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Dennis Jung ist endlich auf Erfolgskurs. Jedenfalls, was seinen Job anbelangt, hat er es schon weit gebracht. Als Chef einer NGO kümmert er sich um die Klimakrise – bis er, völlig überraschend, selbst in eine Überlebenskrise gerät. Auf hoher See sieht seine Welt plötzlich ganz anders aus. Einmal mehr wagt sich Ruthardt an ein gesellschaftspolitisches Thema und zwingt uns zur Auseinandersetzung mit Narrativen. Hier knöpft er sich die Klimaretter vor, türmt die Wellen unbequemer Fragen hoch auf – bis die Gischt der Erkenntnis eiskalt ins Gesicht schlägt. »Ein Roman, der Narrative entlarvt – und zum Nachdenken zwingt.« Prof. Dr. Erick Behar-Villegas »Kaum ein Autor in der aktuellen deutschsprachigen Literatur traut sich das, was Ruthardt uns mit Leichtigkeit zumutet. Gerade deshalb lesenswert.« Nickolas Emrich (SPIEGEL-Bestseller-Autor)
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Seitenzahl: 180
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Die Handlung ist frei erfunden.Etwaige Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Begebenheiten oder mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.
Originalausgabe 2025Edition PJB© 2025 Edition PJBLayout und Satz: Buch&media GmbHGesetzt aus der Sabon und PoppinsUmschlaggestaltung und Umschlagmotiv: Ralf M. RuthardtVertrieb: Buch&media GmbH, MünchenPrinted in EuropeISBN print 978-3-9827059-0-3ISBN ePub 978-3-9827059-1-0
Kontakt: Buch&media GmbHMerianstraße 24 · 80637 MünchenFon 089 13 92 90 46 · Fax 089 13 92 90 65E-Mail [email protected]
Für Hugo
1 | Vollendete Not
Stell dich nicht so an!«
Dennis Jung steht mit hochrotem Kopf an der Reling und versucht, sich eine orangene Rettungsweste anzulegen. Das Ausflugsschiff GREEN schwankt bedrohlich. Seit etwa einer Stunde ist alles schwierig geworden. Sehr schwierig. Sein junges Leben ist in den vergangenen drei, vier Jahren entlang vieler glücklicher Umstände verlaufen. Jetzt kommt es Dennis Jung so vor, als ob sein Dasein auf ein finales Ende zusteuert. Ein total beschissenes und viel zu frühes Ende für einen Achtundzwanzigjährigen, der doch noch so viel vorhat. Die Welt will er verändern, oder wenigstens seine Welt.
»Zieh endlich die Rettungsweste an oder bist du für das Ding zu fett?!« Noch einmal schnauzt Dennis die neben ihm stehende, leichenblasse Carina Kurz an. Ihre Augen treffen sich, nur einen Augenblick. Aber dieser Moment reicht aus, um sich einer beidseitigen Verachtung sicher zu sein. Das war nicht immer so. Jetzt schon.
Dennis stemmt sich mit seinen knapp Einmetersiebzig gegen den Wind und versucht, die Balance zu halten. Wieder geht es hinauf, weiter rauf, noch weiter – und dann den Wellenrücken wieder hinunter. Das Schiff knallt mit dem Bug in die Front der nächsten Welle, das Salzwasser spritzt hoch auf. Die Gischt jagt über das Vorderschiff und weit darüber hinaus. Der Kapitän hatte von Windstärke 9 gesprochen. Vor etwa einer Stunde. Okay, dann halt Windstärke 9, hatte Dennis sich gedacht. Aber eine konkrete Vorstellung konnte er damit nicht verbinden. Man hatte zunächst sehr und dann weniger gemütlich unter Deck gesessen und diskutiert. Nun, an Deck, ist an die Stelle einer ungefähren Vorstellung eine reale Erfahrung getreten: das unerbittliche Heulen und die Kraft des Winds. Die Gischt und der dichte Regen schlagen ihm eiskalt ins Gesicht. Er schmeckt Salz, während das Schiff sich ungelenk durch die hohen Wellen kämpft. Seine Kurzhaarfrisur kann die Nässe nicht aufnehmen. Ein Wasserlauf rinnt neben dem anderen vom Schädel über die Stirn – und großteils direkt in die Augen. Dort brennt es, und wenn er mit nassen Händen für Abhilfe sorgen will, macht es das Salz an seinen Fingern nicht besser. Gischt für Gischt wirft ihm die tosende See das kalte, salzige Wasser entgegen.
