Unterhalb des Horizonts - Maya Shepherd - E-Book

Unterhalb des Horizonts E-Book

Maya Shepherd

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Beschreibung

Die Vergessenen Sieben hatten zueinander gefunden, um einen Krieg zu verhindern, doch nun musste jeder von ihnen sich seinem eigenen Kampf stellen. Ihre Herzen blieben miteinander verbunden und erst wenn jedes von ihnen aufhörte, zu schlagen, wäre alles verloren. Als das Mondmädchen sein Licht bei Tag erstrahlen ließ, weckte es den Hass der Sonne, die daraufhin drohte, die Erde zu verbrennen. Es gab nur einen Weg, um sie aufzuhalten. Sonne und Mond mussten einander an dem einzigen Ort begegnen, an dem dies möglich war: Unterhalb des Horizonts. »Ich werde nicht kampflos untergehen«, schwor Lavena sich. »Es ist an der Zeit, dass Sonne und Mond Frieden miteinander schließen.«

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Inhaltsverzeichnis

Was zuvor geschah

Verborgen

Die Wächterin der Nacht

Eine Nachricht für Margery

Ein geteiltes Geheimnis

Die Schöpferin

Der Raum der Wahrheit

Der Duft von Apfelblüten

Die dritte Macht

Das Sonnenkind

Sonne und Mond

Rotkäppchen und der Wolf

Herzensbrecher

Das Geständnis

Der Diener der Königin

Vampirbiss

Gratwanderung

Die letzte Prüfung

Unterhalb des Horizonts

Schlussworte der Autorin

Danksagung

Maya Shepherd

Die Grimm Chroniken 18

„Unterhalb des Horizonts“

Copyright © 2020 Maya Shepherd

Coverdesign: Jaqueline Kropmanns

Lektorat: Sternensand Verlag /Martina König

Korrektorat: Jennifer Papendick

Illustration „Arian“: Laura Battisti – The Artsy Fox

Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder teilweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Facebook: www.facebook.de/MayaShepherdAutor

E-Mail: [email protected]

Für meine Leser,

weil nichts selbstverständlich ist

Was zuvor geschah

Donnerstag, 25. Oktober 2012

13.45 Uhr

Als Dorian Elisabeth allein vor seiner Zelle über den Korridor gehen sieht, verlässt er sein Versteck und stürzt sich auf sie. Er ist fest entschlossen, sie zu töten, und beginnt, sie zu würgen. Elisabeth fürchtet um ihr Leben und gesteht ihm, dass Mary noch am Leben ist. Dorian glaubt ihr erst nicht, aber bekommt dann doch Zweifel, als sie den Spiegel erwähnt. Sein kurzes Zögern nutzt Rumpelstein, der sich unbemerkt angeschlichen hat, um ihn anzugreifen.

Gerade als es Dorian gelingt, den Zwerg zu überwältigen, stoßen zwei Wölfe hinzu, die über ihn herfallen. Es gelingt ihm nicht, sich gegen sie zu behaupten, und als auch noch seelenlose Jäger hinzukommen, ist er von seinen Feinden umzingelt. Zu seinem Erstaunen verbietet Elisabeth ihren Wölfen jedoch, ihn zu töten. Stattdessen will sie ihn benutzen, um Margery in ihr Anwesen zu locken.

14.00 Uhr

Jacob zeigt Margery, wie sie über die spiegelnde schwarze Oberfläche eines Fernsehers Kontakt mit ihrer Mutter aufnehmen kann. Gemeinsam rufen sie Mary herbei, die dann zum ersten Mal seit langer Zeit mit ihrer Tochter sprechen kann. Ihr Wiedersehen wird jedoch schnell von Embers Rückkehr unterbrochen, die in Begleitung von Joe und einem fremden Mädchen namens Julia erscheint. Nachdem Joe ihnen versichert hat, dass sie Julia vertrauen können, weiht Will die Neuankömmlinge in alles ein, was bis dahin passiert ist.

14.45 Uhr

Simonja erkennt Julia als Rosalie wieder und offenbart den anderen ihre wahre Identität. Diese fürchten, dass Rosalie es auf Margery abgesehen haben könnte. Auch Joes Beteuerungen, dass Rosalie in friedlichen Absichten zu ihnen gekommen sei, können sie nicht vom Gegenteil überzeugen. Um die Wogen zu glätten, erklärt Rosalie sich freiwillig dazu bereit, sich in einem Zimmer einschließen zu lassen, bis die anderen darüber entschieden haben, ob sie bereit sind, ihr eine Chance zu geben. Joe bleibt bei ihr, da er sich schuldig fühlt, weil er sie überredet hat, mit ihm zu kommen.

