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Tauchen Sie ein in eine fesselnde Welt voller digitaler Intrigen, krimineller Machenschaften und undurchsichtiger Figuren. "Unter Lügnern" erzählt die Geschichte von Sonja, einer allein lebenden Kindergärtnerin, deren Leben sich durch die zufällige Begegnung mit einem mysteriösen Mann namens Rod dramatisch verändert. Rod und sein Partner Ilja betreiben ein skrupelloses Unternehmen, das die Schattenseiten der Gesellschaft bedient – von Großkonzernen bis zu Privatpersonen, die bereit sind, hohe Preise für ihre illegalen Dienste zu zahlen. Als Sonja durch schockierende Enthüllungen über Verbrechen und Manipulationen aus der Fassung gerät, beginnt sie auf eigene Faust zu ermitteln. Ihre Nachforschungen führen sie in eine gefährliche Parallelwelt, in der Hacking, Verrat und organisierte Kriminalität regieren. Bald merkt sie, dass die Grenze zwischen Wahrheit und Lüge immer mehr verschwimmt, während sie selbst ins Fadenkreuz mächtiger Akteure gerät. "Unter Lügnern" bietet einen tiefen Einblick in die dunklen Seiten der Gesellschaft und regt dazu an, über die Rolle der Technik und die moralischen Konsequenzen unserer digitalen Welt nachzudenken. Mit einer einzigartigen Mischung aus Spannung, emotionaler Tiefe und gesellschaftlicher Reflexion ist dieser Roman ein Muss für alle, die an den Abgründen unserer Zeit interessiert sind. Begleiten Sie Sonja auf ihrer packenden Reise durch eine Welt voller Geheimnisse und Intrigen – und stellen Sie sich die Frage: Wie weit würden Sie für die Wahrheit gehen?
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2024
Inhaltsverzeichnis
Liebe Leserinnen und Leser,
Vorbemerkung: Gedanken über Wahrheit und Moral
Kapitel 1 - Ilja
Kapitel 2 – Rod
Kapitel 3 – Sonja
Kapitel 4: Kollision
Kapitel 5 - Was es über die Vergangenheit zu wissen gibt
Kapitel 6 - Kontrolle
Kapitel 7 – Drogenbosse
Kapitel 8 - Iljas Geheimnis
Kapitel 9 - Die Sache mit der Liebe
Kapitel 10 - Die Sache mit der Ehrlichkeit
Kapitel 11 – Wissenswertes zu Ratten
Kapitel 12 Der Laden
Kapitel 13 – In letzter Minute
Kapitel 14 – Wir sind, was wir sind
Kapitel 15 – Frühling, Sommer, Herbst und Brainfuck
Kapitel 16 – Genesis der Gesetzlosen – Kinder des Codes
Kapitel 17 - KryptoCom
Kapitel 18 – Das System
Kapitel 19 – Die Leben der Anderen
Kapitel 20 - Was du nicht willst, was man Dir tut… das füg auch keinem Andern zu.
Kapitel 21 - Pseudologia Phantastica
Kapitel 22 – Geheimnisse
Kapitel 23 - Ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt
Kapitel 24 - Der Himmel über uns ist der Selbe
Kapitel 25 - Schattenökonomie
Kapitel 26 - Ein Zauberer, der seine Tricks nicht verrät
Kapitel 27 - Was am Ende bleibt
Kapitel 28 - In dubio pro reo
Kapitel 29 - Wer mit dem Feuer spielt, verbrennt sich…
Kapitel 30 - Kontrolle und Angst
Kapitel 31 - Niemand wird Dir glauben
Kapitel 32 - Dicke Fische und gutes Geld
Kapitel 33 - Abhauen
Kapitel 34 - Alles ist miteinander verbunden
Kapitel 35 - Das letzte Glied der Kette oder wer kontrolliert hier wen?
Kapitel 36 - Wind der Veränderung
Kapitel 37 - Das Herz des Systems
Kapitel 38 – Ein Vorteilsprogramm fürs ermittelnde Volk
Kapitel 39 - Manche Freunde gibt es überall
Kapitel 40 - Trautes Heim…
Kapitel 41 - Ilja – der Allwissende
Kapitel 42 - Der Niedergang des Rod und Iljas Freitod
Kapitel 43 - Der letzte Vorhang und die Yoko Ono der Unterwelt
Kapitel 44 - Im Himmel gibt es Nutten und Koks
Impressum
bevor ihr euch in mein Buch stürzt und die Geschichte zu lesen beginnt, möchte ich darauf hinweisen, dass es ein paar „schwierige“ Themenbereiche behandelt. Als Autorin ist mir daran gelegen, dass diese Themen bitte immer im literarischen Kontext betrachtet werden.
Es gelten die Prinzipien der Fiktionsvermutung und der Kunstfreiheit.
Fiktionsvermutung:
Die Handlungen, Charaktere, Organisationen, Technologien und Ereignisse in diesem Buch sind fiktiv. Jegliche Ähnlichkeiten mit realen Personen oder Ereignissen sind zufällig.
Die Darstellung von Gewalt, Kriminalität oder anderen kontroversen Themen dient lediglich der literarischen Gestaltung und soll keine realen Vorbilder verherrlichen oder verunglimpfen. Ich erhebe keinen Anspruch darauf, reale Ereignisse oder Handlungen von Institutionen und Behörden akkurat darzustellen. Dieses Werk dient der Unterhaltung und der künstlerischen Auseinandersetzung mit fiktiven Themen.
Kunstfreiheit:
Als Autorin beanspruche ich das Recht auf künstlerische Freiheit. Dies bedeutet, dass ich mich in meiner kreativen Arbeit von gesellschaftlichen Normen und Konventionen lösen kann, um eine vielschichtige und tiefgründige Geschichte zu erzählen. Kunstfreiheit ermöglicht es, auch unbequeme oder düstere Aspekte menschlicher Erfahrungen zu erkunden, ohne dabei die persönliche Zustimmung oder Billigung zu suchen.
Persönliche Distanzierung:
Ich distanziere mich persönlich von jeglichen, im Buch beschriebenen Gewalthandlungen und anderer Kriminalität. Mein Ziel ist es nicht, solche Handlungen zu verherrlichen oder zu rechtfertigen. Vielmehr möchte ich durch meine Erzählung zum Nachdenken anregen, Empathie fördern und die Komplexität menschlicher Emotionen beleuchten.
Begrifflichkeiten:
Zuletzt ist mir noch wichtig, zu betonen, dass ich mit größtem Respekt und Wertschätzung für alle Menschen schreibe.
Meine Darstellungen zielen auf das Bild einer vielfältigen und inklusiven Welt, in der wir alle gemeinsam leben.
Daher ist es mir fern, irgendjemanden, egal welcher Gesinnung er sei, zu verunglimpfen oder auszugrenzen.
Ich möchte darauf hinweisen, dass ich in meinem Buch den Begriff
“Zigeuner” aus stilistischen Gründen verwende. Dieser Begriff war historisch gebräuchlich, ist jedoch heute als Schimpfwort bekannt und wird von vielen als diskriminierend empfunden.
Ich bitte euch also, meine Intention nicht falsch zu verstehen: Ich verwende diesen Begriff nicht, um jemanden zu verletzen oder auszugrenzen. Vielmehr dient er der Authentizität und der Darstellung bestimmter historischer oder kultureller Aspekte.
Schön, dass mein Buch dein Interesse geweckt hat. Ließ es gern mit einem offenen Geist und betrachte es als das, was es ist: Eine künstlerische Schöpfung.
Kreative Grüße sendet euch H3k@T€
Mit der Lüge ist es ein bisschen wie mit der Angst – ein "Nicht-wahrhaben-wollen" fordert kleinere Kinder eben dieser. Das Netz wird größer, die Ängste komplexer. Mit der Zeit vergisst die Ursprungslüge ihre Wurzeln und bleibt für immer ungeklärt.