Vom angekündigten Frühsommer keine Spur. Mit vor Kälte kaum mehr fühlbaren Fingern nestelt Dennis am Verschluss der Feststoffweste. Kein Rest der Coolness eines jungen Menschen ist mehr in ihm. Lediglich die frische, orangene Leuchtfarbe macht ihm Mut. Wenn dieses Schiff untergehen sollte, was Gott verhüten möge – nein, der Gedanke muss anders lauten, da er mit Gott nichts anfangen kann. Wobei, wäre es jetzt nicht besser, ein Gott würde sich seines im Moment sehr elenden Daseins erbarmen? Dennis schiebt den Gedanken beiseite und hofft, dass die Rettungsweste ihn über Wasser halten und die Leuchtfarbe ein rasches Auffinden durch die Seenotretter ermöglichen wird. Unvermittelt korrigiert ihn ein Reflex aus seinem Inneren, der aus dem Nichts zu kommen scheint: die Seenotrettenden. Korrekt. Jetzt ist er wieder handlungsfähig, obgleich er nicht versteht, warum etwas Unterbewusstes gerade jetzt, in dieser Notlage, einen solch unnötigen Gedanken erzwingt. Dennis überlässt den Gedanken dem Wind und versucht, im dichten Regen seine Finger zu sehen.
»Den Schrittgurt nach vorne führen und den Klick-Verschluss einrasten lassen«, erinnert sich Dennis. Es war die Anweisung des Kapitäns Ulf Ulfsen gewesen. Dieser hatte sie ihm und den anderen zugerufen, bevor sich die Gruppe bequemte, das Unterdeck zu verlassen, um nach oben zu gehen. War es der Kapitän gewesen? Oder hatte es dessen einziger Matrose an Bord erklärt? Dennis wischt diesen wenig hilfreichen Klärungsversuch beiseite, während seine Finger im dichten Regen kaum zu sehen sind. Es muss mit dem verbleibenden Gefühl gehen, erkennt Dennis und versucht, den Verschluss einrasten zu lassen. Das »Klick« hört er nicht, aber er fühlt mit den vor Kälte fast tauben Fingern den Widerstand und den kurzen Ruck. Er zieht in die Gegenrichtung und spürt, dass der Gurt festsitzt. Es hat geklappt. Dennis blickt erleichtert auf.
»Thuuut!«
»Thuuut!«
»Thuuut!«
»Thut!«
Dreimal lang. Einmal kurz. Seit mindestens zwanzig Minuten gehört das zur ungemütlichen, panikverursachenden Geräuschkulisse, in welche Dennis sich fügen muss. Das Signalhorn ruft um Hilfe, sagt er sich, wobei ihm unklar ist, wofür der Signalcode steht.
Neben ihm steht immer noch Carina Kurz. Mit ihren fast Einmetersechzig in der Höhe und etwas Ähnlichem in der Breite wirkt Carina auf ihn wie eine Kröte. Pitschnass hängt das lange, blonde Haar von ihrem Kopf und über ihren Schultern. Wenn Carina den Kopf zur Windseite dreht, fährt dieser unter die Haarpracht der Vierunddreißigjährigen und drapiert das vor Nässe triefende Haar neu – manchmal auch quer über das Gesicht und die Augen, sodass nur ein Wenden des Kopfes hilft, um wieder so etwas wie Durchblick zu bekommen.
