Unter Verdacht - Robert Crais - E-Book

Unter Verdacht E-Book

Robert Crais

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Beschreibung

Scott James ist Cop beim Los Angeles Police Department. Eines Nachts kommt es zu einem tragischen Vorfall. Scotts Partnerin Stephanie wird von fünf maskierten Gangstern erschossen, er selbst überlebt schwer verletzt. Elf Wochen später: Scott hat sich erholt, besessen davon, Stephanies Mörder zu finden. Da er noch immer traumatisiert ist, wird Scott zur Hundestaffel versetzt. Als er von Ermittlern des Dezernats für Polizeiinterna vom Dienst suspendiert wird, ahnt er, dass seine Feinde womöglich in den eigenen Reihen zu finden sind. Scott kann niemandem mehr trauen und muss schon bald ums nackte Überleben kämpfen ...

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ZUM BUCH

»Scott warf sich hin und bedeckte seinen Kopf. Geschosse schlugen funkensprühend um ihn herum in den Asphalt ein und rissen tiefe Narben. Beweg dich. Tu irgendwas. Rasch rollte er sich seitlich weg, brachte seine Pistole in Anschlag und feuerte so schnell er konnte. Sprang dann auf und rannte im Zickzack auf seine Partnerin zu. Dass zur gleichen Zeit ein alter dunkelgrauer Ford Gran Torino die Straße herunterraste und mit quietschenden Reifen neben dem Bentley bremste, davon bekam Scott kaum etwas mit. Er zielte im Laufen blindlings weiter auf den Kenworth, um sich seiner Partnerin nähern zu können. Stephanie umklammerte ihren gekrümmten Körper, als hätte sie Bauchkrämpfe. Scott packte ihren Arm und hoffte, das Schlimmste sei überstanden. Doch jetzt ging es erst richtig los …«

ZUM AUTOR

Robert Crais, 1953 geboren, begann seine Karriere als Drehbuchautor für das amerikanische Fernsehen und wurde unter anderem mit dem Emmy ausgezeichnet.1980 beschloss er, sich ganz dem Schreiben von Romanen zu widmen. Crais wurde mit zahlreichen namhaften Preisen ausgezeichnet (u. a. mit dem Edgar Award und dem Anthony Award), seine Thriller erscheinen in 42 Ländern und belegen regelmäßig die internationalen Bestsellerlisten. Robert Crais lebt mit seiner Frau, drei Katzen und Tausenden von Büchern in den Bergen von Santa Monica, Kalifornien.

Mehr Infos zum Autor unter www.robertcrais.com.

LIEFERBARE TITEL

Straße des Todes

Gesetz des Todes

ROBERT CRAIS

UNTER

VERDACHT

THRILLER

Aus dem Amerikanischen

von Jürgen Bürger

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Die Originalausgabe SUSPECT erschien 2013

bei Putnam, New York

Vollständige deutsche Erstausgabe 07/2015

Copyright © 2013 by Robert Crais

Copyright © 2015 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Redaktion: Ulrike Nikel

Umschlaggestaltung: Büro Überland, Schober & Höntzsch,

unter Verwendung eines Motivs von ©David Sucsy/Getty Images

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-15806-4

www.heyne.de

Für Greg Hurwitz,

Freund, Hundeführer, Schriftsteller,

und sein herrliches Rudel:

Delinah, Rosie, Natalie

und Simba.

PROLOG

DER GRÜNE BALL

Maggie starrte Pete mit gespannter, ungeteilter Aufmerksamkeit an. Sein dunkles Gesicht lächelte, seine Hand war verborgen unter der schweren grünen Masse der USMC-Splitterschutzweste, und er redete mit ihr in dieser hohen, gurrenden Stimme, die sie so sehr mochte.

»Maggie, mein braves Mädchen. Du bist das allerbeste Mädchen überhaupt. Und das weißt du auch, mein Babygirl.«

Maggie war ein dreijähriger, achtunddreißig Kilo schwerer schwarz-gelber Deutscher Schäferhund. Ihre offizielle Bezeichnung lautete Militärischer Diensthund Maggie T415, und die Kennziffer, die sie als Mitglied der U.S. Army auswies, hatte man ihr in die Innenseite ihres linken Ohrs tätowiert.

Corporal Pete Gibbs war ihr Hundeführer. Er gehörte ihr und sie ihm, seit sie sich vor anderthalb Jahren in Camp Pendleton zum ersten Mal begegnet waren und ein Team wurden. Derzeit befanden sie sich zu ihrem zweiten Auslandseinsatz in Afghanistan, wo sie Patrouillen absichern und Sprengstoffe aufspüren sollten. Die Hälfte ihrer Stationierungszeit hatten sie inzwischen hinter sich.

Schmeichelnd bereitete Pete sie auf ihren nächsten Einsatz vor.

»Bist du startklar, Kleines? Findest du das böse Ding für Daddy? Bereit für die Arbeit?«

Maggies Schwanz schlug heftig auf den staubigen Boden. Dieses Spiel gehörte zu ihrem Ritual. Sie kannte es und wusste genau, was als Nächstes kam. Ihre Vorfreude war offensichtlich: Maggie lebte geradezu für diesen Augenblick.

Provinz Al-Jabar, 8.40 Uhr, Islamische Republik Afghanistan. Die Temperatur betrug bereits 43 Grad Celsius und würde noch auf 49 Grad steigen.

Die Wüstensonne brannte heiß auf Maggies dichtes Fell, als ein Dutzend Marines aus drei Humvees kletterten und sich in einer lockeren Reihe zwanzig Meter hinter ihr aufstellten. Maggie kannte sie, schätzte sie aber nicht. Tolerierte sie lediglich, solange Pete sich in ihrer Nähe aufhielt und einen entspannten Eindruck machte. So wie jetzt. Die anderen Marines waren zwar keine Fremden, jedoch nicht Teil des Rudels. Pete schon.

Mehr noch: Er gehörte ihr.

Maggie und Pete aßen zusammen, schliefen zusammen und spielten zusammen 24/7. Was bedeutete, sich vierundzwanzig Stunden an sieben Tagen bereitzuhalten. Also ständig. Sie liebte und bewunderte ihn und fühlte sich verloren ohne ihn. Wenn andere ihm zu nah kamen, warnte Maggie sie mit einem tiefen Knurren. Dafür war sie gezüchtet worden. Zu bewachen und zu beschützen, was ihr gehörte. Und Pete gehörte nun einmal ihr. Sie bildeten ein Rudel.

