Unterm Hut in der Sonne oder Das neue Buch Nickel - Rainer Lindow - E-Book

Unterm Hut in der Sonne oder Das neue Buch Nickel E-Book

Rainer Lindow

4,2

Beschreibung

Wir wollen uns hier nicht bei den Vorfahren des Nickel aufhalten, obwohl das gleich im ersten Abschnitt sehr lesenswerte Geschichten sind. Und damit sind wir schon bei Nickel selbst, dem Sohn des Pfarrers aus Sparka, der erst siebzehnjährig in einen großen Krieg geschickt wurde und der sich dann von dort in Richtung seiner Thüringischen Heimat verabschiedete: „Ich bin zu Hause. Kennt ihr Leuchtewitz? Klassefrauen. Und in Sparka, das ist daneben, da wartet mein Vater. Er weiß, wie es weitergeht.“ Wirklich? Es dauert lange, bis er glaubt, was er dann hört. Sie haben den Vater im Steinbruch erschossen, zusammen mit drei geflüchteten Polen, die er in der Kirche versteckt hielt. Die Mutter und die Schwester waren im Pfarrhaus, als die Bombe traf. Am Morgen noch gehörte Nickel zu der Schar, die hofften, denn er lebte und aß aus der Büchse. Jetzt weiß er, der Weg war umsonst, denn der Vater kann ihm nichts mehr sagen. Er vermochte sich nicht rauszuhalten, nachdem er schon die Flaschen an der Friedhofsmauer zerschmissen hatte. Nicht dem Helden fällt der Sieg zu, dem Weisen nicht das Brot und dem Einsichtigen nicht die Gunst. Und Nickel hat es auch mit den Frauen, so im Frühjahr 1946, als die Sache mit Zilla passiert: Zilla geht Nickel aus dem Weg. Sie hat ihn, so denkt sie rachsüchtig, in die Blechbude gebracht, nun soll er sehen, wie er zurechtkommt. Der Erich wird’s ihm schon zeigen. Und schließlich: Wer ist schon Nickel? Nichts als der Sohn vom Pfarrer. Sie wären noch jahrelang voreinander weggelaufen, wenn ihnen nicht jenes Abenteuer zugestoßen wäre, von dem nun berichtet werden soll, macht der Autor verdammt neugierig, was dann passiert. Jedenfalls wird Nickel zum Retter eines Mädchens und kommt dann selber in große Schwierigkeiten und fast um seine Männlichkeit. Es heißt, er sei entmannt worden. Als Nickel später in den Konsum tritt, verstummen die Frauen und blicken verstohlen auf seine Hose. Er kauft etwas, geht hinaus ans Wehr, stützt die Arme aufs hölzerne Geländer der alten Brücke und fasst einen Entschluss: Er wird zeigen, was er hat und was er kann. Er wird Zilla heiraten und sieben Kinder mit ihr zeugen. Ob es wirklich so kommt? Der Roman erschien 1980 erst zehn Jahre nach seiner Vollendung, da Rainer Lindow infolge der Biermann-Affäre mit anderen Autoren und Lektoren den Aufbau-Verlag verlassen musste, wo „Nickel“ ursprünglich erscheinen sollte. Im Eulenspiegel Verlag erlebte der Roman bis 1989 drei Auflagen mit 55.000 Exemplaren.

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Impressum

Rainer Lindow

Unterm Hut in der Sonne oder Das neue Buch Nickel

Roman

ISBN 978-3-86394-253-3 (E-Book)

Die Druckausgabe erschien erstmals 1979 im Eulenspiegel Verlag Berlin.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2014 EDITION digital® Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

Der erste Abschnitt

im Leben des Nickel ist seine Geburt, der erste Zahn, die Kindheit und die Jugend, besonders die Pubertät. Dinge, die es nicht lohnen, beschrieben zu werden, weil die Vorfahren mehr über ihn sagen können.

Dies ist der Anfang des Buches Nickel, das mit den Vorfahren beginnt, weil jeder abstammt und ein Stamm sich nicht leugnen lässt. Die Geschichte ist bekannt, Nickel nicht.

Aus all den Kriegen, die deutsche Fürsten machten, um Reiche zu haben, ist von Nickels Vorfahren nur überliefert, dass sie nie reich wurden, weil sie ziemlich eigensinnig waren. Sie blieben arm, wenn Kaiser und Päpste miteinander zankten und aus politischen Gründen barfuß liefen, und wurden auch in Stadtluft nicht frei, wie Jeremias, der Knecht, der im Suff einen Sohn Alomar zeugte, in die Stadt Bremen zog und dort als Dieb gehängt wurde.

Und wenn die Nickels mal zu was gekommen waren, wie Konrad zu einem Pferd, ging auch das vor die Hunde, weil es verhungern musste, nachdem Konrad von seinem Herrn und Ritter am Wegrand erschlagen worden war, weil er die Abgaben lieber seinen Kindern ins Maul stopfte. So liebten sich die Nickels und pflanzten sich fort durch die Generationen; eine Maria ging heimlich ins Heu mit Martin, dem Priester, und empfing dort ihren Sohn Baldemund, was hiermit bekannt wird. Der schlug sich tapfer durch den Bauernkrieg und starb am Rad.

In rascher Folge zeugten und starben die Nickels bis in den Dreißigjährigen Krieg hinein, wo ein Ewald in sackfinsterer Nacht auf der Flucht vor den Schweden unter ein Weib geriet und ihr beischlief bis zum Westfälischen Frieden, an der Ruhr starb und vier Söhne hinterließ, von denen keiner mehr sagen kann, wie sie unterm Joch schwitzten, um ihre Scholle zu brechen.

Durch den Spanischen Erbfolgekrieg geriet ein Juan in den Stamm, seine Mutter war eine katalonische Witwe. Juan war klar bei Verstand und schnell mit dem Messer, das er in jeden Wanst steckte, der Geld trug, und er starb jung an der Lues. Erst im sechsten Glied danach gelang es dem starken Bürger Clodwig, die heimtückische Krankheit aus der Familie zu schütteln. Das war, als sich das Kapital einen festen Platz erobert hatte und Bürger Clodwig bis auf seinen Sohn alles verlor.

Heinrich, der Kaufmann, zeugte nun Frieda, die schwanger wurde von einem Franz, der Sozialist war und seinen Sohn Fritz zur höheren Schule schickte, auf dass er Bischof werde. Doch der Student wurde Anarchist und baute Bomben, die lediglich Löcher in die Reihen der Freunde rissen, bis er Maria aus Leuchtewitz im Steinbruch traf. Sie legten sich zueinander, zeugten Nickels ältesten Bruder Johannes und übernahmen die Kirche von Sparka.

Fritz, der Pfarrer, zeugte noch einen zweiten Sohn Joachim, bevor er Nickel schuf, von dem im Weiteren die Rede ist.