Sie hat den rechten Arm durch die dafür vorgesehene Öffnung der Rettungsweste gesteckt und hält sich an der vor Nässe glänzenden Reling fest. Den linken Arm streckt sie Dennis entgegen. Nein, der Arm wird durch die zweite Öffnung der Schwimmweste nicht durchgehen, erkennt Dennis. Dazu ist die Statur von Carina schlicht und wenig ergreifend – zu breit. Nein, nicht nur zu breit. Vieles an ihr ist nicht in der Norm. Bei diesem Gedanken beginnt Dennis, eine Liste zu erstellen: Der Oberarm von Carina? Überdimensional. Das Selbstbewusstsein? Überdimensional. Die Bereitschaft, andere Menschen bei abweichender Meinung niederzureden? Überdimensional. Ihr Engagement für die gute Sache? Ihre Intelligenz und ihr Wissen? Überdimensional. Ihr wahres Ich? Das ist zerbrechlich und weit weg von der antrainierten Selbstdarstellung. Dieser letzte Punkt und andere Eigenschaften, die er im Stillen an Carina bewundert, fehlen auf der gedanklichen Liste des Dennis Jung, denn er wird aus seinen Gedanken gerissen.
»Ich rede mit dir!« Carina schreit ihn an. Ihr immer noch jugendliches Gesicht ist verzerrt von panischer Angst. Sie ist kurz vor der Selbstaufgabe! Das rührt Dennis an. Er versucht, Carina in die leuchtfarbene Rettungsweste zu zwängen. Beide schwanken beim Versuch, die um ihr Leben fürchtende Carina in die potentiell lebensrettende Weste zu drücken. Es gelingt nicht. Es ist unmöglich. Man kann nicht die Gesetze der Physik außer Kraft setzen. Dazu gehört nun einmal auch, dass eine Rettungsweste um den Körper passen muss – und nicht umgekehrt.
»Nimm dir einen der Rettungsringe«, schreit Dennis ihr ins Ohr. Carina umklammert mit der rechten Hand noch immer das hellgrau lackierte Metall der Reling. Die andere Hand steckt noch immer in der Rettungsweste. Somit ist keine Hand für einen Rettungsring frei. Sie ist zu keinem klaren Gedanken und zu keiner nützlichen Hand-lung fähig.
»Halt dich mit beiden Händen fest«, brüllt Dennis gegen den heulenden Sturm an und zieht Carina die orangene Weste von ihrer linken Schulter, damit sie nun auch den linken Arm frei hat. »Bin gleich wieder zurück. Ich hole dir einen Rettungsring!« Der Wind heult mächtig auf und er hat keine Ahnung, ob Carina ihn verstanden hat. Daher zeichnet er mit den Händen einen Kreis in die Luft, wobei die Weste heftig in Carinas Gesicht schlägt.
Er dreht sich um und geht zum Vorschiff. Die nicht mehr benötigte Weste wirft er in den Wind, der sie davonfegt. Die Rettungswesten hatten sie aus dem Unterdeck mitgebracht. Mehrere Rettungsringe, der Kapitän hatte zu Beginn der Fahrt darauf hingewiesen, hängen am Heck und auf dem Vorschiff. Nun eilt Dennis, mit einer Hand immer fest die Reling umfassend, in Richtung Vorschiff. Es sind nur acht, neun, zehn Schritte. Aber diese Schritte erfordern Willen und Kraft – gegen den Sturm, den Regen und die Gischt ankämpfend. Es ist nicht so einfach, wie man denken sollte. Sich selbst sichern und ob des Wellengangs nicht aus dem Gleichgewicht kommen. Durch den Regenvorhang erkennt er einen verblichenen, altgedienten Rettungsring. Nur noch ein paar Schritte. Jetzt steht er, um Balance ringend, davor. Zu all diesen Widrigkeiten kommt nun auch noch hinzu, dass der ehemals orangene Rettungsring aus seiner Halterung muss, während die Reste des Mittagessens trotz aufkommender Übelkeit in Dennis verbleiben sollen. Er stellt sich zum ersten Mal die Frage, wie man einen Rettungsring aus der Halterung bekommt. Nach drei vergeblichen Versuchen hat es Dennis kapiert: Mit einer Hand von unten den Innenring fassen. Nach oben heben und aus der Halterung nehmen. Wenn man es weiß, ist es ganz einfach, grummelt Dennis vor sich hin und bemerkt, dass ein von den darüber rinnenden Wassertropfen unleserlich gewordener Aufkleber Hinweise gibt. Er legt sich den Ring über die rechte Schulter und streift sich mit der linken Hand einmal mehr die Nässe aus den Haaren und aus dem Gesicht. Selbst die Stoppeln seines Dreitagebarts sind ein mit Wasser vollgesogener Schwamm.