Auch jetzt. Maggie konzentrierte sich vollkommen auf ihn. Nichts sonst zählte oder existierte für sie. Es gab nur die gemeinsame freudige Erwartung vor dem Spiel, das sie gleich spielen würden.

Von hinten hörte sie eine Stimme.

»Okay, Pete. Wir sind so weit. Auf geht’s.«

Pete warf dem Mann einen kurzen Blick zu und lächelte Maggie breit an.

»Willst du’s sehen, Mädchen? Möchtest du sehen, was ich hier habe?«

Pete holte einen neongrünen Ball unter seiner Splitterschutzweste hervor.

Maggies Augen fixierten ihn, und blitzschnell stand sie da auf allen vieren. Winselte leise, damit Pete endlich den Ball warf. Sie brannte darauf, hinter dem runden grünen Ding herzujagen. Es war ihr Lieblingsspielzeug und ihr Lieblingsspiel. Pete würde ihn ganz weit werfen, und Maggie würde glücklich hinterherrasen, ihn zielstrebig aufspüren, zubeißen, ihn fest zwischen die Kiefer nehmen und stolz damit zurücklaufen. Ihn Pete bringen, der sie wie immer schon erwarten und sie mit Lob und allerlei Zärtlichkeiten überschütten würde.

Doch diesmal warf Pete den Ball nicht, zeigte ihn ihr lediglich als Versprechen auf zu erwartende Freuden. Auch das kannte Maggie und akzeptierte es. Sie musste bestimmte Gerüche finden – genau, wie Pete es ihr beigebracht hatte. Und sobald ihr das gelungen war, würde sie mit dem Ball belohnt. So ging das Spiel.

Pete stopfte den Ball unter seine Weste, und seine Stimme wechselte von hoch und verspielt zu energisch und befehlsgewohnt. Er war das Alphatier und sprach jetzt mit seinem Alphatonfall.

»Zeig mir, was du kannst, Marine Maggie. Finde die bösen Sachen. Such, such, such.«

Such, such, such.

Maggie war ebenso zum Wachhund wie zum Sprengstoffspürhund ausgebildet worden und somit für zwei Aufgabenbereiche einsetzbar. Sie konnte auf Befehl angreifen, flüchtende Personen verfolgen und stellen und war ein Ass bei der Kontrolle größerer Menschenmengen. Im Augenblick jedoch bestand ihr Job vorrangig im Aufspüren von Munition, Artilleriewaffen und selbst gebastelten Straßenbomben, der bevorzugten Waffe afghanischer Rebellen.

Maggie wusste nicht, was IEDs waren, wie Pete das nannte. Improvised Explosive Devices. Aber das war gar nicht nötig. Sie hatte gelernt, die elf gängigsten Bestandteile dieser Sprengfallen zu erkennen, die die Aufständischen verwendeten, darunter Ammoniumnitrat, Zündschnur, Kaliumchlorat, Nitrozellulose, C4 und Hexogen.

Dass diese Substanzen sie töten konnten, entzog sich Maggies Begreifen. Es spielte auch keine Rolle. Sie suchte diese Dinge, um Pete eine Freude zu machen, und das bedeutete für sie mehr als alles andere. Wenn er glücklich war, dann war Maggie es ebenfalls. Schließlich nahm Pete in ihrem kleinen Rudel den Platz des Alphatiers ein.

Weil er den grünen Ball warf.

Auf sein Kommando hin trottete sie bis ans Ende ihrer Leine, die mit einem D-Ring an Petes Hundeführergürtel befestigt war. Sie wusste exakt, was er erwartete, denn Pete hatte sie ausgebildet und den gleichen Einsatz bereits x-mal mit ihr durchexerziert. Ihre Aufgabe bestand darin, zwanzig Meter vor den Marines die Straße entlangzulaufen und IEDs zu finden. Petes Leben, ihr eigenes und das der Marines hingen von ihrer Nase ab.

Maggie drehte ihren Kopf hin und her, prüfte zuerst die Gerüche weiter oben und senkte anschließend den Kopf, um dicht über dem Boden zu schnuppern. Die Menschen vermochten, sofern sie sich konzentrierten, vielleicht fünf oder sechs verschiedene Duftspuren identifizieren. Ihre sensible Schäferhundnase hingegen vermittelte ihr ein umfassendes Geruchsbild, das einem Menschen nicht zugänglich war.

Sie roch den Staub unter ihren Pfoten und die Ziegen, die ein paar Stunden zuvor die Straße entlanggetrieben worden waren, sowie die Ausdünstungen der beiden Hirten. Einen Krankheitserreger, den eine der Ziegen in sich trug, konnte Maggie ebenso riechen wie die Läufigkeit von zwei weiteren Tieren. Sie unterschied Petes frischen Schweiß von dem alten, eingetrockneten, der noch in seiner Kleidung hing. Ihre Nase witterte seinen Atem, den parfümierten Brief, den er in seiner Hosentasche aufbewahrte, und natürlich den grünen Ball, der unter seiner Weste steckte. Das Waffenöl, mit dem er sein Gewehr reinigte, und die Reste von Schießpulver, die sich wie ein feiner Staub des Todes an seine Waffe klammerten.

Besonders intensiv nahm sie jetzt den Geruch des kleinen Palmenhains nicht weit von der Straße wahr. Dort pflegten nachts wilde Hunde zu schlafen und ihre Ausscheidungen und Markierungen zu hinterlassen, bevor sie weiterzogen. Maggie hasste die Streuner und hielt kurz ihre Nase prüfend in die Luft. Sobald sie zu dem Schluss gelangte, dass sie fort waren, ignorierte sie ihre Duftspuren und konzentrierte sich wieder auf die Gerüche, die sie für Pete finden sollte.

Die würden am Ende schließlich den grünen Ball zum Vorschein bringen.

Ihre Aufgabe bestand darin, zunächst einen fünf Meilen langen, unbefestigten Feldweg zu sichern und anschließend in einem kleinen Dorf nach versteckten Waffen zu suchen. Die Marines würden dort Stellung beziehen, damit Maggie und Pete ungestört ihrer Arbeit nachgehen konnten, und am Ende sämtliche Waffen oder Sprengstoffe bergen, die sie beide entdeckt hatten.

