Unter Briten - Christoph Scheuermann - E-Book

Unter Briten E-Book

Christoph Scheuermann

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Beschreibung

Unterwegs in einem Land voller Exzentriker

Was ist eigentlich mit den Briten los? Um diese Frage zu beantworten, ist Christoph Scheuermann kreuz und quer über die Insel gereist, von Südengland bis in die schottischen Highlands. Er besucht Menschen und Orte, die den Blick freigeben auf die merkwürdigen und manchmal unbegreiflichen Seiten Großbritanniens: Er diniert mit den Fulfords, einer chaotischen Familie aus dem verarmten Landadel, er feiert in Yorkshire mit hysterischen jungen Frauen einen Junggesellinnenabschied, er sucht nach Ufos, vergrabenen Schätzen und dem Geheimnis royalen Smalltalks. Sein Buch ist eine Sympathiebekundung an ein schräges, bisweilen melancholisches Volk, das man trotz – oder wegen – seiner Skurrilität einfach lieben muss.

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Seitenzahl: 265

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Zum Buch

Was ist eigentlich mit den Briten los?

Um diese Frage zu beantworten, ist Christoph Scheuermann kreuz und quer über die Insel gereist, von Südengland bis in die schottischen Highlands. Er besucht Menschen und Orte, die den Blick freigeben auf die merkwürdigen und manchmal unbegreiflichen Seiten Großbritanniens:

Er diniert mit den Fulfords, einer chaotischen Familie aus dem verarmten Landadel, er feiert in Yorkshire mit hysterischen jungen Frauen einen Junggesellinnenabschied, er sucht nach Ufos, vergrabenen Schätzen und dem Geheimnis royalen Smalltalks. Sein Buch ist eine Sympathiebekundung an ein schräges, bisweilen melancholisches Volkes, das man trotz – oder wegen – seiner Skurrilität einfach lieben muss.

Zum Autor

Christoph Scheuermann, Jahrgang 1977, ist seit 2009 beim SPIEGEL, wo er zunächst als Redakteur im Deutschland-Ressort arbeitete und über Terroristen, Salafisten, Neonazis und Banker schrieb. Seit 2012 ist er Großbritannien-Korrespondent des Nachrichtenmagazins. Scheuermann hat Politikwissenschaften, Germanistik und Anglistik in Köln und Birmingham studiert, ist Absolvent der Henri-Nannen-Journalistenschule und Stipendiat des ifa-Instituts in Beirut. Für seine Texte ist er mit dem Axel Springer-Preis für Junge Journalisten und dem Ernst-Schneider-Preis ausgezeichnet worden.

Christoph Scheuermann

Unter Briten

Begegnungen mit einem unbegreiflichen Volk

Deutsche Verlags-Anstalt

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Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

1. Auflage

Copyright © 2016 Deutsche Verlags-Anstalt, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München, und SPIEGEL-Verlag, Hamburg, Ericusspitze 1, 20457 Hamburg

Umschlag: Büro Jorge Schmidt, München

Umschlagmotive: © Art’nLera/shutterstock, © avtor painter/shutterstock (Bulldogge), © Büro Jorge Schmidt (Biergläser)

Typografie und Satz: DVA/Andrea Mogwitz

Gesetzt aus der Fabiol

ISBN 978-3-641-19751-3V002

www.dva.de

Für Fritzi

Inhalt

Inhalt

Vorwort

Von einem, der wartet

Unterwegs mit Prinz Charles

Ganz unten

Beim Pfandleiher in Blackpool

Proper Shit

Ein Abend mit der verdorbensten Rockband der Insel

Tory Boys

Wie der Parteinachwuchs der Konservativen tickt

Hechte angeln

Klavierstunde mit dem Ex-Chefredakteur des »Guardian«

In der Matrix

Ein Tag auf der Computerspielemesse Insomnia in Birmingham

Brexit e.V.

In einem Londoner Pub planen vier Männer die Revolution

Unter Hühnern

Mit Junggesellinnen durch die Alkohol-Apokalypse von York

Eine Elfe in Schottland

Auf der Suche nach der besten Schauspielerin der Welt

Das Highclere-Kettensägenmassaker

Eine Gartentour auf den Spuren der englischen Seele

Die Grube ist dicht

Am Stammtisch mit Bergleuten in Wakefield

Im Ernst

Wie ich in einer Satire-Show versuchte, den Briten die Wahrheit zu sagen

Im Land der tausend Augen

John le Carré über die Figur des englischen Spions

Was darunter liegt

Mit einer Schatzsucherin in Wales

Busy Boys

Die Redakteure der Schülerzeitung von Eton

Die Hexen von Southampton

Mit echten Magierinnen beim Vollmondritual

Aufstieg und Ball

Das zweite Leben eines Ex-Fußballprofis

Being Kate Middleton

Wie sich ein Double in die Herzogin verwandelt

Die große Boris-Show

Mit Boris Johnson im Londoner Untergrund

Ufos gucken

Eine Fahrt durch Bonnybridge, dem Zentrum der Außerirdischen

Fucking Francis

Besuch beim verarmten Landadel in Devon

Callgirl

Meine Fernbeziehung mit Denise von Sky

Der Rocky aus Essex

Im Ring mit dem schlechtesten Boxer Englands

Einfach weiteratmen

Ein Lkw-Fahrer und eine Schriftstellerin diskutieren über Schottland

Und jetzt zum Wetter

Der shipping forecast und seine tiefere Bedeutung

Danke

The greatest is behind.