Als Maria, die Mutter, schwanger war mit ihrem dritten Kind, betete sie inbrünstig, dass es eine Juana werde. Sie wollte so gerne ein Mädchen haben, damit sich viele ihrer Geburt erfreuten. Aber sie gebar einen Sohn und gab ihn uns in der Hoffnung, dass nach den vergangenen Tiefen einmal über die Hochzeit eines Nickel geschrieben werde.

In der Sparkaner Kirchenchronik wird nach längerer Wachstumsruhe noch die Geburt eines Mädchens aus dem Hause Nickel geführt: Marie-Louise. Nickels Schwester war sanft und verständig und machte den Eltern wenig Kummer, sodass jeder sie liebte. Sie erfuhr niemals, dass ihr ältester Bruder im Norden Afrikas bei Alexandria fiel, der andere in einem Dorf vor Murmansk erfror und Nickel in Lubischitz die Lust zum Kämpfen verlor und sich in die unkriegerischen Abschnitte seines Lebens aufmachte. Marie-Louise starb von einer Bombe, die nach ihrem Gebet um Frieden vom Himmel fiel.

Jedes Teil hat sein Gegenteil, und wenn an einem Ende der Erde am Abend einer das Feuer löscht, wird am anderen eben eines entfacht, und ein Nickel muss sehen, wie er damit zurechtkommt.

Sicherlich gäbe es noch einiges über die Vorfahren im Leben eines Nickel zu sagen, wenn nicht der zweite Abschnitt drängte, geschrieben zu werden.

Der zweite Abschnitt

im Leben des Nickel ist ein dunkles Kapitel, weswegen gleich auf die Umstände eingegangen wird, wie Nickel und seine Freunde an das Ende dieses Abschnitts geraten und was sie sich dort vornehmen.

Die Umstände sind bekannt, denn es wurde Nickel und seinen drei Freunden ein Rohr in die Hand gegeben und manchem mehrere, einige davon riesengroß mit Riesenkraft, und es wurde ihnen gesagt: Steht auf und macht einen Krieg, was nicht neu ist.

Da machten sie den Krieg, siebzehnjährig etwa und alle vier anders.

Matthias, Sohn eines Kolonialwarenhändlers aus Hamburg-Barmbeck:

Der Großvater hatte einen unscheinbaren Laden in der Wilhelmstraße gekauft, der einigen Gewinn brachte. So wurde der einzige Sohn Ladenbesitzer, und auch Matthias verkaufte Markenbutter und Eier, wie es beliebte, und ging nach der neunten Klasse nicht mehr in die Schule, weil er dort immer müde war. Statt nach Amerika, wohin es ihn zog, ging er in den Krieg und war auch dort immer müde. Nur das Englische trieb er heimlich weiter, und er trennte sich nirgends vom Wörterbuch, erst recht nicht auf den Latrinen der Welt, wohin der Krieg ihn setzte. Jetzt steigt er in löchrigen Stiefeln über die Wurzeln, und die Feldflasche beklatscht seine Backen. Die Maschinenpistole hat er einer Leiche von der Brust geschnitten, nun kann er das schwere Rohr nicht umhängen, weil der Riemen fehlt.

Matthias ist von schwächlicher Natur und hasste im Krieg die Anstrengung mit dem Gepäck. Am liebsten hätte er den Krieg nackt gemacht, aber das ging nicht wegen der Kälte in Lubischitz und weil die dunklen Haare im Schnee ein zusätzliches Ziel boten, was er einsah, nachdem einem Kameraden beim Kacken die Hoden abgeschossen worden waren.

Dies und die Plackerei veranlassten Matthias, beim Gemetzel um Lubischitz sich tot zu stellen und, als er fror, durch einen Sumpf dem Kessel zu entkriechen. Das alles weiß Nickel.

Paul, der Sohn eines bayrischen Bauern:

Schon der Großvater von Paul war fleißig wie seine braunen Kühe, und so vermehrten sich Mensch und Tier auf dem Hof reichlich, nur der Söhne hätten es mehr sein können. Paul wurde recht groß und stark, aber ihm wurde beim Schlachten stets übel, denn er mochte das Blut nicht. Der Bauer sah in seinem Sohn den lang erwarteten Vermehrer der Familie, und deshalb hatte er den Krieg nicht gern, ein Krieg ist nichts für einen Bauern. Da konnte Paul nicht anders, als der Schnee taute und es Frühling wurde: Er nahm den Karabiner und pflügte dem blassen Totenkopfführer das Gehirn, es spritzte wie das Blut des Bauernmädchens aus Lubischitz, dem der rassisch reine Feldgraue zwischen die Beine geschossen, nachdem es liegend die Partisanenhymne zu Ende gesungen hatte. Und weil Nacht war und im Kessel erneut Feuer entfacht wurde, rannte Paul durch das Feuer bis zum Thüringer Wald, wo er jetzt geht, den Karabiner in der Hand, unter den Wipfeln der Fichten, den Blick auf die schaukelnde Feldflasche vor sich gerichtet. Und keinem sagt er ein Wort.

Jacob, Sohn des Müllkutschers Emil:

Emil war etwas klein geblieben, weil sein Vater schneller zudrosch, als er Worte fand; Worte lernt man auf Schulen, doch die hatte Emil kaum besucht, weil das zu viel Zeit vom Tag wegnahm und nichts brachte. Der Müllkutscher hingegen rannte von Flick bis Schuster, damit sein Sohn Jacob auf Staatskosten lernen durfte, selbst auf Kosten des rechten Armes, den der Vater hochreißen musste und den ihm in den letzten Kriegstagen noch eine sibirische Granate abriss auf ihrem Weg ins Führerhauptquartier. Was der alte Müllmann auch gegen den Krieg anstellte - Jacob musste marschieren nach Frankreich, nach Norwegen und bis nach Lubischitz. Dass es im Kessel von Lubischitz keine Frauen gab, brachte Jacob dazu, den Krieg eine Sauerei zu nennen, in den Funkapparat zu pissen und in Richtung Westen zu fliehen, was er gern und oft den drei Kameraden erzählt, denn sie sind schon viele Tage zusammen unterwegs.

Jetzt schleppt er müde das lästige Rohr auf dem Rücken und verflucht die Fliegen, die aus dem Blaubeerkraut stieben. Er stolpert immer dem Paul nach, der ihm die Sicht nach vorn nimmt.

Nickel, der Sohn des Pfarrers aus Sparka, träumt vor sich hin, weil er eben die Führung an Johannes abgegeben hat und nicht auf den Weg achten muss, nur auf mordlustige SS-Männer, die überall lauern können, weswegen sich die anderen von den Rohren nicht trennen und Nickel nicht von der Pistole. Er war bei der Ausbildung sehr eifrig mit dem Panzerrohr und immer einer der ersten, der losknallte, aber er traf nie. Doch ihn traf es, als er vom Vater erfuhr, den einen Bruder hätte es in der Wüste, den zweiten am Weißen Meer erwischt. Wegen seiner Unfähigkeit, ein Ziel zu treffen, degradierte man ihn zum Panzerfahrer, und er transportierte im Felde befehlsmäßig alles, was ihm unter den Hintern kam. Als er zuletzt ein Fahrrad benutzen musste, kannte er sich überhaupt nicht mehr aus.