15.30 Uhr

Will beobachtet, wie Jacob das Totengräberhaus verlässt, und geht ihm nach, um ihn zur Rede zu stellen. Jacob gibt daraufhin zu, dass er zur Schlosskommende gehen wollte, um die böse Königin vor einem Angriff von Dorian zu warnen. Es erscheint ihm als das Einzige, was er tun kann, um Marys Körper zu schützen.

Will versucht, ihn davon zu überzeugen, dass es besser wäre, wenn er gehen würde, da Jacob für die Gruppe wichtiger ist. In dem Moment taucht Arian auf und berichtet ihnen, dass Dorians Versuch, die Königin zu töten, gescheitert ist und dieser sich nun in ihrer Gewalt befindet. Gemeinsam kehren sie in das Haus zurück, um auch den anderen Bescheid zu geben.

16.00 Uhr

Arian erzählt den anderen, dass die Königin Spiegelsplitter in den Augen der Bürger von Königswinter platziert hat und diese dadurch kontrolliert. Am Samstagabend plant sie zudem einen Spendenball, den die Gruppe nutzen will, um sich Zutritt zur Schlosskommende zu verschaffen und Dorian zu befreien.

Sie befinden sich gerade alle, außer Rosalie, im Keller, als über ihren Köpfen plötzlich ein Krachen zu hören ist und mehrere Personen das Erdgeschoss stürmen. Diese scheinen nach etwas oder jemandem zu suchen. Vermutlich handelt es sich bei ihnen um seelenlose Jäger. Da es zu viele sind, um gegen sie anzukämpfen, beschließen Arian, Simonja, Jacob, Lavena und Margery, die Flucht zu ergreifen, um sich in Sicherheit zu bringen. Will, Ember und Joe wollen die Angreifer derweil ablenken und Rosalie zu Hilfe kommen, die immer noch in dem Zimmer gefangen ist.

16.30 Uhr

Auf der Flucht vor den Jägern werden Arian, Simonja und Lavena von der restlichen Gruppe getrennt. Als Lavena ihren Umhang verliert und ihr Licht bei Tag aufleuchtet, entdeckt die Sonne sie und richtet ihre Strahlen auf sie. Die Temperatur steigt um mehrere Grad an und der Wald rund um das Mondmädchen verdorrt. Lavena droht unter ihrer Hitze zu verbrennen und erleidet große Schmerzen, die sie daran hindern, weiterzugehen.

Arian spürt zudem, dass nun auch die Wölfe den Wald erreicht und die Suche nach ihnen aufgenommen haben. Er sieht sich gezwungen, Lavena und Simonja zu verlassen, um zu verhindern, dass sich das Rudel auf seine Freunde stürzt. Er verwandelt sich und lockt die Wölfe auf eine andere Fährte.

16.45 Uhr

Margery hat im Finsterwald die anderen aus den Augen verloren und tritt in eine Bärenfalle. Ihr Blut lockt die Wölfe an, denen sie sich hilflos ausgeliefert sieht, bis Rosalie ihr überraschend zu Hilfe kommt. Dieser gelingt es, die Tiere zu töten und Margery zu befreien. Jacob, Ember, Will, Joe, Simonja und Lavena finden die Schwestern und gemeinsam machen sie sich auf den Weg zu einem neuen Versteck.

Maggy wird von Vlad Dracul in Schloss Drachenburg gefangen gehalten und versucht, ihn davon zu überzeugen, sie gehen zu lassen. Dieser behauptet, dass er sie nicht aufhalten würde, wenn es ihr gelingen sollte, durch ihre Magie zu fliehen. Sie will ihm und auch sich selbst beweisen, dass sie es schaffen kann, und stößt in dem Hexenbuch von Baba Zima auf einen Zauberspruch, der sie in ihr Geisttier verwandeln kann. Obwohl sie nicht weiß, wie sie diesen rückgängig machen kann, wendet sie ihn an und wird zu einer Spinne. In dieser Gestalt gelingt ihr die Flucht aus dem Schloss.

