, Andrew McDonagh, lebte in einem Cottage in den Bergen von Donegal. Eines Tages, es war sein 18. Geburtstag, wurde ihm bewusst, dass er anders war als seine Mitmenschen. Er hatte keinen Schatten. Das war zwar bekannt und er war schon lange ein Einzelgänger und Außenseiter, aber bisher hatte ihn das nicht gestört. Wie aus heiterem Himmel traf es ihn, die Erkenntnis, anders zu sein. Er wurde gemieden, in der Schule saß er allein auf seiner Bank, der Stuhl neben ihm blieb leer. Es war fast so, als hätten sie Angst vor ihm. Andere Außenseiter wurden gehänselt, aber ihm schenkte man nicht so viel Aufmerksamkeit. Es war, als würde er gar nicht existieren.
Andrew verließ die Schule als Bester, aber als er Arbeit suchte, fanden die Inhaber der wenigen ansässigen Firmen viele Ausreden, um ihn abzuweisen. Also blieb er zu Hause und kümmerte sich um den Garten. Jetzt war alles anders, er fühlte sich einsam und verlassen, seine Mutter war sein einziger menschlicher Kontakt.
„Warum habe ich keinen Schatten wie die anderen?“, fragte er am einsamen Geburtstagstisch.
Die Mutter zuckte mit den Schultern und antwortete: „Das kann ich dir nicht sagen. Du bist mit ihm auf die Welt gekommen wie alle anderen, aber man hat ihn dir weggenommen, als du klein warst.“
„Wer?“, rief der Junge verzweifelt.
„Das kann ich dir nicht sagen, mein Junge. Du musst es so hinnehmen, wie es ist.“ Die Mutter nahm seine Hand und fuhr fort.
„Lass die anderen, ich liebe dich, und es macht mir nichts aus, dass du keinen Schatten hast.“
Andrew wurde sehr wütend und entzog seiner Mutter die Hand. Er sprang auf, lief im Zimmer auf und ab und schrie:
„Ich kann so nicht weiterleben. Ich muss fort und meinen Schatten suchen.“
Die Mutter zuckte wieder mit den Schultern und sagte:
„Ich kann und will dich nicht aufhalten, tu, was du tun musst. Aber erwarte nicht, dass ich dich unterstütze, da draußen bist du auf dich allein gestellt. Mache mir später keine Vorwürfe.“
Andrew antwortete nicht und dachte nicht lange nach. Er ging in sein Zimmer und packte seine Sachen zusammen. Als er seiner Mutter zum Abschied einen Kuss auf den Mund geben wollte, wandte sie sich ab und hielt ihm die Wange hin.
„Ich hoffe, du weißt, was du tust“, sagte sie.
Andrew verließ das Haus, ohne sich noch einmal umzudrehen. Er ging die Dorfstraße hinunter und fühlte sich erleichtert, als er das Ortsausgangsschild hinter sich ließ. Er war viele Kilometer gelaufen, bevor er anfing, über seine Reise nachzudenken. Im nächsten Dorf würde man ihn nicht mehr kennen. Er wusste, wie er es anstellen musste, damit sein Makel nicht auffiel. Sein Herz hüpfte, als er an all die neuen Möglichkeiten dachte, die sich ihm nun boten. Aber auch Sorge kroch in sein Herz. Wie sollte er seinen Schatten finden, er hatte nicht die geringste Ahnung.
Die Sonne stand tief, als er die Stadtgrenze überschritt. Es war die Zeit der langen Schatten und er war froh, dass ihm hier niemand begegnete. Als er den Ortskern erreichte, beschloss er, sich erst einmal einen Job zu suchen, denn er hatte nur ein paar Pfund von zu Hause mitgebracht.
In der Stadt gab es ein Gartencenter, und da er sich mit Gärtnerei auskannte, ging er dorthin und sprach bei der Besitzerin vor. Er zeigte ihr seine hervorragenden Zeugnisse und erzählte ihr von seinen Kenntnissen. Die Chefin fand Gefallen an ihm und gab ihm ein Zimmer, Verpflegung und ein paar Pfund Taschengeld pro Woche. In der folgenden Zeit bewies er, dass er sein Geld mehr als wert war, und da sie ihn an sich binden wollte, verdiente er schon nach einem halben Jahr so etwas wie einen richtigen Lohn.