Wir sind alle Lügner. Jeder Mensch lügt. Der eine mehr, der andere weniger. Manche lügen, um sich oder andere zu schützen. Manche, weil sie sich schämen. Andere, um mehr aus sich selbst zu machen, als sie sind. Ich setze diese Liste nicht unendlich fort; gesagt sei nur: Allen ist gemein, dass die Lüge aus Angst vor Konsequenzen der Kern ist.
Lügen beginnt in der Kindheit. Ein Kind, das seine Mutter anlügt, weil es einfach einen Schokoriegel genommen hat, ohne danach zu fragen, lügt aus Selbstschutz, aus Scham und aus Angst vor Ärger.
Ein Kind, das einen Schokoriegel klaut, erwischt wird und dann Entschuldigung sagt, während es hinter seinem Rücken einen weiteren Riegel versteckt hält, lügt fast schon professionell. Es handelt aus einem Erfahrungsschatz heraus und weiß genau, wie es zum Ziel kommt. Anstatt bei der ertappten Lüge zu bleiben und alle Riegel herauszurücken, baut es währenddessen bereits die nächste Lüge auf.
Es steht also hinter seinem Plan und weigert sich insgeheim, diesen aufzugeben. Warum auch? Die Beute ist geschnappt, das Ziel erreicht und der Riegel im Besitz. Der Ärger bereits kassiert. Warum also das letzte Stück Beute noch hergeben?
Ganz einfach? Ganz einfach… Es geht um Moral. Es geht um Moral und es geht um Stolz. Stolz, denn der eigene Wille ist stark und der Plan ist, ja halbwegs, geglückt. Die Moral? Man lügt. Man lügt der Mama ja ins Gesicht, und die Mama, die hat man doch lieb. Wenn man also jemanden anlügt, dann steht da ja dieses miese Gefühl dazwischen. Das Gefühl, dass man hier gerade jemanden, den man doch liebhat, belügt.
Man tut ihm Unrecht, in gewisser Weise veralbert man ihn. Und doch lügen wir alle. Tag für Tag – wieder und wieder lügen wir, bis wir es als ganz normal empfinden, bis der Vorgang des Lügens manche von uns nicht einmal mehr berührt. Ich würde sogar sagen, manche Menschen lügen so lange, bis sie die Lüge nicht einmal mehr merken.
Rod hatte gelogen. Er wusste, dass er gelogen hatte, das tat er seit Jahren so in dieser Sache. Sein Freund Ilja hatte ihn etwas gefragt, und er hatte sich eine schöne Geschichte ausgedacht. Im Geschichtenausdenken war er fabelhaft. Beide waren sie gut darin, und beide hatten sie über das Geschichtenerzählen eine morbide Abhängigkeit voneinander geschaffen, die nicht mehr klar ließ, ob die beiden Freunde oder aber Feinde waren.
Es war ein Dienstagnachmittag. Der Himmel war grau und trüb, wie man es von einem Novembertag nicht anders erwarten würde. Ilja war im Stress. Sein Muay-Thai-Training musste er heute genau deswegen canceln, weil er keine Zeit hatte. Weil er gar keine Zeit mehr hatte, wegen dieser Dinge, die außer Kontrolle geraten waren. Seit sein Freund Rod dieses neue Mädchen an seiner Seite hatte, die irgendwie nicht aufhörte, Fragen zu stellen, waren die Dinge ein bisschen aus dem Ruder gelaufen. Ilja verbrachte sehr viel mehr Zeit vor seinen Geräten.
Das bedeutete aber auch weniger Training, und das, obwohl ihm jenes hier drinnen doch die Welt bedeutete. Ein großer Sportsmann war er nie gewesen, aber hier drinnen wurde er es – zwangsläufig.
Doch jetzt musste er sich beeilen. Gleich würde seine Abholung kommen, und dann ging es zur Arbeit. Hier drinnen gab es eigene Regeln. Es war ein in sich geschlossenes System, ein sich selbst reinigender Herd, ein kleiner Mikrokosmos, der seinen eigenen Gesetzen folgte. Ilja packte seinen Nintendo zurück in das kleine Versteck im Waschbecken, verstaute die SD-Karte dazu in der Ritze hinten rechts im Spind und startete los zu seinem Job. Um diesen hatte er sich nämlich hart bemühen müssen. Es war ein weiter Weg dahin gewesen, und er würde es nicht darauf ankommen lassen, diesen wieder zu verlieren. Vor seiner Arbeit diese Dinge in die Hand zu nehmen, war nicht nur unvorsichtig, es war auch dumm. Und unvorsichtig war Ilja eigentlich nie. Aber was auch immer hier gerade im Gang war… dieses Gör änderte alle gültigen Gesetze. Sie wusste nicht, dass es ihn gab, und sie wusste auch überhaupt nicht, wer er war und was er tat, und warum er überhaupt von ihr wusste.
Ilja musste in die dritte Etage hinauf. Da saßen sie, die Kloppies, die Irren und Verrückten. Er mochte seine Arbeit hier oben. Irgendwie war er auch ein bisschen stolz darauf, diese Position bekommen zu haben. Es war etwas wert hier drinnen. Es machte dich zu einem der "Besseren". Draußen hatte er vorher nie gearbeitet. Er war ein Kind gewesen, als er reinkam… Viel zu jung. Noch nicht ganz fertig mit der Schule.
Oben bei den Kloppies, den Verrückten, da fühlte er sich zuhause. Hier war der Platz, wo man die wahren Kaputten gefangen hielt. Arbeit zu haben, war hier drinnen Gold wert. Es konnte dich buchstäblich retten. Es beschäftigte, es schuf Möglichkeiten, es sorgte für Kontakte, und tatsächlich hatte man eine realistische Chance, den eigenen Verstand nicht gänzlich zu verlieren. Man hatte auch die Gelegenheit, die ein oder andere Psychostudie zu betreiben, und das war etwas, was Ilja äußerst gut gefiel.
Hier im Knast liefen die Uhren anders. Eine einzelne Stunde konnte hier drinnen ein ganzes Leben bedeuten. Seine Aufgabe oben in der 3. Etage des Gefangenentrakts war es, Essen an die psychisch, nun sagen wir mal, problematischen Fälle zu verteilen. Und wer als psychisch problematisch eingestuft wurde, das entschied nicht immer ein Arzt… Und wenn es ein Arzt entschied, bedeutete das nicht immer das, was auf dem Papier geschrieben stand. Leider. Aber so war das hier eben, im Hause der Gangster. Es war bereits die dritte Einrichtung, in der Ilja untergebracht wurde, aber hier hatte er sich einen sicheren Platz erarbeitet. Hier hatte er einen Namen, einen Stand, eine Position, mit denen es sich gut leben ließ. Er genoss Respekt, ohne Teil irgendeiner Gang zu sein, und das war eine Seltenheit, deren Hintergründe aber eben auch Gründe hatten.