Mit einer Hand an der Reling geht es zurück. Zurück zu Carina. Wieder nur acht, neun oder zehn Schritte. Aber diesmal muss er sich in Acht nehmen, dass der Wind ihn nicht vor sich herfegt.
Mittschiffs angekommen – ist Carina weg. Jedenfalls nicht mehr dort, wo Dennis sie vor drei Minuten zurückgelassen hatte. Lediglich die Reflektoren der weggeworfenen Rettungsweste leuchten ihm entgegen. Die orangene Weste hat sich achtern zwischen einer Sitzbank und der Reling verkeilt. Es wirkt, als warte die Weste selbst auf Rettung. Was für eine Parodie, schießt es Dennis durch den Kopf. Die ganzen Umstände scheinen eine Parodie auf seine noch junge, steile Karriere zu sein.
Dennis blickt sich nochmals um. Nein, an Deck kann er sie nicht erblicken. Nicht auf der Steuerbordseite, auf der er steht. Nicht im Wasser, in welches er einen konzentrierten Blick wirft, wobei er in dieser Ausnahmesituation nicht realisiert, dass das Schiff längst weiter und Carina außer Sicht wäre, sollte diese über Bord gegangen sein. Nun, so redet Dennis zu sich selbst, dann wird sich das Nervenbündel auf den Weg nach Steuerbord gemacht haben. Unschlüssig steht er im Wind, während Gischt und Regen ihm ins Gesicht peitschen. Dennis überlegt, ob es ihn kümmern soll. Es kümmert ihn nicht. Klar, man muss als Erstes an sich denken – wenn es um das Überleben geht.
2 | Ein Anfang
Es ist ein sonniger Mittwochvormittag in Berlin. Dennis Jung verlässt die 100-Quadratmeter-Wohnung, die er sich mit zwei Zimmergenossen teilt. In den vergangenen Monaten haben die Jungs ihre Bude ausgesprochen geschmackvoll eingerichtet. Die fast drei Meter hohen Räume sind hell. Auf Vorhänge hat man verzichtet. Ihre Wohnung in einem renovierten Altbau ist nicht mit einem Sammelsurium an Möbelstücken eingerichtet. Vielmehr handelt es sich um eine gezielte Auswahl. Da gibt es ein modernes, schwarzes Ledersofa im Wohnbereich. Gegenüber davon steht ein restaurierter Eichenschrank, hinter dem eine LED-Leuchte die Wand des Abends in bläuliches Licht taucht. Daneben eine weiße Wandfläche ohne Stuck. Auf diese Wandfläche projiziert ein 4K-Beamer die Bilder ihrer Lieblingsserien, die sie sich regelmäßig gemeinsam zu Gemüte führen. Wenn man den Beamer startet, schaltet sich die Beleuchtung hinter dem Eichenschrank automatisch aus. Es ist durchdacht, wie so vieles durchdacht wurde.
Nur ein paar Schritte nach links und man steht am Esszimmertisch. Ein Trapez aus poliertem Stahl trägt eine große Glasplatte. An diesen Tisch passen allemal zehn Personen. Zu beiden Längsseiten stehen jeweils vier Stühle, die mit ihrem schwarzen Leder einen farblichen Bezug zum Sofa herstellen. Mit den Klappstühlen, die im Keller lagern, lassen sich die Sitzplätze erweitern. Das Raumkonzept wird von Schwarz, den warmen Tönen naturbelassenen Holzes und dem frischen Grün der hohen Betelpalmen geprägt. Der Umstand, dass die jungen Herren gleich vier der Palmengewächse mit jeweils über einem Meter vierzig Höhe in den Wohn-Ess-Bereich gestellt haben, verbreitet eine wohltuende Atmosphäre in der Bude. Natürliches Grün als Kontrast. Es entsteht eine Harmonie; ein stimmiges Gesamtbild.
