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Ich hocke unter einem Busch inmitten des Moremi-Nationalparks in Botswana im südlichen Afrika. Ich bin voller Konzentration bei der Morgentoilette – nur so kann ich erklären, dass mir die Hyäne, die mich mit neugierigen Augen aus dem gegenüberliegenden Busch anstarrt, entgangen ist. Verwundbare Pose ist das Erste, was mir durch den Kopf schießt. Dann muss ich ein Lachen unterdrücken, weil mir solche Dinge immer wieder passieren: mit einer fetten Kröte duschen, mit einem Pavian beim Frühstück um die Erdnussbutter streiten, mit einer Vogelspinne das WC teilen … Mein Schicksal! Aber keine Sorge, ich bin bisher immer unbeschadet aus solchen Nummern herausgekommen. Im Lauf der Jahre ermutigten mich Freunde und Wegbegleiter immer wieder, meine Geschichten aufzuschreiben. Immer mehr Menschen möchten die Welt nach eigenem Kompass entdecken. Sie wünschen sich, für längere Zeit unterwegs zu sein, zögern aber, wenn es an die Umsetzung geht. Erkennst du dich darin wieder? Dann sind diese Geschichten vielleicht genau der Schubs, den du brauchst, um vom Wünschen ins Tun zu kommen. Aber auch wenn du noch unsicher bist, helfen dir die Tipps in diesem Buch vielleicht, den ersten Schritt zu tun. Ich kann dir schon mal versprechen, dass sich die Freude darüber sehr gut anfühlen wird. Und es gibt noch einen zweiten Aspekt, der mir am Herzen liegt: Es ist meine tiefe Überzeugung, dass wir globale Krisen nur bewältigen können, wenn wir als Weltgemeinschaft an einem Strang ziehen. Der Grundstein dafür ist die Erkenntnis, dass wir unter demselben Himmel leben und im Herzen alle das Gleiche wollen: Liebe, Frieden, Freiheit, Gesundheit, ein Dach über dem Kopf und eine warme Mahlzeit am Tag. Meine Erzählungen sind ein Versuch, zu zeigen, dass es keinen Grund gibt, sich vor dem, was uns fremd ist, zu fürchten. Die einzige Gefahr geht davon aus, nicht aufzubrechen. Also folge mir auf meinem Weg durch Afrika, nach Indonesien und in den Iran!
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Veröffentlichungsjahr: 2022
Inhaltsverzeichnis
Unter demselben Himmel
Geschichten einer Reiselustigen mit Ratgeber für (angehende) Abenteurer
Über dieses Buch
Widmug
Prolog
Aller Anfang ist unerwartet
Frischlings-Essenzen
Die Entdeckung der Langsamkeit
Unfall-Essenzen
Unters Naturvolk gemischt
Naturvolk-Essenzen
Tradition trifft Moderne
Indonesien-Essenzen
Liberté – vereint im Klang der Trommeln
Trommel-Essenzen
Afrika für immer im Blut
Malaria-Essenzen
Grenzgänger
Einreise-Essenzen
Innenansichten einer Krise
Krisengebiets-Essenzen
Tierisch gut – afrikanische Safari zu Land, zu Wasser und in der Luft
Wildtier-Essenzen
Die weiße Samburu
Pannen-Essenzen
Traue keinem Fetisch
Beziehungs-Essenzen
Zwei Frauen auf vier Rädern
Soloreisen-Essenzen
Ein Neustart
Einbruch-Essenzen
Eisige Gletscher, Feuer im Herzen
Gastfreundschafts-Essenzen
Nicht ganz Tausendundeine Nacht – die vielen Farben des Iran
Freiheits-Essenzen
Abenteuer auf vier Pfoten
Vierbeiner-Essenzen
Die Goldene Parknadel
Alltags-Essenzen
Epilog – Reisen, um bei sich selbst anzukommen
Danke
Liebe Leserin, lieber Leser,
Über mich
Impressum
Heidi Metzmeier
Mein Feuer der Reiselust wurde früh entfacht, seither muss es genährt werden.
Zusammen mit meinem Partner folge ich – manchmal mit Rucksack, meist mit eigenem Expeditionsmobil – einem inneren Kompass. So entdecken wir Berggorillas und Löwenrudel in Afrika, erkunden den Regenwald Costa Ricas, besuchen eines der letzten Naturvölker Indonesiens und bewundern den Sternenhimmel über der Wüste des Iran.
Ich habe Momente des Schreckens und des größten Glücks erlebt, habe unterwegs die Liebe verloren und innere Stärke gewonnen. Was mich bis heute prägt, sind Begegnungen mit Menschen, die ihre Türen und ihre Seelen öffneten, um uns Einblicke in ihr Leben zu gewähren. Diese Reiseerzählungen sind auch ihre Geschichten.
Wenn du den Puls des Abenteuers in dir fühlen kannst, dann ist dieses Buch für dich – inklusive praktischer Tipps, die dir den Einstieg in die Welt der Individualreisen erleichtern.
„Dieses Buch hat mein Reisefieber geweckt. Mit herrlich selbstironischen Geschichten und informativem Teil für die Reisevorbereitung.“ – Sandy Mercier – BILD Bestseller-Autorin
Für Gabi und Sabrina,
zwei starke Frauen,die zu Engeln wurden.
Do not go where the pathmay lead, go insteadwhere there is no pathand leave a trail.
Ralph Waldo Emerson
Ich hocke unter einem Busch inmitten des Moremi-Nationalparks in Botswana im südlichen Afrika. Ich bin voller Konzentration bei der Morgentoilette – nur so kann ich erklären, dass mir die Hyäne, die mich mit neugierigen Augen aus dem gegenüberliegenden Busch anstarrt, entgangen ist.
Verwundbare Pose ist das Erste, was mir durch den Kopf schießt. Dann muss ich ein Lachen unterdrücken, weil mir solche Dinge immer wieder passieren: mit einer fetten Kröte duschen, mit einem Pavian beim Frühstück um die Erdnussbutter streiten, mit einer Vogelspinne das WC teilen … Mein Schicksal!
Aber keine Sorge – als Beweis, dass ich bisher immer unbeschadet aus solchen Nummern herausgekommen bin, hältst du heute dieses Buch in den Händen.
Eigentlich hatte man schon im frühen Kindesalter erahnen können, dass mein Explorationsdrang mir noch so manches Abenteuer bescheren würde. Die Neugier auf das Ungewisse scheint seit jeher meine Antriebsfeder zu sein und begann – ich konnte gerade erst laufen – mit einer offenen Terrassentür. Der Blick in den Garten schien mir verheißungsvoll, also los! Draußen wartete allerdings nicht nur die große weite Welt, sondern auch der tiefe Schlund des blauen Monsters. Frohen Mutes marschierte ich geradewegs darauf zu und … landete abrupt und ziemlich hart auf dem gekachelten Boden des Schwimmbeckens, das zu dieser Jahreszeit leer war. Das Ergebnis: Meinen Eltern fuhr der Schreck in alle Glieder, ich kam mit einer Gehirnerschütterung davon und mein Schutzengel rieb sich zum ersten Mal verwundert die Augen. Es sollte noch ein paar Jahre dauern, bis der Arzt feststellte, dass das Kind eine Brille brauchte.