Während Ilja heute auf dem Weg nach oben war, begleitete ihn schon wieder die ganze Zeit dieses Mädchen in Gedanken. Das ging nun schon seit Wochen so und nahm kein Ende. Rod, sein Freund, musste ein verdammtes Glück gehabt haben, sie abzubekommen… Ilja konnte nicht aufhören, an sie zu denken. Sie bereitete ihm Sorge und Glück zugleich. Sie nervte ihn, sie stresste ihn, und das alles, ohne dass er sie persönlich überhaupt kannte. Wie zur Hölle hatte dieses kleine Luder das nur geschafft? Sie brachte seine ansonsten sehr sortierten Gedanken vollkommen durcheinander. Logisch, dass er sie im Blick behalten würde. Sein Kumpel Rod sagte selbst, sie – die Sonja – sei wie eine tickende Atombombe. Und ja, sie war eine Bedrohung. Sie verzapfte nur Blödsinn. Schwerwiegenden Blödsinn, der ihr gar nicht bewusst zu sein schien. Aber die andere Sache war, dass sie eben auch irgendwie niedlich war. Ilja hatte eine Form von Zuneigung für sie entwickelt. Er mochte sie. Wahrscheinlich wusste er mehr über sie, als ihre Eltern oder Freunde je von ihr gewusst hatten. Er hatte gehört, wie sie weinte, und in den Momenten tiefster Verzweiflung hatte er sie aus der Entfernung heraus begleitet, sie dabei angesehen oder ihr zugehört, und er hatte jedes Wort, jeden Gedanken, den sie zu irgendeiner Freundin am Telefon gesagt hatte, gefühlt und verstanden. So oft hatte er an sie gedacht, dass es schwierig war, wenn sein Freund am Telefon über Sonja zu sprechen begann.
Aber es war ihm nicht lieb, wenn sich andere in die Geschäfte einmischten.
Und er und sein Freund hatten ein System geschaffen, das keiner, niemand, durcheinander zu bringen hatte. Sie trugen eine große Verantwortung für sehr viele Menschen. Daran hatten Rod und er viele Jahre gearbeitet, und egal wie toll der Hintern einer Frau sein mochte, niemals hätte es überhaupt so weit kommen dürfen.
Ilja hatte viel durchgemacht, um sich in diesem Gefängnis ein halbwegs erträgliches Leben zu ermöglichen. Nach fast einem Jahrzehnt in einem osteuropäischen Knast hatte er einige Privilegien erkämpft. Es war ein Hauch von Freiheit, den er jetzt genoss, die Möglichkeit, ein wenig unabhängiger zu sein. Niemand konnte mehr mit seinem Kopf spielen, das würde er nicht zulassen.
Ein deutsches Gefängnis, verglichen mit diesem osteuropäischen Knast, wäre wohl ein wahrer Luxustempel gewesen. Hier herrschte keine Schönheit, sondern rohe Gewalt. Ilja war wie ein Tier an der Leine geführt worden, gedemütigt, geschlagen und getreten, bis er sich an nichts mehr erinnern konnte. Aber Ilja hatte das alles überlebt. Er war hier drinnen erwachsen geworden, und er hatte eine Entwicklung durchlaufen, die ihn zu einem anderen Menschen gemacht hatte. Gemeinsam mit Rod hatte er ein ganzes Unternehmen errichtet und von hier aus fortgeführt, und nichts schien sie aufhalten zu können… Aber jetzt kam diese kleine Göre mit ihren ach so klugen Gedanken und kackte seinem Freund in die Birne. Zur Hölle damit.
Was war da passiert? Nun… Lieber Leser, wir müssen das systematisch aufrollen, denn es ist eine wirklich verrückte und sehr komplexe Geschichte. Ich bin mir auch noch gar nicht sicher, ob es Sinn macht, sie überhaupt zu erzählen, aber versuchen kann ich es ja. Und ein bisschen schwindeln werde ich vielleicht auch, denn immerhin sind wir ja…
Unter Lügnern.
Die Einkehr nach innen ist schmerzhaft, aber die einzig greifbare Oase, wenn man im Außen nur noch das Chaos erfährt. Als Ilja damals ins Gefängnis kam, war das Leben dort für ihn kaum zu ertragen gewesen. Der nächtliche Lärm, die widerlichen Gerüche. Immer auf „Habacht-Stellung“ zu sein. Hier hatte er lernen müssen, Dinge loszulassen. Die Welt dort drinnen war eine vollkommen andere gewesen. Wer draußen ein Monument war, zerfiel hier schnell zu Staub. Wer draußen klein war, wurde hier noch kleiner oder verschwand komplett. Hattest du draußen Leute, konntest du drinnen ganz gut leben. Das war die Basis. Im allerersten Gefängnis, in welchem er gewesen war, hatte ihm seine Mutter manchmal ein klein wenig Gras an eine dünne Bast-schnur gebunden, die er aus dem Fenster gelassen hatte. Da gab es diesen kleinen Trampelpfad direkt vor dem Fenster seiner Zelle, und von dem aus konnte man hoch zu den Fenstern blicken. Aber das war nur die „Auffangstation“ gewesen. Hier blieben die Straffälligen nie für eine lange Zeit. In den großen Gefängnissen gab es diese Möglichkeiten nicht. Gras zu haben war drinnen Gold wert. Und wenn du draußen Leute hattest, die dir Dinge besorgen konnten, dann konntest du es dir hier drinnen einigermaßen erträglich gestalten. Aber am Anfang war es für Ilja alles ganz schrecklich gewesen. Man hatte ihn niedergeprügelt. Auf den steinigen Boden gehauen. Schlag um Schlag um Schlag… bis er es nicht mehr spürte. Bis aufs Blut und ganz ohne Gegenwehr hatte der junge Ilja es ausgehalten und sich dabei nur gedacht: „So, das war’s dann jetzt also. Da geh ich dahin, und das, wo wir den wohl größten Coup aller Zeiten gelandet haben...“ Dann hatte ihn der finale Hieb gegen den Nacken getroffen, nach dem ihm für einige Zeit die Erinnerung aussetzte. Tagelang hatte er in seiner Zelle gelegen. Wunden am ganzen Körper. Rippenbrüche, Prellungen, Blutergüsse, offene Wunden. Wunden, um die man sich nicht gekümmert hatte. Leider war man in dieser Art von Gefängnissen manchmal auch froh, wenn sich niemand der Wunden annahm, denn nicht immer machte das die Sache auch besser. Die Wärter mussten sehr unglückliche Leben führen und wahrscheinlich hatten sie alle kleine Schwänze… das hatte sich Ilja zumindest bei jedem einzelnen Schlag mit dem Knüppel, den er hatte hinnehmen müssen, so vorgestellt. In jenem Moment verstand Ilja all jene, die da gerade auf ihn einschlugen, nur als eine Truppe unzufriedener Schlappschwänze. Das war ein winziger Trost, aber es half ihm in den Wochen danach, in denen er da auf einer harten Pritsche lag – nicht wissend, ob er weiterleben oder besser sterben solle. Aber auch diese Wochen gingen vorüber, und Ilja stand langsam wieder auf. Es war fast ein Wunder. Nun begann eine erste geistig aktive Zeit, in diesem Scheißinneren eines innerzirkulierenden Universums inmitten dieses hypergalaktischen Dixi-Klos. Nun ging der ganze Spaß erst richtig los… Und wenn ihr jetzt hier wirklich weitermachen wollt mit Lesen, dann