Alle sind stolz auf ihre Wohnung; jetzt, wo man endlich jeden Monat ein nennenswertes Einkommen hat. Das war nicht immer so. Die drei Männer sind andere, eher bescheidene Lebensumstände gewohnt gewesen, seit sie zum Studieren zu Hause ausgezogen sind, und diesen nunmehr endlich entkommen. Man genießt die neuen finanziellen Möglichkeiten und denkt sich etwas dabei, wenn man das Geld ausgibt.
Während Dennis Jung lässig über die frisch gebohnerte hölzerne Treppe ins Erdgeschoss geht, nimmt er sein Smartphone aus der Gesäßtasche. Er öffnet eine App, mit welcher er sein Fahrrad entriegeln kann. Mit einem vernehmbaren »Laliluuuuu« signalisiert die App den erfolgten Unlock-Vorgang, indes aus dem Innenhof zeitgleich ein »Klaaack« zu hören ist. Die App und sein mattgraues SUV-E-Bike sind einer Meinung: fahrbereit.
Dennis steigt auf sein E-Bike. Den zum Fahrrad passenden grauen Rucksack einer sackteuren Marke trägt Dennis auf dem Rücken, das Smartphone hat er vor sich in die Halterung an dem aus einer Aluminiumlegierung gefertigten Flachlenker geklemmt. Der Durchgang des Innenhofs führt auf eine wenig belebte Straße im Bergmannkiez. Dort geht es entspannt zu, fast schon ruhig. Die Wohngegend aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist geprägt von Gründerzeitarchitektur. Viele der hochwertig, teils luxuriös renovierten Altbauten haben den Zweiten Weltkrieg ohne komplette Zerstörung überstanden. Die historisch belassenen Häuserfronten strahlen somit noch immer einen altberliner Flair aus.
Einen Führerschein hat Dennis Jung nicht. Den braucht es auch nicht, wenn man mitten in Kreuzberg wohnt. Dieser Stadtteil ist genau sein Ding. Das Leben pulsiert. Doch Kreuzberg kann nicht nur wild, sondern auch idyllisch sein und die Wahl der Wohnung im gepflegten Altbauviertel war eine gute Entscheidung: Der Bergmannkiez einerseits und wenige Schritte weiter das vielseitige, multikulturelle und laute Leben. Das sind die Kontraste, für die Kreuzberg steht. Dennis ist zufrieden. Er ist angekommen. Er macht sein Ding. Es ist ein Leben, das ihn verwöhnt – und in dem bei ihm die Gewöhnung an die neuen Möglichkeiten und an seine berufliche Bedeutung Schritt um Schritt zur Selbstzufriedenheit führt. Er spürt es selbst, und bei dem Gedanken daran muss er grinsen, obwohl er gerade beim Kotti an den Heroin-Junkies vorbeifährt, die ihm dann auch prompt hinterherpöbeln. »Wat kiekst’n so?« Da ist sie wieder: die Vielfalt. Dennis könnte nun in Demut verfallen angesichts des Leids, das ihm hier hinterherruft. Doch an Demut hat Dennis zurzeit kein Interesse. Zu lange war sein studentisches Dasein nicht frei von Demütigungen.
Dabei war der zweite Bildungsweg eigentlich okay. Das sich anschließende Studium der Politikwissenschaften stellte sich allerdings als Fehlentscheidung heraus. Nicht, dass er intellektuell überfordert gewesen wäre. Aber für einen jungen Mann hält das Studentenleben nun mal allerlei Versuchungen bereit. Und auch wenn es bei ihm kein Heroin war, so hielt doch die ein oder andere illegale und neuerdings legalisierte Droge Einzug in seinen Alltag. Schnell litt Dennis am Gefühl, nichts verpassen zu wollen – keine Party jedenfalls. Schon eher die Vorlesungen.