Die Meilen zogen sich endlos hin, ohne dass Maggie die Gerüche, auf die sie angesetzt war, gefunden hätte. Die Hitze wurde immer unerträglicher und brachte ihr Fell zum Glühen. Als sie die Zunge heraushängen ließ, spürte sie einen sanften Zug an ihrer Leine, und Pete kam zu ihr.

»Ist dir heiß, Baby? Hier …«

Maggie setzte sich und trank durstig aus der Plastikflasche, die er ihr anbot. Die Marines hinter ihnen blieben ebenfalls stehen. Ganz nach Vorschrift.

»Ist mit ihr alles okay?«

»Im Moment genügt das Wasser. Aber sobald wir das Dorf erreichen, muss sie eine Weile aus der Sonne raus.«

»Verstanden. Noch anderthalb Meilen.«

»Alles klar.«

Nach einer Weile erreichten sie eine Palmengruppe, aus der sie die Dächer dreier Steingebäude herausragen sahen. Die ersten Häuser des winzigen Ortes. Wieder ertönte von hinten eine Stimme.

»Achtung. Dorf vor uns. Aufpassen, dass wir nicht unter Beschuss geraten.«

Sie hatten sich gerade wieder in Bewegung gesetzt, als Maggie hinter einer Kurve Glockengeklimper und Blöken hörte. Sie hielt inne und spitzte die Ohren. Pete stand abwartend neben ihr, während die Marines nach wie vor ein gutes Stück zurück waren.

»Was ist los?«

»Maggie hat irgendwas bemerkt.«

»IEDs?«

»Nein, sie spitzt die Ohren. Irgendein Geräusch.«

Maggie reckte witternd die Nase in die Luft, schnupperte mehrfach schnell hintereinander, und dann tauchte auch schon die erste Ziege in der flirrenden Hitze auf. Gefolgt von einer kleinen Herde, neben der auf der rechten Seite zwei halbwüchsige Jungen und links ein ziemlich großer, bärtiger Mann gingen, der grüßend eine Hand hob.

Als der Marine an der Spitze des Trupps etwas brüllte, blieben die drei Ziegentreiber stehen, während die Tiere noch etwa vierzig Meter weiterliefen und sich dann im Kreis drehten. In der windstillen Luft dauerte es ein paar Sekunden, bis die Gerüche zu Maggie vordrangen. Sie hob die Nase, schnupperte und öffnete die Schnauze, um sie aufzusaugen.

Da sie Fremde nicht mochte, beobachtete Maggie den Mann und die beiden Jungen argwöhnisch. Deutlich unterschied sie ihre Ausdünstungen. Roch Koriander, Granatapfel und Zwiebeln in ihrem Atem, roch den Schweiß und Schmutz, der an ihnen haftete – und den ersten schwachen Hauch jenes Geruchs, den zu finden Pete ihr beigebracht hatte. Winselnd zog sie an der Leine, schaute zu Pete hoch und starrte die Ziegenhirten an.

Pete wusste, dass sie eine Spur aufgenommen hatte.

»Gunny, wir haben was.«

»Etwas neben der Straße?«

»Negativ. Sie starrt diese Typen an.«

»Vielleicht will sie die Ziegen.«

»Die Kerle. Die Ziegen sind ihr scheißegal.«

»Sind sie bewaffnet?«

»Wir sind zu weit weg. Sie riecht etwas, aber der Geruchskegel ist noch zu groß. Kann sein, dass es bloß Rückstände auf ihrer Kleidung sind – kann sein, dass sie bewaffnet sind. Keine Ahnung.«

»Gefällt mir nicht, hier so nah bei den Häusern zu stehen. Ideal, wenn jemand uns mit einem Kugelhagel begrüßen will.«

Pete drehte sich nach hinten um.

»Ihr Jungs haltet Abstand und geht nicht weiter, während wir sie gründlich abschnuppern.«

»Verstanden. Wir decken euch.«

Nachdem sich die Marines links und rechts der Straße verteilt hatten, winkte Pete die Ziegenhirten zu sich.

Maggie bewegte ihren Kopf von einer Seite zur anderen, war auf der Jagd nach dem stärksten Geruch und voll gespannter Erwartung. Ihre Wahrnehmungen wurden stärker, je näher die Männer kamen. Pete würde zufrieden sein mit ihr, weil sie das böse Ding gefunden hatte, und sie mit dem grünen Ball belohnen.

Pete glücklich.

Maggie glücklich.

Rudel glücklich.

Sie winselte erneut unruhig, als die Ziegentreiber beinahe heran waren. Der ältere Junge hatte ein lockeres weißes Hemd an, der jüngere ein verwaschenes blaues T-Shirt, und beide trugen schlabbrige weiße Hosen und Sandalen. Das dunkle Hemd des Mannes hatte weite, lange Ärmel, die bei jeder Bewegung Falten warfen. Seine ausgeblichene Hose hing formlos an ihm herunter.

Der Hirte roch nach altem, säuerlichem Schweiß, nach Ziegen und nach dem Ding, das Maggie aufspüren sollte. Da war sie sich ganz sicher, und diese Gewissheit teilte sich über die Leine Pete mit. Er wusste, was sie wusste. Als seien sie eins, nicht bloß Mann und Hund.

Ein Rudel eben.

Pete schulterte sein Gewehr und befahl dem Mann, nicht weiterzugehen. Der Bärtige blieb stehen, lächelte und hob die Hände, während die Ziegen sich um die beiden Jungen drängten. Als der Ältere etwas zu ihnen sagte, konnte Maggie ihre Furcht riechen.

»Still, Mädchen. Still.«

Pete beruhigte sie und machte ein paar Schritte auf den Mann zu.

Maggie mochte es nicht, wenn Pete sich von ihr entfernte. Sie gehorchte, weil er Alpha war. Doch sie hörte, wie sein Herz schneller klopfte, roch den Schweiß, der aus seiner Haut trat, und wusste, dass er Angst hatte. Petes Angst wanderte durch die Leine und ergoss sich in Maggie, sodass auch sie ängstlich wurde. Sie verließ ihren Platz, um zu ihm aufzuschließen.

»Nein, Maggie. Still.«

Gewohnt, seinen Befehlen zu gehorchen, blieb sie stehen, stieß jedoch ein tiefes Knurren aus. Ihre Aufgabe bestand schließlich darin, ihn zu beschützen und zu verteidigen. Sie waren ein Rudel, und er war Alpha.