18.00 Uhr

Arian ist mit den Wölfen in die Schlosskommende zurückgekehrt. Dort wird das gesamte Rudel im Verlies in Ketten gelegt. Die seelenlosen Jäger der Königin haben zuvor beobachtet, wie Arian in seiner Wolfsgestalt das Anwesen verlassen hat, und sind ihm zum Versteck von Margery und den Vergessenen Sieben gefolgt. Dabei konnten sie seine Verwandlung beobachten, sodass die Königin nun von dem Verräter im Rudel weiß. Um den Schuldigen aus der Reserve zu locken, beginnt sie, die Tiere zu foltern, bis Arian es nicht länger erträgt, sie leiden zu sehen, und sich in einen Menschen verwandelt.

Er befürchtet, dass die Königin ihn töten wird, doch diese verschont ihn und will ihn stattdessen in einen magischen Raum bringen, der ihm die Wahrheit über sich selbst offenbaren soll.

18.30 Uhr

Jacob führt die Gruppe in eine verfallene Villa, die sich außerhalb von Königswinter befindet. Am Rheinufer halten sie eine Gedenkfeier für den verstorbenen Philipp ab.

19.00 Uhr

Plötzlich fallen unzählige Sterne vom Himmel herab, welche vom Licht der nicht sinken wollenden Sonne verbrannt wurden. Auch die Mondfrau verlässt ihren Platz am Firmament, um Lavena vor der Sonne zu warnen. Diese fordert den Tod des Mondmädchens, da sie sonst die Menschen und die Erde verbrennen wird.

Die Mondfrau möchte, dass Lavena mit ihr in den Himmel zurückkehrt. Dafür müsste sie sich jedoch von Margerys Herzsplitter trennen und dürfte zudem Arian nicht wiedersehen.

Lavena möchte einen anderen Weg finden, indem sie der Ursache für die Feindschaft zwischen Sonne und Mond auf den Grund geht. Dafür muss sie der Sonne unterhalb des Horizonts begegnen.

20.00 Uhr

Die Königin hat Philipp durch ihre Blutmagie am Leben erhalten und nur den Teil von Margerys Herz in ihm getötet. An einen Lügendetektor angeschlossen, soll er ihr nun aus den ›Grimm-Chroniken‹ vorlesen und ihr auf diese Weise verraten, wer sich hinter den Vergessenen Sieben verbirgt. Um sicherzugehen, dass er sich ihrem Willen fügen wird, hat sie seine Eltern entführen lassen und an ein Gerät angeschlossen, das ihnen elektrische Stromstöße verpasst, sobald Philipp lügt oder etwas zu verschweigen versucht.

Donnerstag,

25. Oktober 2012

Noch 6 Tage

Verborgen

Donnerstag, 25. Oktober 2012

20.30 Uhr

Königswinter, Finsterwald

Zuerst versuchte Maggy gar nicht, sich zurückzuverwandeln, weil sie sich in dem winzigen Körper der Spinne sicherer fühlte. Das Gras ragte über sie wie Hochhäuser und machte sie dadurch beinahe unsichtbar. Sie konnte noch nicht ganz glauben, dass Vlad Dracul sie wirklich hatte gehen gelassen. Sie fürchtete, dass er es sich anders überlegen und ihr seine Vampire auf den Hals hetzen könnte, wenn sie in der Nähe von Schloss Drachenburg wieder ihre menschliche Gestalt annahm.

Sobald sie die Bäume des Finsterwaldes erreichte, kletterte sie an einem Baumstamm empor und schwang sich leichtfüßig von Ast zu Ast. Mit ihren Spinnfäden durch die Luft zu gleiten, war beinahe wie Fliegen. Sie genoss es, sich gegen die Schwerkraft aufzulehnen, und fühlte sich dabei stärker denn je. Nicht einmal das schwindende Licht machte ihr etwas aus. Sich als Spinne zu bewegen, fühlte sich für sie wie etwas ganz Natürliches an, als hätte sie es schon immer in sich gehabt. Sie musste nicht überlegen, was sie tun sollte, sondern konnte jede Fähigkeit hervorrufen – es war wie Atmen.