Es blieb der Vater in Thüringen. Der hatte die Kriege der Griechen studiert und später die Kriege der Römer und der Deutschen, und seinen Söhnen hatte er eingeschärft: Es sind immer die, die nichts besitzen, die aufeinander schießen müssen, und am Ende haben sie noch weniger als zuvor oder gar den Tod.

Der Vater in Thüringen wusste Bescheid in allen heiklen Fragen. Und weil die Apostel nicht den langen Weg gescheut, um von Jesus Rat zu holen über die neue Lehre vom menschlichen Zusammenleben, scheute auch Nickel nicht den Weg von Lubischitz nach Thüringen.

Er hatte den Paul in einer Scheune getroffen, wo sie erst aufeinander einschlugen und dann zusammen gingen, weil sie in die gleiche Richtung wollten. Paul und Nickel fanden den schlafenden Matthias im Unterholz, und er kam mit ihnen zu einer verlassenen Kate. Dort traten sie zu Türen und Fenstern in einem Augenblick herein, da von Jacob nur zwei Arme zu sehen waren, die hatte er um ein fülliges Weib geschlungen, das ihn bedeckte.

Nach Jacob trieben es Paul und Nickel mit ihr, und selbst der schwächliche Matthias ermannte sich. Alle waren sehr zufrieden, nur das pralle Mädchen nicht. Es hätte gern einen Burschen bei sich behalten, der die Löcher im Haus vermauerte, aber sie ließen nur Brot und Büchsen da und zogen weiter.

Das war schon auf deutschem Boden, und Jacob wollte das Mädchen anbinden, damit es in seiner Trauer nicht zur SS rannte, doch da ohrfeigten sie den Jacob, sodass er fortan schwieg.

Jetzt laufen sie schon tagelang im Wald umher, und der Hunger plagt sie, was Matthias zu der Bemerkung veranlasst, sie hätten dem Mädchen weniger geben sollen. Sonst ist es friedlich im Wald, sodass Nickel meint, Krieg sei gegen die Natur, weil er zerstöre, und Gott, der alles geschaffen, müsste notwendig gegen jede Zerstörung sein. Da lachen die anderen nur, denn was ist Gott gegen das eigene Auge? Ein Furz im Sturm.

Matthias ist es, der plötzlich in der Erde versinkt. Paul späht fassungslos in die Zweige, die statt der Feldflasche vor ihm schaukeln.

„Eine Erdhütte“, schimpft Matthias von unten, und es klingt, als säße er im Sarg.

Auf diese Art kommen die Jungen unter ein Dach, und sie sind darüber froh, weil es schon seit Stunden vom Himmel nässt. Sie verstärken das Dach durch dicke Äste, um unwillkommene Gäste nicht aufnehmen zu müssen, die auf die gleiche Weise wie Matthias einfallen könnten. Sie sitzen um einen aus Feldsteinen gemauerten Kamin, in dem an Ketten ein schwarzer Eisentopf pendelt, und an den hölzernen Wänden hängen zwei Tiegel, eine Schöpfkelle und ein Stullenbrett; in den Regalen stehen Blechbüchsen mit Aufschriften wie Hannewacker, Henzes Hustenbonbons und la Nägel, was Paul schmerzhaft an sein Zuhause erinnert.

Sie tuen sich gütlich, indem jeder mal einen spuckenassen Finger in die Büchsen tunkt und Mehl, Zucker oder Grieß lutscht, und als der findige Matthias unter dem Bett, auf dem vier Männer bequem schlafen können, neben einem umgekippten Zinkeimer ein halbes Dutzend Kartoffeln entdeckt, ist allen wie Weihnachtsbescherung zumute.

Die Fichten werden dunkler, die Winde kühler, und bald rollen sich die müden Krieger auf dem Bett zusammen, während einer immer vor der Hütte wacht. Nickel ist der letzte. Er sieht nach dem Regen die Sonne in die Zweige steigen und bedankt sich heimlich bei Gott, den es vielleicht doch noch gibt, für die ruhige Nacht. Er reckt sich, dass es knackt, sucht einen dicken Baum in der Sonne und träumt ins Blaue, sieht die Kirche von Sparka, den eckigen Turm und das kleine Haus dahinter und die Buchen davor, der Vater sitzt im kragenlosen Hemd auf der selbst gezimmerten Holzbank und pafft. Er blickt zufrieden auf die Äpfel und Kürbisse und freut sich, dass alles gedeiht.

Es ist etwas um Nickel, das ihn beunruhigt wie das Streicheln der Mutter, der Geruch frischen Holzes und das Zittern warmer Mädchenhaut unter seinen Fingerspitzen. Als er plötzlich unter Schafen sitzt, die ihn vertrauensvoll betrachten und zwischen Maschinenpistole und Stiefeln das Gras aus dem Waldboden rupfen, schreckt er auf, und das Knurren eines kalbsgroßen zottigen Hundes veranlasst ihn, lieber in die Wolle eines Schafes zu greifen statt zur Waffe.

Der Hausvater, Besitzer der Erdhütte, ist heimgekommen, ein Waldmensch, riesig, mit grauem Zottelbart, die Jagdflinte auf Nickel gerichtet, im Rucksack frisches Bauernbrot, Käse, Wurst und Zucker, Speck und Mehl und allerlei Gewürz. Das hat er für ein Schaf bekommen, das jetzt nicht mehr um Nickels Beine streicht.

Der Waldschäfer pafft Rauchschwaden ins Grün, die er schmatzend aus einer gebogenen Tabakspfeife saugt. Er hängt sich umständlich Nickels Waffe um, steigt steif zur Hütte hinunter und stößt die Tür mit einem Tritt auf.

„’raus mit euch, Saubande! Hol euch der Teufel!“

Einer nach dem andern purzeln sie vom Bett, finden ihre Sachen nicht, und so - der eine ohne Hosen, der andere ohne Stiefel - treten sie zu den Schafen. Der Alte schmeißt die Waffen auf einen Haufen und nuschelt: „Der Krieg ist aus, verschwindet zu Muttern.“

Da keiner der Jungen sich rührt, alle nur erschrocken den knurrenden Hund, die friedlich weidenden Schafe und die geladene Jagdflinte anstarren, fügt er ungehalten hinzu: „Ihr sollt verduften, verdammt! Zieht euch an und ab!“

Er macht mit der Flinte eine Bewegung zur Sonne.

Während der Schäfer die Waffen am nächsten Baum zertrümmert und sie im weiten Bogen in die Büsche feuert, stürzen sich die Jungen in ihre Klamotten, hastig und stumm vor Freude, dass sie den Krieg ohne Wunden überstanden haben.