Macbeth

This is the room, the start of it all.

Joy Division

Vorwort

Es fing an mit einer Frage. Was ist eigentlich mit den Briten los? Freunde wollten das wissen, Arbeitskollegen, der Chefredakteur, Partybekanntschaften, SPIEGEL-Leser, meine Mutter. Hinter der Frage lauerte Neugier, manchmal Skepsis und oft genug Ärger über die Unverschämtheit eines Volkes, das sich derart beständig über »Europa« aufregte.

Ich antwortete meistens, dass nicht alle Briten das europäische Projekt und die Europäische Union verachteten. Dass einige Vorwürfe gegen Brüssel gerechtfertigt seien. Und dass überhaupt auf dem Kontinent ein verzerrtes Bild der öffentlichen Meinung auf der Insel herrsche, man dürfe sich nur nicht von den giftigen Londoner Medien beeinflussen lassen, von der »Sun«, der »Daily Mail« und anderen. Aber um ehrlich zu sein, wusste ich auch nicht so genau, was mit den Briten los war.

Was ich wusste: England hatte den Blues, als ich im Herbst 2012 als SPIEGEL-Korrespondent nach London zog. Das Land steckte in der tiefsten Wirtschaftskrise seit der Nachkriegszeit, die Staatsschulden stiegen, das Volk wollte keine Auslandseinsätze mehr, und in Schottland stand ein Referendum bevor, das Großbritannien an den Rand des Zerfalls bringen sollte. Das Selbstbewusstsein der Briten, das sich immer aus einem florierenden Handel, wirtschaftlicher Stärke, innerer Vielfalt und globalem Einfluss gespeist hatte, war schwer erschüttert. Keine gute Voraussetzung für Offenheit und Heiterkeit also. Die frühere Weltmacht verlor das Interesse an der Welt, England versank in sich selbst. Das war, grob gesagt, die Ausgangslage.

Jede Nation ist ein Narrativ, eine Sammlung von Geschichten, die ein Kollektiv von Menschen über sich selbst erzählt, eine Mischung sich überlappender, oft widersprüchlicher Identitäten, Zugehörigkeiten und Abgrenzungen. Die Debatte um den Austritt aus der EU war der Versuch, dieses Narrativ in eine bestimmte Richtung zu lenken. Die Brexit-Bewegung nutzte die Unsicherheit und die Wut vieler Menschen in den ärmeren, abgekämpfteren Gegenden von England und Wales, um das trügerische Bild einer freien, unabhängigen Insel zu zeichnen, die sich nur von ihren europäischen Fesseln lösen müsse, um zu Wohlstand und Glück zurückzufinden. In die globalistischen Argumente der intellektuellen Brexit-Kämpfer mischten sich isolationistische, nationalpatriotische Töne. Einwanderer galten als gefährlich und schädlich für den Sozialstaat, Kriegsflüchtlinge als Bedrohung. Im Vorfeld des Referendums erhob der kleine, furchtsame Teil von England seine Stimme, von dem man als kontinentaleuropäischer Beobachter hoffte, er möge bitte nicht triumphieren.

Es kommt nicht oft vor, dass die Zukunft und die Gewissheiten einer Nation an einem einzigen Tag ins Wanken geraten. Der 23. Juni 2016 war so ein Tag. Das Votum der Briten, der EU den Rücken zu kehren, war eine Entscheidung gegen die Vernunft, gegen den gesunden Menschenverstand, gegen die herrschenden Eliten, auch gegen die weltgrößte Freihandelszone mit 500 Millionen Menschen. Aber es war eine demokratische Entscheidung, auch wenn das ein schwacher Trost ist.

Dies ist kein Brexit-Buch. Der Plan, diesem unbegreiflichen Volk näherzukommen, entstand lange vor dem Referendum. Mein road trip über die Insel dauerte ein halbes Jahr, von Ende 2015 bis Mitte 2016. Ich machte mich auf die Suche nach dem, was dieses Land eint und spaltet – Punk und Monarchie, Steinkohle, Spione, die Obsession mit der Klassengesellschaft, die Anbetung von Losern. Ich fuhr durch die Highlands auf der Suche nach dem schottischen Patriotismus, stieg mit englischen Hexen durch einen verwunschenen Wald in Southampton und spazierte durch Parks in Hampshire, weil ich glaube, dass die englische Seele in einem Garten wohnt. Menschen werden geprägt durch ihre Umgebung. Wenn die Briten, die ich unterwegs getroffen habe, etwas gemeinsam haben, dann die Widerstandskraft und den Trotz auf einer Insel, auf der nicht immer die Sonne scheint.

Es gab kein Auswahlkriterium für die Protagonisten, außer dass sie interessant sein und eine Geschichte zu erzählen haben sollten – Bergarbeiter, Eton-Schüler, Fußballer, Schatzsucher, Jung-Tories und viele mehr. Wie tickt die künftige Führungsriege des Landes? Wo fängt für Briten der Spaß an und wo hört er auf? Und was macht eigentlich Prinz Charles den ganzen Tag? Zur Natur von Recherchen zählt stets die Begleitverzweiflung, nie genug Material zu haben, und am Ende die mürbe Einsicht, dass etwas fehlt (Drogen, Sex, Nordirland) und einiges nicht geklappt hat (David Beckham, die Sandwich-Fabrik, der Sammler von Hitler-Devotionalien). Drei Texte sind im SPIEGEL in veränderter Fassung und gekürzt erschienen, der Rest ist neu.