Die Zeit verstrich wie im Flug, sodass sie Schloss Drachenburg nicht mehr entdecken konnte, als sie nach einer Weile bewusst danach Ausschau hielt. Auch von den Vampiren gab es im Wald keine Spur mehr. Nun hätte sie den Zauber brechen sollen, um ihren Weg als Mensch fortzusetzen, auch wenn sie nicht wusste, wo sie mit der Suche nach den anderen beginnen könnte. Allein zur Orientierung hätte es jedoch geholfen, wenn sie wieder auf zwei anstatt acht Beinen gestanden hätte. Die Sicht einer Spinne unterschied sich doch deutlich von der eines Menschen, sodass sie sich in dem dunklen Wald kaum zurechtfand.

Voller Zuversicht hatte sie Vlad Dracul gegenüber behauptet, dass sie sich natürlich zurückverwandeln könne. Was hatte er zu ihr gesagt? Sie solle die Luft anhalten?

Nach wie vor war sie sich nicht sicher, ob das ein Scherz gewesen war, aber ihr blieb kaum etwas anderes übrig, als es auszuprobieren. Entschlossen ließ sie sich zurück zu Boden gleiten, hielt den Atem an und zählte die Sekunden.

1,

2,

3,

4,

5,

6,

7,

8,

9,

10 – bisher tat sich nichts. Aber vielleicht musste sie es länger versuchen, auch wenn sie sich etwas albern dabei vorkam.

11,

12,

13,

14,

15,

16,

17,

18,

19,

20.

Frustriert gab sie auf und zog wieder Luft in ihre Lungen. Als ob sie sich zurückverwandeln würde, nur weil sie die Luft anhielt!

Haha, sehr witzig, Vlad Dracul, dachte sie beschämt. Nur gut, dass er sie nicht bei diesem kläglichen Versuch beobachtet hatte.

Was könnte sie noch versuchen? Einen Spruch schien es nicht zu geben, denn sonst hätte er bei dem Zauber im Hexenbuch gestanden. Es musste etwas Banales sein, das sich jederzeit umsetzen ließ. Baba Zima hatte sich schließlich innerhalb weniger Sekunden von einem Raben zurück in einen Menschen verwandelt.

Hänsels Bann war gebrochen, als die böse Königin ihn gegen die Dornenhecke geschleudert hatte. War es vielleicht das? Musste sie irgendwo dagegen laufen?

Obwohl sie sich dabei noch dümmer vorkam, nahm Maggy Schwung und rannte gegen die nächste Wurzel, die sich aus dem Erdboden erhob. Wie nicht anders zu erwarten, wurde sie von dem Aufprall zurückgeschleudert und taumelte etwas benommen von einem Bein aufs andere, bis diese sich verknoteten und sie umkippte.

Nicht nur Vlad Dracul hätte sein Vergnügen an diesem erbärmlichen Schauspiel gehabt. Baba Zima wäre vermutlich vor Lachen an ihren Tränen erstickt.

Maggy musste zu ihrem großen Missfallen einsehen, dass sie so bald nicht auf die Lösung kommen würde. Deshalb beschloss sie, sich erst mal als Spinne weiterzubewegen. Vielleicht würde sie sich auf ihrem Weg durch Zufall zurückverwandeln. Bedauerlicherweise hatte sie aber auch kein Ziel, sodass sie sich darauf beschränken musste, zu versuchen, aus dem Wald zu gelangen. Dann würde sie weitersehen.

Maggy wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als sie die ersten Wohnhäuser erreichte. Sonst ließ sich so etwas halbwegs daran erahnen, wie dunkel es war, aber heute war die Sonne immer noch als glühendes Licht am Horizont zu erkennen. Die Leute, an denen sie heimlich vorbeischlich, hatten kaum ein anderes Gesprächsthema. Es war die Sensation und viele stellten die wildesten Spekulationen darüber an, was die Ursache dafür sein könnte. Gewiss lag nicht einer von ihnen richtig, denn welcher Mensch, der ernst genommen werden wollte, würde dahinter eine Differenz zwischen Sonne und Mond vermuten?