Auf einer Lichtung, weit weg von der Hütte, stempelt Jacob den Hund des Alten zur Sau und den Alten zum Hund, weil er ihnen nichts vom Fressen abgegeben hat. Wenn der Krieg auch zu Ende ist, verhungern will er, der Jacob, nicht, und dabei blitzt er die anderen aus dunklen Augenhöhlen an, als wollte er sie verschlingen wie geschlagene Eier.

Als sie später auf einem Berg stehen und die Welt überblicken können, sagt Paul: „Ich muss nach Bayern.“ Und er zeigt in die Richtung, wo die Sonne steht. „Bald ist Ernte, ich werd’ wohl gebraucht.“ Er dreht sich im Kreise und schlägt mit einem knotigen Stock gegen die Stämme.

„Und ich, ich gehe nach Amerika“, ruft Matthias aufgeregt. „Ich kann dieses Scheißdeutschland sowieso nicht mehr ertragen. Ich habe einen Onkel in Kentucky.“

„Hab’ ein Mädchen in Berlin“, singt Jacob nach einer erfundenen Melodie. „Wenn alles noch steht, ist das meine Richtung.“

Alle blicken nun auf Nickel, der vergnügt durch die Bartstoppeln strahlt. Und jetzt sagt er es: „Ich bin zu Hause. Kennt ihr Leuchtewitz? Klassefrauen. Und in Sparka, das ist daneben, da wartet mein Vater. Er weiß, wie es weitergeht.“

Sie stehen steif im Wind, und jeder denkt, was sie doch für Kumpel Kerle Kameraden geworden sind auf dem Weg bis hierher, und sie beneiden Nickel um den Vater, der weiter weiß. Eines wissen auch sie: Sie werden in den nächsten Jahren essen bis zur Ohnmacht, die besten Sachen, die die Küche aus aller Herren Ländern bietet. Schinkenschmarren, Weihnachtsstollen, Zwiebelkuchen, Leberkäse, Himmel und Erde, Eisbein mit Erbspüree, Thüringer Klöße, Quarkkeulchen, Griebenroller, Aalsuppe, Kartoffelpuffer, Schweineschnitzel, Vanillepudding, Topfbraten, Labskaus und Bier.

Essen und vergessen, Frieden halten und niemals mehr kämpfen.

Dann hat es jeder eilig. Ein paar Fichten lang denkt Nickel noch an die anderen, dann ist er allein mit den Geräuschen und überlegt, wo er Sachen fassen kann, die aus einem Soldaten einen friedlichen Mann machen.

Unten auf der Straße brummt eine Wagenkolonne. Beinahe wäre er den Boys vor die Reifen gesprungen. Die hätten schön geflucht, womöglich herumgeschossen oder sonst was. So zieht er es vor, durchs Gehölz zu kriechen, immer bergauf gen Leuchtewitz, das ihm nach Sparka im Wege liegt.

Nach einer wurzligen Strecke wummert Nickels Herz bis zu den Ohren, denn inmitten eingezäunten Schrotts erhebt sich auf einmal etwas Weißes vor ihm, fest und unbeweglich.

Ein Haus.

Frischgetüncht lehnt es am Fels und flimmert in der Mittagsglut. Ein langes Wesen ohne sichtbare Geschlechtsmerkmale trottet gähnend in den Schuppen. Glorie, Glorie, Halleluja. Ein matter Männerchor. Das Wesen schlurft jungenhaft lässig zum Haus zurück und stößt die Tür mit dem Fuß hinter sich zu.

Gerade will Nickel mit einem Satz in den Schuppen, als ein riesenhafter Mensch erscheint und einen zerbeulten Kotflügel, den er wohl aus dem Wald herangeschleppt hat, in Nickels Richtung schleudert. Der graue Anzug schlottert ihm am Leibe, und durch die stoppligen Haare schimmert weiße Kopfhaut.

Nickel erkennt mit kriegskundigem Blick, dass die Schrottsammlung da vor seiner Nase willkürlich zusammengetragen ist. Die zerschossenen und verbogenen Stücke hatten einst ihre Funktion als Fahrzeugteile. Und keinen Zweifel gibt es für ihn, dass der riesige geschorene Mensch der Stellmacher Ernst aus Leuchtewitz ist, der zu den deportierten Juden gehörte. Sollte das langbeinige Geschöpf die Tochter vom Ernst, Nickels Freundin Irma sein, der er noch zwei Kaninchen schuldet?

Es waren an die zwanzig Leute mit ihren Kindern, die damals an der Kirche von Sparka vorbeikamen und unter der Last ihres Gepäcks stöhnten. Ernst ragte aus dem schlurfenden Häuflein heraus. Er hielt den Kopf gesenkt, stützte seine Frau und blickte unter buschigen Brauen fragend und vorwurfsvoll auf den Pfarrer und seine Frau, auf Nickel und die kleine Schwester Marie-Louise, die sich am Zaun aufgebaut hatten.

„Wenn die uns das mal heimzahlen“, hatte die Mutter geflüstert, und der Vater war in die Kirche gerannt und hatte auf Jesus geschimpft.

Ein unterdrückter Schrei schreckt Nickel aus den Erinnerungen. Den Zeigefinger gereckt, als wollte er eine Predigt halten, stolpert Ernst zum Haus. Aus der Kuppe tropft Blut.

Der Weg zum Schuppen ist frei, Nickel schlüpft hinein.

Kaum hat er die Hose und die Uniformjacke an einen rostigen Nagel gehängt, steht das lange Geschöpf, im Rücken die Sonne, vor ihm, fuchtelt mit einem Spaten, den es wohl vergessen hatte, und kreischt, als wollte es den Spatenstiel, den Nickel und den ganzen Wald zersägen. Das soll Irma sein, denkt Nickel verwirrt. Schon trampeln sie heran, vom weißen Hause her, vier Bauernburschen aus Amerika, die Ärmel hochgekrempelt, Waffen in der Hand und die Gesichter rot vom Bier. Es sieht finster aus um Nickel, als der letzte Mann die Türe füllt.

Sie reden amerikanisch, nehmen ihm die blaue Arbeitsjacke ab, die er schützend zwischen sich und seine Angreifer streckt, und helfen ihm in die Uniform zurück. Aus ist es mit der Freiheit!