Natürlich muss jeder Versuch, die Briten als homogenes Volk zu fassen, schon an der turbulenten Einwanderungsgeschichte der vergangenen Jahrzehnte scheitern, die Einwanderer aus Pakistan, Indien, Bangladesch und der Karibik auf die Insel spülte, neben russischen Juden, polnischen Bauarbeitern, französischen Bankern und anderen Glückssuchern aus der ganzen Welt. Dieses Buch ist der Versuch, besser zu scheitern. Vor allem ist es der Anmachversuch an ein Volk, das der körperlichen Nähe von Fremden sehr skeptisch begegnet.

Auf der Reise habe ich ein Land erlebt, das hungrig ist nach Freiheit, und das gleichzeitig unsicher wirkt, wo es diese Freiheit finden möchte. Ein Land in der Defensive. Seit Jahrzehnten misst sich Großbritannien an der Bedeutung der eigenen Vergangenheit, der Satz des früheren US-Außenministers Dean Acheson von 1962 stimmt bis heute: »England hat ein Empire verloren, aber noch keine neue Rolle gefunden.« Als Beobachter stolpert man über die Vergangenheit, fast jeden Tag und überall, bei Erinnerungsfeiern für Kriegsopfer und Veteranen, bei Aufführungen historischer Schlachten, bei Sammlern von Kriegsdevotionalien, an all den Denkmälern, Obelisken und Gedächtnistafeln, die von Inverness bis Portsmouth an das glorreiche Gestern erinnern.

Anders als in den meisten europäischen Staaten, deren Eliten im Verlauf des 20. Jahrhunderts immer wieder gewaltsam ausgetauscht wurden, ist das britische Establishment mehr oder weniger stabil geblieben. Dieselben Privatschulen und Universitäten, die schon seit Ewigkeiten Minister, Beamte, Richter und Generäle produzieren, tun das auch weiterhin. Immer noch prägen reiche Familien das Land, jahrhundertealte Netzwerke und Verbindungen. Nicht zufällig sind es die oberen Schichten, die so gerne in die Vergangenheit blicken, auf die alte Größe. Die Sehnsucht der Eliten nach dem Damals zog sich auch durch das EU-Referendum.

Ich habe aber auch ein Land erlebt, das selbstgenügsam ist, stolz und radikal in seiner Ablehnung angeblicher Autoritäten, die den Briten sagen, was sie zu tun und zu lassen haben, ob von Brüssel oder von Westminster aus. Unter der Oberfläche köchelt der Wunsch eines Volkes, in Ruhe gelassen zu werden, die vergangenen Jahrzehnte waren schließlich chaotisch genug. Durch die Gesellschaft ziehen sich die Narben alter Kämpfe, und wer mit ehemaligen Bergleuten spricht, spürt die heiße Trauer der früheren Industrienation, die sich in eine Finanz- und Dienstleistungsgesellschaft verwandelt hat – eine Veränderung, die viel stärker, umfassender und radikaler war, als man sich das als Deutscher vorstellen kann.

Es heißt oft, die Briten seien so eigensinnig, weil sie auf einer seit jeher freien, unabhängigen Insel lebten. Ich finde, die Insularität ist nur ein Narrativ von vielen, und nicht unbedingt das überzeugendste. Über Jahrhunderte hielt der schmale Ärmelkanal die Briten nicht davon ab, Handel mit dem Kontinent zu treiben, in Konflikte einzugreifen und sich in das kontinentale Machtgefüge einzumischen. Das Haus Windsor ist von europäischen Fäden durchzogen, und mein Eindruck ist, dass etliche Briten Europa und die Welt besser kennen, als die Kontinentaleuropäer von sich behaupten. Am Ende der Reise dachte ich, dass die Insularität zwar eine bequeme, aber keine ausreichende Erklärung für den Isolationismus ist, in den sich die Briten mit dem Brexit-Votum stürzten.

Jeder Einwanderer kennt den Schock der Fremde, vor allem, wenn er alleine mit zwei Reisetaschen und einem Rucksack am Fährterminal von Harwich ankommt und feststellen muss, dass der Zug nach London nicht fährt. Der Schock des Neuanfangs lässt mit der Zeit nach, zumal die Briten ein außergewöhnlich offenes, herzliches und gastfreundliches Volk sein können, besonders dann, wenn man ihr Bier mag und ihre Panik vor unangenehmen Gesprächssituationen toleriert.

Manche Eigenheiten werden dem Einwanderer dennoch unerklärlich bleiben. Dazu zählen je ein Heiß- und Kaltwasserhahn im Badezimmer, undichte Fenster, angeleinte Kinder, kurze Hosen im Dezember sowie die Eisenbahn, die zu den umständlichsten und teuersten Fortbewegungsmitteln der Welt zählt – und das in dem Land, das den Zugverkehr praktisch erfunden hat. Viele Briten sehen diese Probleme, scheitern aber an der Verbesserung, weil es gemütlicher ist, nicht nach Perfektion zu streben. Auf der Insel heißt das Pragmatismus. Das Ergebnis ist oft alles andere als praktisch, aber meistens unterhaltsam, wie das ganze Land.