Jeder DNA-Strang ihrer Schäferhundgene schrie förmlich danach, sich zwischen Pete und die Männer zu schieben, um sie einzuschüchtern oder anzugreifen. Gleichzeitig lag es in ihren Genen, Pete glücklich zu machen.

Alpha glücklich.

Rudel glücklich.

Wieder verließ Maggie ihre Position, drängte sich zwischen Pete und die Fremden. Jetzt war der Geruch so stark, dass Maggie tat, was Pete ihr für einen Fall wie diesen beigebracht hatte: Sie setzte sich.

Pete kniete sich neben sie, hob sein Gewehr und rief den anderen Marines eine Warnung zu.

»Er ist bepackt.«

Eine Explosion zerriss den Bärtigen mit einer solchen Heftigkeit, dass es Maggie nach hinten schleuderte und sie sich überschlug. Kurz verlor sie das Bewusstsein, kam auf der Seite liegend desorientiert und verwirrt wieder zu sich. Während Staub und Schutt auf ihr Fell regneten, hörte sie nichts außer dem schrillen Geheul der Hütejungen und dem Brüllen der Marines hinter ihr, roch nichts außer dem Gestank eines unnatürlichen Feuers. Ihr Sehvermögen war getrübt. Als sie versuchte aufzustehen, brach ihr rechter Vorderlauf unter ihrem Gewicht zusammen. Sie stürzte mit der Schulter voran zu Boden, rappelte sich sofort wieder auf und stand wacklig auf drei Beinen, die brannten wie von tausend Ameisenbissen.

Von dem bärtigen Mann war nur noch ein Haufen rauchender Kleidung und zerfetzten Fleisches übrig geblieben. Ziegen lagen jämmerlich schreiend auf dem Boden. Der kleinere Junge saß im Staub und weinte, und der ältere stolperte im Kreis herum mit Blutspritzern auf Hemd und Gesicht.

Pete lag gekrümmt auf der Seite, stöhnte. Sie waren immer noch über die Leine miteinander verbunden, und sein Schmerz und seine Angst strömten ihr zu.

Er war Rudel.

Er war ihr Ein und Alles.

Maggie humpelte zu ihm und leckte verzweifelt sein Gesicht. Sie schmeckte das Blut, das ihm von Nase, Ohren und Hals rann, und sie wurde angetrieben von dem Bedürfnis, ihn zu beruhigen und zu heilen.

Pete rollte sich auf den Rücken und blinzelte sie an.

»Bist du verletzt, Kleines?«

Erde spritzte von der Straße neben Petes Kopf auf, und ein lauter Knall zerfetzte die Luft. Die Stimmen der Marines wurden lauter.

»Heckenschütze. Vorsicht, Heckenschütze.«

»Pete hat’s erwischt.«

»Wir liegen unter Beschuss …«

Das irrwitzig laute Rattern von einem Dutzend automatischer Waffen verstörte Maggie, und dennoch leckte sie Petes Gesicht nur noch heftiger. Sie wollte, dass er aufstand – wollte, dass er glücklich war.

Ein lauter Donnerschlag ertönte dicht hinter ihr und riss den Boden auf, jagte mehr Erde und heiße Splitter durch ihr Fell. Sie krümmte sich und wäre am liebsten weggelaufen, ließ aber nicht von Pete ab.

Ihn heilen.

Ihn beruhigen.

Ihm helfen.

»Granatwerfer. Wir liegen unter Granatwerferbeschuss.«

Erneut spritzte Erde von der Straße auf, und jetzt löste Pete Maggies Leine von seinem Gürtel.

»Geh, Maggie. Die schießen auf uns. Geh.«

Seine Alphastimme klang schwach, und diese Schwäche machte ihr Angst.

Alpha war stark.

Alpha war Rudel.

Rudel war alles.

Weitere Donnerschläge ließen die Erde ringsum beben, und plötzlich traf etwas sie an der Hüfte, wirbelte sie durch die Luft. Maggie jaulte, als sie auf dem Boden aufschlug, und knurrend versuchte sie den Schmerz wegzubeißen.

»Heckenschütze hat den Hund erwischt.«

»Schaltet das Arschloch aus, verdammt.«

»Ruiz, Johnson, mitkommen.«

Maggie beachtete die Marines nicht, die auf die Häuser des Dorfes zurannten. Sie schnappte nach dem grässlichen Schmerz in ihrer Hüfte, schleppte sich schließlich zurück zu ihrem Rudel.

Pete bemühte sich, sie wegzuschieben, doch es lag keine Kraft mehr in seinen Bewegungen.

»Geh, Baby. Ich kann nicht aufstehen. Geh weg …«

Pete griff unter seine Splitterweste und nahm den grünen Ball heraus.

»Hol ihn, Baby. Geh.«

Pete wollte den Ball für sie werfen, aber er schaffte nicht einmal einen Meter. Dann erbrach er Blut und zitterte, und in diesen Sekunden veränderte sich alles an ihm. Sein Geruch, sein Geschmack. Maggie hörte, wie sein Herz ruhiger schlug und das Blut in seinen Adern langsamer floss, und sie spürte, dass sein Geist seinen Körper verließ. Trauer überfiel sie und das Gefühl eines schrecklichen Verlusts. Schlimmer als alles, was sie je gekannt hatte.

»Pete. Pete, wir kommen, Mann.«

»Luftunterstützung ist unterwegs. Halt durch.«

Maggie leckte sein Gesicht, um ihn zum Lachen zu bringen. Das tat er sonst immer, wenn sie ihn mit ihrer rauen Zunge bearbeitete.

Ein neuer Peitschenschlag fegte zischend an ihr vorbei, eine weitere Ladung Staub wurde von der Erde ausgespien wie Lava bei einem Vulkanausbruch. Und etwas Schweres krachte so heftig gegen Petes Splitterweste, dass Maggie meinte, einen Schlag vor die Brust bekommen zu haben. In ihre Nase stieg der stechende Geruch von Rauch und heißem Metall. Sie schnappte nach dem Loch in Petes Weste, die eine Kugel durchschlagen hatte.

»Die schießen auf den Hund.«

Granaten schlugen direkt neben der Straße ein, ließen wieder Erde und heißen Stahl niederregnen. Maggie kroch ganz dicht zu ihrem Alpha. Pete war Alpha. Pete war Rudel. Ihre Aufgabe bestand darin, ihr Rudel zu beschützen.