„Verdammte Amis“, sagt Nickel wütend und schließt die Hose. Der den Türrahmen ausfüllte, haut ihm kräftig in die Zähne und erklärt unmissverständlich, dass dieser Hieb für seinen Bruder sei, den die Nazis mit einem Panzer breitgefahren haben. Er hilft Nickel wieder auf die Füße und hält ihm eine Bierflasche hin, auf dass er sich das Blut aus dem Mund spüle und die zwei Vorderzähne. Dann schubsen sie Nickel über den Hof, stülpen ihm einen verbeulten Nachttopf auf und lassen ihn, einen zinkenlosen Rechen geschultert, an Ernst, der Frau und der Tochter im Stechschritt vorbeimarschieren. Das Mädchen biegt sich vor Lachen und stützt sich auf den Spatenstiel, um nicht hinzufallen. Die Frau hält die Lider gesenkt, Ernsts Gesicht bleibt stumpf und mitleidslos. Er dreht dem Schauspiel den Rücken und lässt den Hammer auf den Kotflügel sausen.

Nickel wird amerikanischer Gefangener.

Das Lager ist gar kein Lager, sondern ein Gutshof, und die Gutsherren sind nicht auf dem Feld, sondern brennen Schnaps. Es geht lustig zu. denn die Bauern haben den Schnaps und die Soldaten die Dollars, nur die Gefangenen haben nichts als die deutschen Uniformen, verlorene Ideale, ihre Gefangenschaft und den Jazz, der den ganzen Tag aus dem Zimmer des Majors dröhnt. Der amerikanische Offizier ist ein praktischer Mann, der eine Farm in Kentucky besitzt. Die Gefangenen müssen die Felder beackern und sich anhören, wie er die deutsche Landwirtschaft in den Dreck zieht: Wenn man an einem Feldende lang hinschlägt, hole man sich am nachbarlichen Acker ein blutiges Kinn. Die überheblichen Reden erzürnen weniger Nickel als vielmehr die Bauernsöhne unter den Gefangenen, denen die Scholle etwas bedeutet.

Der Major hat einen Schimpansen, der heißt Jimmy und turnt von Fenster zu Fenster, um den Leuten die Schuhe zu vertauschen. Das bringt den Major in Wut und sorgt für Stimmung unter Amerikanern und Deutschen.

Mit besonderer Vorliebe schleppt der Affe die Schuhe vom Bauern, dem der Schnapsbrennerhof gehört, in die Schweineställe, wo er sie verfüttert. Der Schnapsbrenner gehört zu den Urbauern von Leuchtewitz und wandelt, inzuchtbedingt, auf drahtdürren Beinen. Die riesigen Fäuste hängen an seinen Armen, als wären sie bei der Schöpfung fälschlich für einen Recken geformt worden. Sein Spitzname: der Spacke. Wegen des Schnapses war er für den Krieg nicht verwendungsfähig, er litt an der Leber und an anderen inneren Organen. Seit Zeiten nennt man ihn, seinen Stiefbruder und ihren gemeinsamen Schwager die Bulldoggen von Leuchtewitz, wohl weil sie als erste im Dorf Traktoren besaßen. Dem Stiefbruder des Spacken, den die Bauern wegen seiner großen Kartoffeln und der porigen roten Nase Knolle rufen, gehören die Äcker, in denen die Gefangenen wühlen. Er konnte sich durch Bestechung vor dem Krieg drücken und steckt eben seinen verbundenen Schädel zum Fenster hinaus, um nach einem Gefangenen zu fragen, der einen Traktor fahren kann. Es melden sich zwei, aber Nickel hat wenig Lust, für einen Kriegsdrückeberger den Traktor zu steuern, obwohl er weiß, dass die Knolle gerade ihm einen Gefallen erweisen möchte, denn die Kinder des Pfarrers von Sparka sind auch in Leuchtewitz bekannt.

In der Mittagspause fläzt sich die Knolle zu Nickel auf den Feldrain, hält sich den durchsuppenden Verband und stöhnt über den ekelhaften Krieg, der ihm nichts als Ärger mit ausländischen Knechten und Mägden gebracht hat. Als die Polen einen Tag lang plündern durften und er sein Haus verteidigen wollte, hob einer den Spaten, und er hörte die Engel singen.

Nickel ist gierig auf Kohlsuppe, und die Knolle nutzt den Vorteil und lamentiert über den Schwager, der seit seiner Verschüttung stottern soll und schon ein Jahr lang nicht geschrieben habe, obwohl doch bald Erntezeit ist. Nur gut, dass der Major vom Lande stammt.

„Wie geht es meinem Vater?“, fragt Nickel zwischen zwei Löffeln Suppe.

Der Bauer hebt eilig den Hintern vom Rain, klopft Nickel die Schulter und stakst über die Furchen davon. „Lange nicht gesehen!“, ruft er zurück.

„Und die Mutter und die Schwester?“

Der Bauer zieht den Hals zwischen die Schultern und hebt bedauernd die Arme. Wegen der seltsamen Verwandlung der Tochter des Juden Ernst wagt Nickel gar nicht erst zu fragen.

Nach drei Tagen Eintönigkeit fährt am Abend ein Neger einen Jeep in den Hof, darin sitzt Matthias bei einem Offizier und schwatzt mit ihm Englisch. Der Major und sein Affe kommen eilig heraus, und Matthias marschiert hinter den Amis ins Haus. Nur der Neger bleibt auf der warmen Treppe sitzen und teilt seine Banane mit Jimmy. Gummi kauend betrachtet er die Deutschen, als wollte er sich ein Bild von ihnen machen und es nach Amerika ausführen.

Nach einer Weile erscheint Matthias wieder auf dem Hof, bewundert Nickels Zahnlücke und sagt: „Die Amis verhandeln mit den Russen um Land. Verlass dich drauf, ich bin bald in Amerika. Haste Hunger?“

Nickel glaubt dem Matthias, dass er bald in Amerika sein wird, und Hunger hat er auch.

Als die Gefangenen an einem lauen Tag vom Felde kommen, hören sie Detonationen und Schüsse. Grimmige Soldaten preschen an ihnen vorbei in den Wald. Die Schüsse klingen leiser und heftiger, endlich ist Stille, und die Fahrzeuge kehren zurück. Die Gefangenen werden zur Gutshofmauer geprügelt. Nickels Schulter schwillt rot an, und Suppe gibt es auch nicht. Ein gefangener SS-Mann wird vorbeigeführt.

Die Amis setzen zwei Bahren auf das Hofpflaster, von der einen hängt ein schwarzer Arm, das muss der Neger sein - Nickel sieht ihn noch fluchend dem Affen über den Hof folgen -, von der anderen baumelt ein haariger Schwanz. Der Major tritt krumm neben die Bahre, auf der der tote Jimmy liegt, und kaut. Dann macht er kehrt, ohrenbetäubender Blues peitscht aus den Fenstern, und die amerikanischen Männer richten ihre Waffen auf die Gefangenen.