»Die Engländer werden sich nie in eine Nation von Philosophen verwandeln. Sie werden stets Instinkt der Logik vorziehen und Charakter der Intelligenz … Aber sie müssen aufhören, Ausländer zu verachten. Sie sind Europäer und sollten sich dessen bewusst werden.« Das schrieb George Orwell 1944, und vermutlich hat er damit bis heute recht. Trotz Brexit muss man bedingungslos optimistisch sein, was die Zukunft der Insel angeht. Denn wenn die Briten in den vergangenen Jahrzehnten eines bewiesen haben, dann die Fähigkeit, aus dem Schlamassel wieder herauszufinden, in den sie sich selbst stürzten. Das schwindende Empire kompensierten sie mit dem Export von Kultur, von den Beatles bis One Direction, von James Bond bis Sherlock, von David Attenborough bis Top Gear, von den Computerspiel-Klassikern »Lemminge« bis »Grand Theft Auto«.

An die Stelle von Macht haben die Briten Unterhaltung gesetzt, insofern stimmt der Satz von Dean Acheson über das verlorene Empire auch wieder nicht. Sie schaffen es, eine miserable Ausgangslage in eine annehmbare Situation zu verwandeln, und das, ohne die gute Laune zu verlieren. Etwas Besseres kann man über ein Volk nicht sagen, finde ich.

Von einem, der wartet

Unterwegs mit Prinz Charles

Prinz Charles gibt selten Interviews, er redet lieber direkt mit seinen Untertanen. Regelmäßig fährt er von Highgrove House in Gloucestershire, wo er mit Camilla lebt, hinaus ins Land, um Hände zu schütteln, Orden zu verleihen, Gebäude einzuweihen und Metzgereien, Hockeyschläger oder Soldaten zu begutachten. Auf knapp 400 öffentliche Termine kommt er im Jahr. Man kann dem Thronfolger praktisch nicht entrinnen, selbst wenn man wollte.

An diesem Montag stehen drei Verpflichtungen in seinem Kalender: vormittags Einweihung eines Familienzentrums in der Kaserne der Royal Dragoon Guards, eines walisischen Regiments, das in Norfolk stationiert ist, im Osten Englands; mittags Rundgang durch eine alte Schuhfabrik in Norwich, nicht weit von der Kaserne; nachmittags Besuch eines Dorf-Pubs. Das Programm hatte die Presseabteilung des Clarence House, das ist die Londoner Arbeitsresidenz des Prinzen und der Sitz seines Stabes, in Form mehrseitiger »operativer Hinweise« vorab an die hauptberuflichen Königshausbeobachter verschickt. Royal Editor, Royal Correspondent und Royal Reporter sind angesehene Jobs im öffentlichen Leben Großbritanniens. Unter Kollegen gelten die Inhaber dieser Posten als Mitglieder der Subspezies Klatschreporter – leicht überzuckerte Leute mit speziellem Krawattengeschmack, die von den Königspalästen gerne wie von echten Menschen sprechen: »Clarence House sagt«, »Buckingham Palace dementiert«, undsoweiter.

Mir erklärte Clarence House, Charles’ Termine an diesem Montag erlaubten einen repräsentativen Einblick sowohl in dessen Terminplan als auch in dessen Lieblingsthemen. Es besteht also nicht nur die Chance, den Prinzen live zu sehen und zu hören, sondern ihn auch noch in seinem natürlichen Habitat zu beobachten. Ist er wirklich so verspannt, wie er im Fernsehen wirkt? Was hat der künftige König zu erzählen? Ist er fähig zum Smalltalk – und redet er dann wie alle Briten erst mal über Immobilienpreise?

Wenn ich ehrlich bin, hatte ich nie viel übrig für die Königsfamilie. Für mich waren die Windsors so relevant wie eine Gruppe Bauchredner. Je länger ich aber in England lebte, umso mehr verstand ich, wieso so viele Briten an ihrer Monarchie hängen. Sie veranstaltet einfach eine ziemlich gute Show mit ihren Wachwechseln, Paraden, Heiraten und Geburten. Außerdem füllt sie das politische Vakuum in einem Land ohne Präsidentenamt und ohne geschriebene Verfassung, hält eine zerfasernde Gesellschaft zusammen und verbindet Arm und Reich. Die Queen hat fast ein Dutzend Premierminister erlebt und sorgt mit ihrem Stoizismus für Kontinuität in einem parlamentarischen System, das von Konfrontation und Lärm geprägt ist.

Je mehr ich über Charles las und je öfter ich ihn im Fernsehen sah, desto größer wurde meine Neugier. Offenkundig war er durch eine eher unemotionale Kindheit geschliddert, mit einer hyperdisziplinierten Mutter und einem bockigen, narzisstischen Vater. Auch bei Frauen hatte er kein glückliches Händchen, die Sache mit Diana ging schnell schief, dann kamen die Tampon-Telefonate mit Camilla an die Öffentlichkeit. Er schien immer in der Defensive zu sein, egal, was er anpackte. Charles wurde zum Sinnbild einer verlorenen Palastgeneration. Vielleicht ist er deshalb ein Arbeitstier. Er kompensiert. Er nimmt mehr Termine wahr als seine Söhne Harry und William zusammengerechnet, im Gegensatz zu ihnen muss er beim Volk um Sympathien kämpfen. Seit Jahren zieht Charles mit seinem Gefolge durch das Königreich wie auf einer nie endenden Werbetournee.