schaut es euch liebend gerne an, dieses mistige intergalaktische Klo… Ja, so, und nur so, konnte man dieses Loch auch tatsächlich betrachten. Ein Loch, in dem einige das Ende ihrer Tage verbringen würden, und andere gar nicht mehr raus wollen würden. Vielleicht, weil sie das Leben da draußen längst verlernt hatten, oder weil es da draußen (leider) nie besser gewesen war. Und wiederum andere hatten hier drinnen einen höheren Stellenwert, als sie draußen jemals hätten bekommen können. Und die anderen? Die litten halt einfach. Er war 18, als er reinkam. Warum er hier tatsächlich gelandet war, würde nie, niemals, nie jemand erfahren. Das hatte er sich geschworen. Dieser Zustand der Langeweile und der Sinnlosigkeit war nicht leicht zu ertragen gewesen. Ilja kam aus gutbetuchtem Elternhaus. Es hatte ihm an nichts gemangelt, außer vielleicht an etwas Zuwendung. Aber später dann, als Jugendlicher, hatte er sich an diesen Zustand in solch einer Form gewöhnt, dass es ihm ein Vorteil geworden war oder schien. So konnte er beispielsweise in der Nacht unbehelligt tun, worauf immer er Lust hatte. Und so waren er und auch Rod nachts in Häuser eingebrochen, hatten Dinge von Wert gestohlen und weiterverkauft. Diese Freiheiten waren mit einem Schlag alle fort gewesen. Aber Ilja war keiner, der sich unterkriegen ließ. Ilja hätte sich wohl lieber eine Hand abgehackt, als unter Langeweile zu leiden. Und jetzt hier drinnen… da wurde ihm eine wichtige Sache zum ersten Mal bewusst …er brauchte die anderen, um sich selbst fühlen zu können. Das ging allein einfach nicht so gut. Es wollte für ihn dann nicht so recht funktionieren. Aber hier drinnen gab es eine Menge Zeit zur Selbstanalyse. Hatte er Menschen, die sich für ihn interessierten, dann ging es ihm gut. Innerhalb der Gefühle der anderen wurde er plötzlich wichtig, erkannte sich selbst in den Höhen und Tiefen der anderen. Aber noch intensiver wurde es, wenn er diese Gefühle der anderen steuern konnte. Das gab ihm einen Antrieb. Es machte ihn aktiv, kreativ, glücklich und zufrieden. Und so geschah es, dass er manchmal wie besessen von anderen wurde. Mit den ersten Monaten im Gefängnis begann Ilja, sich mehr und mehr auf die wirklich wichtigen Dinge in diesem Trakt zu konzentrieren: Das Überleben… denn das würde er hier noch einige Jahre lang müssen. Wenn du etwas sein willst, dann wirst du es werden, indem du es tust. Dazu benötigte Ilja nur ein klein wenig Hilfe von außen… Das, was da über die Jahre hinweg geschah, konnten die Wärter nicht sehen, weil sie es vermutlich nicht verstanden hätten. Man sieht nicht so gut, was man nicht kennt. Sie bemerkten nur, dass etwas anders war mit Ilja. Aber gut jetzt damit. Wir sprechen später davon. So wie es jetzt war, einer geregelten Arbeit nachzugehen, früh, immer zur gleichen Zeit am gleichen Ort zu sein und eine Verantwortung für sich selbst und für eine Aufgabe zu tragen… das wäre vor einigen Jahren noch undenkbar gewesen. Für den Abend war Ilja mit Rod auf eine Runde Panzerfahren verabredet. Mit diesem Panzerfahren meine ich ein Onlinegame. Ein bisschen zocken und ein bisschen chatten. Jetzt wundert ihr euch sicher… Online-Gaming? Im Knast? Wie soll das gehen? Das, meine lieben Freunde, erzähle ich euch später. (Wenn ihr schön lieb seid.) Aber erstmal kurz etwas zum Panzerfahren. Online-Gaming war eine praktische Sache für beide. Es war ein einfaches Alibi. Eine geschickte Ausrede. Gaming war besser als zu sagen: „Haste mal Zeit zum Reden? Haste ein offenes Ohr für mich? Meine Freundin ist zickig mit mir…“ Welcher Kerl würde das schon so sagen? Aber ein bisschen Rumgeballer, das war okay, und ganz nebenbei ließen sich währenddessen auch andere Dinge unbelauscht miteinander besprechen… Während Ilja seiner Arbeit nachging, befand sich Rod gerade vor der Wohnung seiner Partnerin Sonja, fast 900 km von seinem Freund im Gefängnis entfernt. Er war aufgeregt – der Körper voll mit Adrenalin. Immer wieder lief er die Auffahrt zum Haus, in dem sie wohnte, hoch und runter. Kam dabei an ihrem Küchenfenster vorbei und mal an ihrem angelehnten Badfenster. Er hatte die Angewohnheit, bei einigen Telefonaten laut zu sprechen. Sie wusste schon, dass es uninteressant war, wenn er das tat. Je hektischer er dann noch dabei umherlief, desto unnötiger die Nachfrage dazu. Sonja, die Partnerin von Rod, hatte es für sich verstanden. Dieses Selbstdarstellerische, er benötigte es wohl. Das Gefühl, gehört zu werden, die Neugier der anderen auf sich zu ziehen. Rod war eine undurchsichtige Persönlichkeit. Nicht mit einem bloßen Blick zu scannen. Cool wurde es natürlich, wenn er politisch bekannte Persönlichkeiten an der Strippe hatte. Und so ein lokaler Politiker, im Talk an seinem Handy, das machte sich auch ganz fabelhaft. Er wollte das dann zeigen, und deswegen ging er manchmal beim Sprechen die Auffahrt auf und ab, und manchmal lief er eben in den Hof hinein, ums Eck, um dann ein paar Sätze vor ihrem Küchenfenster zu verlieren. Ob die Dinge immer so waren, wie er sie darstellte, das konnte man bei Rod nie so genau wissen. Die große Fantasie extrovertierter Menschen ist es, dass andere sie beim Reden oder Handeln auch sehen können, dass sie eine Faszination über das Mitbekommene entwickeln, eine Neugier darüber, die sie so viele Fragen haben lässt, dass sie in Abhängigkeit geraten.
Die Lüge hat zwei Seiten. Die Lüge kann schillern und sie macht high, aber sie blendet auch und macht abhängig. Sie zerstört auf morbide Art und Weise. Wer ihr einmal verfallen ist, hört nicht so schnell auf zu fragen. Es verhält sich mit der Lüge in zweierlei Maß. Der, der lügt, wird wieder lügen müssen. Manchmal, um die alte Lüge fortan zu gestalten, um sie am Leben zu halten. Manchmal, um den Rausch des letzten Males erneut zu generieren. Der andere, also der, der die Lüge glaubt, gerät in eine Art Co-Abhängigkeit. Durch einen bestimmten Mechanismus schüttet sein Körper Endorphine, vielleicht auch Adrenalin, aus – je nach Art der Lüge. Ein Mitwisser einer geheimen Sache zu sein, und wenn es nur die Illusion dieser sei, gibt dem Betrogenen eine Art Kick, den es sich sicher zu wiederholen lohnt. Ergo: Der Belogene fragt, er fragt nach, immer und immer wieder und gibt dem Lügner damit die Bühne, die dieser für seine ganz eigene Körperkonsumfabrik so benötigt.
