Unterm Eis - Hanne Marie Svendsen - E-Book

Unterm Eis E-Book

Hanne Marie Svendsen

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Beschreibung

Eine Reise in die kalte Weite der Arktis - und die dunkle Seite der Seele

Am Ende des 19. Jahrhunderts irgendwo in Dänemark: Nilaus wird nach dem Abitur von seiner Mutter ans andere Ende der Welt geschickt, zu seinem geheimnisumwobenen Onkel. Der heuert ihn mit einer seltsam zusammengewürfelten Mannschaft für eine Schiffsexpedition an: Sie sollen das Gelobte Land finden, das sich laut einer ominösen Schatzkarte mitten in der Antarktis befindet. Die Expedition wird beschwerlich, immer weiter gelangen sie in eine Gegend, die zunehmend unwirklicher wird. Und ein Teilnehmer nach dem andern zeigt sein wahres Gesicht ...

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Seitenzahl: 342

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Inhaltsverzeichnis
Titel
Nilaus und Fergus
Kapitel 1.
Kapitel 2.
Kapitel 3.
Kapitel 4.
Kapitel 5.
Eliphas Jennes᾽ Palast
Kapitel 1.
Kapitel 2.
Kapitel 3.
Kapitel 4.
Kapitel 5.
Kapitel 6.
Kapitel 7.
Die Expedition
Kapitel 1.
Kapitel 2.
Kapitel 3.
Kapitel 4.
Kapitel 5.
Kapitel 6.
Kapitel 7.
Kapitel 8.
Kapitel 9.
Kapitel 10.
Kapitel 11.
Kapitel 12.
Kapitel 13.
Kapitel 14.
Kapitel 15.
Kapitel 16.
Kapitel 17.
Kapitel 18.
Kapitel 19.
Kapitel 20.
Kapitel 21.
Kapitel 22.
Kapitel 23.
Brief an die Mutter
Copyright
Am Ende des 19. Jahrhunderts irgendwo in Dänemark: Nilaus und sein Freund Fergus haben gerade das Abitur bestanden. Fergus, dessen Mutter eine Wäscherei hat, ist ehrgeizig und politisiert, er will die Welt besser machen, träumt von einer Revolution der Arbeiter. Nilaus dagegen lebt ein behütetes Leben, betreut von seiner Mutter, finanziert von dem Vater, der zur Enttäuschung der Mutter nur stellvertretender Bankdirektor ist. Nilaus hat andere, verträumtere Vorstellungen von seinem Leben.
Die Mutter schickt ihn übers Meer, auf die andere Seite der Welt, zu ihrem sagenumwobenen Onkel Eliphas. Auch Fergus ist auf dem Schiff, er hat als Maat angeheuert. Nilaus kann ihn überreden, abzumustern und mit ihm zum Palast des Onkels zu fahren. Dort erwarten sie märchenhafter Reichtum, mysteriöse Menschen und der menschenscheue, in einem hohen Turm hausende Onkel. Er bereitet eine Entdeckungsreise vor: er will das Gelobte Land finden, das sich laut einer ominösen Schatzkarte mitten in der Arktis befindet. Und so beginnen die beiden Freunde ein Abenteuer, bei dem am Ende nichts mehr so ist, wie es zuvor schien …
HANNE MARIE SVENDSEN wurde 1933 in Skagen geboren.
Sie ist eine der bedeutendsten Autorinnen Dänemarks. Sie war Theater- und Literaturredakteurin beim Fernsehen und unterrichtete an der Universität von Kopenhagen, bevor sie sich gänzlich dem Schreiben widmete. Neben Romanen hat sie auch zahlreiche Theaterstücke und Kinder- und Jugendbücher verfasst.
Nilaus und Fergus
1.
Sie kommen den Waldweg entlanggelaufen. Sonnenstrahlen suchen sich ihren Weg durch Zweige und Blätter, nehmen sie ins Visier, glitzern und funkeln eine Sekunde in Fergus᾽ roten Locken und auf Nilaus᾽ glatten blonden Haaren, ziehen sich dann zurück, werden von den Baumkronen verborgen, während zwei halbwüchsige Jungen ihren Weg über den matschigen Boden durch Licht und Schatten laufen, und ihnen halb verfaulte Blätter um die Stiefel schwappen.
Jetzt schwenken sie ab, verschwinden für einen Augenblick, tauchen weiter hinten wieder auf, wo die Bäume vereinzelter zwischen den dornigen Büschen stehen, die ihnen ihre Zweige entgegenstrecken. Einer bekommt Nilaus᾽ Hosenbein zu fassen. Nilaus bleibt stehen, ringt nach Luft, reißt an dem Zweig, um sich zu befreien.
»Du hast aber wenig Kraft«, sagt Fergus.
Sie haben den Wald hinter sich gelassen. Vor ihnen liegt eine Lichtung, die von Hügeln in der Ferne begrenzt wird. Nur ein großer Baum wirft Schatten auf das Gras. Das ist Fergus᾽ und Nilaus᾽ Platz. Hier rauchen sie Zigaretten und sprechen über das Leben und den Tod, vor allem aber über Mädchen. Nilaus schämt sich, dass er nicht richtig etwas zu erzählen hat. Er verliebt sich auf Abstand, fühlt sich unwohl, wenn er den Mädchen zu nahe kommt, stottert, wird rot, beeilt sich fortzukommen, um nichts zu tun, das die anderen lächerlich finden könnten. Eigentlich geht es ihm am besten, wenn er alleine ist und sich in Frieden seinen Gefühlen hingeben kann. Er träumt von den Mädchen. Mit grazilen Bewegungen tanzen sie hinter seinen geschlossenen Augenlidern, lächeln stumm und geheimnisvoll. Er legt seine Hände auf ihre warmen Schultern, drückt sie an sich, lässt sie los und schiebt sie ein kleines Stück von sich fort, sodass sie weiter zwischen wehenden Schleiern tanzen können. Doch wenn er ihnen auf der Straße oder bei den seltenen Jugendfesten begegnet, ist er unbeholfen und schweigsam. Sie plappern mit viel zu lauten Stimmen, rotten sich zusammen und stehen wie eine Mauer vor ihm.
Eigentlich hat er oft das Gefühl, dass eine dünne Haut ihn von seiner Umwelt trennt. Er kann die anderen nicht erreichen. Aber er hat auch keine Lust dazu. Er verachtet sie und fühlt sich nur in seinem Traumuniversum sicher – und zusammen mit Fergus.