Für die schreibende Presse bestehen seine Termine zu 90 Prozent aus Herumlungern und zu zehn Prozent aus Gewaltphantasien gegen die drängelnden Fotografen und Kameraleute. Charles scheint das zu genießen. Es ist die Rache des Angeschossenen an den Aasgeiern. An diesem Morgen haben sich vier Fotografen am Tor der Dragoon-Guards-Kaserne eingefunden, je ein Kamerateam von itv und dem Militärsender BFBS, zwei Lokaljournalisten sowie ein Mann vom »Daily Telegraph«. 14 auffallend gut gekleidete Reporter. Offenbar haben alle das Vorbereitungsmemo des Clarence House bis zum Schluss gelesen, wo in gefetteter Schrift stand: »Aus Rücksicht auf die einladenden Organisationen und deren Gäste werden Vertreter der Medien gebeten, angemessene Kleidung zu tragen: Anzug und Krawatte für Gentlemen und Entsprechendes für Ladys.«

Alle frieren. Seit einer Dreiviertelstunde stehen wir in einem eisigen ostenglischen Wind vor einem angeblich neuen und tatsächlich nur neu innendekorierten Familienzentrum der Kaserne, einem unauffälligen Flachbau, der mit Tischen, Bildschirmen und einer Menge Spielzeug ausgestattet wurde. Mit der Presse warten sechs Soldaten, die braune, lederbezogene Holzstöcke in der Hand tragen, wie in der Kriegsklamauk-Serie »Blackadder«, sowie 30 oder 40 leicht übergewichtige walisische Soldatengattinnen mit ihrem ebenfalls gutgenährten Nachwuchs. Der Himmel ist königsblau, die Böen werden stärker. Einige Kinder rennen mit Großbritannien-Fähnchen über die Wiese, was keine schlechte Idee ist, um warm zu bleiben. Ich entscheide mich dagegen mitzurennen, um nicht schon bei meinem ersten royalen Termin kompliziert zu wirken. Wer weiß, wozu der Draht zum Clarence House noch nützlich sein könnte.

Ein schwarzer Bentley rollt heran. Rücken werden durchgestreckt, Kameras geschultert, Finger zücken Kugelschreiber. Charles stemmt sich aus dem Rücksitz und lässt die Kälte auf sich wirken. Mit einer langsamen Bewegung streicht er seinen sandfarbenen Kamelhaarmantel glatt, tritt in leicht gebückter Haltung auf zwei Soldaten zu, schüttelt ihre Hände, schaut nach rechts, schaut nach links, scheint erst jetzt die Menschenmenge wahrzunehmen. Seine hochgezogenen Brauen sagen: »Gottchen, seid ihr alle meinetwegen hier?« Das kann aber auch nur gut gespielt sein. Er schlendert zu den Fahnenkindern, tippt einem Jungen zwei Mal mit dem Zeigefinger gegen die Wollmütze, eine Geste, die Zuneigung und Belustigung zugleich ausdrückt, und bummelt weiter zum Eingang. Erster Eindruck: Der Mann ist nicht in Eile. So weit, so sympathisch.

Was macht man, wenn man wie Charles nichts macht? Abtauchen geht ja schlecht. Und mit einer amerikanischen Schauspielerin durchbrennen kommt beim Volk auch nicht gut an, wie Charles’ Großonkel König Edward VIII. 1936 bewiesen hat, noch immer ein Trauma für die Windsors. Charles bleibt keine Wahl, als das Thronfolger-Spiel mitzuspielen, die Monarchie lebt schließlich davon, dass sich ihre Repräsentanten kontinuierlich zur Schau stellen. Ein unsichtbarer König wäre nicht lange König, und ein abwesendes Staatsoberhaupt würden selbst die monarchietreuen Briten nicht lange ertragen.

Drinnen im Flachbau haben die gewissenhaften Mitarbeiter des Clarence House 20 Mütter mitsamt Kindern in vier Gruppen arrangiert, fünf Mütter pro Gruppe, die der Prinz der Reihe nach anplaudern soll. Charles schlüpft aus seinem Mantel und reicht ihn einem kleinen, skeptischen Mann, dessen Aufgabe anscheinend ist, den Mantel des Prinzen zu tragen. Es wäre die erste Gelegenheit zu hören, was Charles zu sagen hat. Das Problem ist, dass ich ihn nicht verstehe. Die Frauen, mit denen er gerade nicht redet, unterhalten sich mit der Lautstärke eines Jungesellinnenabschieds. Ich stehe zwei Schritte neben Charles. Zu dem Bild seiner sich bewegenden Lippen läuft die Tonspur brüllender, lachender Mütter.

Es wäre aufschlussreicher gewesen, Charles’ Briefe an die Regierung zu lesen, statt in der Kälte auszuharren. Das geht, seit der »Guardian« in einem Gerichtsverfahren die Freigabe von 27 Schreiben erzwungen hat, die Charles 2004 und 2005 an britische Beamte und Minister schickte. Sie drehen sich meistens um Städtebau, Denkmalschutz, Umwelt und Landwirtschaft. Wegen der Handschrift des Autors heißen sie »black spider memos«, die Nachrichten der schwarzen Spinne.