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Nun wollen wir aber auch über Rod sprechen. Rod, das ist Iljas bester Freund, aber manchmal sind sie auch Konkurrenten. Wie behauptet man sich eigentlich in einer großen Familie, in der die Droge Alkohol alles bestimmt? Einer Familie, in der Meinungen und Maßnahmen stets mit Lautstärke oder körperlicher Gewalt durchgesetzt werden und in der eine innere Stabilität und die Kontrolle der eigenen Gefühle zu einem ständigen Kampf mutieren? Man muss geschickt sein. Wer hier ein Stück vom Braten abhaben möchte, muss sich behaupten. Vor allem dann, wenn es noch ein paar mehr Geschwister gibt. Man muss raffiniert sein, um die Liebe und Aufmerksamkeit der Eltern zu bekommen. Kurzum – das Kind wird ein Arschloch, sonst kann es nicht überleben. Anpassung, Adaption. Und was Hänschen gelernt hat, verlernt Hans nimmermehr. So ging doch der Spruch, oder? Ich möchte nichts pauschalisieren und auch nicht sagen, dass es keine Hoffnung auf Heilung gäbe, aber eine Prägung hinterlässt eben immer einen Abdruck. Rod ist dieser Typ Mensch, der sich gern entgegenstellt, ein klassischer Gefahrensucher. Er hatte nicht wirklich eine schöne Kindheit, und irgendwann fing er dann damit an, die Rolle des Coolen zu mimen. Die Rolle des „Coolen“ nimmt dir aber keiner ab, wenn du in dir drinnen eigentlich ein verunsichertes kleines Kerlchen bist, das zuhause von den Eltern geprügelt wird. Und die wirklich „harten“ Kerle, die können so etwas riechen. Stellt euch diesen kleinen Jungen vor. Der wächst in einem Milieu von grober Gewalt auf. Verbale und handgreifliche Gewalt zwischen den Eltern und gegenüber den eigenen Kindern gehört zur Tagesordnung. Lautstärke, Geschrei, Drohungen und Einschüchterungen sind die Norm. Kein Kind hält das lange aus, auch nicht dann, wenn es das feinste Abendessen oder den hochwertigsten Technikspielkram vor den Latz geknallt bekommt. Nun, die Frage ist, was tut das Kind in einem solchen Umfeld? Es überlebt. Und dazu gibt es eine Menge Strategien. Je nach Alter, Möglichkeit und Intelligenzquotient, kann das Kind sich verkriechen/agieren/hantieren/angreifen oder ducken, was auch immer, es hat jedenfalls eine Menge an Möglichkeiten. Ein Großteil der Kinder verzieht sich ins eigene Hirn. Vielleicht erschafft dieses Kind eigene Welten in Gedanken, entwickelt Geschichten, in denen es in besonderen Rollen oder bedeutenden Positionen ist. Um unter den „Großen“, den „Starken“, den „Mächtigen“ zu bestehen, musst du also alles, was dich nur irgendwie angreifbar macht, lernen zu verbergen. Am besten tötest du es einfach ab. Keiner wird dich dann noch hinterfragen, niemand wird dir Steine in den Weg legen. Und ein bisschen so ähnlich war es wohl auch mit unserem Rod… obgleich uns allen klar sein sollte, dass ein solches Verhalten utopischer Natur ist. Aber bei Rod ging diese Strategie erst einmal auf. Er war ganz großartig in dem, was er tat. Das Lügen war ihm in die Wiege gelegt. Ein echtes Naturtalent war er. Das erprobte sich anfangs im Kleineren, als es noch um Vertuschung von Tat und um Verhinderung von Strafe ging… und später, in der Jugend, ging das dann weiter, als er mit ganz bewussten Manipulationen begann. In männerdominierten Gruppen von Wichtigkeit zu werden, das erforderte Geschick, aber auch dann, wenn es zum Beispiel einmal darum ging, die Gunst einer Dame zu bekommen. Verstehen wir uns nicht falsch, lieber Leser, Rod, unser Opferlamm des Buches (das Exempel, an dem ich hier etwas Allgegenwärtiges beschreiben möchte), hatte alle Voraussetzungen, es ohne all dieses Handeln zu schaffen. Er war gutaussehend, witzig, charismatisch, eloquent in seiner Sprache. Kurzum, er war ein richtig cooler Typ. Wäre da nur nicht die Rolle gewesen. Die Rolle, die ihm zuteil geworden war in dieser Welt, denn er war ja ein Kind zweier psychisch kranker Eltern. Eines dieser Kinder (und davon gibt es wohl mehr, als man glauben mag), das sich seinen Platz am Tisch jeden Tag immer wieder neu hart erkämpfen musste. Dieses Spiel und dessen Regeln beherrschte Rod bald wie im Schlaf. Nirgends sonst lernst du die Menschen so gut lesen wie in der Gegenwart psychisch kranker Eltern. Nichts schärft deine Sinne mehr. Nirgendwo sonst lernst du so schnell wie in der Position des Kindes eines suchtkranken Elternteils. (Und ich möchte hier, persönlich, ein „leider“ ergänzen. Denn schnelles Lernen, egal auf welcher Ebene, heißt nicht immer GUT.) Und es kam dann auch so… irgendwann taten die Lüge und das Täuschen nicht mehr weh. Oft wurde es erst im Nachhinein bewusst, und dann war es auch fast schon wieder vergessen. Irgendwann war Rod so professionell in dem, was er tat, dass jeder Geheimdienst sich wohl die Finger nach ihm geleckt hätte. Rod wuchs in einem beschaulichen Städtchen an der See auf. Es wäre nicht verwunderlich gewesen, hätte ihn das Ende dieser Reise schließlich wieder hierhin zurückgeführt. Ans Meer. Aber er hatte nicht immer da gelebt. Umzüge hatten seine Kindheit ebenso geprägt. Von hier nach da war der Vater gegangen und die Mutter? Die hatte mitziehen müssen. So machte das eine Frau, wenn ihr der Mann lieb war. Immerhin brachte er das Geld nach Hause, da musste Frau sich beugen (und das vermutlich nicht nur vorm Spiegel). Mal ging es in den Süden, dann wieder in den Norden, und einmal mussten sie sogar fern in den Osten... Nun, das konnte keine entspannte Zeit zum Aufwachsen für ein Kind bedeuten. Hektik, Stress, unterdrückte Gefühle seitens der Mutter. Machen, Aushalten, Spuren. Die Generation seiner Eltern war diejenige gewesen, die das Zähne-Zusammenbeißen als Königsdisziplin verstanden hatte. Arschbacken zusammenkneifen und Strampeln fürs große Geld. Sei keine Mimose. Das waren die Sprüche seiner Elterngeneration.
Sie lebten den großen Traum vom
„Ich kann alles haben, wenn ich nur fleißig genug bin.“
Jetzt 20 Jahre später, sah die Welt ein bisschen anders aus. Ein Studium war nichts mehr wert. Wolltest du etwas sein, dann konntest du das, aber erwarte bloß nicht, dass du darin besonders sein würdest oder gar in irgendeiner Weise dafür entlohnt werden würdest. Die Welt hatte sich geändert. Rods und Iljas Generation befand sich in einer Art Kreativitäts- und Fähigkeiten-Inflation. Du konntest eine Menge sein, aber es war eben einfach nichts mehr wert, selbst dann, wenn es genial gewesen wäre, was du da tätest. Jeder Depp konnte inzwischen studieren, wenn er das nötige Kleingeld dazu in der Tasche hatte oder die Bereitschaft besaß, sich für die ersten Jahre seines Lebens beim Staat zu verschulden.
Die Zeiten waren eigenartig.
Hinzu kamen die ständigen Konflikte bei ihm daheim. Kind zweier Eltern zu sein, die ständig stritten, einander verletzten, beleidigten, sich fremdgingen und zu guter Letzt den ganzen Frust am Kind ausließen – das hinterließ eine Prägung.
Sonja, Rods spätere Partnerin, die ganz normale Kindergärtnerin mit hübscher kleiner Wohnung und einem ordentlichen Leben, hatte bisher keinerlei Berührung mit diesen Welten gehabt. Sie konnte erahnen, dass es schlimm für ihn gewesen sein musste, aber sie wusste nicht, was hinter der Fassade wirklich alles schlummerte.
Gott sei Dank hatte sie das Glück, in einer gut behüteten Familie groß geworden zu sein, wo es ihr nie an etwas gemangelt hatte. Doch irgendeinen Treffer musste sie wohl auch weghaben. Das Gesetz der Anziehung führte Menschen nicht ohne Grund zueinander, auch wenn sie noch so verschieden waren.
Nun bin ich aber ein wenig vorweggelaufen, lieber Leser.
Wir wollten systematisch vorgehen.
So war es mit Rod.
Er hatte keine sonderlich schöne Kindheit. Seine Eltern hatten gesoffen, er wurde verprügelt. Man schickte ihn Alkohol holen… die klassische Karriere eines Psychopathen, könnte man meinen.
Oder aber eines Hochbegabten...
Es ist kein Geheimnis, dass hochbegabte Menschen oft aus sozial fragwürdigen Elternhäusern stammen. Hochbegabung und schwierige Verhältnisse liegen manchmal nah beieinander. Das hat auch mit dem „schnellen Lernen“ in stressiger Umgebung zu tun.