Niemand bemerkte, dass er keinen Schatten hatte. In den ersten Monaten dachte er noch oft darüber nach, wie er ihn finden könnte, aber mit der Zeit vergaß er sein Anliegen mehr und mehr.
Die Leute, die ihn trafen, mochten ihn, weil er ein netter und höflicher Junge war. Die Mädchen im Dorf sprachen bald von dem hübschen Gärtnerjungen.
Alles lief gut, bis eines Tages, es mag zwei Jahre her sein, ein alter Mann den Laden betrat. Andrew war an diesem Tag als Verkäufer eingeteilt.
„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte er den Alten.
„Du musst die Frage andersherum stellen“, antwortete der Alte und sah den Jungen fest an.
„Die Frage ist, ob ich dir helfen kann“, fuhr der Alte fort.
Andrew war verlegen und merkte, wie er errötete.
„Ich, ich verstehe nicht“, stammelte er, „wobei sollten Sie mir helfen wollen?“
„So, so“, sagte der Alte, „fehlt dir wirklich nichts?“
Andrew spürte, wie sich eine Faust in seinen Geweiden krallte.
Der Alte hatte ihn erkannt, aber wie? Das Licht im Laden war so diffus, dass niemand einen Schatten warf. Vielleicht meinte er etwas anderes, deshalb antwortete er vorsichtig:
„Ich wüsste nicht, was.“
Der Alte starrte den Jungen immer noch an.
„Verzeihe“, sagte er, „ich habe mich noch nicht vorgestellt: Ich bin die Verdrängung und ich hatte deinen Schatten. Als du ein kleiner Junge warst, fast noch ein Baby, war ich bei dir und habe ihn mir geholt. Ich wurde gerufen, weil er dir zur Last geworden war.
Immer quälender wurde er für dich, so sehr, dass ein so kleines Kind, wie du es damals warst, es nicht ertragen konnte. Als ich ihn zu mir nahm, musstest du nicht mehr leiden. Es bereitete mir lange Zeit keine Mühe, deinen Schatten zu halten, aber dann wurdest du achtzehn. Er wurde unruhig und widerspenstig und wäre mir fast entwischt. Dann ließ seine Rebellion nach und nach ein paar Monaten war er wieder zahm und fügte sich in sein Schicksal, bis vor ein paar Tagen, als er mir entkam. Ich fürchte, er wird versuchen, dich zu finden, aber wie ich sehe, war er noch nicht hier, ich werde bei dir bleiben und hier auf ihn warten, du hast nichts zu befürchten, wenn du ihn mir überlässt.“
Mit großem Erstaunen hatte Andrew dem alten Mann zugehört. Lange Zeit konnte er nichts sagen, dann riss er sich zusammen.
„Warum soll ich ihn ihnen überlassen?“, fragte er den Alten.
„Warum fragst du? Weißt du nicht, was dich erwartet?
Unerträgliche Schmerzen wirst du erleiden, wenn dein Schatten sich wieder mit dir vereint, vielleicht wirst du sogar vor Qualen sterben müssen. Schatten versuchen immer, mit ihren Besitzern vereint zu bleiben. Das ist gut, solange der Schmerz nicht zu groß wird. Aber manchmal, wie bei dir, muss ich eingreifen und ihn an mich nehmen. Ich achte peinlich darauf, dass sie mir nicht entkommen und ihren ehemaligen Besitzern Schaden zufügen.
Meistens gelingt es mir, sie für immer einzusperren. Die Menschen werden zwar ihr Leben lang nicht glücklich ohne ihn, aber sie leiden nicht. Aber manchmal passiert mir ein Missgeschick, so wie bei dir, dann versucht das dunkle, listige Ding sich wieder mit seinem Besitzer zu vereinen. Ich versuche das mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln zu verhindern, schließlich bin ich dafür verantwortlich. Ich muss dich also bitten - zu deinem eigenen Schutz - mir zu erlauben, die Vereinigung zu verhindern.