Die Aufregung war groß, als die Briefe auf richterliche Anordnung veröffentlicht werden mussten. Monarchiekritiker fragten, wie ein Thronfolger sich derart exponieren und politisch angreifbar machen könne. Ein künftiger König müsse unparteiisch sein, so stand es in den Zeitungen, er solle sich aus dem Regierungsgeschäft heraushalten. Und wenn er etwas zu kritisieren habe, dann bitte doch nicht schriftlich. Aber je länger man die Briefe las und je mehr sich der Prinz darin offenbarte, umso seltsamer kam einem die ganze Aufregung vor. Charles setzte sich für den patagonischen Zahnfisch ein, warb bei der Kulturministerin um Geld für den Erhalt von einigen über 100 Jahre alten Hütten in der Antarktis, in denen die britischen Abenteurer Scott und Shackleton Zuflucht gefunden hatten, und begeisterte sich für ein altes Gefängnis in Nordirland. Es ging ihm um historische Häuser, bezahlbare Wohnungen auf dem Land und Bio-Nahrung. Die größte Enthüllung war für mich Charles’ Neigung zum Melodramatischen. »Wenn ich mir den fürchterlichen Wertverlust verfallender Gebäude wie des Denbigh-Krankenhauses in Wales oder der Torr-Vale-Mühle in Derbyshire ansehe, muss ich weinen«, schrieb er.

Das sind nicht die Sätze eines Despoten, sondern die Meditationen eines romantischen Ästheten. In den Briefen führt Charles den vergeblichen Kampf des Melancholikers, der unter dem schlechten Geschmack und der Ignoranz seiner Mitmenschen leidet. Er sieht sich als Konservierer und Retter Englands. Ich bin fest überzeugt, dass der britische Thronfolger zu Hause seine leergelöffelten Joghurtbecher ausspült und abtrocknet, bevor er sie in den Recyclingmüll gibt. Er will Dörfer vor dem Verfall bewahren, Pubs, Häuserfassaden, die Handwerkskunst und vieles mehr. Sein architektonisches Leitbild ist das mittelhohe Wohnhaus, wie in Paris, der Museumsstadt. Charles’ früherer Privatsekretär Mark Bolland sagte einmal, der Prinz begreife sich selbst als einen »Dissidenten«, als einen Kämpfer gegen den politischen Konsens.

Was ist ein Exzentriker, wenn nicht ein ruheloser Rebell, der einfache Antworten ablehnt? Charles fing an, sich für die ökologische Landwirtschaft zu interessieren, als die Briten noch dachten, McDonald’s sei gehobene Küche. 2010 veröffentlichte er das Buch »Harmony«, eine Wehklage gegen den Raubbau an der Natur und zugleich das Öko-Manifest eines Konservativen. Charles nannte das Buch einen »Aufruf zur Revolution«. Keine Frage, da brodelt etwas in ihm. Was Al Gore für Amerika ist, wollte er für England werden. Natürlich ist es nie gemütlich, Avantgarde zu sein. Die Journalistin Catherine Mayer, Autorin der jüngsten Charles-Biografie, beschreibt sein Leben als die »einsamste Existenz, die ich jemals aus der Nähe gesehen habe«. Wie viele andere hat auch sie mehr Mitleid als Hohn für den Prinzen übrig.

Ein Kleinbus fährt die Journalisten auf dem Kasernengelände vom Familien-Flachbau zu einem Flugzeughangar. Charles’ Bentley kommt fast gleichzeitig an. Im Sonnenschein erkenne ich, dass der Wagen nicht schwarz ist, sondern sehr, sehr dunkelblau, so blau wie die letzten Sekunden der Dämmerung an einem wolkenlosen schottischen Sommerabend. Im Hangar warten wieder vorsortierte Grüppchen. Diesmal sind sie bewaffnet. Offenbar hat Charles eine Schwäche für Gruppengespräche, ich schätze, sie machen es einfacher für ihn zu verschwinden, wenn die Konversation ins Stocken gerät. Während er mit einer Panzerbesatzung redet, nähere ich mich langsam bis auf anderthalb Meter. Ich kann fast seine Stimme hören. Dann springt über uns ein riesiges Gebläse an.

Ich glaube an Absicht. Später erzählt Constantine, einer von Charles’ reservierten Pressesprechern, dass es Königshausreporter gibt, die sich aufs Lippenlesen spezialisiert haben. Offenbar bin ich nicht der Einzige, der Schwierigkeiten mit der Akustik hat. Ich lasse meinen ursprünglichen Plan fallen, dem Prinzen beim Smalltalk zuzuhören und ihm dadurch näherzukommen. Vielleicht erfährt man sogar mehr über England, wenn man seinen Gesprächspartnern dabei zuhört, was sie dem Prinzen mitzuteilen haben. Das geht problemlos, weil die meisten sehr eifrig und laut reden, und wenn man sie mal nicht versteht, kann man sie hinterher fragen. Einige Fetzen aus der Kaserne:

»Wir sind gerne nach Norwich gezogen, Eure Hoheit. Hier sind wir näher an unserer Familie.«

»Ja, es gibt genügend Kinderzimmer.«

»Panther, Schakal, Kojote.«

»Es ist nicht angenehm, im Februar mit einem offenen Wüstenfahrzeug durch Wales zu fahren.«