Aber es ist nicht immer einfach, mit dem ständigen Denken klarzukommen. Viele kluge Köpfe greifen daher gerne zu Konsummitteln, um vorübergehende Ruhe zu finden. Die Menschen suchen eine Möglichkeit, um herunterzufahren und sich zu entspannen..
Es gab diesen einen Moment, an dem sie begriff, dass Rod jemand anderes war, als er vorgab zu sein. Sie hatten gestritten, wie so oft, und mitten im Streit hatte er sich vor ihr aufgebäumt, sie mit ernster Miene angesehen und zu ihr gesagt:
„Du hast immer noch keine Ahnung, vor wem du hier eigentlich stehst, oder?“
Rod sagte immer von sich selbst, Größenwahn wäre genau sein Ding. Wer ihn kannte, verstand seinen Spruch: „Leute, die übertreiben, kann ich leiden.“ Und ja, in der Übertreibung hatte er seine Königsdisziplin gefunden. Doch in diesem Moment fand sie etwas in seinen Augen, das sie so noch nicht kannte. Da war ein Abgrund, eine Ernsthaftigkeit, die Eindruck verschaffte.
Der November in diesem Jahr war besonders kalt und dunkel. Draußen herrschten schon Minusgrade. Es stürmte, und die Sonne sah man so gut wie nie.
Sie kannten einander nun ein gutes Jahr. Sie stand im Wohnzimmer, vor ihrem Fenster, den Blick zur Straße gewandt. Regen prasselte gegen die Scheibe ihrer kleinen Wohnung, und die Stunde war schon spät. Die liebevoll eingerichtete Wohnung war ihr Schutzbunker, ein Rückzugsort, ihr Unsichtbarkeitsmantel vor der großen, wilden Welt. Das Regenwasser tänzelte, wie in der Szene eines sonntäglichen Krimis, im gelben Laternenlicht auf dem Asphalt. Rot, Grün, Blau… Gelb.
Es war schnell gegangen zwischen den beiden. Binnen weniger Wochen hatte er sich tief in ihre Psyche eingeschlichen. Wenn sie ehrlich war, war er zu Beginn nur ein kleiner Zeitvertreib für sie gewesen. Alleinsein war nicht gerade ihre Stärke, und mit seiner charismatischen Art war er ihr eine angenehme Gesellschaft gewesen. Er hatte allerlei Geschichten zum Besten gegeben. Und mit der Zeit war aus den beiden dann etwas geworden, was man wohl eine Paarbeziehung nennen konnte. Die Stimmung jetzt gerade hier, in ihrem Wohnzimmer, war angespannt. Sonja hatte ihm den Rücken zugekehrt. Er saß auf dem Sofa. Sie schaute weiter nach dem Regen auf der Straße. Manchmal am Tage stand sie da auch und sah den Blättern im Wind hinterher. Hier zu stehen war wie eine kleine Meditation, die sie erdete.
Er hatte sie angeschrien: „Dann wünsch' ich dir mal einen schönen Unfalltod.“ Er hatte gesagt: „Hör auf mit deinem Rumgefrage. Denkst du, die machen Halt vor einem kleinen Mädchen wie dir?“
Und nun war Rod selbst ganz erschöpft. Er saß da auf ihrem gemütlichen kleinen Sofa und hatte eigentlich gar keine Lust, ihr Angst zu machen. Eigentlich hatte er sie doch so lieb. Wieso begriff sie denn einfach nicht den Ernst der Lage? Alles lag brach. Er hatte sein Lebenswerk vor die Hunde geworfen, alles nur für sie. Niemand seiner Leute würde ihn jemals wieder ernst nehmen. Was sollte er denn noch alles ändern? Er war dabei, alles für sie aufzugeben. Warum hörte sie nicht endlich auf mit ihrem verdammten Rumgefrage?
„Lass gut sein“, sagte sie und drehte sich wieder zu ihm zurück.
„Wir sind einfach zu verschieden“, sagte sie.
„Lass mich besser in Ruhe, das wird das Beste sein“, sagte Rod, und während er das sagte, fühlte er tiefen Kummer. Auch Sonja wusste nichts mehr zu sagen. Viel lieber hätte sie endlich Antworten auf ihre Fragen bekommen.
„Vielleicht hörst du einfach mal damit auf, mich anzulügen. Ich will mit diesem ganzen Mist nichts zu tun haben. Du schleppst eine Waffe in meine Wohnung, parkst diese Karre in meinem Hof, befüllt mit Kiloweise Drogen, erzählst mir Schreckensgeschichten von Menschen aus meinem Umfeld, und ich soll die Klappe halten und keine Fragen stellen? Sorry, aber das kann und werde ich nicht. Ich möchte das nicht in meiner Lebenswelt haben. Ich bin Kindergärtnerin, ich brauche einen Mann, der Verantwortung übernimmt, der ehrlich durchs Leben geht und auch ein paar Rücklagen bilden kann. Ich würde nämlich auch gern eines Tages selbst eine Familie gründen, und das hier ist keine Basis.“
„Du hast noch immer keine Ahnung, wer ich eigentlich bin, oder?“
Und da war er, der Satz… Der Satz, den sie nie wieder vergessen würde. Doch lasst mich die ganze Geschichte von vorne beginnen. Es ist kompliziert.
Ein einfacher Zufall reicht aus, um zwei Leben auf Kollisionskurs zu bringen.
Stellen wir uns Sonja vor. Sonja ist eine alleinstehende Frau Anfang der Dreißiger. Großgewachsen, sportlich, schlank, perfektionistisch, aber oft unzufrieden. Sie ist kinderlos. Sonja lebt in einer kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung. Sie ist dankbar für das, was sie hat, aber sehnt sich nach einem Mann, mit dem sie eine Familie gründen kann. Sie spielt Klavier, liest gern, meidet Partys und laute Menschen. Sie geht regelmäßig laufen und schwankt immer ein bisschen zwischen gesunder Ökoernährung und einer profunden Junkfood-Selbstzerstörung.
Sonja besitzt einen kleinen, aber treuen Freundeskreis, ist aber am liebsten für sich allein. Ihre Familie ist intakt, aber, wie die meisten Familien, im Inneren Geisel ihrer alteingesessenen Komplexe und Muster.
Same Shit – Different Family.
Oder wie Tolstoi schon geschrieben hatte:
„Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich.“1
An Geld hatte es nie gemangelt und auch nicht an Liebe. Eigentlich war Sonja die normalste Frau, die es gab. Aber in einem Satz, der ein „Eigentlich“ beinhaltet, versteckt sich immer auch ein „Aber“...
Sie war schon ganz zufrieden mit sich und der Welt. Jetzt fehlte nur noch der Mann, die Kinder, der Kräutergarten und das Haus, vor dem sie diesen pflanzen konnte. Aber mit über 30 Jahren auf Partnersuche… da lief draußen gefühlt nur noch B-Ware herum. So war sie umso dankbarer, in ihrer Aufgabe als Kindergärtnerin einen Ausgleich gefunden zu haben. Es war nicht unbedingt adäquat, aber es war besser als gar nichts.
Nachdem Sonja sich bei Facebook Luft über eine hartnäckig anhaltende Diebstahlrate von Fahrrädern in der umliegenden Nachbarschaft gemacht hatte, bekam sie an jenem Tag ungewöhnlich viele Zuschriften. Die Menschen zeigten sich solidarisch mit ihr. Sonja fuhr selbst ausschließlich mit dem Fahrrad. Sie verzichtete bewusst auf ein Auto.
Viele Nachrichten zu bekommen, und das auch noch bei Facebook, war sie nicht gewohnt. Sie konnte unmöglich jedem Einzelnen eine Antwort senden. Die meisten der Nachrichten ignorierte sie also, aber ein paar der Nachrichten überflog sie kurz.