Es ist mies wie in Filmen, die Nickel kennt; nur dass er mitspielen muss, verdrießt ihn. Die Töne verkleckern, ohne dass etwas geschieht, die Nadel kratzt noch eine Weile unverdrossen die Grammofonplatte. Das Telefon schrillt, der Major springt in den Jeep, Matthias hüpft hinterdrein und schmeißt Nickel im Vorbeifahren einen klappernden Sack in den Rücken. Gefährlich schleudernd rasen die Lastwagen mit den Soldaten hinterdrein. Der Augenblick der Ruhe, in den hinein die Schweine grunzen, wird von den zornigen Rufen der gefangenen Männer um Nickel zerstört. Sie wollen über die Brücke am Westrand von Leuchtewitz das Dorf verlassen, bevor die Russen die Häuser besetzen. Nickel packt den Klappersack und staunt über seine kreischenden Kameraden, die sich verraten fühlen und sich um fahrende Untersätze prügeln: eine seltsame Nachhut, die da den Amerikanern folgt. Das waffenstarrende amerikanische Heer ist ausgerückt, und Nickels Wundern ist mächtig, als er eine riesige Schlange aus Fuhrwerken, in heißen Staub gehüllt, heranschwanken sieht, jeder Wagen mit einer Handvoll Russen besetzt.

Der Spacke schlendert zu Nickel auf die Straße.

„Diese verlauste Armee auf Panjewagen soll unsere Wehrmacht geschlagen haben? Genauso hab’ ich mir die vorgestellt“, sagt der Schnapsbrenner und kichert. „Mach, dass du nach Sparka kommst und deine Schwester versteckst.“

Nickel spuckt aus und geht in den Wald, ohne dem Bauern einen Blick zu schenken. Als ob er nicht wüsste, was er zu tun hat!

Leuchtewitz einmal im Rücken, verliert Nickel es bis zum fünften Abschnitt seines Lebens aus den Augen, ehe er es neu betritt - dies nicht aus eignem Antrieb, sondern aus fremdem, wie sich herausstellen wird.

Sehen wir inzwischen, wie Nickel ins heimatliche Sparka kommt.

Der dritte Abschnitt

Im Leben des Nickel beweist, dass Löcher in der Erde zwar die gleiche Ursache haben können, die Wirkung aber unterschiedlich auf den Betroffenen ist.

Und er bricht auf zur Dämmerung mit allem, was er hat, und als er auf der Bergkuppe steht, wo sich zur einen Seite ein Hang nach Leuchtewitz, zur anderen einer nach Sparka neigt, wirft er den Sack in die Luft und läuft ihm nach, denn warm weht der Wind, und im Vaterhaus steht weiß gedeckt der Tisch mit dem Brot, zu dem er die Fleischbüchsen des Matthias legen wird.

Lang stürzt Nickel über einen Stein, und der Sack schlägt ihm geradewegs aufs Kreuz.

Es heißt nicht zu Unrecht, der Weg nach Leuchtewitz sei steinig. Wenn auch aus anderen Gründen. Seit Generationen kommen hier Männer zu Fall, die aufgebrochen waren, aus Leuchtewitz ein hübsches Mädchen heimzuführen. Man erzählt, zur Renaissancezeit hätte ein bildschöner Maler aus Italien seinen Pinsel wacker geschwungen, und die Nachkommen wären so ausgezeichnet in der Fichtenluft gediehen, dass noch heute der weibliche Nachwuchs Ursache mörderischer Prügeleien ist. Männer aus Sparka, die leidenschaftlich genug waren, trotz der Gegenwehr der Dörfler ein Leuchtewitzer Mädchen zu erobern, rühmten selbst im stärksten Granatenhagel ihre Frauen, die außen wie Stein seien, aber, einmal erhitzt, lange warm bleiben.

In derlei Gedanken versunken und die schmerzenden Ellenbogen reibend, lehnt Nickel an einem Fichtenstamm. Warm weht der Wind von Sparka herauf, und Geruch ist dabei nach starkem Machorka und scharfem Schweiß. Der helle Schein einer Lampe schließlich verdunkelt Nickels Aussicht, schnell nach Haus zu kommen. Wieder eine andere Sprache. Wieder andere Soldatenhände, die an ihm herumfingern nach verborgenen Waffen. Die Corned-Beef-Büchsen wechseln den Besitzer, von Nickels hungrigen Blicken verfolgt. Während zwei der Russen zurück in die Büsche treten, stößt ihn ein dritter vor sich her wieder nach Leuchtewitz hinunter.

Es führen viele Wege weg vom Ziel.

Nickel überlegt, wie er den Soldaten, den sie Fjodor nannten, in den Straßengraben schubsen kann. Der Mann ist ziemlich breit, bewaffnet, und er muss Mut haben, wenn er einen Gefangenen in finsterer Nacht allein bewacht, auf einer Straße, die Nickel wie seine Mutter kennt. Den warmen Wind aus Sparka hat er jetzt im Rücken, und zwischen Rücken und Sparka geht Fjodor. Vor der Brücke nach Leuchtewitz drängt ein Lastwagen sie zur Seite und beleuchtet einen Bombentrichter. Als der Wagen vorbei ist, steht Nickel allein auf dem Pflaster. Neben ihm liegen zwei Corned-Beef-Büchsen, die dritte rollt in den Graben. Aus dem Loch dringen dumpfe Flüche, Fjodors Helm kommt heraus und dann seine Hand mit der MPi.

Nickel sammelt die Büchsen ein, springt zwischen die Bäume und lässt Fjodors Flüche hinter sich. Zwar ist er stolz auf seine langen Beine, aber traurig, dass ein Drittel vom Fleisch dahin ist. Doch er tröstet sich, schließlich hätte er schlimm reinfallen können. Und wer, wie der Russe, in ein Loch fällt und einen Gefangenen verliert, soll sehen, wie er da herausfindet!

Den Weg durch den alten Steinbruch kennt Nickel auch im Dunkeln. Die Steine fallen zehn Meter tief, wenn sie dort, wo der Trampelpfad aufsteigt, abgesprengt werden. Plötzlich tritt Nickel ins Leere, und aus Angst, die Büchsen wieder zu verspielen, hält er sie und nicht sich fest und rammelt abwärts. Unten kriecht er, blutend und heulend vor Wut, auf den Knien, findet einen Strick und Patronenhülsen, aber nur eine Büchse. Er humpelt um die Felsen herum, und ein breites, trauriges Grinsen verschönt sein Gesicht: Die Kirche von Sparka reckt sich in der Morgendämmerung wie ein Schutzpatron.

Eckig steht der Turm über der kleinen Stadt. Nur die Glocke fehlt. Durch Gärten und über Zäune, durch Gräben, an bellenden Hunden vorbei und an toten Panzern, stürzt Nickel, außer sich vor Freude, hin zum Vaterhaus.

Die Kirche hat kein Dach mehr, und der Turm ist kein Turm, denn von vier Wänden ist nur eine noch da - die nach Leuchtewitz weist. Wo das Pfarrhaus stand, ist ein Krater. In seinem Grunde liegt ein verbogenes Bettgestell.

Und Nickel, der alles überlebte, zerreißt nicht sein Gewand und schert sich nicht das Haupt, er öffnet nicht mal den Mund, um den Tag seiner Geburt und die Knie, die ihn entgegennahmen, zu verfluchen, und die Brüste, an denen er sog.