Es ist zu vermuten, dass er bereits in unmittelbarer Nähe lauert, nur vor mir schreckt er noch zurück.“
„Ich will meinen Schatten wiederhaben“, rief der Junge aufgeregt,
„was immer er mir antut, es kann nicht so schlimm sein wie das Unglück, das ich empfinde, wenn ich ohne ihn leben muss.“
„Du weißt nicht, wovon du sprichst“, zischte der Alte, „willst du sterben?“ Der Junge antwortete mit der gleichen Erregung:
„Lieber sterbe ich, als unglücklich zu sein, auch wenn ich es in den letzten zwei Jahren kaum bemerkt habe. Wie gern hätte ich mich mit einem Mädchen verabredet, aber irgendetwas hat mich daran gehindert. Jetzt weiß ich, dass ich Angst hatte, sie könnte meinen Makel bemerken. Ich will meinen Schatten und koste es, was es wolle.“
In diesem Moment verdunkelte sich der Raum, und Andrew spürte, wie etwas in ihn eindrang. Plötzlich tauchten Dinge in ihm auf, die er vorher nie bemerkt hatte, und sie taten weh, sehr weh.
„Nein!“, schrie der Junge, „das könnt ihr nicht tun.“ Er kauerte sich zusammen und begann heftig zu weinen, die Tränen flossen wie Bäche aus seinen Augen.
„Das ist er“, rief der Alte wütend. Er stürzte sich auf den Schatten und zerrte an ihm, versuchte ihn zu Boden zu reißen, halb gelang es ihm. Andrew kauerte am Boden und schluchzte, der Schmerz hatte nachgelassen, er fühlte sich leer. Doch der Schatten ließ sich von dem alten Mann nicht mehr bezwingen. Kaum war er ihm entwichen, griff er wieder nach dem Knaben, unvermindert ergriff die Qual von neuem Besitz von ihm, kaum war die Folter zu ertragen, bis der Alte wieder für kurze Zeit die Kontrolle erlangte, dann war die Kraft des alten Mannes erschöpft.
„Lebe wohl“, rief er dem Jungen zu, „ich kann dir jetzt nicht mehr helfen, auch wenn er dich zu Tode quält.“
Andrew starb nicht!
Schmerzhaft war es, als der Schatten sich wieder mit ihm verband, doch die Schmerzen wurden mit der Zeit geringer. Es dauerte zwei Jahre lang, bis er ihn vollends angenommen hatte. Von nun an begleitete er ihn, wo immer er sich hinbegab, es schmerzte nicht mehr, die Wunden waren vernarbt. Unbeschreiblich war das Glück, das Gefühl ihn als sein Eigen bei sich zu wissen. Andrew verliebte sich bald in ein Mädchen, heiratete es, bekam Kinder und wurde glücklich mit seiner Familie. Niemals wieder ließ er den alten Mann über seine Schwelle.
Analyse
Die Flöte
Ich kann Sie nicht einmal richtig spielen. Versteht mich nicht falsch, ich kann sie spielen, aber nicht so, wie ich möchte.
Meine Flöte ist handgemacht, eine echte Overton Tin-Whistle. Ich besitze viele Tin-Whistles, englische aus Stahl, irische aus Messing, in C-Dur, in D-Dur, in jeder Tonart. Sie klingen blechern und schrill, aber keine ist wie Sie.
Wenn ich meine Flöte in die Hände nehme, fühlt Sie sich weich und warm an. Sie ist aus mattem Aluminium und hat eben die sechs Löcher einer Tin-Whistle, aber Sie ist etwas Besonderes. So wie Sie sich anfühlt, so klingt sie auch. Nicht, dass man denkt, Sie sei leicht zu spielen. Ich meine, Sie ist so einfach zu spielen wie eine Tin-Whistle - technisch, aber es ist nicht einfach, ihre Seele anzusprechen. Meine Tin-Whistle hat eine Seele. Man muss Sie also mit Seele spielen, um ihre Wärme und ihr Feuer zu entfachen.
Ohne Gefühl benutzt, blockiert Sie. Sie hört einfach auf, Töne von sich zu geben. Dann klopfe ich Sie aus, denn Sie ist mit Speichel verstopft. Dann spielt Sie eine Weile, aber dann verweigert Sie sich wieder. Sie kann sehr dickköpfig sein, aber an diesen Tagen, wenn Sie sich weich und warm anfühlt, ist Sie willig, dann lässt Sie mich glauben, dass ich Sie spiele, aber Sie spielt mich. Ich schließe meine Augen und halte Sie in meinen Händen, weich und warm. In mir schwingt eine Melodie, die Sie projiziert, eine Wärme, die Sie ausstrahlt, ein Feuer, das den Raum erfüllt. In diesen Momenten sind wir eins, nicht Flöte und Flötist, sondern nur Ich.