»Was bist du doch dumm«, sagt Fergus. »Die Maja vom Bäcker interessiert sich für dich.«
Nilaus schüttelt den Kopf. Er versucht, sich die Tochter des Bäckers vorzustellen. Sie lacht ihm direkt ins Gesicht; alles, was sie sagt, ist falsch, und im Oberkiefer hat sie einen faulen Zahn, und ihre Arme sind zu lange.
Fergus dagegen hat immer etwas am Laufen und erzählt begeistert von Verabredungen in Kellern und Treppenaufgängen. Vielleicht prahlt er auch nur.
»Warst du schon einmal verliebt?«
»Nein, nicht richtig. Ich habe einfach Lust auf sie. Es ist doch schöner, es wirklich zu tun und nicht nur herumzuliegen
und an sich selbst herumzufummeln.«
Nilaus rümpft die Nase. Er findet nicht, dass man über so etwas reden sollte.
»Du bist träge und langweilig«, sagt Fergus. »Du bist so verdammt langweilig, du machst einfach nichts. Warum gebe ich mich nur mit dir ab?«
»Weil du niemand anderen hast. Du gehörst nicht zur feinen Gesellschaft, und mir ist das egal. Ich lasse mich nicht in diesen Sumpf aus wohlgenährter Bürgerlichkeit hinabziehen.«
»Muttersöhnchen«, hänselt Fergus und zieht Nilaus an den Haaren. »Du eingebildetes Individuum. Du kannst dich nicht einmal prügeln, immer muss ich mich für dich prügeln.«
Nilaus drückt die Zigarette im Gras aus. »Ich warte, bis es notwendig wird.«
»Ja, aber das ist es jetzt. Du musst es doch lernen.« Und Fergus versetzt ihm ein paar Stöße, die Nilaus zurückgibt, erst spielerisch, widerwillig, dann von dem Spiel gefangen, bis beide wie ein verwickeltes Knäuel aus Armen und Beinen schreiend und lachend durch das Gras rollen. »Frieden!«, ruft Nilaus schließlich. »Ich kann nicht mehr.«
»Jetzt sage ich dir mal, wie man das macht. Einen Kinnhaken direkt unters Kinn. Einen Tritt in den Schritt, während der andere zu Boden geht, und schließlich einen Tritt gegen den Kopf, wenn er am Boden liegt. Dann hast du ihn.«
»Das ist nicht fair. Das ist gegen die Regeln.«
»Wer denkt schon an Regeln, wenn er sich prügelt? Es gilt zu gewinnen. Du musst es dem anderen geben.«
Sie liegen auf dem Rücken und verschnaufen. Über ihren Köpfen ziehen grauweiße Wolken vor die Sonne und türmen sich kurz auf, bevor sie weiterziehen. »Ein kleiner Punkt«, sagt Nilaus, »ein kleiner Punkt ist diese Erde, auf der wir dahinsegeln und unsere Reiche gründen, winzig klein ist sie, obwohl der Ozean sie von beiden Seiten umgibt.«
»Darauf bist du nicht selbst gekommen.«
»Nein, das ist im Lateinunterricht vorgelesen worden, und ich habe es aufgeschrieben und auswendig gelernt. Du passt in Latein nie auf.«
»Das ist doch nichts als unwichtiges Geschwätz«, sagt Fergus. »Was soll ich damit?«
»Aber jetzt kommt das Wichtigste: Über uns ist der gewaltige Weltraum, den in Besitz zu nehmen der Seele vergönnt ist, wenn sie sich, soweit als möglich, vom Körper befreit, sich von allem Schmutzigen reinigt und sich leicht und frei, zufrieden mit dem Notwendigsten, in die Höhe erhebt. Träumst du nicht manchmal, dass du fliegen kannst? Ich habe oft das Gefühl, hoch in der Luft zu schweben und auf mich hinunterzublicken. Das ist merkwürdig. Als würde ich mein eigenes Leben beobachten und trotzdem außerhalb stehen.«
»Dieser philosophische Quatsch ist nichts für mich«, sagt Fergus und steht auf. »Lass uns zum Hafen runtergehen, da ist immer was los.«
Der Hafen ist der Stolz der Stadt. Das Hafenbecken ist so tief, dass selbst die größten Schiffe zwischen den Molenköpfen hindurchpassen und am Kai anlegen können, Büsen, Schoner, Handelsschiffe mit richtigen Schornsteinen zwischen den Masten. Es wird geladen und gelöscht, und es kommen Waren aus dem Ausland herein. Ohne den Hafen wäre die Stadt ein verschlafenes Provinznest. Obendrein befindet sich über einer der Kneipen ein Bordell. Fergus hat es Nilaus einmal gezeigt. Doch die roten Gardinen waren zugezogen, und man konnte nicht hineinsehen.
»Vielleicht könnte man Entdeckungsreisender werden«, sagt Nilaus. »Meine Mutter hat mir von einem hier aus der Stadt erzählt, der ins Ausland gegangen und Entdeckungsreisender geworden ist.«
»Dazu braucht man Geld.« Fergus streckt sich und stampft im Gras auf und ab. »Wo bekommen wir das Geld dazu her?«
»Ich kann ohnehin nicht mit in den Hafen. Ich habe versprochen, zum Tee nach Hause zu kommen.«
»Nach Hause zu Mutter und Gott, König und Vaterland«, sagt Fergus.
»Nein, er ist in der Arbeit, nur Mutter und ich, ich habe es versprochen.«
Fergus schiebt den Kopf vor und geht mit großen Schritten weiter, Sonnenstrahlen blitzen in seinen roten Locken, sein Gesicht ist mager, sommersprossig wie die Arme mit den großen Händen, die vor und zurück pendeln. Nilaus fühlt sich klein neben ihm, obwohl sie ungefähr gleich groß sind. Aber er ist von zarterem Knochenbau.
Damals, als er noch klein war und an die Märchen geglaubt hat, die seine Mutter ihm vorlas, wenn er mit einer Erkältung im Bett lag, hat er geträumt, ein Ritter zu sein, den immer ein treuer Knappe begleitet. Kinderträume. Aber trotzdem. Als er sich mit Fergus angefreundet hat, hat er sich vorgestellt, dass Fergus sein Knappe wird. Doch Fergus taugt dazu nicht und würde sich nie mit einem so geringen Status zufriedengeben. Er ist zu eigenwillig und muss ständig seine Überlegenheit demonstrieren, obwohl er ein uneheliches Kind ist und in einem Heißmangelkeller aufwuchs.