Zumindest waren die Geschäfte bereits geschlossen, denn in keinem brannte Licht, sodass Maggy wusste, dass es nach achtzehn Uhr sein musste. Im Schutz der Hausfassaden krabbelte sie von einem Gebäude zum nächsten, bis sie die Innenstadt mit ihrem Kopfsteinpflaster und den schmalen Gassen erreichte. Außer dem Bahnhof, dem Lebkuchenhaus und Schloss Drachenburg hatte sie bisher kaum etwas von der Ortschaft gesehen. Das machte ihre Suche nicht gerade leichter. Als Spinne konnte sie auch niemanden nach dem Weg zum nächsten Friedhof fragen. Der Friedhof des versunkenen Mondes war ihr einziger Anhaltspunkt. Es lag nicht nur an dem märchenhaften Namen, sondern sie wusste auch aus den ›Grimm-Chroniken‹, dass Will dort im Traum einmal Margery begegnet war. Vielleicht wäre sie dort sogar Simonja begegnet, denn welcher Ort wäre besser für den Tod geeignet als ein Friedhof?

Da sie sich nicht einmal sicher war, ob dieser Friedhof in der Realität wirklich existierte, wollte sie sich darüber am Bahnhof mithilfe von Busfahrplänen Klarheit verschaffen. Sollte sie eine Linie finden, die tatsächlich dort hinfuhr, könnte sie versuchen, sich in den Bus zu schmuggeln. Auch wenn sie nun in dem Körper einer Spinne steckte, dachte sie immer noch wie ein Mensch.

Nachdem sie sich möglichst unauffällig fortbewegt hatte, erstrahlte am Ende einer Straße endlich das hell erleuchtete Bahnhofsgebäude. Trotz ihrer Ungeduld musste sie sich weiterhin vorsichtig verhalten, wenn sie nicht von irgendeinem unachtsamen Menschen totgetrampelt werden wollte. Zwar hätte das vermutlich ihr Verwandlungsproblem beseitigt, aber wäre dennoch keine Lösung gewesen.

Sie zwang sich also, Ruhe zu bewahren und sich im Schatten zu halten, bis ihre acht Augen eine bekannte Gestalt auf der Straße ausmachten. Es war vor allem ihre humpelnde und zugleich gehetzte Gangart, die sie verriet.

Rumpelstein kam geradewegs auf Maggy zu. Zwar war er nicht derjenige, den sie sich gewünscht hätte, zu treffen, aber er stellte eine willkommene Alternative dar. Sie versuchte nicht, den Zwerg auf sich aufmerksam zu machen, sondern hielt sich versteckt, bis er an ihr vorüber war. Erst dann warf sie einen Spinnfaden aus, der Halt an dem schmutzigen Mantel des kleinen Mannes fand, und ließ sich auf dessen Rücken gleiten.

Vielleicht hatte es einen Grund, dass es ihr bisher nicht gelungen war, sich zu verwandeln – nur so konnte sie Rumpelstein unbemerkt folgen. Wohin war er so eilig unterwegs? Welche Gemeinheit heckte er dieses Mal im Auftrag der Königin aus?

Es schien, als wolle Rumpelstein vor einem unsichtbaren Verfolger davonlaufen. Immer wieder drehte er sich um oder legte den Kopf in den Nacken, um auf die Dächer zu blicken. Wonach hielt er Ausschau? Nach Raben, welche als die Späher der Königin galten? Warum sollte er sich vor ihnen fürchten? War er nicht auf Befehl von Elisabeth unterwegs?

Während der Zwerg von einer Gasse in die nächste huschte und die kleine Stadt in ein Labyrinth verwandelte, beschlich Maggy immer mehr der Verdacht, dass er bei dem, was er vorhatte, nicht gesehen werden wollte – von niemandem.

Was oder wen könnte er vor seiner Königin verbergen wollen?

Als Maggy und er sich zuletzt im Krankenhaus begegnet waren, hatte sie ihn auf Eva angesprochen. Ich werde nicht zulassen, dass ihr sie mit in den Abgrund reißt, hatte er zu ihr gesagt, bevor er sie betäuben wollte. Versteckte er seine Tochter vor Elisabeth und war nun auf dem Weg zu ihr?

Er ging sehr vorsichtig und gewissenhaft vor, schaute überallhin und führte seine möglichen Verfolger in die Irre. Aber eines beachtete er nicht: seinen eigenen Rücken. Unbemerkt harrte Maggy dort aus, bis Rumpelstein sie in eine Art Industriegebiet führte. Lagerhallen, Werksgelände und kleinere Fabriken reihten sich aneinander. In ihrer Mitte thronte ein altes Gebäude, welches sie am ehesten als Turm bezeichnet hätte. Die grauen Wände waren mit Graffitis besprüht und sämtliche Fenster zerbrochen. Insgesamt machte es einen ziemlich verfallenen Eindruck, der vermuten ließ, dass es in der heutigen Zeit keine Funktion mehr hatte. Der wacklige Bauzaun, der den Turm umgab, hielt weder Rumpelstein noch andere Eindringlinge fern.

