Unter dem Elbsand - Christiane Fux - E-Book

Unter dem Elbsand E-Book

Christiane Fux

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Beschreibung

In einem Wilhelmsburger Schrebergarten finden Kinder beim Spielen das Skelett einer jungen Frau. Die namenlose Tote gibt der Polizei Rätsel auf und landet schließlich bei Theo Matthies. Dem Bestatter kommt schon bald der Verdacht, dass es sich bei der Verstorbenen um die Schwester seines Vaters handeln könnte, die seit der Hamburger Sturmflut 1962 als verschollen gilt. Er beginnt, auf eigene Faust zu ermitteln, und stößt auf ein über fünfzig Jahre zurückliegendes tödliches Geheimnis, das tief im Elbsand vergaben war.

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Für meine Mutter

ISBN 978-3-492-96676-4

Januar 2016

© Piper Verlag GmbH, München 2014

Covergestaltung und -motiv: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

Prolog

Er rammte den Spaten in den Boden, wieder und wieder. Schon bald taten ihm die Hände weh. Trotzdem grub er unverdrossen weiter. Er rückte das Tuch zurecht, das er sich um die Stirn geknotet hatte. Das Blütenmuster darauf war natürlich eigentlich etwas für Mädchen, aber etwas anderes hatte er in der Laube nicht auftreiben können.

Seit zwei Tagen arbeitete er an dem Loch hinter dem Geräteschuppen nahe dem Zaun. Anfangs hatten er und sein Kumpel unter dem Kirschbaum graben wollen, aber da waren ihnen die Wurzeln dauernd in die Quere gekommen.

Den ersten Tag hatten sie sich noch abgewechselt, Lennard und er, aber Lennard hatte schon bald keine Lust mehr gehabt. »Ist doch Quatsch«, hatte er gesagt und mit einer Fußspitze einen Stein in das Loch gekickt. »Warum sollte der Schatz ausgerechnet in eurem Schrebergarten vergraben sein?«

»Ich werde nicht mit dir teilen«, hatte Fritz ihm erbost hinterhergerufen, als sein Kumpel abgezogen war. »Memme, Verräter«, knurrte er im Takt der Spatenhiebe. Seine Wut verlieh ihm Kraft. Lennard würde schon sehen, was er davon hatte, wenn er erst einmal mit dem Schatz von Kapitän Störtebeker aufkreuzen würde!

Und da stieß er auf einen Widerstand. Fritz setzte noch mal nach. Es klang hohl. Kein Zweifel, hier war etwas Festes im lehmigen Boden, aber nicht so hart wie die zahllosen Steine, die er schon hervorgeklaubt hatte. Wie ein Fachmann setzte er den kleinen Spaten, den ihm sein Großvater geschenkt hatte, als Hebel ein. Stöhnend förderte er zutage, was die Erde so viele Jahre verborgen gehalten hatte. Er starrte auf das Relikt. Dann lief er zu seiner Mutter.

Wie jeden Tag zwischen April und Oktober lag sie, sobald die Sonne schien, in Jeansshorts und Bikinioberteil auf einem Liegestuhl. Schweiß glitzerte zwischen ihren kleinen Brüsten. Auf der Nase trug sie eine übergroße, weiß gefasste Sonnenbrille, die sorgfältig manikürten Finger ruhten auf einer Zeitschrift, in der Fritz sie niemals lesen sah.

»Mami, guck mal.«

Ihre Augen hinter der Sonnenbrille blieben fest geschlossen.

»Ich habe einen Piraten gefunden.«

»Na toll.« Sie seufzte und zupfte ihr Bikinioberteil zurecht.

Er legte ihr seinen Schatz direkt in den Schoß.

»Einen echten Piraten«, sagte er glücklich.

Sie öffnete die Augen.

Dann schrie sie.

DER ERSTE TAG

Knapp 23 Billionen Liter Wasser stürzen in den letzten Maitagen des Jahres 2013 auf Deutschland – eine »Jahrhundertflut«. Als Erstes trifft es Passau. Die Stadt wird von den heftigsten Überschwemmungen seit 1501 heimgesucht.

Mehr als zweihundert Knochen hat der Mensch. Wie sie heißen, hatte Theo Matthies einst während seines Medizinstudiums gelernt. Inzwischen hatte er das familieneigene Bestattungsunternehmen übernommen. Wenn er seinen Beruf erwähnte, erntete er meist ungläubiges Staunen – einen Bestatter stellten sich die meisten anders vor. Düsterer vermutlich und melancholisch. Durch sein volles dunkles Haar und das anziehende, ein bisschen schiefe Lächeln wirkte er jünger als seine 37 Jahre. Bei Frauen kam er gut an – zumindest, bis er ihre Frage nach seinem Gelderwerb beantwortete. Dann fiel die Klappe. Mit dem Tod wollten die meisten nichts zu schaffen haben.

Nachdenklich betrachtete er das Skelett auf seinem Tisch. Ein erbarmungswürdiger Haufen Knochen, das war alles, was von der jungen Frau übrig geblieben war. Er hatte die teilweise abgelösten Glieder sortiert und anatomisch richtig platziert, ein etwas gruseliges Puzzle. So wie sie da lag, sah die Tote winzig aus, klein wie ein Kind.

»Ganz schön traurig«, sagte Lilly und sprach damit die Gedanken des Bestatters aus. Die zehnjährige Tochter seiner Kollegin May kannte keine Furcht vor den Toten. Im Gegenteil, sie hätte am liebsten immer zugeschaut, wenn Theo und ihre Mutter die Verstorbenen herrichteten. Aber das kam nicht infrage – schon aus Gründen der Pietät.

Diesmal hatte er eine Ausnahme gemacht. Die fleischlose Tote hatte mit dem Menschen, der sie einst gewesen war, nur noch wenig gemein. Und eine Seuchengefahr ging von den blanken Knochen auch nicht aus. Lilly strich prüfend mit dem Finger über die skelettierte Hand. »Traurig«, sagte sie noch einmal, »dass keiner weiß, wer sie ist.«

»Jedenfalls war sie noch ganz schön jung. Anfang 20«, sagte Theo.