Nilaus holt ihn ein, hält ihn am Arm fest. »Wir haben von Eliphas Jennes gehört. Ich glaube, er ist der reichste Mann der Welt. Er besitzt enorme Reichtümer, das kannst du dir überhaupt nicht vorstellen. Und niemand weiß, wie er so reich geworden ist.«
»Du quasselst immer von deinem Onkel«, sagt Fergus. »Vielleicht hast du ihn ja bloß erfunden? Schließlich bist du ihm nie begegnet.«
»Er schickt meiner Mutter Geschenke über die Reedereien, mit denen er in Verbindung steht, Federn von merkwürdigen Vögeln und eine Diamantbrosche. Die habe ich jedenfalls gesehen, sie liegt in einem Schmuckkästchen auf schwarzem Samt, ein Halbmond mit großen Diamanten an den Rändern.«
»Nicht alle Diamanten sind echt.«
»Die sind es. Mein Vater hat die Brosche schätzen lassen. Aber sie trägt sie nicht, er will das nicht.«
Fergus ist noch immer nicht beeindruckt, aber vielleicht will er auch nicht zugeben, dass er es ist. »Er hat einen seltsamen Namen, dieser Onkel deiner Mutter. Ich kenne niemanden, der so heißt.«
»Er ist auf den Namen Elias getauft, aber er hat seinen alten Namen geändert. Nachdem er die Stadt verlassen hatte. Er hat sich mit meinem Großvater über sein Erbe gestritten. Großvater wollte, dass alles Geld in der Firma bleibt, aber Onkel Eliphas hat seinen Teil herausgezogen und selbst ein Geschäft gegründet. Er ist nur einmal in die Stadt zurückgekehrt, und als er wieder gefahren ist, hat er einen Mörder aus der Haft befreit.«
»Was hat er getan?« Jetzt ist Fergus zumindest verblüfft.
»Ja, einen Axtmörder, der im Gefängnis gesessen und darauf gewartet hat, gehängt zu werden. Onkel Eliphas hat den Gefängniswärter bestochen und ist mit dem Mörder verschwunden.«
»Wen hatte er denn umgebracht?«
»Einen reichen Bauern, der Frau und Kinder misshandelt hat. Einer seiner Knechte hat einen Wutanfall bekommen und ihn umgebracht. Die ganze Scheune war voller Blut.«
»So soll es ihnen ergehen.« Fergus geht schneller und stampft auf den Boden auf. »Nieder mit den reichen Schweinen und den Autoritäten, die glauben, sie können uns wie den letzten Dreck behandeln.«
»Jetzt muss ich nach Hause«, sagt Nilaus. »Wir sehen uns morgen.«
2.
Nilaus᾽ Mutter liegt auf der pflaumenblauen Chaiselongue im Wohnzimmer, halb auf der Seite mit einem Buch im Schoß. So liegt sie oft da und liest Gedichte oder sieht sich Bücher über Abenteurer und berühmte Entdeckungsreisende an, die unbekannte Kontinente erforscht haben oder Wüstenkarawanen durch fremde Länder gefolgt sind, und Nilaus sitzt zu ihren Füßen, Skizzenblock und Wasserfarben vor sich. Dann gähnt sie leicht, und das Buch gleitet zu Boden. »Nein, große Reisen werde ich wohl nicht machen. Ich habe geheiratet und ein Kind bekommen, wie mein Vater und meine Mutter es von mir erwartet haben. Und jetzt ist es zu spät. Aber du bist mein Goldjunge, Nilaus. Du musst dein Leben zum Klingen bringen. Du bist ein Künstler, oder du wirst ein Künstler werden, daran glaube ich felsenfest.«
Nilaus zuckt mit den Schultern. Er ist sich nicht so sicher, was er mit seinem Leben anfangen will. Zweimal in der Woche nimmt er Unterricht bei einem bankrotten Kunstmaler, der gegen geringe Bezahlung Schüler unterrichtet. »Du hast Talent«, sagt der Lehrer, »und ein großes Ausdrucksbedürfnis. Aber du musst an deiner Technik arbeiten, sonst geht es nicht.«
Ansonsten liest er viel, aber nicht in seinen Schulbüchern. Das Gymnasium langweilt ihn. Hin und wieder wacht er auf und hört zu, aber in der Regel fällt es ihm schwer, sich zu konzentrieren, und er versinkt in Träumereien. Er hat das vage Gefühl, zu etwas Großem bestimmt zu sein, zu etwas Außerordentlichem. Eines Tages wird es zu ihm kommen. Vorerst kann er nur abwarten.
Er schüttelt sich leicht, lässt den Stift los und lehnt sich zurück gegen die Chaiselongue. »Damals, als ich klein und oft krank war, hast du auf meiner Bettkante gesessen und mir von Onkel Eliphas erzählt. Erinnerst du dich?«
»Mein schöner Junge«, sagt sie und streicht ihm über das Haar. Ihre großen dunkelblauen Augen glitzern in der Dämmerung, und ein Duft von Blumen umgibt sie. »Ja, ich denke oft an ihn, obwohl ich ihn nur einmal getroffen habe, und ich gewöhne mich nie daran, ihn bei diesem seltsamen Namen zu nennen. Er ist ein Prospero. Weißt du, wer Prospero ist? Natürlich weißt du das, wir haben schließlich zusammen Shakespeare gelesen. Ich habe mich für deinen Vater entschieden, weil ich fand, dass er Ähnlichkeit mit Onkel Elias hatte. Das kräftige, fleischige Gesicht, die knappen, feinen Züge. Das hat mich verzaubert. Aber ihm fehlten die Magie und die Kraft. Dein Vater ist blasser in den Farben, blasser in der Seele.« Und sie hebt die Arme über den Kopf, schließt die Augen und seufzt. »Ich weiß, dass es falsch ist, so über deinen Vater zu reden. Er ist ein guter und zuverlässiger Ehemann, er will nur das Beste für uns. Und es ist schade, dass er es in der Bank nur zum stellvertretenden Direktor gebracht hat. Er sollte der Chef sein.«
Nilaus versteht gut, was sie meint, spürt selbst einen Anflug von schlechtem Gewissen, findet es aber trotzdem ausnehmend gemütlich, so mit ihr zusammenzusitzen und sich einig zu sein, wie sein Vater ist. Rechtschaffen, beschränkt in seiner Sicht auf das Leben. Gott, König und Vaterland, wie Fergus immer sagt. Nilaus hat nie mit ihm über etwas Wesentliches gesprochen.