Sie schnappte nach den herabregnenden Trümmern und bellte die metallenen Vögel an, die die fernen Gebäude umkreisten wie wild gewordene Wespen. Noch ein paar Explosionen, dann eine unheimliche Stille, die erst vom Geräusch schwerer Stiefel durchbrochen wurde. Die Marines kamen.

»Pete.«

»Wir kommen, Mann …«

Maggie bleckte die Lefzen und knurrte.

Das Rudel beschützen.

Alpha beschützen.

Das Fell auf dem Rücken gesträubt, die Ohren nach vorn gestellt, empfing sie mit gefletschten Reißzähnen die großen grünen Gestalten, die massig über ihr aufragten.

Ihn beschützen.

Das Rudel beschützen.

Ihren Pete beschützen.

»Himmel, Maggie, wir sind’s … Maggie.«

»Ist er tot?«

»Er ist am Arsch, Mann.«

»Sie ist ebenfalls am Arsch.«

Maggie schnappte und biss nach ihnen, und die Gestalten wichen zurück.

»Sie ist verrückt geworden.«

»Tut ihr nichts. Scheiße, sie blutet.«

Rudel beschützen. Beschützen und verteidigen.

Maggie schnappte und biss. Knurrte und bellte und hüpfte im Kreis, um sich ihnen zu stellen.

»Doc. Doc, Himmel, Pete hat’s erwischt.«

»Ein Black Hawk ist unterwegs.«

»Sein Hund lässt uns nicht …«

»Benutzt euer Gewehr, aber verletzt sie nicht. Schiebt sie weg.«

»Mann, sie ist angeschossen.«

Als etwas sie berührte, biss Maggie zu. Schloss ihre Kiefer, die einen Beißdruck von rund dreihundertfünfzig Kilo auf sechseinhalb Quadratzentimetern erzeugen konnten, um den Gewehrlauf. Knurrend hielt sie ihn fest, bis ein weiteres langes Ding sich näherte und dann noch eines.

Jetzt öffnete Maggie die Kiefer, sprang den nächststehenden Mann an, erwischte ihn und riss ihm eine tiefe Wunde, um sogleich wieder ihre Position über Petes Körper einzunehmen.

»Sie denkt, wir wollen ihm was antun.«

»Schiebt sie weg. Los …«

»Verletzt sie nicht, verdammt noch mal.«

Sie schoben wieder, und irgendwer warf ihr eine Jacke über den Kopf. Sie wollte weg, doch sie drückten sie mit ihrem Gewicht nieder.

Pete beschützen.

Er war ihr Rudel.

Das Rudel war ihr Leben.

»Mann, sie ist verletzt. Sei vorsichtig.«

»Hab sie.«

»Der Scheißkerl hat sie angeschossen.«

Maggie wand sich und zappelte, raste vor Wut und Angst und wollte sich durch die Jacke beißen. Dann spürte sie, wie sie aufgehoben wurde. Sie empfand keinen Schmerz, und dass sie blutete, bedeutete ihr nichts. Für sie zählte nur eines: bei Pete zu sein und ihn zu beschützen. Ohne Pete war sie nichts, hatte keine Aufgabe mehr.

»Bringt sie in den Black Hawk.«

»Hab sie.«

»Legt sie zu Pete.«

»Was ist mit dem Hund?«

»Das da ist ihr Führer. Ihr müsst sie mit ins Krankenhaus nehmen.«

»Er ist tot.«

»Sie hat versucht, ihn zu beschützen.«

»Hör auf zu quatschen und flieg los, Arschgesicht. Bring sie zu einem Arzt. Dieser Hund ist ein Marine.«

Maggie spürte eine starke Vibration, die ihren Körper durchlief. Roch durch die Jacke, die ihren Kopf bedeckte, die Abgase des Flugbenzins. Und Petes Geruch. Sie wusste, dass er nur wenige Zentimeter von ihr getrennt und zugleich sehr weit weg war und sich immer weiter entfernte.

Sie bemühte sich, enger an ihn heranzukriechen, aber es ging nicht. Ihre Beine knickten ein und wurden zudem festgehalten. Ihr Knurren verebbte zu einem leisen Winseln.

Pete gehörte ihr.

Sie waren Rudel.

Ein Zweierrudel. Nur dass Pete jetzt fort war und Maggie niemanden mehr hatte.

TEIL 1

SCOTT UND STEPHANIE

1

2 Uhr 47

Downtown Los Angeles

Sie befanden sich auf dieser speziellen Straße an dieser speziellen Kreuzung zu dieser verrückten Uhrzeit, weil Scott James Hunger hatte. Stephanie stellte den Motor ihres Streifenwagens ab. Sie hätten überall sonst sein können, aber er hatte sie genau dorthin geführt: in dieser Nacht, an diese stille Kreuzung. Es war so ruhig, dass sie sich darüber wunderten.

Unnatürlich ruhig.

Sie hatten drei Blocks vom Harbor Freeway entfernt angehalten zwischen Reihen schäbiger vierstöckiger Gebäude. Angeblich sollten sie abgerissen werden, um Platz für den Bau eines Stadions zu schaffen, falls die Dodgers ihre alte Spielstätte in Chavez Ravine zugunsten einer neuen aufgeben sollten. Die Gebäude und Straßen in diesem Teil der Stadt wirkten wie ausgestorben. Keine Obdachlosen. Kein Verkehr. Kein Grund für irgendwen, in dieser Nacht dort zu sein. Nicht einmal für einen Streifenwagen des LAPD.

Stephanie runzelte die Stirn.

»Bist du sicher, dass du weißt, wohin du willst?«

»Klar weiß ich das. Hab einfach Geduld.«

Scott war auf der Suche nach einem die ganze Nacht geöffneten Nudelrestaurant, von dem ein Detective vom Raubdezernat der Rampart Division, einem westlich von Downtown gelegenen Polizeibezirk, in den höchsten Tönen geschwärmt hatte. Offenbar handelte es sich um einen dieser Schuppen, deren Betreiber für ein paar Monate ein leer stehendes Ladenlokal übernahmen, erst auf Twitter einen fetten Hype erzeugten und dann wieder verschwanden. Ein Lokal, von dem Scotts Bekannter behauptete, es gebe dort die erstaunlichsten Ramen, spezielle japanische Nudelgerichte, sowie latino-japanische Crossover-Küche. Aromen, die man nirgends sonst finde: Korianderkutteln etwa, Abalone mit Chili oder eine Ente mit Jalapeño zum Niederknien.