»Woher willst du das wissen?«

»Weil ich mich mit Gerippen ganz gut auskenne. Säuglinge zum Beispiel haben noch eine ganze Reihe von Fugen zwischen den Knochen, insbesondere am Schädel, aber auch anderswo. Die verschließen sich erst nach und nach in der Jugend. Bei der Frau hier ist das sternale Ende der Clavicula noch nicht ganz verschlossen.« Er deutete auf die Schulter des Skelettes, wo Schlüsselbein und Brustbein aufeinandertreffen. »Diese Fuge ist eine der letzten, die sich schließt. Das passiert mit Anfang 20.«

Lilly legte die Hand flach auf ihr eigenes, noch unverwachsenes Schlüsselbein. »Und wenn sie 40 gewesen wäre?«

»Na, dann hätten die Experten bei der Polizei wohl ziemliche Schwierigkeiten, ihr Alter einzuschätzen. Im Grunde geht’s da nur noch nach den Abnutzungserscheinungen der Knochen – und die können, wenn ich die Lebensumstände mal beiseitelasse, ganz schön unterschiedlich ausfallen.«

Lilly nickte. »Du stöhnst manchmal auch wie ein Opa, wenn du vom Joggen kommst.«

›Na, herzlichen Dank‹, dachte Theo. Noch keine vierzig und schon altes Eisen.

Er zog die Bahre mit dem schlichten Kiefernholzsarg neben seinen Arbeitstisch. Er hatte ihn bereits am Vortag ausgepolstert und den weißen, billigen Satin innen festgetackert. Sargausstattungen wurden zwar oft teuer verkauft, waren aber aus dem billigsten Material gefertigt. Zum Verfall und nicht für die Ewigkeit bestimmt. Behutsam bettete er die gelblich verfärbten Knochen für ihren letzten Ruheort. Lilly nahm den Schädel und bohrte ihren Zeigefinger in das Loch, das die Kugel bei ihrem Austritt am Hinterkopf hinterlassen hatte – und das Theos Freundin Hadice einiges Kopfzerbrechen bereitete.

»Nicht nur, dass wir eine namenlose Tote am Hals haben, sie ist auch noch ganz eindeutig erschossen worden«, hatte die junge türkischstämmige Kommissarin ihrem einstigen Schulfreund erzählt und sich in komischer Verzweiflung die kurzen schwarzen Haare gerauft. »Und das möglicherweise schon während des Zweiten Weltkriegs.« Sie hielt ihr leeres Bierglas hoch, um bei der Frau hinter der Bar wortlos ein weiteres Getränk zu bestellen.

Theo hob die Brauen. »Wie kommst du darauf?«

»Wir haben nicht nur die Kugel, sondern auch die Waffe gefunden.« Sie nahm das Bier in Empfang und trank einen großen Schluck. Das war ungewöhnlich. Hadice trank nur selten. Und zwar nicht, weil sie Muslimin war. In ihrem Job hatte sie einfach zu oft gesehen, was Alkohol aus den Menschen machen konnte. »Offenbar stammt sie aus Wehrmachtsbeständen. Eine Walter PPK.«

»Steht für Polizeipistole Kriminal«, mischte sich Lars in das Gespräch ein und demonstrierte einmal mehr seinen unerschöpflichen und breit gefächerten Wissensfundus. Lars Hansen, Doktor der Philosophie, Entrümplungsunternehmer und Künstler in Personalunion, war Theos bester Kumpel. »Ziemlich populär damals, auch weil sie diesen kurzen Lauf hat. Die kann man gut unter der Jacke verstecken. Die hat nicht nur die SS getragen, die war in ganz Europa bei der Polizei beliebt.«

»Du bist wirklich ein wandelndes Lexikon.« Hadice zwinkerte Lars zu. »Also diese Waffe stammt jedenfalls aus Wehrmachtsbeständen.« Sie kraulte Paul-Mops den dicken Schädel. Der Hund, den Lars bei einer Entrümplungsaktion gerettet hatte, wurde seinem Herrchen untreu, sobald Hadice auftauchte. Wie üblich saß er auch heute zu ihren Füßen und verfolgte jede ihrer Bewegungen anbetend mit seinen Glotzaugen. Theo konnte Paul verstehen. Hadice sah aus wie eine moderne Reinkarnation von Emma Peel.

»Hmm«, machte Theo.

»Was ›Hmm‹?«

»Die Dinger sind doch immer noch im Umlauf. So als Kriegsmemorabilien. Mein Großvater hatte auch noch eine Wehrmachtswaffe. Die lag immer griffbereit in der Schublade in der Diele, hat mein Vater erzählt. Ich weiß gar nicht, was daraus geworden ist.«

»Na, dann hätten wir ja schon unseren ersten Verdächtigen.« Hadice klatschte mit der Hand auf den Tresen.

Theo knuffte sie auf den Oberarm. »Nix gegen meinen Opa.«

»Sag ich doch, der Fall ist zum Heulen. Wir haben einen Zeitraum von 1940 bis etwa 2000. Sie hat da mindestens rund zehn Jahre lang gelegen.« Geistesabwesend tätschelte sie den Hund. »Von der Kleidung ist auch nicht mehr viel übrig. Darum kümmern sich jetzt die Experten.«

»Wo hat man sie überhaupt gefunden?«, wollte Lars wissen.

»In einem Schrebergarten. Da hat ein achtjähriger Knirps ihren Schädel ausgebuddelt. Er hat nach dem Schatz von Störtebeker gesucht, hat er erzählt.«

»Kinder«, sagte Theo nur.

Das war jetzt fast drei Wochen her. Nach Abschluss der Untersuchungen hatte die Polizei die Tote freigegeben. Hadice hatte dafür gesorgt, dass sie in Wilhelmsburg beigesetzt werden würde. Immerhin hatte man sie dort gefunden. Der Bestatter breitete eine weiße Satindecke über das Skelett. Entschlossen stopfte er sie fest. »Wir wollen ja nicht, dass alles wieder durcheinanderpoltert, wenn man sie transportiert«, sagte er zu Lilly.

Lilly kräuselte die Nase. »Nee, das wollen wir nicht.«

Theo wuchtete den Deckel auf den Sarg und zog die Schrauben an. Dann trat er an den kleinen Tisch, auf dem die schmale Mappe mit den Unterlagen der unbekannten Toten lag. Er zog einen Computerausdruck hervor, auf dem das Gesicht einer jungen Frau zu sehen war, und reichte ihn seiner kleinen Assistentin. Es war schmal, mit hohen Wangenknochen, einer markanten Kinnlinie, einem breiten Mund und leicht schräg stehenden Augen. Ein bisschen slawisch, fand Theo, der immerhin einmal mit einer Halbrussin verheiratet gewesen war. Ihre aus Plastilin gefertigten Gesichtszüge wirkten seltsam unfertig, der Gesichtsausdruck war neutral. »So ungefähr hat sie wohl ausgesehen«, sagte Theo.