»Ja, Vater …«, sagt er und spricht schnell weiter. »Ich kann mich erinnern, dass du erzählt hast, wie Onkel Eliphas dich zu Hause bei Großvater und Großmutter besucht hat. Er konnte Stroh zu Gold spinnen.«
»Habe ich das wirklich gesagt? Ich war noch ein Mädchen, noch nicht ganz erwachsen. Ich hatte von ihm gehört, obwohl sein Name nicht oft erwähnt wurde. Dein Großvater war sehr böse auf ihn, weil er mit seinem Teil des Erbes fortgegangen ist. Elias wollte ins Ausland und sich eine eigene Existenz aufbauen, er war kein Leisetreter wie gewisse andere. Und dann, viele Jahre später, ist er mit vielen Geschenken für mich und deine Großmutter zurückgekommen. Er war ein königlicher Gast, und wir haben alles getan, dass er sich in unseren Verhältnissen, die bescheidener waren als die, die er offenbar gewohnt war, wohlgefühlt hat. Ich kann mich erinnern, dass er mich um die Taille gefasst und durch die Luft geschwungen und mir einen Kuss mitten auf den Mund gegeben hat. Du wirst einmal eine dramatische Schönheit, hat er gesagt. Komm zu mir, wenn du dich langweilst, ich werde schon etwas für dich finden. Ich hatte das Gefühl, dass an allen Tagen, die Onkel Elias zu Besuch war, die Sonne schien.«
»Aber dann ist er wieder abgereist?«, fragt Nilaus. Er setzt sich anders hin und stößt den Krug mit dem Wasser und den Pinseln um, sodass sich die braunschwarze Flüssigkeit über den Boden ergießt.
»Das macht nichts. Darum kümmert sich das Mädchen. Ja, plötzlich war er fort. Er hatte sich wieder mit deinem Großvater gestritten, bestimmt um Geld. Die Leute streiten sich immer um Geld.«
Sie seufzt erneut, dann stützt sie sich halb auf und klopft auf das Polster. »Komm, setz dich zu mir. Der Tee kommt gleich.«
Nilaus erhebt sich vom Boden und setzt sich im Schneidersitz auf die Chaiselongue. Die schweren grünen Samtgardinen sind halb zugezogen und die Dunkelheit drückt gegen die Fenster. Die Stehlampe hüllt ihn und die Mutter in einen Lichtkegel.
»Ich nenne ihn Onkel Eliphas, weil er gerne so heißen will und es besser zu ihm passt«, sagt Nilaus. »Und bevor er gefahren ist, hat er den Gefängniswärter bestochen und einen Mörder aus dem Gefängnis gerettet. Einen Mörder!« Er lässt sich das Wort im Mund zergehen.
»Was soll das jetzt heißen?« Ihre Augen flackern leicht. »Doch, die Rede war von einem leicht dümmlichen Knecht, der seinen Brotgeber umgebracht hat. Er ist ungefähr zur selben Zeit aus der Haft verschwunden.« Sie schaudert und legt Nilaus die Hand aufs Knie. »Mehr weiß ich darüber nicht, aber ich habe Onkel Elias᾽ Adresse, eine seiner Adressen, er hat bestimmt mehrere. Du weißt ja, dass er mir Geschenke schickt. Die große blaue Feder, die an meinem Sonntagshut steckt, habe ich von ihm. Und auch die Hutnadel mit der schwarzen Perle. Dein Vater weiß das nicht, er glaubt, dass ich alles aus dem Hutgeschäft habe. Aber jetzt geh in die Küche und sage Bescheid, dass der Tee gebracht werden kann.«
Nilaus steht auf. »Onkel Eliphas hat den Mörder gerettet und mitgenommen, da bin ich mir sicher«, sagt er.
3.
»Aufwachen, Nilaus, wir müssen abgeben.«
Fergus, der an dem Pult hinter ihm sitzt, versetzt ihm einen Puff in den Rücken, sodass er beinahe den Federhalter ins Tintenfass fallen lässt. Er sieht auf das Blatt, das vor ihm liegt. Er hat nicht viel über das Tierleben in den arktischen Gebieten geschrieben. Es gibt da einen Vogel, der nicht fliegen kann, aber er erinnert sich nicht an den Namen. Es ist kein Pinguin, Pinguine leben auf der anderen Seite des Erdballs, obwohl einer von ihnen ausgestopft im Geographieraum steht und Staub ansammelt.
Wieder bekommt Nilaus eine schlechte Note. Und später eine Auseinandersetzung mit dem Vater, der seinen schmalen Mund missbilligend zusammenpresst. »Du musst dich zusammenreißen, Nilaus. Das erwarten wir von dir.«
Wie reißt man sich zusammen? Man sollte als Bär geboren werden, die ganze lange, dunkle Zeit durchschlafen und erst aufwachen, hungrig und blutrünstig, wenn das Licht zurückkommt.
»Ich mag den Winter«, sagt Fergus. »Den richtigen Winter mit Frost und Mädchen, die auf der Eisbahn kreischen. Nicht dieses stürmische, regnerische Wetter.«
Am Nachmittag, wenn Fergus die Mangelwäsche fertig ausgetragen hat, streifen sie durch die Gegend. Im Grunde genommen ist das eine seltsame Freundschaft, die vor allem darauf basiert, dass sie sich beide fremd fühlen, außerhalb der Gemeinschaft der anderen Jungen, die sie jeder auf seine Weise mit einer gewissen Verachtung betrachten. Am ersten Tag des Schuljahrs hatte Nilaus sich in eine Ecke des Schulhofs verzogen. Ein großer, rothaariger Junge stand neben ihm und sah ihn in seinen falschen Sachen mit den zu kurzen Hosenbeinen und den zu kurzen Jackenärmeln scheel an, während Nilaus aus angemessener Entfernung die anderen Jungen beobachtete, die sich in lautstarken Schlägereien und kindlichen Späßen ergingen. Er spürte ihre Blicke wie Nadelstiche. Auf einsamen Pfaden wird der Träumer wandern und ist anders als die andern. Nein, er gehört nicht zu ihnen, aber eines Tages werden sie sich vor ihm verneigen. Das dachte Nilaus, als er die neuen Klassenkameraden betrachtete.
»Was für eine Versammlung«, sagte der große Rothaarige und stieß ihm den Ellenbogen in die Seite. »Die taugen doch alle nichts.« Seitdem halten Fergus und Nilaus zusammen. Sie haben sich ihr eigenes Universum geschaffen und akzeptieren ihre jeweiligen Besonderheiten.