Doch meine Eltern sind an meinem Drang hin zur Natur nicht unschuldig. Als ich fünfzehn Jahre alt war, packten die beiden ihre Rucksäcke samt Campingausrüstung und fuhren mit dem Zug nach Paris. Der Plan: zu Fuß zurück in die Heimat. Da bei mir gerade die Sommerferien vor der Tür standen, stieß ich zu ihnen, und wir liefen gemeinsam vier Wochen lang durch die Wälder Frankreichs, Belgiens und Luxemburgs. Es war ein trockener, heißer Sommer – auf dem Europawanderweg begegnete uns kaum eine Menschenseele. Damals lernte ich es zu schätzen, quellfrisches Wasser trinken und ein Baguette mümmeln zu können. Wir schliefen zu dritt in einem winzigen Zelt, das wir auf Feldern und Wiesen aufschlugen. Die Franzosen schüttelten ungläubig die Köpfe über uns, die Belgier hielten uns für verrückt und in Luxemburg dachten sie, wir wären Landstreicher, weil unsere Wandergarnitur an diesem Punkt der Reise bereits sehr mitgenommen aussah. In der Confiserie befürchteten sie, wir könnten unsere Rechnung nicht bezahlen. Mein Vater nahm die Aussage der Verkäuferin, „Hundert Gramm kosten aber fünf Mark!“, mit sehr viel Humor. Jedenfalls schnupperte ich auf dieser Reise zum ersten Mal den Duft der Freiheit, auch wenn ich manchmal fluchte, weil ich meine Freundinnen schrecklich vermisste.
Nach dem Abitur überbrückte ich die Wartezeit bis zum Studium mit einem Auslandsjahr. Amerika war mein Traumziel, und so wurde ich bei einer Familie in Washington D.C. Au-pair-Mädchen. Ein anderer Kontinent und eine Sprache, die ich trotz neun Jahren Unterricht überhaupt nicht verstand. Alles war riesig. Ich verlief mich in dieser neuen weiten Welt nicht nur einmal und wurde schließlich – zu Fuß allein auf der Autobahn unterwegs – von der Polizei aufgegriffen. Die freundlichen Herren chauffierten mich in ihrem Streifenwagen zurück zur Unterkunft.
Die erste große Reise allein (U.S.A.)
Im Lauf der Jahre ermutigten mich Freunde und Wegbegleiter immer wieder, meine Geschichten aufzuschreiben, aber ich zögerte … Warum mache ich es jetzt also doch? Nun, ich erlebe, dass immer mehr Menschen Lust darauf haben, die Welt zu entdecken. Sie wünschen sich, für längere Zeit unterwegs zu sein, zögern aber, wenn es an die Umsetzung geht.
Erkennst du dich darin wieder? Dann sind diese Geschichten vielleicht genau der Schubs, den du brauchst, um vom Wünschen ins Tun zu kommen. Aber auch wenn du noch unsicher bist, helfen dir die Tipps in diesem Buch vielleicht, den ersten Schritt zu tun. Ich kann dir schon mal versprechen, dass sich die Freude darüber sehr gut anfühlen wird.
Und es gibt noch einen zweiten Aspekt, der mir am Herzen liegt: Nicht erst seit der Coronapandemie beobachte ich, dass wir drohen, in alte Gewohnheiten des nationalstaatlichen Denkens zurückzufallen. Es ist meine tiefe Überzeugung, dass wir globale Krisen nur bewältigen können, wenn wir als Weltgemeinschaft an einem Strang ziehen. Der Grundstein dafür ist die Erkenntnis, dass wir unter demselben Himmel leben und im Herzen alle das Gleiche wollen: Liebe, Frieden, Freiheit, Gesundheit, ein Dach über dem Kopf und eine warme Mahlzeit am Tag. Meine Erzählungen sind ein Versuch, zu zeigen, dass es keinen Grund gibt, sich vor dem, was uns fremd ist, zu fürchten. Ich habe viele Situationen (üb)erlebt – aber nicht deshalb, weil ich dafür ausgebildet wäre oder besondere Fähigkeiten hätte, sondern einfach nur, weil es überall auf der Welt wohlwollende Menschen gibt, die mir aus der Patsche geholfen haben. Was mir ursprünglich Angst machte, wurde so zu einer prägenden Erfahrung, die den Menschen ausmacht, der ich heute bin. Und als Bonus habe ich auch noch neue Freunde gewonnen.
So richten sich meine Erzählungen an all jene, die den Puls des Abenteuers fühlen wollen, auch wenn sie vielleicht die Reiseziele, die ich gesehen habe, nie ansteuern werden.
Auf den nächsten Seiten erzähle ich meine Geschichten, wobei ich nicht chronologisch vorgehe. Wir springen zwischen verschiedenen Reisen und Kontinenten hin und her, weil mir der Fokus auf die Erfahrungen und Erkenntnisse wichtiger ist als die Jahreszahlen und die Reihenfolge. Weil ich aber weiß, dass dieser Ritt etwas verwirrend werden könnte, vorab eine kurze Erläuterung:
Zusammen mit meinem Partner Stefan war ich in meinen Zwanzigern viel mit dem Rucksack unterwegs – unter anderem in Costa Rica und zweimal auf verschiedenen indonesischen Inseln. Kurz vor dem Millenniumswechsel kauften wir uns einen Geländewagen, einen Land Rover Defender, den wir zum Expeditionsmobil umbauten und nach Kapstadt verschifften. Der Plan war eine Transafrikareise nach Kairo, also die Ostroute. Das hat aber nicht ganz so geklappt wie geplant – warum, erfährst du auf den nächsten Seiten. Der Land Rover blieb sieben Jahre auf dem afrikanischen Kontinent, genauer gesagt bei einem Freund in Kenia. Dies konnten wir als Chance nutzen, einmal im Jahr zur Safari in die umliegenden Länder aufzubrechen. Irgendwann haben wir das Abenteuer Transafrika dann noch einmal in Angriff genommen und sind dabei zunächst von Kenia zurück nach Südafrika gereist, um dann die Westroute bis nach Marokko zu nehmen.
Ich möchte nicht spoilern – nur so viel zum letzten Teil des Buchs: Er handelt von einer in vielerlei Hinsicht besonderen Reise mit dem Geländewagen in Richtung Iran.
Die Auswahl meiner Erzählungen wird vom feinen Band meiner Einsichten, die ich gern an dich weitergeben möchte, zusammengehalten, und für alle mit dem Traumziel Langzeitreise fasse ich meine Botschaften am Ende jedes Kapitels als „Abenteuer-Essenzen“ zusammen. Ich freue mich, wenn du für die Planung deines ganz persönlichen Abenteuers etwas daraus mitnehmen kannst.
Also – wenn du ebenso neugierig auf die Welt bist wie ich, dann folge mir!