Zielstrebig quetschte sich der Zwerg durch eine ungeschützte Stelle und ging um den Turm herum, bis er an eine rostige Eisentür geriet, die jedoch mit einer neuen Metallkette und einem Schloss gesichert war. Zu Maggys Erstaunen trug Rumpelstein den passenden Schlüssel bei sich, was die Vermutung nahelegte, dass er es gewesen war, der das Schloss angebracht hatte. Er öffnete die Tür nur einen Spaltbreit und schob sich in das verwahrloste Innere.

Das schwache Abendlicht fiel durch die zerbrochenen Fenster und die Öffnung in der Spitze des Turms. Leitern führten auf die höher gelegenen Ebenen, doch Rumpelstein ließ sie gänzlich unbeachtet. Seine Aufmerksamkeit galt einem Tunnel, der unter die Erde führte. Bevor er diesen betrat, schaltete er jedoch eine Taschenlampe ein.

Seine Schritte hallten von der Metalltreppe wider, die ihn tief hinabführte. Dort unten wäre es selbst bei Tag stockdunkel gewesen. Je weiter sie hinabstiegen, umso kälter wurde es. Ein schmaler Gang lockte sie in die Finsternis. Der Lichtkegel der Taschenlampe ließ Beschriftungen an den Wänden erkennen, die dort vor vielen Jahren mit weißer Farbe angebracht worden waren: Schutzbunker, Notausgang C, Arrestzellen.

Sämtliche Haare ihres Spinnenkörpers sträubten sich, als Maggy begriff, aus welcher Zeit dieser Turm stammte – aus der des Zweiten Weltkrieges. Er musste als Rückzugsort im Krieg errichten worden sein. Auch damals hatte ein einzelner Mensch vermocht, eine ganze Welt in Angst und Schrecken zu versetzen. Vermutlich wäre er nie zu solch einer Macht gelangt, wenn das Volk sich ihm nicht gefügt hätte. Zu bereitwillig hatte es sich von ihm begeistern lassen und die Schuld für seine Unzufriedenheit auf jemand anderen abgeladen.

In Engelland hatte die böse Königin Margery zum Sündenbock erklärt – das Unglückskind.

Hitler war mit seinem Versuch, die Welt zu erobern, gescheitert – erwartete Elisabeth das gleiche Schicksal? Aber wie viel Blut müsste bis dahin noch vergossen werden? Wie viele Unschuldige mussten ihr Leben lassen?

Plötzlich endete der Korridor abrupt in einem gewaltigen Geröllhaufen. Die Decke war an dieser Stelle eingestürzt, aber Rumpelstein ließ sich von diesem Hindernis nicht aufhalten, sondern bückte sich und kroch durch eine winzige Öffnung. Maggy hörte sein Schnaufen und fragte sich, ob er genauso große Angst wie sie hatte, dass die Gesteinsmassen jederzeit einstürzen könnten. Es war so eng, dass sie selbst als Spinne das Gefühl hatte, kaum noch Luft zu bekommen.

Erleichtert atmete sie auf, als sie eine intakte Treppe erreichten, die sie weiter in die Tiefe geleitete. Dort unten herrschte aber auch kein besserer Zustand. Es ging auf allen vieren weiter. An anderen Stellen musste Rumpelstein klettern, um über den Schutt zu gelangen.

Daran, wie er sich vorwärts bewegte, erkannte Maggy deutlich, dass er nicht zum ersten Mal hier war. Er führte sie in das Herz der Unterwelt, wo das Grundwasser einen schwarz glänzenden See gebildet hatte. Dieser befand sich in einem großen Raum, überwölbt von Stahlbeton, aus dem verbogene Stützpfeiler ragten.

Rumpelsteins Füße verursachten ein platschendes Geräusch, als er am Rand durch den Saal schritt. Dort häuften sich Steine, Erde und Schutt an. Aus einem der Geröllberge starrte ihnen das bleiche Gesicht einer Puppe entgegen, der ein Auge fehlte. Maggy wollte nicht darüber nachdenken, wer sie an diesem hoffnungslosen Ort verloren haben mochte.