Dennis muss scharf abbremsen, als eine Frau ihren Kinderwagen unvermittelt auf den Radweg schiebt. Doch auf das E-Bike mit Carbonrahmen und Scheibenbremsen ist Verlass. »Passen Sie doch auf! Sie sind doch nicht auf der Flucht!«, ruft die Dame Anfang vierzig und ist sich keiner Schuld bewusst. Nein, auf der Flucht ist Dennis nicht mehr. Er ist angekommen. Anders als damals im Studium, mit den Exzessen, die manch ein Küchenpsychologe vielleicht als eine solche Flucht bezeichnet hätte, als Flucht vor sich selbst und seinen Unzulänglichkeiten.
Hinter dem Halleschen Tor kann Dennis wieder beschleunigen. Eine Schar Tauben stiebt auseinander, gerade noch rechtzeitig. Von zu Hause gab es genügend Unterstützung damals, eigentlich. Aber nicht genug, um seinen Party-Lifestyle zu finanzieren. Also verkaufte Dennis Finanzprodukte bei einem Dienstleister. Darin war er gut. Aber bald nahm der Nebenjob mehr Zeit in Anspruch, als sein Studium ertragen konnte – und die Semester gingen ins Land. Das kleinliche Regelwerk der Prüfungsordnung setzte all dem ein Ende.
In eine der klimakrisenbewegten Berliner Szenen war er durch eine hübsche Kommilitonin gekommen.
Die junge Dame war noch vor ihrer Geburt zu Geld gekommen – ein Chemieunternehmen des Großvaters, erbschaftsteueroptimierte Stiftung – und nutzte ihre Zeit neben dem Studium, um sich als Klimaretterin einzubringen. Dennis wurde schnell klar, dass das nicht einfach eine infantile Begeisterung für eine gute Sache war. Vielmehr konnte seine Freundin jederfrau und jedermann gut und differenziert erklären, weshalb Engagement gegen die Klimakatastrophe sinnvoll – ja geradezu notwendig sei. Dennis bewunderte ihr Engagement und vor allem, wie intensiv sie sich mit der Materie beschäftigte und daher schlüssig argumentieren konnte. Keine leeren Phrasen. Nachvollziehbare Argumente brachten dem Mädel auch unter Andersdenkenden Anerkennung ein.
Dennis passte sich an, nicht zuletzt, um ihr zu gefallen. Er brachte sich wortgewaltig in der Klimabewegung ein, nutzte sein neu entdecktes organisatorisches Talent. Aber Frauen heiraten wohl eher nicht nach unten.
Jetzt, auf seinem Fahrrad, führt ihn der Weg über den Landwehrkanal und unter dem ersten Grün des Frühjahrs der die Straße säumenden Laubbäume hindurch zu seinem Office. Es sind kaum fünf Minuten mit dem Rad. Seine erste Entscheidung als geschäftsführender Vorstand war, die NGO ein neues, repräsentatives Büro anmieten zu lassen. Es sollte der NGO im politischen und medialen Berlin mehr Gewicht verleihen – und nebenbei den Arbeitsalltag komfortabler machen und näher an seiner Wohnung liegen. Als er den Vorschlag bezüglich neuer Räumlichkeiten – seine persönliche Motivation hatte er selbstredend für sich behalten – den Initiatoren der NGO vorgeschlagen hatte, waren diese zu seiner Überraschung sofort begeistert. Das sei eine gute Idee, hieß es, und er solle ein Gebäude suchen, in welchem weitere NGOs und einige ihrer eigenen Unternehmen unterkommen könnten. Gesagt. Getan.
An der denkmalgeschützten Außenfassade sind dezent die Logos der eingemieteten NGOs und dienstleistenden Firmen angebracht. Durch das von einem Sicherheitsdienst geschützte Eingangsportal geht es in ein geräumiges Treppenhaus. Im Gebäude sind neben mehreren NGOs auch Rechtsanwälte und internationale Consultant-Büroflächen untergebracht. Letztere, um näher bei ihren finanzstarken Klienten zu sein, und vielleicht auch, um die Interessen der meist aus dem Ausland kommenden Initiatoren und Hauptgeldgeber dieser NGOs zu wahren. Irgendwie hängen die einen mit den anderen zusammen, wenn man den Spuren des Geldes folgt, war Dennis aufgefallen. Aber an dieser Erkenntnis hatte Dennis Jung weder Interesse noch schien ihm ein solcher Gedanke relevant.