Deine Heidi Metzmeier
Auf Safari in Kenia
Eben noch habe ich mich mit einem kindlichen Quietschen den Wellen der Karibik entgegengeworfen – jetzt werden die Palmen und der Strand in rasantem Tempo kleiner. Wie von einem unsichtbaren Magneten angezogen, entferne ich mich immer weiter vom Land, obwohl ich mit aller Kraft dagegen anschwimme. Zugegeben, ich bin keine besonders gute Schwimmerin, aber bisher hatte ich keine Angst vor dem Meer. Jetzt habe ich Panik.
Dabei war die Aussicht auf türkisblaues Meer und blütenweiße Strände einer der Gründe, warum wir uns Costa Rica als Ziel für unsere erste große Rucksackreise ausgesucht hatten. Ich hatte mein rudimentäres Spanisch etwas aufpoliert, um für das Nötigste gewappnet zu sein, denn Stefan verfügt zwar über viele Talente, Sprachen gehören jedoch nicht dazu. Die Reise ist ein Geburtstagstrip – ich stehe kurz davor, mein achtundzwanzigstes Lebensjahr zu vollenden. Es wird offenbar ein unvergessliches Erlebnis … wenn auch anders als geplant.
Schon beim ersten Marktbesuch in der Hauptstadt San José werden uns aus dem Tagesrucksack die Sonnenbrillen geklaut. Fortan tragen wir das gute Stück bei viel Gewimmel nur noch auf dem Bauch.
Im ersten Hotel an der Küste treffen wir dann gleich die nächste Fehlentscheidung. Zu dieser Zeit (Mitte der Neunzigerjahre) reist man noch mit Reiseschecks von American Express – das sind Papiere im Wert verschiedener US-Dollarnoten, die man im Heimatland auf der Bank oder bei Reiseveranstaltern bekommt und dann auf der Bank im Ausland gegen lokale Währung tauschen kann. Bei Erhalt werden die Schecks zum ersten Mal unterzeichnet und beim Einlösen ein zweites Mal. Damit stehen sie im Ruf, sicherer als Bargeld zu sein, weil die Unterschrift nur vom Besitzer geleistet werden kann. Entwenden ist also sinnlos – so verspricht es zumindest der Anbieter. Für gewöhnlich bewahren wir die kostbaren Papiere in einer Bauchtasche auf, die wir am Körper tragen. Aber Wertsachen mit an den Strand zu nehmen erscheint uns wenig sinnvoll, weshalb wir sie im Schrank des Hotelzimmers einschließen. Oberflächlich betrachtet eine gute Idee.
Etwas später kommen wir beseelt von den Eindrücken unseres ersten Badeausflugs zurück und es ist alles noch da: die Papiere, die Wertgegenstände und die Bauchtasche. Etwa zehn Tage später stellen wir auf der Bank beim Nachzählen der Schecks jedoch verwundert fest, dass die Hälfte fehlt! Wir telefonieren mit American Express und erfahren, dass die Unterschrift wohl doch nicht so fälschungssicher ist. Jedenfalls hat jemand in Stefans Namen unterschrieben und so zwischenzeitlich einen großen Batzen unserer Reisekasse geplündert. Betretene Gesichter. Unser Rückflug ist erst in vier Wochen. Das bedeutet Verzicht auf Souvenirs, Restaurantbesuche und andere Annehmlichkeiten, wenn wir mit dem verfügbaren Budget bis zum Schluss auskommen wollen. American Express will aber zumindest ein grafologisches Gutachten erstellen lassen, das die beiden Unterschriften auf den Schecks miteinander vergleicht. Damit das möglich ist, müssen wir bei der lokalen Polizei Anzeige erstatten.
Wir lassen uns die Reiselust von diesem Zwischenfall nicht vermiesen und machen uns auf in Richtung Regenwald. Dort kommen wir zunächst in der Finca eines Amerikaners unter, der zwischen den Staaten und Costa Rica pendelt. In den USA arbeitet er als Fensterputzer an Hochhäusern, und mit dem Einkommen finanziert er sein Leben in Costa Rica. Auf der einen Hälfte seines Grundstücks befinden sich sein Haus und der große Obst- und Gemüsegarten. Hier lerne ich, wie Ananas wächst und wie Kakaoanbau funktioniert. Der andere Teil des Grundstücks zieht sich hinter dem Haus einen Hügel hinauf und ist mit riesigen alten Bäumen bewaldet. Dort hat er für Gäste ein Stelzenhaus aus Holz errichtet. 180-Grad-Blick und Aussicht bis zum Meer. Nachts kann ich den Sternenhimmel sehen und am Morgen meines Geburtstags, die Sonne geht gerade auf, werde ich mit Livemusik geweckt. Unser Gastgeber Jack spielt auf der Trompete Happy Birthday to You. Der Sound vermischt sich mit den Naturgeräuschen der Umgebung: Zikaden, die noch wach sind, und Vögel, die schon wach sind – ein Chor, den ich niemals vergessen werde.
An diesem Tag brechen wir zu einer mehrtägigen Tour durch den Regenwald auf, teils zu Fuß, teils zu Pferd. Das Ziel ist ein abgelegener Wasserfall, der höchste im Land, und ich bin freudig erregt. Die Einheimischen belächeln uns zwar ein bisschen, wie wir windschief auf unseren Pferden hängen, aber ich genieße die Reise auf dem Rücken dieser sanften Tiere. Irgendwann lassen wir die Pferde zurück und ein Costa Ricaner stößt zu uns. Er kennt den weiteren Weg und hat eine Art Machete dabei, mit der er schon bald den offenbar lange nicht begangenen Pfad freischlägt. Dann geht es den Hang hinauf, aber vor dem Anstieg packt Jack noch eine Überraschung für mich aus. Er hat mir eine Torte versprochen. Aber was er nun aus seinem Rucksack zieht, ist eine nahezu perfekt kugelrunde Frucht, so groß wie eine Melone und von braunem, flauschigem Äußeren, die angeschnitten ihr orangefarbenes Fruchtfleisch offenbart. Schon beim ersten Bissen verstehe ich die Analogie: Die Frucht, Zapote, schmeckt wirklich wie Torte!
Kurz darauf gehen wir gestärkt den Hang an. Am Anfang halte ich noch tapfer durch, aber irgendwann schaffe ich es kaum noch weiter. Es ist feuchtheiß, mir läuft der Schweiß in die Augen und von der Sonneneinstrahlung bilden sich kleine Blasen auf meiner Haut, an Händen und Unterarmen, die beim Kraxeln platzen. Als ich auf einem Vorsprung, der nicht viel tiefer ist als meine Füße lang sind, für einen Moment ausruhe, konstatiert Stefan: „Ach, es ist so schön, dass man solche Sachen mit dir machen kann!“
Ich starre ihn atemlos an und frage ungläubig: „Welche Wahl hätte ich denn deiner Meinung nach gerade?“
Mit vereinten Kräften geht es irgendwie weiter, und oben hören wir mit einem Mal tatsächlich das Rauschen des Wasserfalls. Bald darauf stehen wir direkt neben den sich in die Tiefe stürzenden Wassermassen des Salto Diamante.