Ab und zu holt Fergus seine Mundharmonika hervor und entlockt ihr wunderliche, traurige Töne. Eigentlich hält Nilaus eine Mundharmonika für ein armseliges Instrument. Er selbst hat Klavierunterricht bekommen, mochte aber die Skalen nicht üben. Innerhalb der Musikwelt wird er sich keinen Namen machen. Trotzdem hört er Fergus gerne zu, der über ein großes Repertoire an traurigen Liedern verfügt. In allen scheint es um verlassene Mädchen und unerfüllte Liebesgeschichten zu gehen.
Fergus ist der Sohn eines Seemanns, der zufällig in die Stadt gekommen ist und ihn als Pfand seiner kurzen Anwesenheit zurückgelassen hat. Man hat den Fehltritt der jungen Mutter vertuscht, die Großmutter hat Fergus als ihr eigenes Kind angenommen, während sie zusammen mit der Tochter ein Geschäft für Mangelwäsche aufgezogen hat und Fergus᾽ Mutter mit der Zeit immer frommer und eine gute Freundin des Pfarrers geworden ist. »Sie ist einfach unausstehlich«, sagt Fergus. »Sie spricht von nichts anderem als von Sünde und Strafe und Hölle und Gnade.« Nilaus᾽ Mutter ist der Meinung, dass die Familie ihre Ehrbarkeit zurückgewonnen hat, und lässt Tischtücher und Bettzeug bei ihnen mangeln.
Manchmal gehen sie in das Kellergeschäft hinunter, wo die Luft vor Dampf ganz grau ist. Sie wechseln ein paar Stöcke aus, um ihren guten Willen zu zeigen, verschwinden aber schnell wieder hoch ins Sonnenlicht.
»Das ist kein Leben«, sagt Fergus und fährt sich mit der Hand durchs Haar. »Ich bin schließlich nicht dumm, oder? Ich komme in der Schule gut mit, obwohl ich finde, dass das Meiste, das sie einem beibringen, Quatsch ist. Was soll ich damit? Niemand kann mir eine weitere Ausbildung bezahlen.«
Er hat einen Freiplatz auf dem Gymnasium bekommen, weil seine Großmutter mit dem Rektor gesprochen hat, der entgegen allen Regeln der Meinung war, dass auch die unteren sozialen Schichten eine Chance haben sollten, selbst in seinem Fall, in dem es sich um ein Kind zweifelhafter Herkunft handelte. Fergus ist ihr dafür nicht dankbar. »Ich habe das nur für meine Großmutter getan«, sagt er. »Sie wollte, dass ich in der Gesellschaft aufsteige, doch inzwischen hat sie eingesehen, dass das so nicht geht, so, wie die Verhältnisse nun einmal sind. Sie ist jetzt immer so müde, weiß der Himmel, was da nicht stimmt. Sie hat ihr Leben lang zu hart gearbeitet. Aber sie weiß genau, dass ich Sozialist bin und die Gesellschaft verändern will. Ich will schließlich nicht den Rest meines Lebens Mangelwäsche austragen. Die Revolution kommt, auch hier in dieses Provinznest, darauf kannst du wetten. Unten im Hafen reden sie darüber, aber sie sind zu träge, sie tun nichts dafür.«
Nilaus weiß nicht recht, ob er Fergus bewundert oder ob ihm seine vehemente Lebensentfaltung ein wenig Angst macht. Vielleicht wäre er selbst auch gerne Sozialist. Zu Hause erzählt er nichts von seiner Freundschaft mit Fergus. Er hält die Essenszeiten ein und verpasst nur selten den Nachmittagstee im Zimmer seiner Mutter.
»Muttersöhnchen«, sagt Fergus und haut ihm auf die Schulter. »Du bist ein verwöhnter, kleiner Bourgeois. Du fantasierst nur, ohne etwas zu ändern.«
Nilaus schüttelt seine Hand ab und runzelt die Stirn.
»Mach dir nichts draus. Du bist trotzdem in Ordnung.«
Es ist stürmisch und dunkel. Die Gaslaternen in den winkligen Gassen der Innenstadt sind bereits angezündet. Sie trennen sich vor dem Mangelgeschäft. Fergus muss seiner Arbeit nachgehen.
Fergus᾽ Großmutter liegt in dem Zimmer hinter der Mangelstube und wartet auf den Tod. Wenn man die Tür aufmacht, legt sich der graue Dampf über das Bett, und sie fängt an zu husten. »Sie freut sich aufs Sterben«, sagt Fergus. »Sie kann nicht mehr und will auch nicht mehr.«
»Was denn?«, fragt Nilaus.
»Leben, es ist zu beschwerlich. Aber jetzt muss sie auch nicht mehr. Ich werde sie vermissen.«
»Ich kann mir nicht vorstellen zu sterben«, sagt Nilaus. »Der Gedanke ist mir unmöglich.«
Fergus᾽ Mutter hat ein Bild an die Wand am Fußende des Betts gehängt. Es zeigt eine Menschenmenge, alle tragen weiße Gewänder, haben die Köpfe gesenkt und lächeln das gleiche entrückte Lächeln. Wenn die Tür aufgeht, verschwinden die Gestalten im Dampf, aber nach und nach tauchen sie wieder auf, den Blick gen Himmel gerichtet, erstarrt in weißer, seliger Freude. »Das sind die Märtyrer, die, die durchgehalten haben«, sagt Fergus᾽ Mutter und kratzt sich den Bauch, bevor sie hinaus in die Mangelstube entschwindet.
»Nimm das weg«, bittet Fergus᾽ Großmutter. »Es ist unheimlich, es macht mir Angst.«
Nilaus findet das Bild auch unheimlich. Die Wände ziehen sich um ihn zusammen, er hat das Gefühl zu ersticken, wenn er da unten im Keller steht, wo die Seligen in reiner Freude zur Decke starren und der Blick der Großmutter ihnen in skeptischer Resignation folgt. Da gibt es nichts zu hoffen, sagen ihre Augen. Das Leben gilt es zu überstehen. Wartet nur ab.
Fergus nimmt das Bild ab und hängt es mit der Vorderseite zur Wand. »Schlaf jetzt, Oma.« Und sie lächelt ihn an und schließt die Augen.
Nilaus᾽ Großmutter und Großvater mütterlicherseits sind schon lange tot, doch seine Großmutter und sein Großvater väterlicherseits werden in ihrem Haus mit all ihren Plüschmöbeln und Palmen und Beistelltischen gepflegt. Sein Vater und er besuchen sie alle vierzehn Tage. Die Großmutter kann sich an nichts erinnern. »Wer bist du?«, fragt sie und sieht Nilaus mit ihren verschleierten graubraunen Augen an.