Er sinkt zur Erde und vergräbt den Rest seines Glaubens an einen gütigen Gott.

Hatte er als Pimpf nicht schon durchschaut, dass der Allmächtige nicht funktionierte? Zwei Möglichkeiten gab es, warum der Vater im Himmel nie tat, was gerade anstand: Die erste - es musste jemand existieren, der sich im gleichen Augenblick genau das Gegenteil wünschte, sodass die Kräfte sich aufhoben. Die zweite - der Herr der Heerscharen war nicht mehr Herr der Lage, Mit Adam und Eva hatte er zwei Menschen geschaffen, deren Wege überschaubar waren, mochten beide auch in diesem oder jenem Detail nicht nach seinen Vorstellungen gelungen sein. Aber sie vermehrten sich und verteilten sich über die Erde. Es war nicht auszuschließen, dass Gott, trotz Einsatzes der himmlischen Heerscharenhierarchie, nicht länger übersehen konnte, was gleichzeitig an vielen Orten vorging. Nickel war überzeugt, dass Allvater dem Leben auf der Erde fremd gegenüberstand, dass er die Menschen nicht mehr begriff. Er sah sie zwar die Lippen bewegen und hörte Laute, aber er war weit davon entfernt, sie zu verstehen.

Das musste der Grund gewesen sein, weshalb Gott vor Jahren zuließ, dass der Vater Nickels Kaninchen an die Hofmauer schlug, bis es tot war. Wie hatte Nickel gefleht, das Kaninchen möge zum Löwen werden, dem Vater der Arm faulen, die Mauer einstürzen oder ein wunderbares Kissen den Aufprall an den Steinen mildern!

Dem Kaninchen brachen die Augen, und nichts erweckte es mehr.

Du machst mir da nicht mit, hatte der Vater geschrien.

Was hatte Nickel schon getan? Doch das, was man verlangte. Den tapferen Soldaten, die im fernen Russland froren, sollten Weihnachtskaninchen geschickt werden. So sprach der Führer der Pimpfe von Sparka, Nickels Freund Fabricius und Sohn des Fabrikherrn, zu ihnen im Steinbruch. Nickel war nach Leuchtewitz gelaufen zur schmalgesichtigen, großäugigen Tochter des Juden Ernst, die Kaninchen zog und mit der er, zum Gespött seiner Kameraden, oft durch die Wiesen lief, um Futter zu rupfen. Wenn der Stellmacher seine Tochter Irma suchte, brauchte er nur nach einem prallgestopften Sack Ausschau zu halten, unter dessen Last sich die Kinder beugten.

Irma war gerührt, als Nickel gerade ihre Kaninchen mit dem weißen Fleck am Auge für die eigne Zucht als würdig befand. Sie gab ihm eine Häsin und sagte, dass er sie in ein paar Monaten, wenn sie zuchtreif sei, ihrem Rammler bringen dürfe. Er sollte ihr später zwei Jungtiere geben für die Häsin. So verblieben sie.

Es kam nicht dazu. In einem Zug trat Irma eine lange Reise an, auf der sie, für Nickel jetzt unerklärlich, seltsam verwandelt wurde.

Es schmerzte Nickel, dass sein Vater von ihm glaubte, er hätte das Tier widerrechtlich genommen. Denn schneller, als eine Nacht verging, war von den Kaninchen, den übrigen Tieren, dem Hausrat und dem Werkzeug des Stellmachers Ernst nichts mehr an seinem Platz, es war plötzlich an vielen nachbarlichen Häusern zugleich. Der Pfarrer fand das Kaninchen und wollte nicht zu denen unter die Decke gesteckt werden, die sich anderer Leute Gut aneigneten. Nickel schob, von den Pimpfen zur Rede gestellt, den Tod der Häsin einem Fuchs in die Schuhe, und Fabricius nutzte die Lüge, um vor den gefährlichen Umtrieben des roten Fuchses zu warnen. Bei Fabricius wusste Nickel nie, wie er es meinte. Seit damals ahnt es Nickel, heute weiß er es: Gott funktioniert nicht.

Nickel schläft ein.

Als er erwacht, sitzt ein Mann in Unterhosen neben ihm und sticht ein langes Küchenmesser in Nickels Dosenfleisch. Wutentbrannt fällt Nickel über den Dieb her, der in seinem Schreck Messer und Büchse fallen lässt. Beide kugeln durch die Kirchenruine, Nickel schwingt die Fäuste und keucht: „Du Schwein, in einem Gotteshaus, und du klaust!“

Erschrocken nimmt der Mann die Hände von Nickels Hemd. Sie hocken einander gegenüber, und ihre Augen huschen hin und her. Nickels Uniformjacke ist mittendurch gefetzt, der andere hat seine Unterhose verloren. Zwischen ihnen liegt das Messer und die geöffnete Büchse.

Jetzt erst sieht Nickel, wie dürr der Kerl ist, der sich zitternd das Blut von der Hand leckt.

„Ich heiße Nickel“, sagt er mitfühlend und denkt an seine verlorenen Zähne.

„Hoofen“, sagt der Mann mit einer Bassstimme, die man dem dürren Körper gar nicht zutraut.

Blitzschnell bückt sich Nickel nach dem Messer und halbiert das Fleisch in der Büchse. Hoofen hält eine Schüssel hin, die er aus einer Kiste gezogen hat. In der liegen noch Tassen, ‚Teller, ein Topf und ein Hammer obenauf. Sie essen.

Wie ein Hund schlingt Hoofen sein Fleisch. Er grinst beim Kauen und zeigt zwei schöne Zahnreihen. Die Hände sind schmal und lang, und er weist damit auf den Krater. „Ich kam nach Hause, da sah es auch so aus. In den Trümmern meine Eltern, meine Schwester und die Großmutter. Es brannte noch. Ich kroch zwischen den Balken herum und fand einen Koffer mit einem Frack. Nimm ihn für die zerrissene Jacke und das Fleisch.“

Nickel zieht die Frackjacke an.

„Mir ist sie sowieso zu weit“, sagt Hoofen.

„Die Hose auch, ich kann keine Uniform mehr sehen“, sagt Nickel. Er zerrt einen Brotkanten aus der Tasche. „Gleich gehe ich und hol die andere Büchse. Brot und Fleisch und meine Uniform für die Hose.“ Um keinen Zweifel an seinen lauteren Absichten zu lassen, steigt er aus der Hose.

„Wo ist das Fleisch?“, fragt Hoofen misstrauisch.

„Im Steinbruch“, sagt Nickel. „Ich bin der Sohn des Pfarrers. Du kannst mir glauben.“

Da stehen sie beide am Altar und starren mal einer den anderen, mal den Brotkanten an. Nickel findet in der Hosentasche zwei Kaugummis. Die legt er dazu. Hoofen rührt sich nicht.