Ein überwältigender Anblick, den wir ganz für uns allein haben. Gigantisch. Noch etwas weiter oben befindet sich eine große Höhle, in der wir es uns für die Nacht mit Schlafsäcken am Lagerfeuer gemütlich machen. Der Costa Ricaner besprüht meine offenen Wunden mit Desinfektionsmittel und verbindet sie – tapfer beiße ich die Zähne zusammen und bin stolz auf mich.
Schlafen in der Höhle (Costa Rica)
Nach der Rückkehr in die Hauptstadt ist es Zeit, sich zu Hause zu melden. Wir haben versprochen, wenigstens einmal anzurufen, damit alle beruhigt sind. Wir erreichen Stefans Papa und erzählen von unserem tollen Trip. Er fragt, ob auch wirklich alles in Ordnung sei, und da wir beschlossen haben, von unserem Reisescheckmissgeschick nichts zu erwähnen, geben wir uns betont optimistisch.
„Und warum bekomme ich dann Post von der Polizei?“
Hoppla … Damit haben wir nun wirklich nicht gerechnet. Also beichten wir, was passiert ist, und versichern, dass das Geld schon bis zum Ende reichen wird.
Nachdem wir Regenwald geschnuppert haben, wollen wir mehr. Daher beschließen wir, ein paar Tage lang ein NGO-Projekt zu besuchen. Eine NGO ist eine Nichtregierungsorganisation, die sich hauptsächlich durch Spendengelder finanziert. Sie erlauben Besuchern, an Exkursionen teilzunehmen, und schon die Fahrt zur Farm ist ein Erlebnis. Wir werden mit einem Traktor abgeholt, auf dessen Anhänger für alle Platz ist. Ich bin froh über meine rustikale Trekkingkleidung und vor allem die robusten Schuhe, denn es wird schon bald sehr matschig. Immer wieder müssen wir absteigen und schieben. Ich wundere mich über den Japaner, der mit Cowboystiefeln und weißer Hose reglos sitzen bleibt. Das Einzige, was ihn zu interessieren scheint, ist Nebel. Immer wieder fragt er, wo der Nebel sei, und sein Begleiter klärt uns schließlich auf. „Er ist der Regisseur unseres neuen Horrorfilms, und macht diesen Trip, um sich in die Atmosphäre einzufühlen.“
Der Tourguide muss ihn enttäuschen, denn im Regenwald gibt’s vor allem Regen, aber keinen Nebel. Das hat er sich wohl anders vorgestellt … und ich habe mir mein „Geschäft“ am Abend etwas intimer vorgestellt.
Als ich zur Decke des Bretterverschlags, der als WC dient, hochschaue, starre ich auf den Körper einer Vogelspinne. Stefan, der vor der Tür wartet, fällt auf meinen Ausruf des Entsetzens nichts Besseres ein als: „Bleib ganz ruhig sitzen! Ich hole meine Kamera!“
Danke, mir wäre Hilfe lieber gewesen. Schließlich nehme ich all meinen Mut zusammen und schleiche mich im Zeitlupentempo davon.
Monstergroße Blätter im Regenwald (Costa Rica)
Die Exkursionen sind eine Bereicherung. Wir lernen beispielsweise, dass Palmen laufen können. Ehrlich! Nur eben nicht so schnell wie wir, nur ein paar Zentimeter pro Jahr, immer der Sonne entgegen. Wir sehen unzählige Schmetterlinge und andere bunte Kleinlebewesen, und ja, eben auch Spinnen und Schlangen.
Irgendwann ist es Zeit, diese artenreiche Welt wieder zu verlassen und den Rückweg zur Küste anzutreten.
Ich rudere wild mit den Armen und schlucke dabei jede Menge Meerwasser. Stefan, der neben mir schwimmt, ruft mir zu, ich solle bei ausgehendem Wellengang abtauchen und mich auf den Meeresboden stellen, um mich mit der nächsten einlaufenden Welle mittragen zu lassen. Informatiker! Sinnvolle theoretische Konzepte – leider in diesem Moment ohne praktische Relevanz. Als er merkt, dass ich schwächer werde, versucht er mich zu ziehen. Doch das treibt uns beide nur weiter hinaus aufs Meer. Und plötzlich passiert etwas sehr Merkwürdiges: In Echtzeit nicht länger als ein Wimpernschlag, für mich jedoch eine gefühlte Ewigkeit lang, bleibt die Zeit stehen, als hätte jemand den Moment eingefroren. Scheinbar ohne konkreten Auslöser werde ich innerlich vollkommen ruhig. Ich sehe unsere Situation glasklar – zwei Figuren allein im Meer an einem menschenleeren Strand in Costa Rica.
Meine innere Stimme, vielleicht ist es mein höheres Selbst, meldet sich laut und deutlich zu Wort: Heidi, du hast jetzt zwei Alternativen: Entweder nimmst du all deine Kraft zusammen und schwimmst, was das Zeug hält, zurück zum Strand oder das hier war es für dich. Los, du schaffst das!
Und in der nächsten Sekunde fängt mein Körper auch schon an zu schwimmen, ich muss gar nicht darüber nachdenken; kraftvoll und zielgerichtet. Ich male mir vor dem geistigen Auge keine negativen Konsequenzen mehr aus, sondern schwimme fokussiert auf den Strand zu. Und so werden die Palmen wieder größer, bis ich schließlich Boden unter den Füßen spüre. Stefan ist immer noch neben mir. Wir taumeln auf den weißen Sand und bleiben reglos nebeneinander liegen, bis wir wieder zu Atem kommen.
Das ist ja gerade noch einmal gut gegangen … Mein Schutzengel schaukelt in der Nähe auf einer Liane. Er versucht sich an einem Pokerface, aber ich weiß, dass er zwischen Tobsucht und Anerkennung schwankt und nur deshalb ruhig sitzen bleibt. (An dieser Stelle sei mir die Randbemerkung erlaubt, dass mein Schutzengel natürlich weiblich ist, zwar immer dem Anlass angemessen gekleidet – also durchaus auch im Trekking-Outfit – aber mit entsprechendem Flügelfederwerk. Sie ist feingliedriger als ich, hat ihr Herz am rechten Fleck und Augen, deren tiefgründiger Blick mich manchmal trösten und manchmal wütend durchbohren möchte. Der Grammatik halber ist in der Folge aber von „ihm“, also dem Schutzengel, die Rede. Das haben wir meiner Lektorin zu verdanken.)
Später lernen wir, dass es ein Erdbeben gegeben hat, das zu Verwerfungen der Erdoberfläche führte, was sich wiederum auf die Strömungsverhältnisse im Meer auswirkte. Jeder Einheimische weiß, wie wenig ratsam es ist – zumindest bei bestimmten Wetterlagen – weiter als bis zu den Knöcheln ins Wasser zu gehen. Danke, das hat uns niemand gesagt … Aber wir haben ja auch nicht gefragt.
Falls du dich fragst, wie die Geschichte mit den Reiseschecks ausgegangen ist: Kurz vor unserer Abreise meldet sich American Express mit guten Nachrichten. Die Unterschrift, die auf der Bank geleistet wurde, war zwar „sehr gut gemacht“, aber der Grafologe bestätigte die Fälschung. Also liegt ein Betrugsfall vor, weshalb wir von der Versicherung unser Geld zurückbekommen. Die letzten drei Reisetage verbringe ich im Souvenirkaufrausch.