Lilly starrte fasziniert auf das Bild in ihrer Hand. »Was ist das denn?«

»Das hat eine Expertin aus Plastilin auf einen Abguss des Schädels modelliert«, erklärte er.

»Is’ ja gruselig«, sagte Lilly und hielt sich das Bild dichter vor die Augen.

Hadice hatte den Schädel der unbekannten Toten an Sabine Ohlrogge geschickt, einer Koryphäe für Gesichtsrekonstruktionen im norddeutschen Raum. Unter anderem hatte sie der Moorleiche »Moora« ein Gesicht verliehen – eine junge Frau, die vor 2600 Jahren in Niedersachsen ums Leben gekommen war.

Hadice hatte es sich nicht nehmen lassen, das Konterfei ihrer unbekannten Toten höchstpersönlich abzuholen. Vierzehn Tage hatte die Forensikerin daran gearbeitet. In einem ersten Schritt hatte sie Augen in den Gipsabguss des Schädels gepflanzt, was einen einigermaßen schaurigen Effekt hatte. Dann hatte sie Markierungsstäbchen, die die Gewebedicke kennzeichneten, auf die verschiedenen Kopfpartien geklebt. »Dazu nehme ich gewöhnliche Schaschlikspieße«, hatte sie Hadice mit verschmitztem Lächeln erzählt. Abhängig davon, wie dick die Gewebeschicht an der betreffenden Stelle gewesen wäre, hatte sie sie unterschiedlich lang zurechtgestutzt. An ihnen orientierte sich die Expertin, wenn sie schichtweise das Plastilin auftrug.

Am Ende hatte sie den Kopf bemalt und mit Haaren bestückt.

»Ich hätte gedacht, so was macht man heute per Computer«, hatte Hadice gesagt. »Einscannen und: Hokuspokus erscheint das Gesicht.«

Die Forensikerin lachte. »Das wäre natürlich super, und erste Schritte in die Richtung gehen wir schon. Aber die Computerprogramme sind einfach noch nicht präzise genug. Für so eine Rekonstruktion brauchen Sie jemanden mit Erfahrung und Intuition. Momentan können das Menschen immer noch besser.« Sie strich dem Plastilinkopf liebevoll eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Ich habe sie ›Wilhelmine‹ genannt – weil sie doch in Wilhelmsburg gefunden wurde.«

Hadice blickte mit gerunzelter Stirn in das Plastilinantlitz. Ihr schien es zu roh, zu unvollkommen. »Hmm«, machte sie, »entschuldigen Sie die Anmerkung, aber das Gesicht von Richard III., das man unlängst rekonstruiert hat, das war irgendwie ein bisschen …« Sie suchte nach Worten.

»Lebendiger?« Ohlrogge nickte. »Wissen Sie, bei historischen Rekonstruktionen, da können wir unserer Phantasie mehr Raum geben. In dem Bereich ist das nicht so kriegsentscheidend.«

»Und das heißt?«

Die Forensikerin nahm den Kopf in beide Hände und bettete ihn in eine mit Holzwolle ausgefüllte Kiste. »Wenn wir nur die Knochen haben, tappen wir in vieler Hinsicht im Dunklen. Die Form von Ohren und Nase beispielsweise wird ja überwiegend von der Knorpelstruktur bestimmt. Wenn die fehlt, können wir nur grobe Annahmen machen. Haar- und Augenfarbe sind natürlich auch eher ungewiss. Und auch wie dick oder dünn ein Mensch zu Lebzeiten war, können wir nicht sagen. Und was den Gesichtsausdruck betrifft – den Charakter eines Menschen kann man nicht am Schädel ablesen, so gern die Nazis das auch getan hätten.«

»Aha.« Hadice spähte skeptisch in die Kiste.

»Also halten wir uns zurück und gestalten Details, bei denen wir uns nicht einigermaßen sicher sind, möglichst neutral.«

»Und wie ähnlich ist dann so eine Rekonstruktion dem lebenden Menschen?«

Ohlrogge stülpte den Deckel auf die Kiste. »Das ist schon ein bisschen Glückssache. Aber wissen Sie, wenn ein Mensch noch von irgendjemandem vermisst wird, der springt dann häufig drauf an.«

»Na, dann versuch’ ich mal mein Glück«, seufzte Hadice und dachte dabei mit leisem Schauder an Schaschlikspieße.

Auch Theos Freundin Hanna war fasziniert von der Geschichte des namenlosen Mädchens. Sie lag bäuchlings auf dem Sofa und hielt das Bild von »Wilhelmine« in den Händen. Wie immer, wenn sie sich konzentrierte, wickelte sie eine ihrer schwarzen Locken um den Zeigefinger.

Genauso hatte auch Nadeshda immer auf der Couch gelegen, die Nase in irgendeinem Krimi vergraben. Theo lächelte. Äußerlich hatten die beiden Frauen wenig miteinander gemein. Nadeshda war groß und schlank gewesen, sportlich mit kurzem blondem Haar, Hanna hingegen war rundlich, fand Sport überflüssig und besaß eine wilde schwarze Mähne. Vom Charakter her stellte Theo aber immer wieder große Überschneidungen fest: Beide waren willensstark, begeisterungsfähig und temperamentvoll. Und vor allen Dingen enorme Dickschädel. ›Das musst ausgerechnet du sagen‹, hörte er Nadeshdas Stimme in seinem Kopf. Es war ihr Tod gewesen, der ihn vom Arztberuf weg und in das familieneigene Bestattungsinstitut gebracht hatte. In den ersten Jahren nach ihrem Tod hatte er seine Frau häufig zu sehen geglaubt. Inzwischen beschränkten sich die Erscheinungen auf ihre Stimme und – immer seltener – auf das Gefühl ihrer unmittelbaren Anwesenheit.

»Hadice gibt das Bild morgen an die Presse weiter«, sagte Theo.