***
Nun sitze ich hier, in einer Todeszelle - ohne Sie. Man hatte mir nicht die Zeit gelassen, Sie zu suchen. Ja, ihr könnt mir glauben, im entscheidenden Moment hätte ich Sie suchen müssen. Sie zu vergessen war normal für mich, wie oft hatte ich Sie verlegt. Ich habe zeitweise nicht einmal an Sie gedacht, hatte mein Leben gelebt ohne Sie. Doch von Zeit zu Zeit, nicht selten in schweren Stunden, habe ich Sie vermisst. Ich wurde unruhig und unausstehlich. Ich wollte nur noch meine Flöte finden. Wie ein Besessener habe ich dann nach ihr gesucht, Wohnungen umgekrempelt und Freunde des Diebstahls bezichtigt. In diesen Augenblicken wurde mir bewusst, dass ich ohne Sie nicht leben kann. Ich habe Sie immer wieder gefunden, Sie hat mich dann verwöhnt mit ihren schönsten Klängen, weich und warm hatte Sie sich dann angefühlt. Nie hatte Sie mir diese Vernachlässigungen übelgenommen. Wie oft war Sie gerade nach einer langen Zeit der Unachtsamkeit besonders liebevoll zu mir. In jenen Zeiten schwangen ihre Klänge in einer Resonanz mit den Schwingungen meiner Seele.
Ich sitze hier und warte auf den Tod. Ich glaube, ich habe meinen Vater umgebracht, oder meine Mutter. Vielleicht habe ich sie beide getötet, ich weiß es nicht genau. Man sagte mir, ich sei ein Elternmörder und deshalb müsse ich sterben. Das habe ich eingesehen, denn hier in diesem Land müssen Elternmörder sterben. Dabei haben sie mir beigebracht, dass man Eltern nicht tötet. Ich habe es dennoch getan. Sie haben mich gelehrt, dass man Vater und Mutter ehren und lieben muss, dennoch habe ich sie umgebracht. Nun sitze ich hier und warte auf meine gerechte Strafe. Gestern besuchten mich mein Bruder und meine Schwester.
Ich bat sie darum, mir meine Flöte zu bringen, doch sie haben gesagt, dass ich böse bin, weil ich Vater und Mutter getötet habe.
Diese hätten mich sehr geliebt, aber ich habe es ihnen nicht gedankt. Deshalb verdiene ich es zu sterben. Das habe ich eingesehen. Sie wollten nicht nach meiner Flöte suchen.
Das war gestern, und sie sagten, dass sie nicht wiederkommen werden - vorher.
Ich sitze hier einsam, warte auf meinen Tod, und vermisse meine Flöte. Ich höre Schritte, von denen ich weiß, dass sie zu mir kommen.
Es ist mein Wärter. Er schaut mich voller Mitgefühl an.
„Am Montag wirst du hingerichtet. Das Begnadigungsgesuch ist abgelehnt worden.“
Ich schaue diesem armen Mann in die Augen, er ist sichtlich betroffen.
„Es ist doch nur ein kleiner Schritt“, versuche ich ihn zu trösten.
„Ich weiß“, sagt er, „aber es wäre so leicht, das zu ändern. Mir ist schon so lange bewusst, dass man niemanden hinrichten muss, aber ich kann nichts dagegen tun.“
Ich schaue zu meinem Wärter. Er sitzt zusammengekauert auf meiner Pritsche, ein Häufchen Elend ist er. Er tut mir sehr leid, dieser arme Mann.
Plötzlich ändert sich seine Gesichtsfarbe, er scheint entschlossen zu sein, aber dennoch zeigen seine Augen Hoffnungslosigkeit.
„Lass mich etwas für dich tun - bitte.“
Ich muss nicht überlegen:
„Ich brauche meine Flöte, eine Tin-Whistle aus Aluminium. Ich konnte sie nicht finden, als sie mich abholten.“
In diesem Moment hellt sich das Gesicht des Wärters auf.
„Ist es eine Overton, die sich manchmal weich und warm anfühlt?“
Hoffnungsfroh sieht er mich an. Ich muss ihm nichts mehr erläutern, er ist ebenfalls ein Flötenspieler.