Du kennst das sicher auch: Momente, Begegnungen und Erlebnisse, bei denen dir ein Licht aufgeht. Manchmal trifft es dich wie ein Blitz, ein anderes Mal sickert die Erkenntnis tröpfchenweise durch. Ich bin der Überzeugung, dass sich die Essenz unseres Lebens auf diese Momente verdichten lässt, auf diese markanten Fixpunkte, an die wir uns auch Jahre später noch erinnern, die unser Verständnis erweitern und uns als Person prägen. Ich nenne sie Abenteueressenzen und möchte nach jeder Geschichte mit dir teilen, was sich mir in der jeweiligen Reiseepisode erschlossen hat. Hier meine drei Einsichten zum Thema Sicherheit, die ich aus dem Start in mein Abenteuerreiseleben mitgenommen habe:
Wertsachen gehören grundsätzlich an einen sicheren Ort. Der Körper ist zwar nicht in jedem Fall die beste Adresse, aber er ist immer noch besser als ein verlassenes Hotelzimmer oder ein nicht gesichertes Auto. Bei Langzeitreisen lohnt es sich, Vorkehrungen zu treffen, z.B. Ketten und Schlösser im Rucksack mitzunehmen oder über unauffällige, nicht leicht zu knackende Aufbewahrungsorte im Reisemobil nachzudenken.
Ein leerer Strand ist nicht unbedingt eine Einladung, sondern vielleicht sogar eine Warnung. Menschen in anderen Ländern sind nicht so versessen darauf, Schilder aufzustellen wie wir Deutschen. Bevor du dich also in ein unnötiges Wagnis stürzt, frag die Einheimischen, ob es dort sicher ist – das gilt für das Baden im Meer ebenso wie beispielsweise für einen nächtlichen Spaziergang.
Wenn wir uns auf Land und Leute einlassen, um über die Kultur und Lebensweise etwas zu lernen, müssen wir darauf vertrauen, dass uns die Menschen wohlgesonnen sind. Dieses Vertrauen ist gut. Wenn mit dem Kontakt aber ein Geschäft verbunden ist, wie etwa die Buchung eines Ausflugs oder einer Übernachtung, ist ein gesundes Maß an Vorsicht sinnvoll. Wenn der Kopf „Ja!“ schreit, aber der Bauch grummelt, solltest du dich fragen, was dir deine Intuition damit sagen will. Wenn man zu zweit unterwegs ist, kann man sich absichern – vielleicht hat der andere auch Zweifel, die das eigene Gefühl dann bestätigen können. Nicht jeder Geschäftsmann ist ein Schlitzohr, aber ich würde heute nicht mehr zu einem betrunkenen Seemann ins Boot steigen, nur weil seine Überfahrt zwei Euro billiger ist.
Regenwald kann sehr mystisch sein (Costa Rica)
Ich schreie entsetzt: „Was mach ich, was mach ich, was mach ich?“ Es ist keine Frage, sondern mein Ausdruck des Entsetzens im Angesicht des Unvermeidlichen.
Stefan antwortet vom Beifahrersitz ruhig und lakonisch: „Lenkrad gerade halten.“
Doch zu spät; da überschlägt sich unser Geländewagen – gefühlt in Zeitlupe – auch schon. Er rutscht mit einem fiesen Knirschen über den Schotter; ein Geräusch, das sich mir für immer ins Gedächtnis brennt. Der Deckel der Kompressorkühlbox hinter dem Fahrersitz ist durch die geborstene Windschutzscheibe in Richtung afrikanische Abendsonne unterwegs. Bierdosen, rohe Eier und andere Kühlwaren zischen an unseren Köpfen vorbei und zerplatzen im Fußraum.
Nach einer gefühlten Ewigkeit kommt unser Expeditionsmobil, zwar entgegen der Fahrtrichtung, aber immerhin auf allen vier Rädern, zum Stehen. Ich bin panisch, aber unverletzt. Erneut, zum Glück. Jetzt müssen wir aber raus hier, und das ist gar nicht so einfach, denn die Türen des Land Rovers lassen sich kaum noch öffnen. Der Geländewagen, der für die nächsten Monate unser Zuhause sein sollte, ist nur noch ein zerbeultes Häuflein Elend ohne Scheiben, das in seiner eigenen Brühe steht. Unsere Habseligkeiten sind auf der Straße verstreut oder bis in die angrenzenden Felder geflogen – und es wird dunkel. Wir sind mitten im Nirgendwo Namibias.
Stefan hat seinen Kopf während des Überschlags geistesgegenwärtig mit den Armen geschützt, denn das Dach eines Land Rovers gibt normalerweise bei Druck von oben nach wie ein Hamburgerbrötchen. Wir hatten unverschämtes Glück, denn der mit dem Fahrgestell verstrebte Stahldachträger unseres Geländewagens hat das Schlimmste verhindert. Stefan hat trotzdem ein Loch im Ellenbogen. Beim Überschlag ist ihm das Dach buchstäblich unter die Haut gegangen. Da er kein Blut sehen kann, ohne umzufallen, legt er sich vorsichtshalber an den Straßenrand. Daneben hockt zitternd und erschöpft mein Schutzengel und schaut mich mit diesem verwirrten Blick an, den ich inzwischen gut kenne. Warum, Heidi? Schon wieder? Ich schäme mich. Dieser Elchtest auf der Wellblechpiste war zwar unbeabsichtigt, aber vermeidbar und definitiv lebensgefährlich. Ich war deutlich zu schnell unterwegs und verriss im entscheidenden Moment das Lenkrad.
In das Armageddon, das ich uns geschaffen habe, rollt nun langsam ein alter Pick-up. Darin sitzen die Hanlies, ein älteres Farmer-Ehepaar. Sie brauchen nicht lange, um zu erfassen, was sich hier abgespielt hat, und so steuert Niam schnurstracks auf Stefan zu und überredet ihn, mit zur nächsten Farm zu kommen, wo seine Wunde mit Waffenöl desinfiziert (autsch!) und fachmännisch verbunden wird. Derweil sammelt seine Frau, Sonntag (sie heißt wirklich so), mit mir unseren Krimskrams zusammen, um ihn zurück ins Auto zu verfrachten – die Boxen, die auf dem Dach angeschraubt waren ebenso wie unsere Pässe, die Kameraausrüstung, Kleidung und den Kühlboxdeckel. Ich verstehe jetzt, wie sich Phil Connors alias Bill Murray in „Und täglich grüßt das Murmeltier“ gefühlt haben muss. Ich kann einfach nicht anders, als Sonntag das, was gerade passiert ist, immer und immer wieder zu erzählen, weil der Film als Endlosschleife durch meine Hirnwindungen saust. Sie stellt mir zur Ablenkung Fragen wie: „Wie seid ihr überhaupt hierhergekommen?“
Zum Millenniumswechsel saßen Stefan und ich auf einer libyschen Düne und beschlossen, den afrikanischen Kontinent im Detail und auf eigene Faust zu erkunden. Ein geeignetes Auto, einen Land Rover Defender 110 TDI, hatten wir bereits, allerdings wären einige Umbauten nötig, um ihn für eine Transafrikareise fit zu machen. Das bedeutete für Stefan, dass er seine Wochenenden und Feierabende über ein gutes Jahr hinweg in der Scheune von Freunden verbrachte; schraubend, sägend und fluchend.