Aber sie ist sanft und in der Regel fröhlich, sie kann stundenlang eine Blume ansehen oder eine Taube, die im Garten Brotkrumen pickt. Der Großvater wird jeden Tag aus dem Bett gehoben und in einen Lehnstuhl gesetzt. Da sitzt er und wartet die Zeit ab, wird mit einem Löffel gefüttert und antwortet nicht auf Fragen. Ab und zu schreit er ›nein, nein‹ mit hoher, gellender Stimme, doch zu was er nein sagt, weiß niemand.
»Man sollte ihnen wünschen, dass es bald vorbei ist«, sagt Nilaus᾽ Vater.
Ja, bevor das ganze Erbe für Krankenpflegerinnen und Haushaltshilfen draufgegangen ist, das meint er wohl, denkt Nilaus. Aber das sagt er nicht laut. So etwas sagt man nicht.
Wieder ist es Spätherbst geworden. Nilaus und Fergus sind durch den Wald zu der Lichtung mit dem großen nackten Baum gelaufen. Im Westen zieht sich ein goldener Gürtel durch dunkle Wolkenränder. Der Wind weht leicht und fährt in die Decke aus braungoldenen Blättern. Feuchtigkeit ist in der Luft.
Plötzlich merkt Nilaus, wie sich ein Schatten über ihn beugt. Er sieht auf, und da ist ein Gesicht, weißgrau mit schwarzen Bartstoppeln am Kinn und eingefallenen Wangen. Ein Auge ist mit einer milchig weißen Haut überzogen, das andere bewegt sich lauernd, saugt Nilaus᾽ Gestalt von Kopf bis Fuß in sich auf.
Er zuckt zusammen. Fergus hat sich schon zur Hälfte erhoben.
Der Mann beugt sich weiter vor. Er hat sich einen schwarzen Hut in die Stirn gezogen, Regentropfen tropfen von dem Schatten herunter, und er riecht nach Feuchtigkeit und Moder. »Gebt mir eine Zigarette«, sagt er, »ihr habt doch eine Zigarette für einen alten Mann, der weit gegangen ist, um euch zu treffen?«
»Wo kommen Sie her?«, fragt Fergus und holt die Packung heraus.
»Von weit her und nirgendwoher. Dahin muss ich auch zurück.« Er hustet und ein paar Speicheltropfen landen auf Nilaus᾽ Hand. Dann zündet er die Zigarette an, während er sie mit der Hand abschirmt. »Könnte es sein, dass Ihr auch noch etwas anderes habt, das ihr entbehren könnt?« Er windet und krümmt sich, greift sich an die zerlumpte Jacke, die am Hals offen steht, hustet erneut.
»Und was sollte das sein?« Nilaus hat sich ein wenig von dem Mann zurückgezogen. Er hat die Hände um die Knie geschlungen, schaukelt hin und her und spürt, wie die Nässe des Bodens und der verwelkten Blätter langsam durch seine Kleidung dringt.
»Etwas Geld vielleicht. Oder deinen Schal. Deinen Schal könnte ich gut gebrauchen.« Jetzt lacht er. Die Zähne in seinem Mund sind kleine braune Stumpen. Er streckt die Hand aus, und seine Finger nesteln an Nilaus᾽ Schal herum. Sein Atem riecht faulig, und Nilaus dreht den Kopf weg.
»Gib ihn ihm«, sagt Fergus. »Er braucht ihn dringender als du.«
»Ja, aber meine Mutter hat ihn für mich gestrickt. Sie hat vorher noch nie etwas gestrickt.«
»Na, wird᾽s bald.« Der Mann zieht an dem Schal. Nilaus spürt, wie er sich um seinen Hals zusammenzieht, und wickelt ihn schnell ab. »Hier«, sagt er. »Ich friere ohnehin nicht. Und jetzt hauen Sie ab.«
»Und Geld. Ihr habt mir Geld versprochen.« Der Mann umkreist sie, nähert sich mit einem Satz, tritt in die Blätter, steckt die Hand in die Tasche und zieht sie wieder heraus. Etwas Stahlgraues blitzt darin, eine Messerklinge. Er hat ein Messer in der Hand.
»Pass auf, er ist gefährlich«, ruft Nilaus, rollt sich auf die Seite und springt auf. Doch Fergus ist bereits aufgesprungen und hat dem Mann ein Bein gestellt. Jetzt liegt er am Boden und rudert mit den Armen in den braunen und gelben Blättern.
Nilaus sieht auf sein Handgelenk. Da ist ein kleiner roter Fleck, aus dem ein Blutstropfen sickert. Als er wieder zu der Stelle hinsieht, wo der Mann gelegen hat, ist er verschwunden, von den Blätter verschlungen, fort.
»Er ist wie vom Erdboden verschwunden. Wo ist er?«
»Da, du Narr. Ich habe ihn laufen lassen.«
Ein dunkler Schatten flitzt weit entfernt über die Wiese, bis er im Nebelregen verschwindet. Nilaus kann nicht sehen, ob es ein Tier oder ein Mensch ist. »Und das Messer?«, fragt er.
»Ich habe keins gesehen.«
Sie gehen durch den strömenden Regen nach Hause. »Er war furchtbar«, sagt Nilaus. »Und er hat so moderig gerochen.«
»Warum hast du dich so aufgeregt? Das war doch nur ein armseliger Alkoholiker. Ein armer Teufel, er hat mir einfach leid getan.«
»Leid getan? Wie meinst du das?«
»Das war nur so daher gesagt. Er ist ein armer Kerl, von denen gibt es viele«, sagt Fergus.
»Der Tod folgte in seinen Fußstapfen, das habe ich gespürt. Könntest du einen anderen Menschen umbringen?«
»Ich weiß es nicht. Wenn mich jemand genug provozieren würde.«
»Wenn du des Mordes angeklagt wirst, hole ich dich aus der Haft«, sagt Nilaus. »Aber wir müssen uns einen anderen Platz für den Winter suchen.«
»Wir können zu mir gehen. In das Zimmer hinter der Mangelstube, jetzt, wo Großmutter tot ist.«
»Nein, ich sage, dass wir zusammen Hausaufgaben machen. Dann kannst du mit auf mein Zimmer kommen.«
4.