Gerade versuchte Scott herauszufinden, an welcher Stelle er die Wegbeschreibung durcheinandergebracht hatte, als er plötzlich stutzte.

»Hör mal.«

»Was?«

»Pst, hör doch. Mach den Motor aus.«

»Du hast keinen blassen Schimmer, wo der Laden ist, stimmt’s?«

»Pst. Sperr die Ohren auf.«

Stephanie Anders, Streifenpolizistin des LAPD im Rang eines Police Officer III mit insgesamt elf Dienstjahren, stellte den Motor ihres Wagens ab, damit Scott Ruhe gab. Sie hatte ein hübsches, sonnengebräuntes Gesicht mit Lachfältchen in den Augenwinkeln und kurze rotblonde Haare.

Ihr Kollege, ein zweiunddreißigjähriger PO II mit sieben Dienstjahren, fasste sich grinsend ans Ohr, weil Stephanie nicht zu kapieren schien, worauf er hinauswollte. Endlich fiel der Groschen, und sie lächelte ihn breit an.

»Es ist absolut ruhig.«

»Verrückt, oder? Keine Funksprüche. Kein Geschnatter. Ich kann nicht mal die Autobahn hören.«

Es war eine schöne Frühlingsnacht: die Temperatur knapp unter zwanzig Grad, sternenklar, ein Seitenscheiben-runter-Wetter, wie Scott es besonders mochte. Ihr Protokoll wies bislang gerade ein Drittel der sonst üblichen Einsätze auf. Eine bequeme Schicht also, die ihn jedoch zu langweilen schien. Daher auch seine Suche nach dem Nudelrestaurant, von dem er allerdings langsam glaubte, dass es womöglich gar nicht existierte.

Als Stephanie die Hand nach dem Zündschlüssel ausstreckte, um den Motor wieder zu starten, hielt Scott sie zurück.

»Lass uns noch eine Minute hier sitzen. Wie oft erlebt man schon eine solche Stille?«

»Nie. Das ist dermaßen cool, dass es mir fast Angst einjagt.«

»Keine Bange. Ich werde dich beschützen.«

Stephanie lachte.

Scott gefiel es, wie sich die Straßenbeleuchtung in ihren Augen spiegelte, und er hätte gern ihre Hand berührt. Nach zehnmonatiger Partnerschaft als Cop stand er jetzt im Begriff zu gehen. Und da gab es ein paar Dinge, die er vorher sagen wollte.

»Du warst eine gute Partnerin.«

»Willst du etwa einen auf rührselig machen?«

»Ja. Irgendwie schon.«

»Okay, du wirst mir fehlen.«

»Du mir auch, bestimmt sogar mehr als ich dir.«

Ihr kleines privates Spielchen. Alles wurde zum Wettstreit, selbst die Frage, wer wen am meisten vermissen würde. Wieder überlegte er, nach ihrer Hand zu greifen, doch sie kam ihm zuvor, nahm seine und drückte sie fest.

»Ach, Quatsch. Du wirst richtig Vollgas geben, dir deine Meriten verdienen und außerdem einen Mordsspaß haben. Ist schließlich genau das, was du immer wolltest, Mann, und ich freue mich wahnsinnig für dich. Du bist ein echt krasser Typ.«

Scott lachte. Er hatte zwei Jahre lang an der University of Redlands Football gespielt, bis er sich das Knie ruinierte. Daraufhin verließ er die Uni und landete irgendwann beim LAPD, dem Los Angeles Police Department, belegte zudem Abendkurse und holte vier Jahre später seinen Abschluss nach. Scott James hatte viel vor. Er war jung, zielstrebig und ehrgeizig, strebte danach, in der Oberliga zu spielen.

Jetzt war er von der Metro Division des LAPD angenommen worden, einer uniformierten Eliteeinheit, die im gesamten Stadtgebiet den Beamten der einzelnen Reviere Unterstützung anbot. Insbesondere schickte man diese hochqualifizierte Truppe los zur aktiven Kriminalitätsbekämpfung, bei öffentlichen Ausschreitungen und Krawallen sowie bei Einsätzen mit hohem Sicherheitsrisiko. Nur die Besten wurden genommen.

Zugleich galt die Metro als unerlässliche Durchgangsstation für all jene, deren erklärtes Ziel die SWAT war. Eine taktische Spezialeinheit des LAPD, in der nur die Besten der Besten das harte Ausleseverfahren überstanden, die Topelite schlechthin. Los Angeles machte den Anfang mit diesem Konzept, andere Polizeibehörden folgten dem Beispiel. Scotts Versetzung zur Metro war für das Ende der Woche angekündigt.

Stephanie hielt immer noch seine Hand, als sich hinter ihnen eine große Bentley-Limousine näherte, die Scheiben geschlossen, dunkel getöntes Glas, nicht ein Stäubchen auf dem schimmernden Lack. Der Wagen wirkte in dieser Gegend so deplatziert wie ein fliegender Teppich.

Stephanie grinste.

»Hey, sieh mal, das Batmobil.«

Wie in Zeitlupe fuhr der Bentley an ihnen vorbei. Beinahe geräuschlos, sodass man glauben konnte, er würde schweben. Der Fahrer war hinter den dunklen Scheiben nicht auszumachen.

»Willst du ihn dir genauer ansehen?«

»Wozu? Weil der Typ reich ist? Wahrscheinlich hat er sich genauso verfahren wie wir.«

»Wir können uns nicht verfahren, schließlich sind wir die Polizei.«

»Vielleicht sucht er denselben bescheuerten Ramen-Schuppen.«

»Du hast gewonnen. Vergessen wir die Ramen und kaufen uns irgendwo ein paar Eier.«

Stephanie wollte gerade den Motor anlassen, als der Bentley etwa dreißig Meter vor ihnen eine Einmündung erreichte. In diesem Augenblick wurde die Stille von einem lauten Brummen zerrissen, und ein schwarzer Kenworth-Truck schoss aus der Querstraße heraus. Er rammte den Bentley so heftig, dass die knapp drei Tonnen schwere Limousine sich einmal komplett um die eigene Achse drehte, bevor sie zum Stehen kam. Der Kenworth schlitterte seitlich weg, hielt an und versperrte die Straße.

»Heilige Scheiße.«

Während Scott das Blaulicht anschaltete, das Straße und umliegende Gebäude in ein rotierendes Kaleidoskop aus Lichteffekten tauchte, tastete Stephanie nach ihrem Schultermikro, um eine Meldung abzusetzen.