»Ich bin die Presse«, entgegnete Hanna. Ihre Stimme war so tief, dass Theo sie bei ihrem ersten Telefonat für einen Mann gehalten hatte. »Und ich hab’ Zugang zu den Top-Quellen in diesem Fall.« Sie zwinkerte ihm zu.

Die Journalistin und der Bestatter hatten sich kennengelernt, als Theo den Mord an einer alten Frau aufklärte, deren Todesursache ihm zweifelhaft erschienen war. Seither verband die beiden eine zwar leidenschaftliche, aber ziemlich komplizierte Beziehung.

»Ich versuche mal, Hadice für ein Interview zu kriegen.« Und schon tippte Hanna auf ihrem Mobiltelefon herum. Sie lauschte mit gerunzelter Stirn und sprach eine kurze Bitte um Rückruf auf die Mailbox der Kommissarin. Dann griff sie erneut nach dem Konterfei der Toten.

»Hoffentlich erkennt sie jemand.«

»Nach so langer Zeit?« Theo setzte sich neben Hanna auf die Couch. Sie drehte sich auf den Rücken, legte ihre Unterschenkel auf seinen Knien ab und betrachtete das Bild.

»Warum nicht? Ich glaube, wenn man so lange nicht weiß, was aus jemandem geworden ist, dann lässt das einem doch keine Ruhe …«

Theo nahm die Fernbedienung zur Hand und schaltete die Tagesthemen ein. Sie wurden dominiert von den Bildern der »Jahrhundertflut«, wie die Zeitungen bereits titelten. Nach tagelangen Regenfällen stand Passau bereits unter Wasser – das Hochwasser drohte aber auch Regensburg und allen Städten flussabwärts von Donau und Elbe. Die Tagesthemen zeigten Bilder von überfluteten Straßen, von Helfern, die Sandsäcke stapelten, von Bundeswehrsoldaten in Schlauchbooten und immer wieder von Menschen, die fassungslos auf die Wassermassen in ihrer überfluteten Stadt starrten.

Derweil wälzte sich die Scheitelwelle der Flut in gemächlichem Tempo elbabwärts Richtung Hamburg.

»Na hoffen wir mal, dass die Deiche halten.«

Theo schwieg. Er wollte nicht zugeben, dass ihm mulmig zumute war. Wer auf der Hamburger Elbinsel Wilhelmsburg aufwuchs, dem waren die Folgen eines Deichbruchs bewusst. An den Häusern markierten Messingtafeln die Pegelstände der Sturmflut von 1962, und überall auf der Insel gab es Sammelstellen für eine mögliche Evakuierung. Bei Sturmflutwarnung wurden die Schulkinder nach Hause geschickt – eine Situation, die Theo als Kind ebenso faszinierend wie gruselig gefunden hatte. Sein reetgedecktes Elternhaus, in dem er heute wieder lebte, lag kurz hinter dem Moorwerder Hauptdeich. Damals hatte nur noch das Dach aus dem Wasser geschaut. Zwar waren die Deiche nach jeder Sturmflut höher aufgeschüttet worden, doch die Pegelstände zogen nach und erreichten alle paar Jahre wieder neue Rekordstände.

In der Nacht schlief Theo unruhig neben Hanna. In seinem auf Alpha-Wellen wabernden, träumenden Hirn verknüpften sich die Eindrücke des Tages auf nicht vorhersehbare Weise mit längst verschütteten Erinnerungen. Er träumte von Wassermassen, die sich durch die Wilhelmsburger Straßen wälzten und Autos, Bäume und Unrat mit sich rissen. In einem offenen Sarg trieb eine junge blonde Frau an ihm vorbei. Er wusste mit der Gewissheit eines Schlafenden, dass es die namenlose Tote war, deren Knochen er wenige Stunden zuvor für ihre letzte Ruhe vorbereitet hatte. Die Tote öffnete die Augen und sah ihn an. »Theo!«, sagte sie, ohne die Lippen zu bewegen.

Er erschrak so sehr, dass er erwachte.

DER ZWEITE TAG

Halle ruft den Katastrophenalarm aus: »Wir haben es mit Wassermassen zu tun, die wir noch nie zu bewältigen hatten«, verkündet Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU).

»Das Verrückte ist, dass ich das sichere Gefühl hatte, sie zu kennen«, sagte Theo, als er am nächsten Morgen mit Hanna am Frühstückstisch saß.

»Unwahrscheinlich.« Hanna gähnte. Sie war ein ausgesprochener Morgenmuffel. »Wie es aussieht, ist die Dame doch wohl schon länger tot, als es dich gibt.«

»Vermutlich.« Theo rührte nachdenklich in seinem Kaffee, bis Hanna ihm den Löffel aus der Hand nahm. »Wenn du so weitermachst, hast du bald ein Loch im Tassenboden.«

Er trank einen Schluck.

»Ich hab’ da eine ziemlich verrückte Idee«, sagte er dann.

»Erzähl.« Sie blickte ihn erwartungsvoll an.

»Später.«

Kaum hatte Hanna sich verabschiedet, um in ihrer Wohnung an einer Reportage zu feilen, stieg er ins Obergeschoss des Hauses, in dem er aufgewachsen war, und angelte mit einem Haken die Luke zum Dachboden herunter. Dort lagerten noch immer die Relikte früherer Matthies-Generationen: alte Seekarten seines Urgroßvaters, der erst als Kapitän die Weltmeere bereist und dann das auf Seebestattungen spezialisierte Beerdigungsinstitut gegründet hatte; stockfleckige Leinentücher mit erbaulichen Sprüchen, die seine Großmutter mütterlicherseits gestickt hatte, die Kinderbücher seiner jung verstorbenen Mutter. Und natürlich die Fotoalben der Bestatterdynastie.