Das Leben kann langweilig sein, wenn man immer allein ist. Keiner, der sich anhörte, wie der Tag mit den Zicken auf der Arbeit gewesen war… Keiner, der abends die Tür aufschloss und von seinem Tag erzählen würde. Da war nur sie, die Pflanzen in ihrer Wohnung und das Radio. Die immer gleichen Gesichter, bei der Arbeit, an der Kasse im Supermarkt. Die immer gleichen Abläufe. Die lange Nachricht auf Facebook von einem unbekannten Mann hatte also mit Leichtigkeit ihre Aufmerksamkeit gewonnen. Aber irgendwie schien es so zu sein, dass dieser Typ nicht alle Tassen im Schrank hatte.
Er schrieb Sonja etwas von einer Spendensammlung und bot ihr an, all den Familien zu helfen, die in der Nachbarschaft beklaut worden waren. Sonja war irritiert darüber. Er schickte ihr auch einen Screenshot von einem lang andauernden Telefonat mit einem Freund, wozu er ihr dann erzählte, dass er immer und gern für seine Mitmenschen da wäre.
Dieser Typ, Rod hieß der, meldete sich jetzt regelmäßig bei ihr. Er erzählte ihr von seiner komplizierten Beziehung, die seit fünf Jahren eher einem Gefängnis als einer Liebe glich. Und mit der Zeit erzählte er ihr immer ungewöhnlichere Dinge. Sonja antwortete sporadisch. Aber an seine regelmäßigen Nachrichten in ihrem Postfach hatte sie sich schnell gewöhnt.
„Hey. Heute war nicht mein Tag. Wie geht es dir?“, schrieb er eines Abends.
Sonja zeigte sich anteilnehmend. Sie schrieb ihre Antwort früh morgens auf dem Weg zur Arbeit und erkundigte sich, was denn los sei bei ihm. Seine Nachricht war nachts um 3 Uhr eingegangen. Offensichtlich war er zu einem späten Zeitpunkt schlafen gegangen.
Gegen Nachmittag schickte er ihr dann eine Antwort.
„Du, lass uns nicht drüber reden. Ich habe mir überlegt, dich mit dem ganzen Mist nicht zu belasten. Wie geht es dir?“
Vielleicht war sie das – die Geburtsstunde von Sonjas Neugier.
Aber dazu kommen wir noch…
Zwei Wochen später trafen sich die beiden ein erstes Mal auf einen Spaziergang. Viele ihrer Freunde wohnten inzwischen irgendwo in der Weltgeschichte verstreut oder hatten bereits Kinder, Häuser oder wichtige Jobs. Ein neuer Austausch tat gut, doch in der heutigen Zeit waren Austausch und Kommunikation nicht mehr so leicht. Viele Menschen waren extrovertierter geworden. Doch stellte sich die Frage: War diese vermeintliche Extrovertiertheit wirklich authentisch, wenn sie sich doch nur in der virtuellen Welt manifestierte? Handelte es sich nicht eher um verkappte Introvertierte, die vor ihren Bildschirmen daheimsaßen und aus dem Kontext gerissene Momentaufnahmen als ihre Realität des Tages präsentierten? Und die Motivation, so etwas intrinsisch aus sich selbst herauszutun, ist die dann eigentlich überhaupt noch da oder wird sie nicht eher gehemmt, weil sie von einem Like-gesteuerten Belohnungsmechanismus manipuliert ist? Der Austausch unter den Menschen war schon lange nicht mehr derselbe. Die Kommunikation hatte an Einfachheit verloren, sowohl in ihrer technischen als auch inhaltlichen Entschlüsselung.
Die direkte Interaktion zwischen Sender und Empfänger war doch eigentlich am unkompliziertesten, wenn sich zwei Personen physisch gegenüberstanden. Doch wenn jemand einen Beitrag veröffentlichte oder einen Text verfasste, und die Anzeige, ob jemand online war oder nicht, Teil der Kommunikation wurde, dann sollten die Kommunikationsmodelle unserer Zeit vielleicht grundlegend überdacht werden.
Wie dem auch sei, die Kommunikation, egal ob gesund oder ungesund, hatte bei diesen beiden Menschen dazu geführt, dass sie sich nun trafen. Ob das etwas Gutes oder Schlechtes war, konnte man zu diesem Zeitpunkt noch nicht wirklich sagen.
Sie trafen sich am Rande der Stadt, wo ein kleines Waldstück begann. Hier endeten die Häuser, und die Natur hatte ihren Platz. Felder und Wälder, genügend Raum zum Spazierengehen.
Sonja kam aus einer anderen Ecke der Stadt als er. Sie sah ihn schon von Weitem. Er mit dem Auto, sie mit dem Fahrrad.
Sie sah niedlich aus, wie sie dastand, mit so einer kleinen Haarspange in Rosa. Er ging zu ihr, die Beine waren etwas wackelig.
„Hey“, sagte sie. Ihr Lächeln war unschuldig und sanft. Dann breitete sie gleich die Arme aus, um ihn zur Begrüßung zu drücken, was ihn für einen kurzen Moment überforderte, denn damit hatte er nicht gerechnet.
Sie sah tief in seine Augen, als würde sie darin die Vorbereitung auf die folgende Unterhaltung suchen. „Nahm er Medikamente?“, schoss es Sonja durch den Kopf. Seine Augen waren glasig.
Etwas an ihm war nicht stimmig. Sie scannte ihn von oben bis unten. Sie schaute einmal, zweimal, dreimal, aber der Typ passte einfach in keine Schublade. Und wie sie ihn so betrachtete – das Haar ganz wirr, etwas strähnig und ungekämmt – da fragte sie sich, wer dieser Kerl eigentlich war. Er trug ein löchriges Shirt, dessen einst kunterbunter Hawaii-Aufdruck nur noch zu erahnen war. Das Shirt hatte wohl vor langer Zeit seine Form verloren, aber es bekleidete ihn noch. Mehr schien der Mann von diesem Stück Stoff auch gar nicht zu erwarten. Sonja dachte, dass er wohl kein Mensch war, der diesen Bereichen des Lebens eine besondere Aufmerksamkeit schenkte. Über eine schwarze Leggings trug er eine kurze Jeanshose. Ein ungewöhnlicher Style für einen Mann, fand Sonja.
Die beiden liefen Richtung Wald.
„Ich komme nur noch so selten zum Spazierengehen“, sagte Rod.
„Oh, das tut mir leid“, entgegnete Sonja. „…man muss sich die Zeit ganz bewusst einfach nehmen.“
„Da hast du Recht. Früher war ich immer mit meinem Hund draußen. Da hatte man einen Grund“, erzählte Rod nostalgisch.
„Früher?“, fragte Sonja. „Hast du ihn nicht mehr?“
„Ach, schwieriges Thema. Meine damalige Partnerin hat ihn einfach mitgenommen. Sie ist einfach mit ihm abgehauen. Sie war ein sehr böser Mensch.“
Sonja blieb abrupt stehen. Sie strich Rod einmal liebevoll über die Schulter.
„Ach Mensch. Das tut mir leid zu hören. Das war doch sicher nicht leicht für dich. War es denn euer gemeinsamer Hund?“
Rod blieb ebenfalls stehen. „Eben nicht. Es war mein Hund. Ich habe das dann aber klären lassen. Ein paar Freunde haben das Tier dann bei ihr abgeholt. Aber das war bei weitem nicht das Einzige, was sie getan hat... und sie ist, zurecht dafür, ins Gefängnis gewandert.“
Sonja erschrak. „Wie jetzt? Deine Ex?“
Jetzt grinste er plötzlich. „Das führt jetzt ein bisschen weit, Sonja… Also ich reiße es nur kurz an. Ich hatte damals eine eigene Firma, ich hatte meine Server bei mir im Keller. Die Geschichte ist etwas länger… Ach, die Frau war völlig fertig, die ist einfach unkontrolliert gewesen, dieses Weib. Eines Tages hat sie, ohne Vorwarnung, alle Stecker rausgerissen und einfach alles zu Nichte gemacht. Traurig mit ihr. Sie war psychisch krank – affektiv gestört“, erzählte Rod abwertend.