Der Winter ist vorbei, die Examenszeit überstanden. Und was soll jetzt aus ihnen werden, wo sie mit dem Gymnasium fertig sind? Keiner von ihnen ist durchgefallen, obwohl es bei Nilaus sehr knapp war. Der Junge ist nicht dumm, aber er passt nicht auf und schläft. Und er liest nichts anderes als Romane.
»Er muss ins Ausland und Absinth trinken und Künstler werden«, lächelt die Mutter. »Er schreibt auch Gedichte, aber ich darf sie nicht lesen.«
»Ja, ihr fantasiert herum«, sagt der Vater. »Aber er macht nichts daraus. Wenn er nicht das Talent zum Studieren hat, muss ich sehen, dass ich ihm eine Anstellung in der Bank besorge.«
Er zieht seine Uhr aus der Westentasche und wirft einen Blick darauf. Mittags ist der Vater immer für zwei Stunden zu Hause, um zu essen und sich mit der Zeitung über dem Gesicht auszuruhen. Dann geht er wieder in die Bank, um Geld zu zählen, das ihm nicht gehört. Er ist schließlich nur der stellvertretende Direktor.
»Das ist alles so sinnlos«, sagt Nilaus. Jetzt, wo überall auf dem Gras Blumen wachsen und die Bäume sprießen, ist die Lichtung im Wald wieder zu ihrer Freistatt geworden. »Wozu sind wir da, wenn wir doch sterben müssen? Kannst du dich erinnern, Fergus, dass wir davon gesprochen haben, Entdeckungsreisende zu werden? Damals habe ich geglaubt, dass das Leben es wert sei, gelebt zu werden; jetzt ist alles eine große Leere. Wir sind die Erben des Nichts, obwohl wir im Netz der Illusionen gefangen sind.«
»Du mit deinen Sprüchen«, sagt Fergus. »Und wie kann man in einem Netz gefangen sein, wenn alles nur Leere ist?«
»Ich sehe schon, dass die Blumen schön sind – und der Himmel und die Wolken. Aber in Wirklichkeit sind sie farblos. Verstehst du: Ich habe Angst vor der Sinnlosigkeit. Wenn ich die Augen schließe, habe ich das Gefühl, tief zu sinken, immer weiter zu sinken. Ich kann nicht denken, ich ziehe nur Spinnweben aus meinem Kopf.«
»Worte helfen da auch nicht«, sagt Fergus. »Man muss etwas tun. Ich bleibe jedenfalls nicht hier in der Stadt, da kannst du machen, was du willst. Ich werde zur See fahren. Meine Mutter kommt zurecht, sie hat einen Klempner gefunden, der auch fromm ist, und wenn sie heiraten, ist für mich da kein Platz mehr.«
Was will Nilaus? Nichts und alles. Seine eigene Ohnmacht spüren und sich im Grunde genommen darin einrichten. Unter dem Baum im Gras liegen, in die Wolken gucken und ihnen Namen geben: Cirrus, Cumulus, was für herrliche Worte. Träumen, vielleicht etwas auf dem Skizzenblock zeichnen. Es kommt nie das dabei heraus, was er möchte, die Linien fügen sich nicht zu den Bildern zusammen, die er in der Fantasie vor sich sieht. Manchmal hat er das Gefühl, vor Farben, die nicht aus ihm heraus wollen, zu zerspringen; sie torkeln durch seinen Kopf, wilde, starke Farben, die umeinander tanzen, bis sie ihren Glanz verlieren, erbleichen, verwelken. »Du bist nicht untalentiert«, sagt der Zeichenlehrer. Was soll er daraus machen? Seine Zeichnungen taugen nichts und die Gedichte, die er zu schreiben versucht, sind ebenfalls nichts wert. Einmal hat er geglaubt, dass es ihm bestimmt sei, Großes zu vollbringen. Vielleicht ist er für überhaupt nichts bestimmt. Er hat sich angewöhnt, lange zu schlafen, und es fällt ihm schwer, sich aus seinen morgendlichen Träumen zu befreien. Er findet, dass er in den Träumen intensiver lebt als im Wachzustand.
»Kopf hoch«, sagt Fergus und schlägt ihm auf den Rücken. Er will zum Hafen hinunter, wo er in einer der Kneipen eine Kellnerin kennt. Nilaus steuert sein Zuhause an. Auf dem Weg ins Haus bleibt er einen Augenblick in der Diele stehen und betrachtet sich in dem großen Wandspiegel. Das Gesicht ist etwas schief, die Nase zu kurz, der vorgeschobene Mund über den Grübchen zu weich, und die Wangen sind zu rund. Ein Kindergesicht. Er ist fast erwachsen, hat aber trotzdem ein Kindergesicht. Die Ohren unter dem ordentlich frisierten, dunkelblonden Haar sind wenigstens gut geformt und stehen nicht ab wie die von Fergus.
Er stellt sich auf die Zehenspitzen, runzelt die Stirn, zieht die dünnen Augenbrauen hoch, schüttelt den Kopf und versucht, hinter die Reflexe des Spiegels zu sehen. Die Garderobe gibt leicht nach, er hat das Gefühl, dass ein dunkler Mantelärmel nach ihm greift. Was verbirgt sich auf der anderen Seite des langweiligen täglichen Lebens? Wenn man sich verwandeln, ein anderer werden könnte? Als er noch klein war, hat er sich eine Zeit lang eingebildet, ein Findelkind zu sein, das zufällig in der falschen Familie gelandet war, der Sohn eines Grafen oder ein Zigeunerkind, kindliche Fantasien. Jetzt weiß er, wer er ist: der Sohn des stellvertretenden Direktors, der vielleicht mit Hilfe seines Vaters eine Anstellung in der Bank bekommen kann, verdammt zu einem Schattenleben unter anderen Schatten, der durch die Kulissen taumelt, die ein böswilliger Demiurg um ihn herum aufgestellt hat.
Doch an einem Frühsommertag steht die Mutter von ihrer Chaiselongue auf, als er ins Wohnzimmer kommt. Ihr schweres dunkles Haar ist nicht hochgesteckt und fällt ihr lose auf die Schultern. Sie hat noch den Morgenmantel an, und die grüne Seide bauscht sich anmutig um ihre Gliedmaßen.
»Ich habe von Onkel Elias gehört«, sagt sie. »Oder Eliphas, wie du ihn nennst. Er hat in einem seiner Briefe nach dir gefragt, und ich habe ihm deine Situation geschildert. Er hat versprochen, sich um dich zu kümmern, Nilaus. Er kann für einen talentierten jungen Mann mit Leichtigkeit eine interessante Arbeit finden, du wirst zu ihm reisen.«
»Was soll ich? Warum hast du nicht früher etwas davon gesagt?«
»Es sollte erst alles geregelt sein, verstehst du?«
»Weiß Vater davon?«, fragt Nilaus zögernd. Er ist überrumpelt, dass seine Mutter ihn hinaus ins Ungewisse stoßen will.