Er zog die Leiter zu sich herunter und kletterte die steilen Stiegen empor. Oben angekommen überfielen ihn Erinnerungen: wie er als kleiner Junge mit seiner besten Freundin Nele zwischen den staubigen Schachteln, Truhen und Möbeln »Gespenst« gespielt hatte. Er hatte sich immer deutlich mehr gegruselt als sie, ein Umstand, den er auch unter Folter niemals zugegeben hätte. Was wohl aus ihr geworden war? Er sah sich kurz um und zog dann einen Koffer aus altersmürbem Leder hervor. Die rostigen Schnallen klemmten, sodass er Mühe hatte, ihn zu öffnen. Darin befand sich ein Sammelsurium von Fotoalben mit Bildern der Familie seines Vaters. Auf den Rücken der Alben waren Jahreszahlen vermerkt, die ein ordentlicher Mensch mithilfe eines Prägegeräts angebracht hatte. »1945–47«, las er. Sogar direkt nach dem Krieg hatte die Familie sorgsam ihre Feste und Ausflüge dokumentiert. »1953–57«. Und schließlich »1960–62«. Er schlug es auf und blätterte zügig die von raschelndem, halbtransparentem Spinnenpapier geschützten Seiten um. Schließlich stieß er auf das gesuchte Gesicht. Jung und schmal, mit hohen Wangenknochen und einem überbreiten Mund. »Marlene, Juni 1960« stand darunter. Es war das Gesicht der sprechenden Toten aus seinem Traum.

Die Arbeit am Computer gehörte nicht zu Theos Kernkompetenzen. Trotzdem machte er sich ans Werk und scannte das Foto der jungen Frau aus dem Fotoalbum sowie das Bild von der Rekonstruktion des Kopfes ein. Er rief beide mit einem Bildbearbeitungsprogramm auf und stellte sie nebeneinander. Auf den ersten Blick wirkten die beiden Gesichter nicht besonders ähnlich. Den Vergleich erschwerte, dass die Bilder der jungen Frau aus dem Fotoalbum nicht frontal aufgenommen worden waren, so wie das Bild der unbekannten Toten, sondern immer etwas seitlich. Trotzdem gab es einige Parallelen. Fasziniert starrte Theo auf den Bildschirm. ›Das wäre doch wirklich verrückt‹, dachte er. Er griff nach seinem Mobiltelefon und suchte in den Kontakten einen Namen.

»Alter, weißt du eigentlich, wie spät es ist?« Fatihs Stimme klang, als hätte man ihn aus dem Tiefschlaf gerissen. Der junge Türke hatte am Vorabend ein Konzert mit seiner Band gegeben – eine Mischung aus Indie-Pop und orientalischer Folklore –, und wie immer war es spät geworden.

»Kurz nach halb zehn«, informierte Theo ihn.

»Schon mal was von Ferien gehört?«, nuschelte Fatih. Er hatte die letzten Prüfungen fürs Abitur hinter sich und hatte jetzt bis zum Studienbeginn im Oktober frei. Theoretisch zumindest. Denn neben seiner Band war da auch noch sein Job als Fensterputzer in Blankenese. Er hatte ihn eigentlich als Tarnung für eine verdeckte Ermittlung angefangen, als er gemeinsam mit Theo den Mord an einer alten Freundin untersuchte. Der Job hatte sich als so lukrativ erwiesen, dass er und sein Kumpel Seldschuk einfach weitergemacht hatten. Dann war da auch noch seine Mutter Aische, die zwar vor Stolz auf das Abitur ihres Sprösslings fast platzte, aber dennoch fand, ein bisschen bodenständige Arbeit in der familieneigenen Dönerbude könne nicht schaden. Und nicht zuletzt kam Theo, der Fatih gern wegen seiner Computerkenntnisse einspannte.

»Umso besser«, sagte Theo fröhlich. »Dann hast du ja alle Zeit der Welt und kannst mir helfen.«

Fatih stöhnte. »Wieso glaubt hier eigentlich jeder, ich hätte nix zu tun!«

»Du bist eben ein netter Mensch.«

Fatih seufzte und ergab sich in sein Schicksal. »Lass hören.«

Theo grinste. »Ich hab’ da auch was Spannendes für dich!«, lockte er. Dann erklärte er ihm den Fall.

»Is’ ja krass.« Fatih klang jetzt hellwach.

Eine Dreiviertelstunde später bückte Fatih sich reflexartig, als er durch die niedrige Tür in Theos reetgedecktes Haus trat. Der Bestatter kam ihm entgegen, einen Becher Kaffee in jeder Hand, und blieb abrupt stehen, als er Fatih sah. Wie üblich hatte dieser seinen schmalen Körper in schwarze Klamotten gehüllt – doch von der langen dunklen Mähne, an die sich Theo gewöhnt hatte, war kaum noch etwas übrig. Fatihs Haar war an den Seiten nahezu kurz geschoren, am Oberkopf jedoch etwas länger und leicht verstrubbelt. Theo wusste nicht, ob das Styling gewollt war oder bloß damit zusammenhing, dass Fatih gerade erst aufgestanden war.

»Was ist denn mit dir passiert?«

Fatih fuhr sich mit den Handflächen über die Stoppeln. »Time to change«, sagte er.

Kurz darauf saßen sie vor Theos Laptop – ein nagelneues ultraschnelles Gerät, das Fatih ihm aufgeschwatzt hatte. Fasziniert betrachtete er die beiden Gesichter auf dem Monitor.

»Man müsste den Kopf in einen dreidimensionalen Modus umwandeln, sodass man ihn drehen kann«, sagte Theo.

»Theoretisch kein Problem, aber die Ausgangsdatenlage ist schlecht. Optimal wären ein Frontalfoto und eines von der Seite – Fotos aus der Verbrecherkartei sind nicht umsonst auch so angelegt, da hat man dann alle wichtigen Infos. Was wir haben, sind nur zwei Bilder im Halbprofil und ein etwas unscharfes Klassenfoto …« Er knetete sein Kinn. »Ich weiß nicht, wie präzise die Ergebnisse werden.«

Theo klopfte ihm auf die Schulter. »Du machst das schon.«

Nachdem Fatih das Spezialprogramm installiert hatte, kartografierte er die Gesichtszüge der jungen Frau. Dazu markierte er akribisch verschiedene Punkte – insbesondere so entscheidende wie die Form der Nase, die Augenwinkel, die Augenbrauen. Jeder Punkt erhielt eine Kennzeichnung, anhand derer sich das Programm orientieren konnte. Fasziniert beobachtete Theo, wie sich nach diesen Vorbereitungen ein dreidimensionales Gesicht auf dem Bildschirm aufbaute. Fatih ließ es mit der Maus rotieren. Der abgetrennt wirkende Kopf schlug eine Kapriole. Fatih rückte ihn zurecht, sodass die stumpfen Augen des Gesichts den Betrachter anzuschauen schienen, dann verminderte er die Deckungskraft des Bildes und zog es über das Bild des Plastilingesichts.