„Ich finde Sie!“, sagt er.
Es sind noch drei Nächte bis Montag, aber ich mache mir keine Sorgen. Mein Wärter wird sie finden.
Am Samstag kommt ein anderer Wärter - er ist kein Flötenspieler.
Er berichtet mir, dass sein Kollege etwas Wichtiges suche, er wisse aber nicht was.
Am Sonntagabend höre ich wieder diese Schritte, von denen ich weiß, dass sie zu mir kommen. Mit strahlendem Gesicht reicht mein Wärter mir die Flöte.
„Nun wird alles gut“, sagt er. Ich nehme Sie und sage: „Ja!“
Er schaut mich an und mahnt:
„Spiele Sie aber erst morgen, wenn sie dich abgeholt haben. Ich werde bei dir sein.“
Ich schaue ihn liebevoll an und beruhige ihn:
„Du kannst jetzt gehen, es ist alles getan.“
Am nächsten Morgen höre ich viele Schritte, von denen ich ebenfalls weiß, dass sie zu mir kommen. Ich halte meine Flöte fest umklammert. Die Zellentür fliegt auf und grimmige Gesichter schauen mich an. Ein wichtig aussehender, schwarz gekleideter Mann liest mir aus einem wichtig aussehenden Dokument vor, dass ich meinen Vater oder meine Mutter, oder beide umgebracht habe. Auf jeden Fall würde ich am Hals aufgehängt, bis dass der Tod eintritt. Sie führen mich durch einen langen dunklen Gang.
Eine unbestimmte Anzahl an Leuten gehen vor mir und eine andere unbestimmte Anzahl gehen hinter mir. Wir betreten einen hohen Raum, in dessen Mitte ein Podest aufgebaut ist. Daraus ragt ein Galgen mit einer etwa fünfzig Zentimeter über dem Boden des Podests baumelnden Schlinge, die aus dickem Seil besteht. Ich weiß, das ist die Schlinge, die um meinen Hals gelegt wird.
Im Vollstreckungsraum sitzen viele Menschen, alle wollen einen Elternmörder sterben sehen. In der ersten Reihe sehe ich meinen Bruder und meine Schwester. In ihrer Nähe sitzen Neffen, Nichten, Onkel und Tanten. Sie alle warten darauf, dass der Bruder, der Onkel oder der Neffe für die Tötung der Eltern, der Tante, des Onkels, des Bruders oder der Schwester hingerichtet wird. Sie alle wissen, dass ich diese Strafe verdient habe.
Als ich oben auf dem Podest stehe, liest dieser wichtig aussehende Beamte aus dem wichtig aussehenden Dokument vor, dass ich den Vater, oder die Mutter, oder beide umgebracht hätte und daher solange am Hals aufgehängt werde, bis dass der Tod eintritt. In der ersten Zuschauerreihe sehe ich Bruder und Schwester applaudieren. Meine Augen suchen nach meinem Wärter, aber sie können ihn nicht finden. Die ganze Zeit halte ich meine Flöte mit der rechten Hand fest umklammert, aber die Abwesenheit meines Wärters beunruhigt mich. Der wichtig aussehende Beamte hat soeben seine Lesung aus eben jenem Dokument beendet. Er schaut mich an und fragt, ob ich noch einen Wunsch habe.
In diesem Moment tippt mir jemand auf die Schulter. Ich blicke mich um und erkenne meinen Wärter, er ist der Henker. Er schaut mir gütig in die Augen und sagt:
„Bitte sie, ein letztes Stück auf deiner Flöte spielen zu dürfen.“
Es wird mir gestattet, und mein Wärter legt mir die Schlinge um den Hals.
„Habe Vertrauen zu mir und zu deiner Flöte“, sagt er.
Ich nehme Sie in beide Hände und Sie fühlt sich weich und warm an. Unbeirrt spielt Sie ‚Das Lied vom Tod’, an dessen Melodie ich mich nie erinnern konnte.
„Vertraue deiner Flöte“, wiederholt mein Henker und zieht den Hebel zur Falltür.
Die Klappe öffnet sich, und einsam verweht die Melodie des Todes im Wind.