Als ihm sein Arbeitgeber dann ein Sabbatical anbot, griff er zu, und ich reichte bei der PR-Agentur, für die ich arbeitete, die Kündigung ein. Unsere Wohnung vermieteten wir kurzerhand unter, und nach einem großen Abschiedsfest mit Familie und Freunden schipperte der Landy von Hamburg nach Kapstadt, während wir hinterherflogen – acht Monate Freiheit, wir kommen!
Der Trip ist gerade einmal drei Wochen alt, und jetzt das!
Inzwischen ist es dunkel. Stefan und Niam kommen zurück. Sie haben einen Abschleppwagen verständigt, der uns in den nächstgelegenen Ort bringen soll. Als wir uns von dem Paar verabschieden, umarmt mich Sonntag herzlich. „Diese Erfahrung, so schmerzlich sie ist, hat einen tieferen Sinn. Auch wenn ihr ihn jetzt noch nicht sehen könnt.“
Ich hoffe, dass die Erkenntnis nicht allzu lange auf sich warten lässt.
Auf halber Strecke zum nächsten Ort hat der Abschleppwagen eine Reifenpanne – das ist der Moment, in dem ich in die Phase der hysterischen Lachanfälle eintrete. Danie, der Fahrer, setzt uns schließlich im einzigen und sehr teuren Hotel im Ort ab. An der Rezeption drücken sie uns zur Begrüßung erst einmal ein Glas Sekt in die Hand und ich gleite in die Phase der Heulkrämpfe. Die halbe Nacht liege ich wach und stelle mir vor, wie dunkle Schatten auf dem Hof des Abschleppdienstes alles aus unserem Auto klauen, was noch übrig ist – schließlich sind die Scheiben kaputt.
Beim Frühstück diskutieren wir unsere Optionen. Realistisch sind am Ende nur zwei Szenarien:
Variante 1 – Das war’s. Wir fahren sofort wieder nach Hause.
Variante 2 – Wir lassen den Landy notdürftig reparieren, und schauen, wie es läuft.
Abgesehen davon, dass wir in Deutschland keine Wohnung und keine Jobs mehr haben, geben wir unseren Traum, von Kapstadt nach Kairo zu fahren, so schnell nicht auf. Allerdings müssen wir die Kosten für die Reparatur von unserem Reisebudget abziehen, weil wir uns gegen die völlig überteuerte Versicherung entschieden haben. Es wird also darauf ankommen, was neben Blech und Glas noch kaputt ist.
Etwas später beim Abschleppdienst werden wir positiv überrascht, denn Danie hat auch schon nachgedacht und präsentiert uns einen Plan. „In Namibia bekommt ihr den Wagen nicht wieder flott. Die notwendigen Teile gibt es hier nicht, und sie zu importieren, wäre viel zu teuer. In Südafrika ist es leichter, also rufen wir einen Karosseriebaubetrieb in Kapstadt an, den ich gut kenne. Wenn die sagen, sie bekommen die Kiste wieder hin, fahre ich euch heute Nacht mit meinem Lastwagen zu ihnen.“ Dann führt er uns auf den Hof, wo unser Landy über Nacht gut aufgehoben war. Ich schäme mich für meine Gedanken.
Zum ersten Mal sehen wir das Ausmaß der Bescherung bei Tageslicht. Widerstreitende Emotionen ringen in mir um die Obermacht – am Ende überwiegt statt der Selbstvorwürfe die Dankbarkeit darüber, dass wir noch am Leben sind. Stefan verliert kein einziges Wort über das, was ich angerichtet habe – weder jetzt noch später.
Schöne Bescherung! Unser Landy nach dem Überschlag (Namibia)
Bei Panelrite in Kapstadt schauen sie sich unsere per Mail übermittelten Fotos an und glauben, dass sie uns wieder auf die Straße bekommen. So sitzen wir bei Anbruch der Dunkelheit zu dritt in der Kabine von Danies LKW, auf dessen Ladefläche der Landy gut verzurrt ist. Tausend Kilometer Fahrt nach Kapstadt liegen vor uns – zurück auf Anfang. Da Danie tagsüber gearbeitet hat und der Einzige ist, der den großen LKW fahren darf, sind wir nach den ersten fröhlichen Stunden eifrig darum bemüht, ihn am Einschlafen zu hindern. Wir diskutieren buchstäblich über Gott und die Welt. Danie ist seit zwei Monaten stolzer Vater eine Tochter und versteht nicht, dass wir mit Mitte Dreißig weder verheiratet sind noch Kinder haben. „Ihr müsst heiraten – wegen der Bibel!“
Darauf fällt mir nichts Intelligentes ein. Stattdessen zucke ich in jeder Kurve zusammen, weil ich jedes Mal damit rechne, dass wir umfallen. Ich werde erst Monate später wieder am Steuer sitzen; gezwungenermaßen, weil Stefan sich einen Bänderriss zuzieht, aber das ist eine andere Geschichte.
Als die Sonne aufgeht, begrüßt uns schließlich Kapstadts charakteristische, vom Tafelberg beherrschte Silhouette … zum zweiten Mal.
Panelrite ist der Betrieb der Familie Cross – weiße Mittelständler, die Karosserieumbauten vornehmen. Das Regiment über die rund vierzig Angestellten, ein gemischtes Völkchen, führt Vater Cross. Nach unserer Ankunft geht es erst einmal in sein Büro, wo wir mit Tee und Kuchen versorgt werden. Dann hören wir uns seine Afrikareisegeschichten an.
Steven, sein Sohn, hat vor Jahren eine Transafrikatour von London nach Kapstadt gemacht. Sein Geländewagen war ebenfalls ein Land Rover Defender – ein hergerichteter Unfallwagen. Na, wenn das kein gutes Omen ist! Die Familie ist ganz heiß darauf, uns wieder auf die Straße zu bringen. „Wir sorgen schon dafür, dass euer Auto wieder ein Geländewagen wird, auf den ihr stolz sein könnt.“ Und den ersten Tipp bekommen wir gleich gratis: „Ihr seid viel zu schwer unterwegs. Seht zu, dass ihr Kram loswerdet!“
Danie wird unruhig, er muss zurück. Ich kann nicht fassen, dass er keine Pause machen will. Wir bieten ihm an, ein Hotelzimmer zu bezahlen, damit er wenigstens ein paar Stunden schlafen kann, aber er will nicht. So telefoniere ich mit der Bank, die mir eine Stunde einräumt, um größere Geldbeträge abzuheben, damit ich ihn bezahlen kann, und kurz darauf verschwindet er mit seinem LKW in einer Staubwolke. Danie – einer der Menschen, deren Hilfsbereitschaft ich niemals vergessen werde. Ich hoffe, dass er heil nach Hause kommt, denn wie tückisch afrikanische Pisten sein können, weiß ich jetzt.