Theo, der die Luft angehalten hatte, ließ sie nun mit einem Zischlaut entweichen. »Und, was meinst du?«

Fatih schnitt eine Grimasse. »Deckungsgleich sind sie nicht. Hier der Augenabstand ist nicht präzise und die Nasen sind unterschiedlich breit. Aber insgesamt … ist nicht völlig ausgeschlossen. Im Gegenteil.«

Theo nickte langsam und starrte weiter auf das doppelte Antlitz.

»Verrätst du mir jetzt, wer die Lady auf dem Foto ist?«

»Sie hieß Marlene«, sagte Theo. »Das Mädchen auf dem Foto ist meine Tante Marlene.«

Damals

Der Tag, an dem Marlene Matthies verschwindet, ist kalt und stürmisch. Schon seit Tagen ziehen schwere Tiefausläufer von Island nach Skandinavien und drücken große Wassermassen in die Nordsee. Ein Orkan braut sich am 15. Februar 1962 zusammen. Die Meteorologen geben ihm den Namen »Vincinette« – die Siegreiche. Der Sturm treibt das Wasser vor sich her, sodass es im Verlauf des 16. Februars Hamburg erreicht. Die Hansestadt ist mehr als sechzehn Jahre nach Kriegsende schlecht dagegen gewappnet. Viele Deiche, die von Fliegerbomben beschädigt waren, sind nur notdürftig mit Trümmern geflickt worden. Am verwundbarsten ist der Stadtteil Wilhelmsburg, der von zwei Elbarmen umschlossen ist. Umso fataler ist der Umstand, dass viele Flüchtlinge, die aus den verlorenen Ostprovinzen gekommen, aber auch Familien, die im Krieg obdachlos geworden waren, sich dauerhaft in den Schrebergartenkolonien eingerichtet haben – zum Teil direkt hinter den Deichen. Sie haben die Lauben zu Behelfsheimen aus- und umgebaut, aufgestockt und teilweise sogar neu errichtet – ein Wildbau, der angesichts der Wohnungsnot nach dem Krieg toleriert wird. Die Kolonien nennen sich »Aufbruch«, »Zur letzten Scholle« oder »Brummerkaten«.

Der Sturm ist für die meisten kein Anlass zur Beunruhigung – Hanseaten sind wettererprobt. Die letzte große Sturmflut in Hamburg liegt lange zurück – 1825 wurde die Stadt zum letzten Mal schwer von den Wassermassen verwüstet. Und heute, an einem Freitag im Fasching, den Wochenlohn in der Tasche, will sich kaum einer die Laune verderben lassen. Die Erwachsenen schlagen die Mantelkragen hoch und halten die Hüte auf dem Kopf fest. Die Kinder lehnen sich lachend gegen den Wind, der so stark ist, dass er sie nicht umfallen lässt. Keiner von ihnen ahnt die nahende Katastrophe. Die jungen Leute gehen tanzen, die Werftarbeiter brechen zur Nachtschicht auf. Die Mütter stecken ihre Kinder ins Bett.

Kurz nach Mitternacht brechen in Hamburg die Deiche. Innerhalb von Minuten läuft die Elbinsel Wilhelmsburg voll Wasser wie ein leckgeschlagenes Ruderboot. Die Pegelstände steigen so schnell, dass viele Menschen nicht einmal mehr ihre Türen öffnen können. Viele ertrinken, als ihr Haus geflutet wird. Andere flüchten sich auf die Dächer, versuchen sich auf Bäume zu retten. Einige der hölzernen Behelfsheime reißen die Wassermassen als Ganzes weg, sie treiben auf den noch immer sturmgepeitschten Fluten, während ihre Bewohner gellend um Hilfe schreien.

315 Menschen fallen in dieser Nacht dem Wasser zum Opfer. Allein in Wilhelmsburg sterben 222. Ihre Leichen werden in den darauffolgenden Tagen geborgen. Alle, bis auf eine: Marlene Matthies.

»Wir haben uns immer gefragt, was mit ihr geschehen ist«, sagte Theo zu Fatih. »Als Kind habe ich geglaubt, dass sie mit dem ablaufenden Wasser in die Nordsee geschwemmt wurde – aber das ist natürlich sehr unwahrscheinlich. Irgendwo bleibt so ein Körper doch hängen.«

»Und jetzt glaubst du, dass sie nie gefunden wurde, weil sie gar nicht ertrunken ist, sondern ermordet und vergraben wurde.« Fatihs Blick hing noch immer an dem doppelten Frauenantlitz.

Theo seufzte und fuhr sich mit beiden Händen durch das dichte dunkle Haar. »Könnte doch sein?«, sagte er zögerlich. Aber ihm war bewusst, dass das eine ziemlich gewagte Theorie war. Und so beschloss er, Hadice vorerst nichts von seinem vagen Verdacht zu erzählen. Erst einmal wollte er der Sache selbst nachgehen. Allerdings war ihm klar, dass seine wichtigste Informationsquelle ein zäher Brocken war.

Roswitha Matthies war 92 Jahre alt. Eine winzige Person, schrumpelig wie ein altes Äffchen mit buschigen grauen Augenbrauen, unter denen ein immer noch hellwacher Blick hervorspähte. Obwohl sie, schon seit Theo denken konnte, ständig prophezeite, dass sie mit Sicherheit ihren nächsten Geburtstag nicht mehr erleben würde (ganz zu schweigen von dem kommenden Weihnachtsfest), war Theo überzeugt, dass seine Großmutter das Zeug dazu hatte, die Hundert zu knacken. Vor acht Jahren hatte ihre Tochter, seine Tante Inge, sie endlich überreden können, in ein Altersheim zu ziehen, und tatsächlich war sie dort noch einmal richtig aufgeblüht. Sie hatte sich sofort mit fast jedem überworfen, insbesondere mit ihrer Zimmernachbarin Fräulein Edeltraud – ein ständiger Grabenkrieg, der die Lebensgeister der beiden alten Damen nährte.