Der Zwerg fing mit seinen bloßen Händen zu graben an, bis eine verborgene Luke zum Vorschein kam. Auch diese war mit einem Schloss gesichert, für das Rumpelstein den Schlüssel besaß. Knackend drehte er ihn und stemmte die Öffnung auf, aus der sich das grelle Licht einer Leuchtstoffröhre in die Dunkelheit ergoss. Geblendet klammerte Maggy sich an seinem Mantel fest, als er eintrat und mit einem lauten Knall die Luke wieder hinter sich verschloss.

Es war eine winzige, schlauchartige Kammer. Vier Stockbetten reihten sich an die Seiten. Über den Betonboden war ein alter Teppich ausgebreitet worden. In der Luft hing der Geruch von Urin, der vermutlich von einem Eimer neben der Tür herrührte. Leere Konservendosen und Plastikflaschen waren daneben ordentlich in Müllsäcken verstaut worden.

Von einer der Matratzen löste sich Evas zierlicher Körper, der in einer schmutzigen Jeans und einem langärmeligen Oberteil steckte, das an einem Ärmel zerrissen war. Sie trug nur noch einen Schuh. Dunkle Ringe lagen unter ihren Augen, die sich voller Furcht auf Rumpelstein richteten.

»Ich habe dir neue Verpflegung mitgebracht«, krächzte der Zwerg und holte aus seinen Manteltaschen zwei Flaschen Wasser, eine Dose und ein Stück Brot hervor. Er legte die Sachen auf einem der Betten ab. Als Eva nichts erwiderte und sich auch nicht rührte, nahm er die Konserve wieder an sich, zog die Verschlusskappe ab und stellte den Behälter geöffnet vor sie. »Ich hoffe, du magst Pfirsiche.«

Sie schaute weder auf das Etikett noch zu ihm, sondern nur sehnsuchtsvoll auf die geschlossene Luke. »Was wollen Sie von mir?«, wisperte sie ängstlich.

Das klang nicht so, als ob Eva wüsste, wen sie vor sich hatte, stellte Maggy fest. Wie war sie an diesen Ort gelangt? Hatte Rumpelstein sie womöglich entführt?

»Ich will dich nur beschützen«, stieß dieser hilflos aus. Maggy hatte ihn selten so bewegt erlebt. Es schmerzte ihn, dass das Mädchen sich vor ihm fürchtete.

»Sie müssen mich nicht beschützen«, widersprach Eva ihm. »Bitte! Lassen Sie mich einfach gehen! Ich werde niemandem von Ihnen erzählen. Oder wo ich gewesen bin – ich weiß es ja noch nicht einmal.«

»Das geht nicht«, widersprach Rumpelstein ihr entschieden. »Und jetzt hör auf, zu jammern!« Plötzlich klang seine Stimme nicht mehr nett, sondern gemein. »Es ist schon seltsam. In Engelland versuchst du alles, um mich davon zu überzeugen, dass ich dein Vater bin, und jetzt erinnerst du dich nicht einmal mehr an mich.« Zerknirscht setzte er nach: »Zumindest haben wir das jetzt gemeinsam.«

Er erinnert sich nicht an die Vergangenheit mit seiner Tochter und versteckt sie dennoch vor der Königin?, dachte Maggy verwirrt. Warum tut er das? Liegt es daran, dass Eva in Engelland sein Vertrauen gewinnen konnte?

»Sie müssen mich verwechseln«, beharrte diese aufgelöst. »Ich war noch nie in England.«

»ENGELLAND«, krähte der Zwerg genervt zurück.

»Ich weiß nicht, was für ein Ort das sein soll«, weinte Eva. Ihr fettiges Haar hatte sie zu einem Zopf geflochten. Unvorstellbar, welche Ängste sie ausgestanden haben musste.

Maggy hatte großes Mitleid mit ihr, aber auch mit Rumpelstein, der ihr nur zu helfen wollen schien, auch wenn er dafür bereit war, jeden anderen der Vergessenen Sieben zu opfern. Er half der Königin, um zu verhindern, dass sie hinter sein Geheimnis kam. Solange Eva lebte, würde auch Margery am Leben bleiben und Elisabeth somit sterben. Dadurch standen er und Maggy sogar in gewisser Weise auf derselben Seite.

Der Zwerg machte eine wegwerfende Handbewegung und wandte sich zum Gehen um. »Ach, das hat doch alles keinen Sinn«, fluchte er frustriert.