„Ich war wirklich sehr darum bemüht, ihr zu helfen. Aber sie war nur den ganzen Tag damit beschäftigt, zu chatten und ungesundes Zeug zu fressen. Eines Tages habe ich herausgefunden, dass sie sich all die Jahre immer ein bisschen Geld von meiner Firma auf ihr Konto rübergeschoben hat. Und dafür ist sie dann, natürlich, in den Knast gewandert.“
Sonja staunte nicht schlecht. „Das ist ja krass. Und wie lange wart ihr zusammen?“
„Ach, fünf Jahre.“
Sonja wusste gar nicht, was sie sagen sollte. Fünf Jahre, das war eine lange Zeit.
Und während sie ein Stück weiter Richtung Feld gingen, wurde sie nachdenklich. Was Rods Exfreundin getan hatte, war ja schlimm, ganz ohne Frage, aber jemanden, mit dem man sich mal so nah gewesen war, dass man dasselbe Bett geteilt hatte, ins Gefängnis zu bringen, das hätte sie wohl nicht gekonnt.
Rod und Sonja kamen schließlich an eine kleine Bank, da saß sie nach dem Joggen häufig noch für einen kurzen Moment und betrachtete den Himmel und das Feld.
„Hier ist keine Menschenseele unterwegs“, sagte sie zu Rod und sah hinaus auf den trockenen Acker. Wenn der Winter vorbei war, würde hier wieder der Raps blühen.
„Was machst du eigentlich beruflich?“, fragte sie ihn.
„Naja, ist kompliziert. Gerade bin ich krankgeschrieben. Ich habe eine Autoimmunerkrankung und befinde mich derzeit leider in einer akuten Phase. Aber das läuft schon. Ich gehe damit regelmäßig ins Krankenhaus, und so wie es aussieht, ist die Sache schon wieder am Abklingen.“
Inzwischen war es so windstill geworden, dass sie sich für einen kurzen Moment fragte, ob eine Welt da draußen, außerhalb dieser Bank, überhaupt noch existierte. Sonja kam sich nun vor wie das unbelebte Objekt in einem Stillleben, auf welches der Maler seinen Fokus gelegt hatte.
„Ach so, und ich studiere Medizin und arbeite derzeit in einem Feinkostladen“, sagte er und durchbrach damit die Stille.
Nach gut zwei Stunden erreichten die beiden wieder dieselbe Stelle, an der Sonja ihr Fahrrad angeschlossen hatte. Sie war jetzt doch froh, sich mit ihm getroffen zu haben, auch wenn er ein etwas merkwürdiger Zeitgenosse zu sein schien.
Die beiden liefen noch gemeinsam das kleine Stück zur Straße. Dort stand Rods Wagen. Als er auf den Schlüssel drückte und es klack-klack machte, begann ein großer Audi zu blinken. Was für ein protziger Wagen, dachte Sonja bei sich. Sie blickte zu den Lichtern, die auf sie wie die Augen eines Raubtieres wirkten. Ihr Blick wanderte vom Auto zu Rod und von ihm zurück zum Auto und dann wieder zurück zu Rod. Dieser Typ, der vor ihr so wackelig auf den Beinen stand, leicht humpelte und dieses zerfledderte Hawaii-Shirt trug, der fuhr allen Ernstes so eine Karre?
Das war ein bisschen so, als hätte Sonja gerade einen Bettler am Straßenrand dabei beobachtet, wie er auf einem iPhone herumtippte.
Aber sie stellte keine Fragen.
Fragen stellen würde sie später noch genug…
Die beiden verabschiedeten sich mit einer Umarmung. Dann stieg Rod in den Wagen, drehte laute Musik auf und fuhr, wenig spritsparend, vom Platz.
Das Anna-Karenina-Prinzip: Leo Tolstoi, Anna Karenina, 1877/88 – 1. Satz des Romanes↩︎
Sonja zog den Teebeutel wie einen Fisch an einer Angelschnur durch ihre Tasse. „Die wichtigen Dinge kommen zu uns, wenn wir so weit sind“, stand auf dem kleinen Schildchen am Beutel. „Ah ja“, dachte sie bei sich. Wieder so ein Spruch, der nichts an ihren Problemen änderte, aber durchaus dazu in der Lage war, ihr das Gefühl zu vermitteln, dass sie die Dinge offensichtlich noch nicht gut genug machte, um es ins nächste Level zu schaffen. Diese Teebeutelweisheitsschreiber sollte man verklagen, dachte sie. Wahrscheinlich handelte es sich bei ihnen um gescheiterte Schriftsteller, die nun mit ihren Rollkragenpullovern in irgendeinem Bürohinterzimmer saßen und Weisheit nach der anderen herausgaben.
Sonja zog den Teebeutel noch drei weitere Runden durch die Tasse. Sie fragte sich, ob diese Teebeutelweisheitsschreiber, wenn sie nachmittags zu ihren Ehepartnern nach Hause kämen, dann ebensolche Sprüche zum Besten gäben. „Oh Schatz, sorry… ich hab die Tampons vergessen einzukaufen, aber HEY, Liebling… denke nicht so oft an das, was dir fehlt. Sondern freue dich an dem, was du hast.“
Sie nahm den Teebeutel aus der Tasse und während sie ihn in ihrer Faust ausdrückte, dachte sie an das Märchen vom tapferen Schneiderlein und daran, als es auf den Riesen traf. Wie es einen Stein so sehr drückte, dass das Wasser daraus heraustropfte. Das Schneiderlein, das daraufhin den Riesen an der Nase herumführte, indem es ein Stück Käse ausdrückte, hatte sie schon als Kind fasziniert. Einen Riesen zu verarschen, war sicher eine lustige Sache.
Ihr kleines Ritual, nach dem Joggen noch kurz gemütlich in der Küche zu sitzen, war ein kostbarer Moment der Ruhe, den sie gern genoss. Sie scrollte sich durch die Mitteilungen in ihrem Telefon. Rod hatte sich gemeldet. Seine Nachrichten waren oft lang und es konnte anstrengend und zeitaufwendig werden, wenn man darauf einging.
„Hey, lass uns nachher doch gern eine Kleinigkeit essen gehen. Dann kannst du mir ja einfach alles in Ruhe erzählen“, bot Sonja ihm an und legte das Telefon erst einmal beiseite. Dann machte sie es sich mit ihrem Tee in der Wanne gemütlich.
Gegen 12 Uhr spazierten beide eine Runde durchs Viertel. Zum Essen hatten sie sich eine Kleinigkeit beim Bäcker geholt. Rod erzählte von seiner Erkrankung. Sonja wunderte sich, dass er trotz zahlreicher schwerer Krankheitsschübe die ganze Zeit über Cola trank. Bereits bei ihrem ersten Treffen war ihr aufgefallen, dass in seinem Auto ein paar leere Flaschen auf der Rückbank gelegen hatten. Und jetzt trank er schon die zweite Flasche in ihrem Beisein. Sonja fragte sich, ob das so zuträglich war mit solch einem Leiden, aber sie sagte nichts, das ging sie ja auch gar nichts an.
„Ich arbeite trotzdem ein bisschen weiter“, erläuterte Rod. „Heute war ich auch wieder im Laden. Muss halt nur immer mal zur Infusion und dann bin ich eben ein paar Tage außer Gefecht gesetzt, aber alles gut.“
Sonja hörte gut zu.
„Mein Chef ist da auch echt entspannt. Der hat mich auch schon das ein oder andere Mal direkt in die Klinik gebracht.“
„Wow, das ist ja ein toller Chef, den du da hast“, entgegnete Sonja.