Roswitha Matthies war schon immer eine streitlustige Person gewesen. In seiner Kindheit hatte Theo sich regelrecht vor ihr gefürchtet. Erst später, nachdem er zu würdigen gelernt hatte, mit welcher Courage die Großmutter das Bestattungsunternehmen durch die schweren Kriegszeiten gebracht hatte, hatte er ihr zunehmend Respekt gezollt. Theos Großvater, den er nur von Fotos kannte, war als gebrochener Mann aus der Kriegsgefangenschaft heimgekehrt. Und so hatte Roswitha Matthies das Geschäft mit dem Tod weiterhin so gut wie alleine gestemmt. Inzwischen mochte Theo die tyrannische alte Dame sogar recht gerne – auch oder gerade weil sie ihn noch immer aus der Fassung bringen konnte. Hinter der bissigen Fassade hatte er schon oft einen grimmigen Sinn für Humor aufblitzen sehen.

Als er das Zimmer betrat, thronte seine Großmutter in einem Lehnsessel, der viel zu groß für seine geschrumpfte Besitzerin schien. Sie trug die gleiche Kleidung wie stets: Pulli und Rock in undefinierbaren Brauntönen, dicke, vorgeblich hautfarbene, in Wirklichkeit aber schmutzig rosafarbene Strümpfe, die an ihren mageren Beinen Falten schlugen. Die Füße steckten in karierten Pantoffeln, in die sie Löcher geschnitten hatte, um Raum für ihre deformierten Großzehenknöchel zu schaffen. Hallux valgus, eine Degeneration, die genetisch bedingt sein konnte oder durch das Tragen hoher Absätze verstärkt wurde. Theo konnte sich allerdings nicht vorstellen, dass seine Großmutter irgendwann einmal hochhackige Pumps getragen hatte. Ihr Haar war dünn und weich wie Entenkükenflaum. Es bildete im Licht der unweigerlich brennenden Stehlampe neben ihrem Sessel einen Glorienschein, der wenig zu den herabgezogenen Mundwinkeln passte.

Auf ihrem Schoß hockte ein weißes Robbenbaby aus Plüsch. Roswitha Matthies strich ihm über den Kopf, und es schloss genüsslich die riesigen, langbewimperten Augen. Dann gab es ein wohliges Fiepen von sich.

»Was um Himmels willen ist denn das?«

»Das da ist Fine. Sie ist ein Kuschelroboter.« Fine klimperte bestätigend mit den Augen und ruderte ein wenig mit den Vorderflossen.

Theo zog sich einen unbequemen Stuhl heran. »Was es nicht alles gibt.« Er war fassungslos. Fasziniert, aber fassungslos.

»Nachts kriegt sie einen Schnuller, über den ihre Batterien wieder aufgeladen werden.« Die Stimme seiner Großmutter klang wie üblich zynisch, doch Theo beobachtete, mit welch unbewusster Zärtlichkeit ihre marmorierten Hände durch das Kunstfell pflügten. »Antibakteriell«, betonte sie. Mit der Hygiene hatte sie es immer sehr genau genommen. Was insbesondere in einem Bestattungsunternehmen keine schlechte Einstellung war.

»Wie?«

»Das Fell ist antibakteriell.«

»Hat jetzt hier jeder so ein … Haustier?«

»Wohl kaum. Dafür sind die Dinger nun doch zu teuer. Fast 3000 Euro.« Es klang stolz. »Ich nehme an, die sind für mich«, sagte sie dann mit einem Blick auf die Pralinenschachtel in Theos Hand. Die »Edlen Tropfen in Nuss« wie sich die mit diversen Obstwassern gefüllten Pralinen nannten, waren ihre absolute Lieblingssüßigkeit. Theo hatte eine Packung gekauft, in der Hoffnung, sie damit gnädig zu stimmen. Immerhin hatte er vor, ein ausgesprochen heikles Thema anzuschneiden. Die Nacht der Sturmflut und insbesondere das Verschwinden der Tochter waren im Hause Matthies schon immer ein Tabu gewesen, wie Theo noch von seinem vor wenigen Jahren verstorbenen Vater wusste. Dieser war damals 21 Jahre alt gewesen und hatte die Nacht, wie so viele, feiernd auf der Reeperbahn verbracht – ohne zu ahnen, welche Dramen sich nur wenige Kilometer Luftlinie entfernt auf der anderen Seite der Elbe abspielten.

Seine Großmutter beäugte ihn listig unter ihren dichten Augenbrauen. »Wenn du mit Pralinen hier aufkreuzt, willst du bestimmt was, Jungchen.«

Theo verzog das Gesicht zu einem schiefen Lächeln. Er befreite die Pralinenpackung von ihrer Hülle, reichte sie ihr und zog dann das Bild von »Wilhelmine« hervor.

»Schau dir das doch mal an.«

Seine Großmutter schob sich eine Praline in den Mund und griff dann nach der Brille, die an einer goldenen Kette um den Hals baumelte. Dann betrachtete sie das Plastilinantlitz.

»Was soll das denn sein?« Sie schaute ihn streng über die Bifokalgläser hinweg an. »Die sieht ja aus wie eine von den Puppen aus der Geisterbahn.«

Theo musste zugeben, dass die Bemerkung ihre Berechtigung hatte. »Das Gesicht hat eine Expertin auf einen Schädel modelliert, den man in Wilhelmsburg gefunden hat.«

Seine Großmutter schnaubte verächtlich. »Ist ja ein wahres Meisterwerk. Wenn die Deern bei Lebzeiten so ausgesehen hat, kann sie einem leidtun.«

»Und sie erinnert dich an niemanden?«

»Nee. Ist mir vollkommen unbekannt.«

Inzwischen hatte Roswitha Matthies in ihrem üblichen Rekordtempo bereits die fünfte Praline verspeist.

Theo räusperte sich. »Ich dachte, es könnte vielleicht Marlene sein. Man hat sie doch nie gefunden. Und das Alter würde hinkommen.«

Seine Großmutter gab ein bellendes Geräusch von sich, das Theo als Lachen einordnete. Das Seehundbaby auf ihrem Schoß fiepte und schaute ihn bekümmert an.

»Unsere Marlene war ein hübsches Mädchen – ich kann da keine Ähnlichkeit feststellen – wirklich, Jungchen, du tüddelst.«

»Aber die Wangenknochen«, beharrte Theo, »und der breite Mund. Und die Augenstellung. Die ist nahezu deckungsgleich.«

Die Großmutter beugte sich vor und griff nach der Pralinenschachtel. Sie schwieg einen Moment.

»Wo hat man sie denn gefunden?«, fragte sie. Ihr Gesicht zeigte keinerlei Regung.