Zwar ist es bereits gut vierzehn Monate her, seit Dennis bei der NGO angeheuert hat. Trotzdem fühlt es sich für ihn noch unwirklich oder besser: unglaublich an. Jeden Tag ist er sich und dem Zufall dankbar, dass er diesen geilen Job bekommen hat. Sein Engagement als einfaches, ehrenamtliches Mitglied hat sich bezahlt gemacht. Man hat sein organisatorisches Geschick entdeckt und seine rhetorischen Fähigkeiten hat er selbst geschickt genutzt. Dann, als Festangestellter angekommen, wurde er bereits ein halbes Jahr – direkt nach der Probezeit – als Mitglied des Vorstands berufen. Einen so raschen Aufstieg hätte er sich selbst nicht zugetraut. Der entscheidende Grund dafür, neben der neuentdeckten rhetorischen Stärke, war vielleicht ein Persönlichkeitstraining.
Selbstoptimierung stand auf einem Flyer zum Seminar. Der Coach hatte den Leuten eingetrichtert, dass es nicht auf das ankomme, was man tatsächlich war, sondern auf das, was man vorgab zu sein. Dann könne sich das unentdeckte, eigene Potential innerhalb kürzester Zeit entfalten. »Sie müssen sich vorstellen, wer Sie sein wollen«, brüllte der in einem Sportwagen vorgefahrene Coach und riss dabei die Arme in die Höhe. Dennis fand diese reißerischen Attitüden abstoßend. Und dennoch ließ er sich darauf ein. Schließlich hatte er nichts zu verlieren, sein damaliger Arbeitgeber bezahlte, und jetzt, wo er schon mal hier war, konnte er es sich ja anhören. So seine damaligen Empfindungen.
Nach dem Seminar schwor sich Dennis Jung, nie wieder an sich zu zweifeln und dem Zweifel als solchem keinen Raum mehr zu lassen. Er hatte begriffen, dass es beim Verkaufen an Endverbraucher, also im B2C, auf vieles ankam – aber nicht auf Tatsachen. »Ehrlichkeit und Objektivität ruinieren dir deinen Umsatz«, insistierte der vertriebserfahrene Coach und blickte jeden Einzelnen in der Runde der Reihe nach an. Er war zwischenzeitlich vom Sie ins Du übergegangen. »Keinesfalls kommt es darauf an, dass der Kunde eine kluge Kaufentscheidung trifft. Es geht nur darum, dass er bei dir kauft! Dass er jetzt kauft! Dass er viel kauft!« Noch heute pfeift es Dennis in den Ohren. Nun. Er hatte es kapiert und seither so praktiziert.
Und schau, wo ich jetzt bin, denkt Dennis, als er über die Treppe in die zweite Etage hinaufsprintet. Das bringt ihn nicht außer Atem, denn seit dem Coaching macht er viel Sport. Das hat ihn verändert. Jetzt, wo er sich teure modische Kleidung leisten kann, unterstreicht diese seine nunmehr muskulöse Erscheinung. Er ist erfolgreich. Eigenwahrnehmung gleich Außenwahrnehmung.
Oben angekommen hält er einen Transponder an den Türöffner. Dennis tritt ein, grüßt mit einem kurzen »Hallo« in Richtung des Frontdesk, an dem drei Mitarbeitende bei einem Fairtrade-Kaffee den neuesten Tratsch austauschen, und biegt nach links in sein Büro. Als er eintritt, sitzt seine Assistentin Ann-Marie Bauer bereits am Besprechungstisch. Durch die hohen Fenster scheint die Sonne und man blickt auf die dem Kanal gegenüberliegende Häuserreihe. Davor das frische Blattgrün einiger Bäume, die bis hinauf zur zweiten Etage reichen.
Er nimmt seinen Rucksack ab, holt sein Notebook heraus und legt es auf seinen Schreibtisch. Sein Smartphone findet daneben Platz. Dennis setzt sich und schaut Ann-Marie fragend an.
»Haben wir schon zehn Uhr?«