Da unser mobiles Zuhause für mehrere Wochen bei Panelrite bleiben muss, ist unsere nächste Aufgabe, ein Dach über dem Kopf zu finden. Wir melden uns in der St. Johns Waterfront Lodge ein, wo sie uns schon in den Tagen nach unserer Ankunft in Südafrika einen tollen Empfang bereiteten. Zur Begrüßung fällt uns die ganze Belegschaft um den Hals. Dass wir uns so schnell wiedersehen würden, hätte niemand gedacht …
„Wir sind so froh, dass euch nichts Schlimmes passiert ist!“ Iris, die Besitzerin der Lodge, hat nebenan ein Apartment, das gerade leer steht. Sie bietet es uns zum Freundschaftspreis an, und wir sind überwältigt von so viel Großzügigkeit. Wir breiten unsere Habseligkeiten im Apartment aus und stellen fest, dass Steven recht hat: Wir haben wirklich viel Zeug dabei. Ich habe vor der Verschiffung wie eine Weltmeisterin Lebensmittel eingekauft. Jetzt schaue ich ungläubig auf die vier prall gefüllten Boxen. Offenbar war mein Grundgedanke, dass es in Afrika nichts Brauchbares zu futtern gäbe. Dabei hätte ich Reis, Nudeln und Konserven hier ohne Probleme bekommen. Aus heutiger Sicht vollkommen absurd mutet garantiert unser mitgeführtes Bücherregal an, aber zum Jahrtausendwechsel wurden Reiseführer noch in Papierform durch die Landschaft gefahren … für manche Reiseziele sogar in mehrfacher Ausführung. Wir misten also gründlich aus, und so manches findet in der Lodge einen glücklichen Neubesitzer.
Unter der Woche sind wir fortan jeden Tag in der Werkstatt. Es gilt viele Entscheidungen zu fällen, wie etwa, welche Karosserieteile wir ausbeulen lassen und welche wir vom Schrottplatz besorgen. In Deutschland würde sich diese Frage niemand stellen – bei unseren Stundenlöhnen setzt sich niemand mit einem Hämmerchen hin und dengelt einen Kotflügel wieder gerade. Aber in Afrika wird das gemacht, genauso wie aus zwei Karosserieteilen eines zu schweißen, wenn zwei zusammenpassende Hälften noch gut sind.
Nach wenigen Tagen gehören wir quasi zur Belegschaft. Das merken wir daran, dass der Chef von der Balustrade vor seinem Büro im zweiten Stock auf die Uhr tippt und zu uns herunterruft: „Ganz schön spät heute!“, wenn die Party in der Lodge am Vorabend mal wieder länger ging und wir nicht pünktlich um sieben Uhr da sind. Wir haben den Innenausbau auf Werkbänke verteilt und flicken ihn wieder zusammen. Viele Holzteile sind beim Überschlag geborsten oder aus der Aufhängung gerissen. Die entsprechenden Stellen verstärken wir nun, da wir verstehen, welche Kräfte auch bei normaler Fahrt auf das Auto wirken.
Für uns fühlt es sich schon bald wie Alltag an, in die Werkstatt zu kommen, in der an zahlreichen Autos parallel gearbeitet wird. Die Angestellten unterhalten sich dabei rege und streiten permanent um Werkzeug. Jeder Deutsche Michel würde hier einen Vogel kriegen. Es gibt zwar Werkzeugkästen und jede Menge Schubladen und Regale, aber die sind leer. Wenn ein Teil nicht mehr gebraucht wird, bleibt es einfach da liegen, wo es zuletzt benutzt wurde, oder fliegt aus einer Laune heraus in hohem Bogen durch die Luft. Unseren Drang zur Effizienz hängen wir alsbald an die leeren Haken der kahlen Wände.
Jedes Fahrzeug in dieser Werkstatt hat eine Geschichte, und nach einer Weile bin ich gar nicht mehr so scharf darauf, sie alle zu kennen, denn meist sind es keine Storys mit Happy End. Gearbeitet wird strikt nach Stechuhr. Alles andere laugt die Leute nur aus, so die Cross’sche Philosophie. Das Arbeitsende wird mit einer Hupe angekündigt, wir wissen aber immer schon vorher, wenn es bald so weit ist, da sich die Stimmung merklich ändert. Es wird gepfiffen, gesungen und gelacht.
Nach anfänglich unsicherem Beschnuppern nehmen die Berührungspunkte zwischen der Belegschaft und uns zu. Die beiden Mitarbeiter, die an unserem Expeditionsmobil arbeiten, lernen wir besonders gut kennen: der gelernte Karosseriebauer Rowland und sein Helfer Amos. Rowland hat den Land Rover des Juniorchefs hergerichtet, den wir als strahlendes Vorbild täglich vor Augen haben. Amos geht ihm zur Hand und ist sehr bemüht, seine Sache richtig zu machen. Dabei zeigt Rowland viel Geduld mit ihm. Regelmäßig schaut Vater Cross vorbei und stellt immer dieselbe Frage: „Und, gewinnen wir hier?“
Ich bin fasziniert davon, wie weit man einen Land Rover auseinandernehmen kann. Irgendwann ist unser Reisemobil bis auf Motorblock und Rahmen mit Bodenblech zerlegt – von jetzt an geht es bergauf! Zu unserem großen Glück bekommen wir von einem Safariunternehmer aus Johannesburg ein gebrauchtes Dach, da er seine Fahrzeuge für Touren in die Nationalparks umrüstet. Eine weitere gute Nachricht lautet: Der Motor hat beim Salto praktisch keinen Schaden erlitten. Hier tun es kleinere Reparaturen, wie auch am Kühler. Sogar das Fahrgestell ist noch in Ordnung. Es hat keine Risse und wurde nach fachmännischer Vermessung und einigem Augenzudrücken für gerade befunden.
Für die Metallarbeiten an unserem Wagen ist Kevin verantwortlich. Eines Tages hat er eine Halterung für unsere Allzweck-Schaufel gebastelt, für die es nie einen vernünftigen Platz gab. Ich soll sie in meinem Rucksack verschwinden lassen, denn wenn der Chef sie sieht, bekommt er einen Anfall. Kevin freut sich, uns ein Geschenk zu machen, das wir von nun an dabeihaben. Immer wenn sich unsere Blicke begegnen, lächeln wir einander verschwörerisch zu.
Nach zwei Wochen sehen wir endlich Land und können uns zum ersten Mal vorstellen, wie wir mit unserem jetzt bunten Land Rover vom Hof rollen. Die Ersatzteile sind von verschiedenen Fahrzeugen und farblich daher wild zusammengewürfelt. Wir haben Kassensturz gemacht und entschieden, dass wir das Geld lieber in Reisehighlights investieren als in eine einheitliche Lackierung. Das findet der Chef allerdings überhaupt nicht lustig. Kurzerhand weist er seinen Lackierer an, alle Teile schwarz einzufärben. Scheiß auf das Geld, hier geht es um seinen Ruf! Wir protestieren nur fürs Protokoll.