»Wo sind wir? Was für eine Straße ist das? Ich sehe kein Schild.«

»Harmony, drei Blocks südlich der Harbor.«

»Zwei-Adam-vierundzwanzig, wir haben einen Verkehrsunfall mit Verletzten auf der Harmony, drei Blocks südlich des Harbor Freeway und vier Blocks nördlich des Wilshire Boulevard. Krankenwagen und Feuerwehr erforderlich. Wir leisten Erste Hilfe.«

Scott war bereits draußen und bewegte sich auf den Bentley zu.

»Ich kümmere mich um das Batmobil. Übernimm du den Truck.«

Stephanie nickte und begann zu laufen, während Scott auf die Limousine zuging. Bis auf den Dampf, der unter der Kühlerhaube hervorquoll, war nichts zu sehen. Niemand bewegte sich auf der Straße.

Plötzlich jedoch explodierten hellgelbe Blitze im Inneren des Truck – gefolgt von einem gleichmäßigen, monotonen Knattern, das als Echo von den Wänden der Häuser widerhallte.

Scott glaubte zunächst an eine Detonation im Führerhaus des Kenworth, bis er bemerkte, dass auf ihren Streifenwagen sowie auf den Bentley unter ohrenbetäubendem Donnergrollen ein Stahlgewitter niederging und ein Kugelhagel beide Wagen durchsiebte. Instinktiv sprang er zur Seite, sah noch, wie Stephanie zu Boden sank.

Sie schrie einmal auf und verschränkte die Arme vor ihrer Brust.

»Mich hat’s erwischt. O Scheiße …«

Scott warf sich hin und bedeckte seinen Kopf. Geschosse schlugen funkensprühend um ihn herum in den Asphalt ein und rissen tiefe Narben.

Beweg dich. Tu irgendwas.

Rasch rollte er sich seitlich weg, brachte seine Pistole in Anschlag und feuerte so schnell er konnte auf die zuckenden Blitze. Sprang dann auf und rannte im Zickzack auf seine Partnerin zu.

Dass zur gleichen Zeit ein alter dunkelgrauer Ford Gran Torino die Straße herunterraste und mit quietschenden Reifen neben dem Bentley bremste, davon bekam Scott kaum etwas mit. Er zielte im Laufen bloß blindlings weiter auf den Kenworth, um sich seiner Partnerin nähern zu können.

Stephanie umklammerte ihren gekrümmten Körper, als hätte sie Bauchkrämpfe. Scott packte ihren Arm und hoffte, das Schlimmste sei überstanden, weil die Männer in dem Truck nicht mehr schossen, doch jetzt ging es erst richtig los.

Zwei Typen mit schwarzen Masken und unförmigen Jacken stiegen mit Pistolen aus dem Gran Torino und eröffneten das Feuer auf den Bentley, aus dem bisher niemand ausgestiegen war, zerschmetterten das Glas und stanzten Löcher in die Karosserie. Gleichzeitig kletterten zwei ebenfalls maskierte und mit AK-47 bewaffnete Männer aus dem Truck.

Scott packte Stephanie unter den Armen und zog sie in Richtung ihres Streifenwagens. Rutschte dabei in der Blutlache aus, die sich mittlerweile gebildet hatte. Er ging rückwärts, um die Männer im Auge behalten zu können.

Der erste Kerl aus dem Truck, ein großer Dünner, belegte sogleich die Windschutzscheibe des Bentley mit einem Kugelhagel. Der zweite, ein stämmiger Mann mit beachtlicher Wampe, die über seinem Gürtel hing, schwang sein Sturmgewehr herum, richtete es auf Scott, und aus der Kalaschnikow ergoss sich ein tödlicher Regen gelber Blütensterne.

Scott erwischte es so hart am Oberschenkel, dass Stephanie und die Pistole seinem Griff entglitten. Rücklings fiel er auf die Straße, sah Blut aus seinem Bein quellen. Er hob seine Waffe auf, gab zwei weitere Schuss ab, dann hatte er keine Kugel mehr im Magazin. Leer. Langsam rappelte er sich auf die Knie hoch und nahm wieder Stephanies Arm.

»Ich sterbe.«

»Nein, tust du nicht. Ich schwöre bei Gott, das tust du nicht.«

Eine zweite Kugel traf ihn in der Schulter, warf ihn um. Wieder verlor er Stephanie und die Pistole, und sein linker Arm wurde taub.

Der Mann, der auf ihn geschossen hatte, schien ihn offenbar für erledigt zu halten, denn er drehte sich zu seinen Spießgesellen um. Eine Gelegenheit für Scott, seitlich in Richtung Streifenwagen zu robben, wobei er sein verletztes Bein nachschleifte und sich mit dem gesunden abdrückte. Das Auto war ihre einzige Deckung. Wenn er es bis dorthin schaffte, konnte er es als Schutzschild benutzen, um Stephanie zu holen.

Scott betätigte die Taste seines Schultermikros, während er rückwärts kroch, und flüsterte so laut, wie es unter diesen Umständen möglich war, einen Notruf hinein.

»Officer verwundet. Schusswechsel, Schusswechsel. Zwei-Adam-vierundzwanzig, wir sterben hier draußen.«

Die Männer aus dem grauen Ford rissen gerade die Türen des Bentley auf und feuerten hinein. Scott sah flüchtig Personen, kaum mehr als Schatten. Dann erstarb das Feuer, und er hörte Stephanie schreien. Das Gurgeln in ihrer Stimme verriet ihm, dass Blut in ihrer Kehle hochstieg, und traf ihn mitten ins Herz. Wie ein Messer.

»Lass mich nicht allein. Scotty, geh nicht weg.«

Er drückte sich fester ab, bemühte sich mit den letzten Kraftreserven, den Streifenwagen zu erreichen. Schrotflinte im Wagen. Schlüssel im Zündschloss.

»Verlass mich nicht.«

»Mach ich nicht, Baby. Bestimmt nicht.«

»Komm zurück.«

Scott war noch fünf Meter vom Streifenwagen entfernt, als ihm das Blut in den Adern gefror. Der Dicke aus dem Truck hatte offenbar Stephanies Rufe gehört. Jetzt schwang er seinen massigen Körper herum, entdeckte Scott, hob sein Gewehr und schoss. Die Kugel durchschlug seine Schutzweste auf der linken unteren Brustseite.