Analyse
Warten in Holyhead
Die Fähre nach Dublin Port hatte sich nahezu um drei Stunden verspätet; unvorhergesehene Wartungsarbeiten, konnte man bei Anfrage in Erfahrung bringen. Eineinhalb Stunden vor Mitternacht holperte ich mit meinem Volvo endlich über die Blechbrücke, die als Verbindung zwischen der Inishfree und dem irischen Boden ausgefahren war. Noch etwas verschlafen hielt ich mich am Lenkrad fest und folgte gehorsam den winkenden Leitposten in Richtung Hafenausfahrt.
Ich habe mir die drei Stunden Wartezeit in Holyhead mit Fußball, einem Pint Bitter und 3 Real Ale – so nannte man das naturbelassene Ale - und einem waschechten Waliser Klatsch über einen Lehrer vertrieben, der, gebürtig aus Manchester, nunmehr seit 25 Jahren in Holyhead walisische Schüler indoktrinierte.
George, den Lehrer, hatte ich nach dem Bitter mit der Frage nach dem am meisten zu empfehlendem Ale in ein Gespräch verwickelt.
Erwartungsgemäß bestätigte er mir, dass das Reverend JamesBrown, das naturtrübe, mit einem großen phallusartigen Pin gepumpte Ale, unvergleichlich wäre. Mein nächstes Pint war ein Reverend James Brown. Es ergab sich zunächst das übliche Gespräch: Welche Nationalität? Deutscher; welcher Teil Deutschlands? Bochum; wo ist das? Ein paar Meilen von Dortmund entfernt. Peng! Finale morgen, Borussia Dortmund gegen Manchester United in der Champions-League.
„Keine Chance für Dortmund!”. „Abwarten”.
Ein Pint Reverend James Brown zusammen getrunken, und George erwog: „Vielleicht Unentschieden!“ George musste gehen, Dortmund hätte sonst sicher gewonnen. Jetzt hatte ich noch zwei Stunden Zeit in Holyhead. Niemand hatte unseren Dialog unterbrochen. Fünf Minuten Stille, ich umklammerte mein zweites Reverend James Brown.
„Viel Glück für Dortmund“, vernahm ich unvermittelt von der rechten Seite. Die Stimme gehörte einem untersetzten etwa 50-jährigen Mann mit einer schwarzen Wollmütze ohne Bommel. Ich war sicher, dass ich seine Stimme bisher noch nicht vernommen hatte. Auch jetzt machte er nicht den Eindruck, als hätte er gesprochen. Beinahe bewegungslos stand er dort und blickte Löcher in die Luft.
„Halten Sie nicht zu Manchester?“
Es verging eine Weile, dann sagte er, er bewegte kaum seine Lippen:
„Manchester ist Englisch, wir sind Waliser.“
„Ach so, ja, natürlich.“
Er nickte und schwieg, doch dann:
„Mit George muss man vorsichtig sein.“
„Warum?“
Er sah seinen Nachbarn, einen hageren Mann, eine Weile an, dann nickten sie und der Unbebommelte fuhr fort:
„Er ist Engländer und er horcht uns aus.“
„Ach ja?“
„Man kann das bei ihnen nie wissen“, mischte sich nun der Hagere ein.
„Was spioniert er denn?“, fragte ich neugierig.
Wieder nickten sie sich zu und schwiegen eine Weile. Dann sprach wieder der Bommellose:
„Das weiß man nicht, auf jeden Fall muss man vorsichtig sein.“
„Ja, sehr vorsichtig“, bestätigte nun der Hagere und sagte unerwartet nun auch.
„Viel Glück für Dortmund“ und setzte hinzu: „Du sprichst sehr gut Englisch.“
„Danke, ja, es ist nicht so schlecht.“
„Wirklich gut.“
Nach einer Weile fragte wieder der bommellos Bemützte:
„Bist du zum Urlaub hier?“
„Nein, ich muss die Fähre nach Irland nehmen, ich wohne im County Mayo.“
„Schönes Land, die Iren sind auch Kelten. Magst du Irland?“
„Oh ja, Irland ist ähnlich wie Wales.“
„Ja, Wales ist sehr schön, wir sind auch Kelten“, sagte nun wieder der Hagere.
„Ja, Ihr seid ähnlich wie die Iren, sehr freundliche Leute.“
„Ich glaube, Dortmund wird gewinnen, sie sind sehr gut.“