»Noch nicht. Ich erledige das. Er ist unsicher, was die Bank angeht, deine Rechenkenntnisse sind schließlich nicht die besten. Und das Geld für die Überfahrt ist kein Problem. Wir verkaufen die Brosche, die ich von deinem Onkel bekommen habe. Sie hat fünf echte Diamanten.«
»Ja, aber Mutter«, stammelt Nilaus. »Du kannst doch nicht deinen Schmuck verkaufen.«
»Vielleicht nur zwei von den Diamanten, die untersten, die lassen sich durch Attrappen ersetzen. Außerdem mag dein Vater nicht, dass ich die Brosche trage. Wir machen es, wie ich gesagt habe, Nilaus. Ein Künstler muss Erfahrungen sammeln und sich neuen Erlebnissen öffnen.« Und sie zieht ihn an sich, ihre Haare kitzeln sein Kinn; er spürt den weichen Druck ihrer Brüste unter der Seide. Er würde gerne für immer so stehen bleiben.
Dann richtet er sich auf und nickt. Vielleicht hat das Schicksal ihn doch auserwählt.
Und so kommt es, dass Nilaus einige Wochen später an der Reling eines großen Schiffs steht und einem fleischigen Gesicht mit einem kleinen missbilligenden Mund und einem Hut mit einer wehenden blauen Feder zum Abschied zuwinkt, bis das Gesicht und der Hut langsam entschwinden und zu kleinen schwarzen Punkten im Menschengewühl werden. Der Vater hat, wie erwartet, seine Zweifel an dem Unternehmen zum Ausdruck gebracht und mit einem Seitenblick zu der Mutter irgendetwas von Onkel Elias᾽ Exzentrizität und möglicherweise unzuverlässigem Charakter gemurmelt. Aber Nilaus ist überzeugt, dass auch ihn diese Lösung erleichtert.
Und hier steht er jetzt, voller Erwartung und ungeklärter Hoffnungen. Und neben ihm steht Fergus. Denn natürlich hat Fergus genau auf diesem Schiff angeheuert. Freunde müssen zusammenbleiben.
Ja, Nilaus steht an der Reling und sieht seinen Vater und seine Mutter am Horizont entschwinden, sieht sein ganzes Leben entschwinden, wenn man denn von einem Leben sprechen kann und nicht vielmehr von einem Vegetieren. Er ist verwirrt, ein wenig ängstlich, obwohl er das nicht wahrhaben will. Vage Erinnerungsfetzen tauchen in seinem Bewusstsein auf, verdichten sich, bekommen eine neue Bedeutung. Er kann sich erinnern, dass er auf der Bank im Garten gesessen und den großen Pflaumenbaum angesehen hat. Ein paar unreife Pflaumen waren heruntergefallen, harte, grüne Früchte, die nie Fülle und Süße erlangen sollten. Er hat nach ihnen getreten, sodass sie unter den Baum gerollt sind. Ihr Reifeprozess war abgebrochen worden, sie waren nicht essbar, so hart, dass sie nicht einmal verfaulen und dem Boden Nahrung geben konnten. Er sehnt sich nach reifen Pflaumen, gelbgrün, mit einer Spalte. Einmal, als er ein kleiner Junge war, hat er seine Mutter nackt im Schlafzimmer gesehen. Sie hat aus dem Fenster geschaut, als er hereinkam, ein Schatten im Dunkel der Nacht. Er konnte das Haar auf dem langen Rücken erahnen, der nach unten hin schmaler wurde, um sich dann zu zwei runden Backen zu verbreitern, dazwischen eine Saplte wie bei einer Pflaume. Er konnte spüren, wie sich die Spucke in seinem Mund sammelte, während ihn seine Füße zu ihr trugen. Sie roch süß und warm. Dann hat er in das weiche Fleisch gebissen, es in sich aufgesaugt. Sie hat sich mit einem kleinen Schrei umgedreht, ihn weggestoßen und den Morgenmantel um sich geschlungen.
Die Manglerin, Fergus᾽ Mutter, ist auch mit ihrem Klempner entschwunden. In der Ferne kann er den Hafenkai erahnen und die grünen Hügel hinter der Stadt. »Einmal habe ich in meine Mutter hineingebissen«, sagt Nilaus und dreht sich von der Reling weg. »Ich musste plötzlich daran denken.«
»Was für ein Unsinn. Nun ja, sie sieht natürlich auch besser aus als meine.«
Fergus geht zu den Matrosen, die nach ihm rufen. Er ist der Jüngste und ihrer aller Sklave. Jetzt kommt Rauch aus dem niedrigen Schornstein, jetzt werden die Segel gesetzt und alle Mann müssen hoch in die Takelage. Sie klettern wie die Katzen, Fergus ist gut im Klettern.
5.
Das Schiff segelt fernen Horizonten entgegen. Fergus hat eine Aufgabe, während Nilaus nicht viel zu tun bleibt. Er teilt sich die Kajüte mit einem Unteroffizier und isst mit in der Offiziersmesse. Seine Mutter hat sich um alles gekümmert, und das genießt er auch. Trotzdem ist es ihm ein wenig peinlich, nur Passagier zu sein. Draußen auf Deck holt er den Skizzenblock heraus und tut, als wäre er voll und ganz mit Zeichnen beschäftigt.
Nach einigen Tagen Schifffahrt legen sie in einer großen Hafenstadt an, stauen die Last um und laden noch mehr Kohle. Auf dem Deck, das schwarz und schmutzig von Kohlenstaub ist, liegt alles durcheinander. Es kommen auch Hunde an Bord, große, langhaarige Biester, die nachts heulen und dem Matrosen, dessen Aufgabe es ist, sie zu füttern, die Fleischstücke aus der Hand reißen. »Warum müssen die Hunde mit?«, fragt Nilaus und erfährt, dass irgendein reicher Mann sie bestellt hat. Mehr weiß man nicht.
Allmählich wird die Wärme drückend. Die Hunde mögen das nicht. Sie lassen die Schwänze hängen, schleichen auf der Suche nach Schatten auf Deck herum, japsen nach Luft. Eines Morgens sind zwei von ihnen tot und werden in aller Stille über Bord geworfen. So etwas passiert, und der Kapitän sieht sich nicht dafür verantwortlich.