»Paderborn war phantastisch.«

»84 Meilen pro Stunde.«

»Ein Laser-Zielfernrohr.«

»Panzer? Das ist schon lange her.«

Was macht das mit einem Menschen, wenn er täglich solche Sätze hört? Spült Charles abends den ganzen Konversationsmüll mit einem Sherry hinunter, bevor er im Highgrove House ins Bett steigt? Schwer vorstellbar bei einem Mann, der von seinem Schreibtisch aus versucht, Holzhütten in der Antarktis zu retten. Charles ist ein Detailmensch. Ein Perfektionist. Er kümmert sich um Anliegen, selbst wenn sie noch so winzig sind, und wenn er sich nicht selbst darum kümmern kann, delegiert er sie an seinen Stab. Ich glaube, er merkt sich alles, was er hört. Vermutlich platzt sein Kopf bald. Möglich, dass niemand dieses Land besser kennt als er.

Mittags sind wir in der alten Schuhfabrik in Norwich, einem Rohbau. Das Gebäude steht seit Jahrzehnten leer und soll in den nächsten zwei Jahren zu einem Komplex aus Wohnungen, Büros und Ladenlokalen umgebaut werden. Die Stiftung des Prinzen will es Bürgern leichter machen, am Planungsprozess teilzunehmen. Wieder Fünfergrüppchen, bewaffnet mit Gebäck und Teetassen. Um es gleich zu sagen: Die Akustik ist miserabel.

»Hallo, Eure Hoheit.«

»Norwich ist die beste Stadt in ganz Großbritannien.«

»Ich bin Sozialarbeiterin.«

»Ich arbeite in der Kirche gegenüber.«

»Hahaha.«

Nach einer halben Stunde prüft Charles mit der flachen Hand den Sitz seines Scheitels und greift zum Mikrofon. Er freue sich hier zu sein, nuschelt er. Seine Wörter klingen wie Glasmurmeln, die auf festgetrampelten Erdboden fallen. Es ist das erste Mal an diesem Tag, dass ich ihn sprechen höre. Oft lässt er einzelne Silben weg, manchmal verschluckt er ganze Worte, als fürchte er, sie könnten Schaden anrichten, wenn sie unkontrolliert durch die Luft schwirren. Er ist vorsichtig geworden mit den Jahren. In seiner rechten Hand balanciert er eine Tasse Tee, um die er gebeten hatte, aus der er aber keinen Schluck trinken wird.

In seiner fünfminütigen Rede lobt er die Bürger von Norwich, die sich an dem Umbau der Schuhfabrik beteiligen. Der Bauprozess habe sich so sehr in einzelne, voneinander abgekapselte Arbeitsschritte zersplittert, so Charles, dass über Jahrhunderte erlernte handwerkliche Fähigkeiten aussterben und Bürger von den Planungen ausgeschlossen würden. Es ist die Klage des Konservierers. Er sei, sagt er, gespannt auf das renovierte Gebäude. »Und ich hoffe – ich hoffe wirklich –, dass ich lange genug leben werde, um das Ergebnis zu sehen.« Mildes Lachen im Publikum, Applaus, Charles ab.

Langsam wird deutlich, dass der Prinz an diesem Tag nur einen Wirklichkeitsausschnitt präsentiert bekommt. Den Teil von England, der funktioniert. Lachende Soldaten, Architekten, Sozialarbeiterinnen. Ein fröhliches Land, arrangiert in Fünfergrüppchen. Soweit ich beurteilen kann, hat sich bislang niemand bei ihm beschwert oder etwas zur Sprache gebracht, das nicht außergewöhnlich gut klappt oder auf dem besten Weg ist, außergewöhnlich gut zu klappen.

Jede Monarchie bekommt das Königshaus, das sie verdient. England hat eine Mischung aus organisierter Langeweile, Zuckrigkeit und Behäbigkeit. Charles ist der Einzige in seiner Familie, der eine Idee hat, einen Plan für die Zukunft, das ist sein größtes Problem. Er repräsentiert ein England, wie es sein will, nicht wie es ist. Es ist ein Kampf gegen die Gegenwart. Der Kampf dauert schon Jahrzehnte, und man muss sagen, dass Charles noch nicht allzu weit gekommen ist. Ein Sisyphos im Baumwollanzug.

Nachmittags steuert der Bentley auf das »White Horse« in Upton zu, eine halbe Stunde westlich von Norwich. Es dämmert bereits, am Straßenrand sammeln sich Dorfbewohner. Charles interessiert sich für das »White Horse«, weil es an der Initiative »Pub is the Hub« teilnimmt, die er vor 15 Jahren ins Leben rief (was ich ebenfalls den »operativen Hinweisen« entnehme und was in etwa heißt: »Das Pub ist das Zentrum«). Die Initiative will Pubs im ganzen Land umbauen und erweitern, so dass die Dorfbewohner sich dort nicht nur angenehm betrinken, sondern gleichzeitig Brötchen oder Wurst einkaufen, Briefe abschicken oder Bücher ausleihen können. Seit Jahren schließen unabhängige Kneipen in England, gleichzeitig gehen Postfilialen, Dorfläden und Büchereien verloren. Auch das also bedrohte Lebensformen, die gerettet werden müssen – zumindest wenn man dagegen ist, dass Großbritannien endgültig in ein Land des gesichtslosen, von Gastro-Ketten, Roboter-Supermärkten und Event-Bars dominierten Hyperkapitalismus mutiert. Charles ringt um die englische Seele. Die ideale Dorfkneipe ist für ihn keine Stätte des besinnungslosen Rauschs, sondern eine Mischung aus Kramladen und Biertankstelle mit Kaminfeuer. Insofern hat das »White Horse« mit dem patagonischen Zahnfisch mehr gemein, als man denken könnte.