Der Schmerz war heftig und nahm schnell an Intensität zu, weil die Bauchhöhle sich mit Blut füllte. Scotts Bewegungen wurden langsamer, bis sie schließlich ganz erlahmten. Verzweifelt versuchte er weiterzukriechen. Vergeblich, denn seine Kräfte hatten ihn verlassen. Aufgestützt auf seinen Ellbogen wartete er auf den nächsten Schuss, doch der stämmige Mann wandte sich wieder dem Bentley zu.

Das Heulen von Sirenen kam näher.

Im Innern des Bentley sah Scott erneut schemenhaft schwarze Gestalten, ohne Genaueres zu erkennen. Allerdings bemerkte er den Fahrer des Gran Torino, der sich zu seinen bewaffneten Komplizen umdrehte und dabei kurz seine Maske hochzog. Etwas Weißes blitzte für einen Moment auf, dann drängten alle fünf in den Ford.

Der Dickbäuchige als Letzter. Er zögerte kurz neben der Wagentür, blickte Scott an und hob sein Gewehr.

Scott schrie.

»Nein.«

Er versuchte wegzukriechen, bis das Sirenengeheul einer beruhigenden Stimme wich.

»Aufwachen, Scott.«

»Nein.«

»Drei, zwei, eins …«

Neun Monate und sechzehn Tage nachdem er in dieser Nacht angeschossen worden war, neun Monate und sechzehn Tage nachdem er zuschauen musste, wie seine Partnerin ermordet wurde, schrie Scott James beim Aufwachen.

2

Scott warf sich mit aller Kraft aus der Schusslinie und wachte auf. Jedes Mal war er aufs Neue überrascht, dass er nicht von der Couch seines Seelenklempners gesprungen war. Obwohl er wusste, dass er bestenfalls leicht zuckte, sobald die hypnotische Regression ihn an diesen Punkt seiner Erinnerungen führte. In dem Moment, wenn der dickbäuchige Mann sein AK-47 hob, sprang Scott in die Wirklichkeit zurück. Flüchtete sich vor der Vergangenheit.

Jetzt atmete er bedächtig und konzentriert ein und versuchte sein flatterndes Herz zu beruhigen.

Goodmans Stimme kam von der anderen Seite des abgedunkelten Raumes. Charles Goodman, Facharzt für Psychiatrie, arbeitete für das Los Angeles Police Department, ohne dort angestellt zu sein.

»Tief Luft holen, Scott. Fühlen Sie sich okay?«

»Alles okay.«

Sein Puls raste zwar, seine Hände zitterten, und seine Brust war mit kaltem Schweiß bedeckt, aber Scott konnte seine Gefühle gut herunterspielen.

Der Psychiater war ein übergewichtiger Mann von Mitte vierzig mit Spitzbart, Pferdeschwanz, Sandalen und Nagelpilz an den Füßen. Sein kleines Büro befand sich im Obergeschoss eines zweistöckigen Gebäudes im Stadtteil Studio City und lag am L.A.-River-Kanal. Scotts erste Therapeutin hatte eine erheblich ansehnlichere Praxis in Chinatown gehabt, beim psychologischen Dienst des LAPD, doch Scott mochte sie nicht. Sie erinnerte ihn zu sehr an Stephanie.

»Hätten Sie gern ein Glas Wasser?«

»Nein, danke. Alles bestens.«

Scott schwang die Beine von der Couch und verzog das Gesicht wegen der Verspannungen in Schulter und Seite. Die Schmerzen stellten sich eigentlich immer nach der Hypnose ein. Überhaupt brauchte er ein paar Sekunden, um wieder zu sich zu finden – es kam ihm vor, als würde er aus der grellen Sonne in eine dunkle Bar treten. Die heutige Sitzung war seine fünfte intensive Begegnung mit den Ereignissen jener Nacht gewesen, nur fühlte er sich diesmal verwirrter und unsicherer als sonst.

Dann erinnerte er sich und sah Goodman an.

»Koteletten.«

Goodman, der alles und jedes aufschrieb, griff sofort zu seinem Notizbuch.

»Koteletten?«

»Der Fahrer des Fluchtwagens. Er hatte weiße Koteletten. Buschige weiße Koteletten.«

Der Psychiater notierte etwas, blätterte anschließend einige Seiten zurück.

»Haben Sie das schon einmal erwähnt?«

Scott kramte in seinem Gedächtnis, ob er sich vielleicht an die Koteletten erinnert hatte, ohne es Goodman zu sagen. Er dachte über diese Möglichkeit nach, wenngleich er die Antwort bereits kannte.

»Nein, das mit den Koteletten ist mir erst heute wieder eingefallen. Vorher nicht, da bin ich sicher.«

Goodman kritzelte emsig, was bei Scott bloß Zweifel weckte.

»Glauben Sie, dass ich die Koteletten wirklich gesehen habe, oder bilde ich mir das nur ein?«

Goodman war noch mit Schreiben beschäftigt und ließ sich mit seiner Antwort Zeit.

»Lassen wir das vorerst auf sich beruhen. Und auch alle anderen Selbstzweifel. Ich möchte zunächst wissen, woran Sie sich erinnern. Erzählen Sie mir einfach, was Ihnen einfällt.«

Das Bild, das vor seinem inneren Auge erstand, war klar und deutlich.

»In dem Augenblick, als man die Sirenen hören konnte, hat er sich zu den Männern mit den Waffen umgedreht und seine Maske hochgezogen.«

»Er trug die gleiche Maske wie die anderen?«

Was sollte die Frage, dachte Scott. Schließlich hatte er bereits zu Protokoll gegeben, dass alle identisch maskiert waren.

»Ja, eine gestrickte schwarze Sturmhaube. Er hat sie teilweise aus dem Gesicht geschoben, und da habe ich die Koteletten gesehen. Sie waren sehr lang, reichten bis deutlich unterhalb des Ohrläppchens. Könnten auch hellgrau gewesen sein, silbergrau.«

Scott fasste sich ans Ohr, um sich den Anblick noch einmal zu vergegenwärtigen. Er sah ein schemenhaftes Gesicht vor einem dunklen Hintergrund, und eindeutig blitzte irgendetwas weiß auf.

»Beschreiben Sie genau, was Sie erkennen konnten.«

»Ich hab ein Stück seiner Kinnpartie gesehen, und am deutlichsten sind mir diese weißen oder silbergrauen Koteletten ins Auge gestochen.«

ENDE DER LESEPROBE