Am 9. Juni 2003 ist es so weit: Der Land Rover ist fertig. Jetzt heißt es Abschiednehmen von der uns so vertrauten Umgebung und den vielen lieb gewonnenen Menschen. Obwohl wir uns wie kleine Kinder freuen, wieder loszufahren, tun wir es mit einem lachenden und einem weinenden Auge.
Zur Krönung wird noch ein Foto fürs Familienalbum gemacht: Der Cross-Klan und wir, samt Landy, vor der idyllischen Kulisse des Table Mountain. Zu guter Letzt noch eine Runde durch die Werkstatt. Wir schütteln sehr viele Hände, werden umarmt und mit guten Wünschen überschüttet. Vor lauter Rührung weiß ich gar nicht wohin mit mir.
Unser ganz persönliches Wiederaufbruchfoto machen wir am Bloubergstrand: blütenweißer Sand, himmelblaues Meer und im Hintergrund Kapstadt mit Signal Hill und Table Mountain. Der Aufbruch 2.0 findet unter neuen Vorzeichen statt, denn die afrikanische Gelassenheit hat längst begonnen, abzufärben. Wir haben die Langsamkeit für uns entdeckt und gelernt, dass es nicht so wichtig ist, irgendwo anzukommen, sondern aufmerksam und mit Freude unterwegs zu sein.
Aufbruch Reloaded (Kapstadt, Südafrika)
In den folgenden Monaten nehmen wir die Gelegenheiten wahr, die sich uns spontan bieten, bleiben, wo es uns gefällt, beherzigen Tipps von Einheimischen und integrieren die Empfehlungen anderer Reisender in unsere Route, auch wenn sie einen Umweg bedeuten. Dadurch haben wir sehr intensive Begegnungen und erleben unser ganz persönliches Afrika. Welches Abenteuerpotenzial außerdem darin steckt, mit einem Unfallwagen unterwegs zu sein, wissen wir in diesem Moment noch nicht, und das ist auch besser so …
Wenn wir uns ein Thema neu erarbeiten, zahlen wir Lehrgeld, weil wir Fehler machen. Aber wenn wir ehrlich sind, lernen wir aus diesen Fehlern sehr viel mehr als aus Erfolgen – vielleicht nennt man diese Erfahrungen im Volksmund auch deshalb Lektionen. Über so manche Situation habe ich mich trotzdem geärgert, weil ich sie mit besserer Kenntnis manchmal hätte vermeiden können. Damit du meine Fehler nicht auch machen musst, fasse ich meine Abenteuer-Essenzen aus dem Fehlstart in unsere erste Transafrikatour hier zusammen:
Im Expeditionsfahrzeug gilt: Alles Schwere muss nach unten. Werkzeug oder gar Ersatzreifen sind nichts für den Dachständer – andernfalls droht der Elchtest.
Auf einer Wellblechpiste zu fahren ist tückisch. Langsames Vorankommen erschüttert dich und dein Fahrzeug auf zermürbende Art und Weise und führt zu hoher Materialbeanspruchung. Beim Ausbau sollte man bedenken, dass diese Pisten überall auf der Welt zu finden sind, und auf keinen Fall sollte man sich dann an den Einheimischen orientieren, denn sie fahren meist zu schnell! Mit 100 km/h auf dem Wellenberg zu reiten mag zwar bequemer sein, aber lenken kann man dann nicht wirklich gut. Bei plötzlichen Hindernissen wie Tieren oder – wie in meinem Fall – Kurven (wo kam die eigentlich her?) ist die Chance, noch adäquat zu reagieren, minimal.
In Afrika ist die Versorgung mit Lebensmitteln unproblematisch. Der Besuch auf einem Markt wird zum Highlight, weil es hier nicht nur um Handel geht, sondern auch darum, soziale Kontakte zu pflegen. Ein buntes Durcheinander aus Obst, Gemüse, farbigen Tüchern und Geschnatter. Was der europäischen Seele darüber hinaus fehlt, bekommt sie in ausländischen Supermärkten – selbst Nutella!
Reisen heißt für mich, den eigenen Rhythmus finden. Im Alltag sind wir es gewohnt, nach Uhr und Kalender zu leben. Jede Stunde wird optimal genutzt; selbst unsere Jahresurlaube verbringen wir so, dass wir innerhalb kürzester Zeit möglichst viel sehen. Dadurch muten wir uns Tage zu, die anstrengend sind, statt einzelne Momente zu genießen und uns dabei zu entspannen. Mir hilft es, mich den örtlichen Gepflogenheiten anzupassen. Afrikaner machen es einem da leicht, denn hier rennt niemand von A nach B oder hält sich an irgendwelche Uhrzeiten. Selbst Busse fahren erst ab, wenn sie voll sind.
Das Leben schmeckt bittersüß. Zu einem Traum gehört, dass man das, was einem das Leben präsentiert, gelegentlich aushält, um es danach umso mehr zu genießen.
Der Wunsch nach Sicherheit liegt in der Natur des Menschen. In den Industrienationen wachsen wir aber inzwischen in der Illusion auf, dass es für alles eine Versicherung gibt – Vollkasko-Mentalität. Aber das Leben lässt sich nicht versichern!
Wenn ich etwas wirklich will, tauchen die richtigen Menschen auf, um mir ihre Unterstützung anzubieten. Hilfe anzunehmen ist eine Qualität, kein Makel – und unser Schutzengel ist auch immer an unserer Seite!
In der Werkstatt von Familie Cross arbeiten alle daran,uns wieder auf die Straße zu bringen (Kapstadt, Südafrika)
Stefan erzählte mir aufgeregt von einem Bericht über Indonesien, den er in der GEO gelesen hatte. Die Geschichten über den Regenwald, die Orang-Utans, aber auch die Meeresschildkröten und die hinduistischen Bräuche faszinierten uns. Und so war der Grundstein für eine Reise gelegt, auf der ich mich nun auf einem klapprigen Kahn wiederfinde, der in der Nacht von der Insel Sumatra zur kleinen vorgelagerten Insel Siberut übersetzen soll. Wir werden im Rahmen einer gebuchten Tour einige Tage mit dem Volksstamm der Mentawai verbringen. Diese Jäger und Sammler zählen zu den ursprünglichsten Völkern Indonesiens und leben zurückgezogen im Regenwald ihrer Insel.
Unsere Koje für die Nacht befindet sich im Rumpf des rostigen Schiffes. Wir suchen uns eines der Doppelstockbetten aus und fühlen uns prompt in die Zeiten von Klassenfahrten zurückversetzt. Das Bett neben uns beziehen ein holländischer und ein kanadischer Teilnehmer; insgesamt umfasst unsere internationale Expedition zehn Teilnehmer. Durch das Bullauge können wir das rege Treiben am Hafen beobachten.
Ich bin nicht sehr seefest und habe mich daher vor Antritt der Überfahrt in einer lokalen Apotheke mit Tabletten eingedeckt. „Ich hätte gern etwas Starkes gegen Seekrankheit“, sagte ich. „Da habe ich genau das Richtige für Sie – das wird Sie beruhigen“, antwortete die Apothekerin.