Um die Wartezeit zu verkürzen, schlendere ich zum Dorfladen eine Tür weiter. Neben dem Eingang liegen in theatralisch verwitterten Holzkisten polierte Kürbisse, Gurken, Möhren und Äpfel. Drinnen im Kühlregal hat jemand die Milchkartons offensichtlich mit einem Geodreieck arrangiert. Es würde mich nicht wundern, wenn gleich Kim Jong Un ums Eck biegen würde, um den Fünfjahresplan zu checken. Hinter der Theke steht ein strahlendes Paar Ende 50 in Krämerschürzen, das hier freiwillig und ohne Bezahlung Dienst schiebt, wie es mir versichert. Das Paar sagt im Chor: Unser Laden macht einen Jahresumsatz von 100000 Pfund.

Als der Prinz ankommt, stellt sich heraus, dass das Pub zu klein ist für alle Fotografen, Journalisten, Gäste und die Entourage des Prinzen. Es beginnt ein mehrstufiger Prozess des Hinein- und Hinausgeschicktwerdens, um sicherzustellen, dass a) der Prinz genug Platz hat, b) er echte Pub-Besucher trifft und c) die Begegnungen und Gespräche fotografisch aus der besten Perspektive festgehalten werden. Im Hinterzimmer haben sich die Mitglieder mehrerer lokaler Vereine versammelt, in Grüppchen wartend. Ein Fotograf drückt seinen Ellbogen in mein Gesicht. Als ich ausweiche, trete ich dem Mantelträger des Prinzen auf den Fuß. Ich nutze die Gelegenheit, zu fragen, welche Farbe Charles’ Dienstwagen hat. Der Mantelträger mustert mich von oben bis unten und antwortet: Keine Ahnung, ruf bei Bentley an.

Von hinten drängelt jemand mit einer Tasse English Breakfast. »Der Prinz würde sterben für einen Tee«, sagt der Wirt. Doch auch von dieser Tasse trinkt der Prinz nichts. Unter dem Beifall der Gäste zapft Charles an der Theke ein Pint Ale. Mir fällt jetzt erst auf, dass er keine Hände hat, sondern Pranken. Wenn man nur auf seine Hände schaut, könnte man Charles für einen Holzfäller halten, der gerade von der Maniküre kommt. Auch mit dem Bier benetzt er sich nur die Lippen. Entweder ist er nie durstig oder sehr vorsichtig.

Charles ist ein Anthroposoph, er glaubt an die explosive Wirkung kleinster Mengen. Einem Mann, der seine Rinder und Schafe mit homöopathischen Mittelchen statt mit Antibiotika behandelt und auch sonst dem Esoterischen zuneigt, ist ein Nahrungsregime zuzutrauen, das keinen außerplanmäßigen Konsum von Bier und Tee duldet. Man würde ihn dazu gern befragen, aber vor ihm steht eine Mauer aus Fotografen, Mitarbeitern und Untertanen, die ihn mit Smartphones filmen.

Charles stellt das Bier ab und steckt die Hände in die Taschen seines Jacketts. In einer kurzen Rede betont er, wie verzückt er sei, dass dieses Pub und der angeschlossene Dorfladen so hervorragend funktionierten. »Pub is the Hub« sei eine wundervolle Art, den Gemeinschaftssinn in Upton aufrechtzuerhalten, und nichts, wirklich nichts verschaffe ihm größere Freude als eine Kneipentour in dieser Gegend. Er sagt wirklich: »pub crawl«, Kneipentour.

Man kann das nicht spielen. Charles scheint den Tag tatsächlich zu genießen, die Soldaten, die Architekten, die Pub-Besucher, den ganzen Irrsinn. Von seinen kurzen Auftritten bleibt wenig übrig außer Plaketten, Tafeln und Erinnerungsfotos in Klarsichthüllen; royale Graffiti, die jahrzehntelang an den Wänden von Kasernen hängen werden, in Pubs und öffentlichen Gebäuden. Sie sind seine Art zu sagen: Ich war hier, Freunde, mich gibt es wirklich.

Bentley sagt am Telefon, man gebe keine Details zu den Wagen von Kunden heraus, auch nicht die Farbe.

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Beim Pfandleiher in Blackpool

An diesem windigen, nassen Donnerstag könnte Blackpool problemlos den Titel der tristesten englischen Stadt erringen und würde sogar die harte Konkurrenz von Hull, Slough oder Coventry weit hinter sich lassen. Die Spielhallen an der Promenade wirken noch billiger und deprimierender, die Lichterketten in Form von Plastik-Meerjungfrauen an den Laternenpfählen verlorener, die Rentnergruppen in den Hotelbars noch besoffener als sonst. Blackpool liegt an der Küste im Nordwesten Englands, zwischen Liverpool und dem Lake District, zwischen Coolness und Schönheit. Ich weiß nicht mehr, wer mir erzählte, die Stadt sei eine Mischung aus Las Vegas und Tschernobyl, aber der Vergleich trifft sehr gut an diesem Nachmittag.