»In einer Schrebergartenkolonie hier in Wilhelmsburg.«

»Wüsste nicht, was Marlene da zu suchen gehabt hätte.« Die alte Frau steckte sich eine weitere Praline in den Mund. Etwas Flüssigkeit sickerte in die Lücken ihrer dritten Zähne, und sie saugte sie geräuschvoll hervor.

Theo kapitulierte. Fürs Erste. »Ich lass dir das Bild einfach da. Vielleicht hast du ja doch noch eine Idee, wer sie sein könnte.« Er erhob sich, küsste seine Großmutter auf die Wange. Sie fühlte sich unter seinen Lippen an wie zerknitterte Seide. Als er sich an der Tür noch einmal umwandte, schien der Kuschelroboter ihm mit den Flossen zu winken.

Er ging langsam den Gang herunter, in dem ein undefinierbarer Essensdunst das frühe Mittagessen ankündigte. Im Altenheim war es wie im Krankenhaus – die Meute wurde früh abgefüttert. Ein Blick durch die offen stehende Tür des Speisezimmers zeigte, dass das sehr wohl im Interesse der Bewohner schien. An den runden Tischen saßen einige geschrumpfte alte Leute, erwartungsvoll wie ein Schwarm ergrauter Schulkinder. Seine Großmutter würde das Mittagessen nach den ganzen Pralinen wohl ausfallen lassen.

Er nahm den Fahrstuhl, in dem ein Aushang auf die Aktivitäten der Woche hinwies: »Tanzen im Sitzen« und »Hirnjogging am Nachmittag«.

Als er auf den Gehweg trat, den die Sonne bereits zu hochsommerlichen Temperaturen erhitzt hatte, holte er tief Luft. Wie immer war er froh, das Heim mit seinen traurigen Gerüchen und der undefinierbaren Aura des Wartens auf das Ende hinter sich lassen zu können. Auf der Treppenstufe stand eine junge Frau in der Kluft des Pflegepersonals – weiße Hose und apfelgrünes Poloshirt. In der Hand hielt sie eine brennende Zigarette. Sie war so zierlich, dass Theo sich wunderte, wie sie die körperlich anstrengende Arbeit im Heim überhaupt bewältigen konnte.

Sie nickte ihm zu. »Herr Matthies.«

Theo war nicht nur als Angehöriger im Altenheim bekannt. Als Bestatter hatte er naturgemäß auch beruflich immer wieder vor Ort zu tun, wenn für einen der alten Menschen das Warten ein Ende hatte.

Sie zog noch einmal an ihrer Zigarette, drückte sie dann auf dem an die Wand montierten Aschenbecher aus und versenkte sie im Bauch des Gefäßes. Die Geste erinnerte ihn an Hanna, die auch vom Nikotin nicht loskam.

Sie lächelte ihn an. Ihre Zähne standen ein klein wenig schief, und die unordentlichen blonden Locken wirkten etwas verschwitzt. Der blaugrüne Metallicnagelack auf ihren kleinen Fingern begann bereits abzublättern. Er stellte fest, dass er sie hübsch fand, mit den Sommersprossen auf blasser Haut.

»Was hat es eigentlich mit diesem Kuschelroboter auf sich?«, wollte Theo wissen.

»Den haben wir für unsere Demenzpatienten angeschafft. Er sorgt dafür, dass sie entspannter und zufriedener sind. Vor allem für Menschen, die früher Haustiere hatten, ist er ideal.«

»Aber meine Großmutter ist nicht dement.«

»Nein, natürlich nicht.« Sie zögerte. »Aber sie hält den Laden ganz schön auf Trab.«

»Das kann ich mir vorstellen. So war sie schon immer. Als Kinder haben wir sie ›General‹ genannt.«

Sie lachte. »Glauben Sie mir: Solange die Robbe bei Ihrer Großmutter ist, profitieren alle im Heim davon.«

Theo verabschiedete sich. Auf dem Weg zu seinem Fahrrad kam er an dem Haus vorbei, in dem die Demenzpatienten untergebracht waren. Ein paar von ihnen gingen in einem kleinen Gärtchen auf und ab, das von einem hohen Zaun umgeben war. Andere dämmerten auf Bänken sitzend in der Sonne. Er beschloss, auf eigene Kosten eine zweite Kuschelrobbe anzuschaffen – damit auch die Menschen einmal zum Zuge kamen, für die der Roboter eigentlich gedacht war.

Als ihr Enkel fort war, setzte sich Roswitha Matthies ihre Brille wieder auf die Nase. Dann beäugte sie das Papier in ihrer Hand noch einmal scharf. Sie ließ sich zurücksinken. »Vollkommen unmöglich«, sagte sie in den leeren Raum. Dann erhob sie sich mühsam, klemmte die Robbe unter ihren Arm und verstaute das Papier mit dem Gesicht von »Wilhelmine« sorgfältig in ihrem zierlichen Biedermeiersekretär.

Für den Nachmittag hatte Theo sich mit Zeitzeugin Nummer zwei verabredet. Seine Tante Inge, die jüngste Schwester seines Vaters, war zum Zeitpunkt der Katastrophe erst zwölf Jahre alt gewesen und hatte die Sturmnacht in Wilhelmsburg miterlebt. Inge, die auf den wenigen Kindheitsfotos, die Theo von ihr kannte, stets Grimassen geschnitten hatte, war jetzt das, was frühere Generationen eine patente Frau genannt hatten. Sie war das Gegenteil seines stillen Vaters: groß, laut und korpulent, mit inzwischen ergrautem, kurz geschnittenem Haar und immer noch dichten schwarzen Augenbrauen. Sie stießen über der Nasenwurzel zusammen wie bei der Malerin Frida Kahlo. Nachdem sie fast vierzig Jahre als Grundschullehrerin in der Schule am Stübenhofer Weg gearbeitet hatte, erklärte sie den Ruhestand zum Unruhestand und war aktiver denn je. Unter anderem hatte sie sich, anders als manch andere Wilhelmsburger, für das Stadtplanungsprojekt der Internationalen Bauausstellung begeistert, das die Elbinsel und ihre Gemüter tüchtig aufgemischt hatte. In erster Linie hatte es ihr das Projekt Energiebunker angetan, durch den sie jetzt ehrenamtlich Führungen leitete.

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