»Nein, warten Sie«, bat Eva mit bebender Stimme. »Bitte lassen Sie mich nicht wieder allein!«

»Ich habe keine Zeit, um bei dir herumzuhocken und Däumchen zu drehen«, maulte Rumpelstein zurück, aber blieb dennoch stehen, um ihr ins Gesicht blicken zu können.

»Wie lange muss ich noch hierbleiben?«, wollte Eva von ihm wissen.

Ihr Vater grinste sie mit seinen verfaulten Zähnen an. »In fünf Tagen ist alles vorbei.«

Eva beruhigte diese Antwort keineswegs, denn sie verstand nicht, was das heißen sollte. »Werden Sie mich dann freilassen?«

Er zuckte mit den Schultern. »Wenn ich dann noch lebe, gewiss.«

Das Mädchen konnte nicht länger an sich halten und begann, heftig zu schluchzen, was Rumpelstein endgültig in die Flucht schlug. Maggy blieb auf seinem Rücken sitzen, obwohl sie Eva gern geholfen hätte. Aber wie? Was konnte sie als Spinne schon ausrichten? Und selbst wenn sie in der Lage gewesen wäre, sich zurückzuverwandeln, hätte Eva sie vermutlich nicht erkannt.

Dennoch hatte es sie weitergebracht, Rumpelstein zu folgen, denn nun wusste sie, wo er die Träumerin gefangen hielt. Auch wenn es ungewiss war, ob es ihr gelingen würde, den Bunker in dem Labyrinth aus Gängen und Schuttbergen wiederzufinden. Aber sollte es ihr je gelingen, zu Margery und den anderen Sieben Kontakt aufzunehmen, könnte sie diese zu dem Turm führen. Gemeinsam würden sie es schon irgendwie schaffen, zu Eva durchzudringen. Aber vorerst würde sie weiter bei dem Zwerg bleiben. Wer wusste schon, wohin er sie als Nächstes mitnehmen würde?

Die Wächterin der Nacht

Donnerstag, 25. Oktober 2012

21.00 Uhr

Königswinter, Villa Rheinstolz

Eine warme Brise fuhr über Lavenas nackte Arme, als sie am Ufer des Rheins saß und ihren Gedanken nachhing. Es war eine laue Herbstnacht, die mehr an einen Sommerabend als den Vorboten des Winters erinnerte. Die meisten Menschen freuten sich wahrscheinlich über diese überraschend milden Temperaturen, unwissend, dass sie den Anfang vom Ende bedeuteten. Auch wenn die Sirenen, die seit dem Sternenregen durch die Nacht hallten, ein anderes Lied sangen. Ob viele Menschen zu Schaden gekommen waren?

Das tatsächliche Ausmaß würde ihnen erst am nächsten Tag bewusst werden, wenn die Sonne ihnen so drückend heiß auf die Köpfe schien, dass sie sich kaum aus dem Schatten wagen konnten.

Lavena konnte die Sonne nicht verstehen. Es war das eine, wenn sie einander verachteten, aber sollten sie nicht beide die Menschen lieben? Warum ließ die Sonne sie für etwas leiden, das Lavena ihrer Ansicht nach verbrochen hatte?

In Engelland hatte sie sich nie viele Gedanken um die Sonne gemacht. Zwar wusste sie von ihrer Existenz, aber es schien unmöglich, dass sie einander jemals begegnen konnten. Sie waren beide Teil einer gemeinsamen Welt und hätten doch nicht weiter voneinander entfernt sein können. Die Sonne wachte über den Tag und der Mond über die Nacht – Lavena hatte dieses Gesetz gebrochen, als sie ihr Licht am Tag gezeigt hatte.

Nicht nur das – sie war ein Mond zu viel in dieser Welt. Vermutlich fühlte sich die Sonne bedroht durch sie und ihre Schwester, die Mondfrau. Diese war an den Himmel zurückgekehrt und hielt tapfer die Stellung. Nur wenige Sterne waren ihr als Unterstützung geblieben. Ihr Licht spiegelte sich in dem großen Fluss, der Lavenas Füße kühlte.

Margery und die anderen hatten sich in die Villa zurückgezogen, um etwas Schlaf zu finden. Abwechselnd würden sie Wache halten, um nicht von einem weiteren Angriff überrascht zu werden.

---ENDE DER LESEPROBE---