„Ich gehe auch ohne Hosen", sagt Nickel und schlendert durch die Kirche. „Meinen Vater hast du wohl nicht gesehen? Er ist Pfarrer hier in Sparka.“

„Hier war alles kaputt. Ich wohne in der Kirche, weil nirgends Platz ist“, sagt Hoofen und schielt auf das Brot. „Habe keinen Pfarrer gesehen.“

Durchs Portal scheint Nickel die Sonne ins Gesicht. Hoofen erzählt, dass sie in der Stadt die Ruinen einreißen und Steine sammeln. Der Kommunist Florian sei der Anführer. Hoofen geht hin und arbeitet mit, weil s dafür Kohlsuppe gibt. Und wieder beäugt er das Brot.

Nickel schiebt es ihm zu, und Hoofen würgt es ohne Dankeschön hinunter, dann kauen sie Gummi.

„Wozu das alles? Meinst du, einer kommt und baut die Kirche wieder auf?“, fragt Nickel. „Wer einen Krieg gemacht hat, soll auch in Trümmern hausen.“ Er blickt zum durchlöcherten Jesusbild hinauf. „Der hat auch nichts dagegen getan“, sagt er bitter.

„Wogegen?“

„Ein Märtyrer nützt nichts“, meint Nickel. „Es waren zu wenige dagegen.“

„Ich bin Musiker. Als der Krieg verloren war, sagte der Leutnant: Geh nach Hause, lass dich nicht erwischen. Einen Monat hielt ich mich versteckt bei einem Bauern. Keine Menschenseele habe ich mehr. Werde wohl in Sparka bleiben. Die Orgel ist hin, hab’ sie probiert. Du musst warten. Dein Vater wird sich schon melden. Oder geh zu diesem Florian. Kennst du ihn?“

Florian ist manchmal in der Kirche gewesen. Er und Nickels Vater stritten sich meist bis zum Morgen, und dabei leerten sie etliche Flaschen Wein. Eines Tages holten die Aschkastenmänner mit den Hakenkreuzbinden beide aus der Sakristei, schlugen ihnen auf die Nasen und ließen den Vater mit gebrochenem Unterarm wieder laufen. Florian blieb verschwunden, und der Vater trank von nun an den Wein nur noch mit seinen Söhnen. Aber Johannes marschierte nach Russland und Achim nach Afrika, und der Vater schloss sich, wenn Briefe von ihnen kamen, im Keller ein und trank allein. Später schmiss er zwei Flaschen gegen die Friedhofsmauer, das war, als der Stellmacher Ernst inmitten seiner Familie zum Bahnhof von Sparka geführt wurde und Nickel seine Freundin Irma zum letzten Mal sah.

Das Poltern herabfallender Steine und unterdrücktes Fluchen lenken Nickels Aufmerksamkeit in eine andere Richtung. Durch ein Loch in der Mauer rutscht ein verhungertes Geschöpf zu ihnen herein, das offensichtlich nichts am Leibe hat als ein kurzes rotes Kleid.

Hastig bedeckt es damit seine Blöße und beginnt zusehends die Farbe des Kleides anzunehmen. Zwei halb nackte Männer hat es nicht erwartet. Als es einen schweren Zopf hinter sich hervorbringt und daran zupft, ist es Nickel, als legten sich zwei Hände um seinen Hals. Wer war denn nun Irma? Das lange Gestell im Schuppen, das ihn an die Amerikaner verriet, oder diese kleine Person hier?

„Tag, Zilla“, murmelt Hoofen und steigt geschwind in Nickels Uniformhosen, die am nächsten liegen.

Nickel blickt an dem Mädchen auf und ab, als wäre es zwar seiner Rippe entsprungen, doch nicht nach seinem Bilde geraten.

Das Mädchen sagt heftig und laut: „Hoofen, ich brauche deinen Frack, es wird geheiratet.“

„Wird noch rot, aber will heiraten“, brummt Nickel, der noch immer nicht glauben will, dass dieses Mädchen nicht Irma ist, mit der er Gras gerupft hat und auf den Wiesen gegangen ist.

Zilla beachtet ihn nicht. Sie redet auf den Musiker ein, fuchtelt mit den bloßen Armen durch die Luft, zerrt ihn zur Kirche hinaus und schleudert ihren schwarzen Zopf, als wäre der ein umwerfendes Argument. Nickel versteht nur: Einer will ohne Frack nicht heiraten, weil er nicht heiraten will. Denn der Frack ist eine Ausrede, weil keiner einen Frack besitzt. Außer Hoofen, aber das weiß nur diese Zilla. Da ist eine Frau, die hat ein Kind im Bauch von einem Kerl aus Sparka. Und die muss gerettet werden, denn die Ehe ist die Rettung in der Not.

Er folgt dem Mädchen und dem Musiker und greift nach Zillas Zopf. Im selben Augenblick fühlt er einen Stoß in den Magen und einen Schlag aufs Auge.

„Hör mal, Mädchen“, sagt Nickel und reibt das Auge, „lass den Musikanten. Der Frack gehört mir, den kriegst du nicht.“

Zilla sieht, dass Nickel in der Frackjacke steckt und sich die Hose um den Hals knotet. Ihre Augen brennen, und sie schreit: „Du lächerlicher Kerl in Unterhosen! Glaub nicht, dass du mit deiner Landsermoral ... Alles verdirbst du.“

Heulend rennt sie davon.

„Lass die Kleine“, sagt Hoofen böse. Erstaunt über die drohende Haltung des Musikers, steigt Nickel erst einmal in die Frackhose. Die Uniform ist er los, er fühlt sich wieder als Mensch. Und als Mensch ist man nachgiebig.

„Denkste, ich vergreif mich an ’nem Kind“, sagt er.

Doch was nun? In der Kirche thront Hoofen und scheint nicht eben der Klügste. Vom Vater keine Spur, nur ein Krater, wo das Pfarrhaus stand, und draußen vor der Kirche das Mädchen Zilla, das vielleicht was weiß. Nickel steigt ihr nach.

Gegenüber der Blechbude - wie Pimpfführer Fabricius die Fabrik seines Vaters zu nennen pflegte - ist Zilia klar geworden, dass sie nicht zum Frack kommt, wenn sie davonläuft, und als Nickel herantrottet, ruft sie mit schriller Stimme: „Gibsten mir oder gibsten mir nicht?“

Nickel schaut den Leuten zu, die in den Trümmern wühlen. Da zerrt sie ihn am Frackärmel hinter sich her. Es macht ihm Spaß, sich ziehen zu lassen und ihren schwarzen Zopf wippen zu sehen, aber daran reißen möchte er nicht mehr.

Im Parteibüro, in dem Raum, in dem der Kommunist Florian wohnt und Zettel unterschreibt - und er steht dabei, weil auf dem einzigen Stuhl ein alter Mann sitzt, hier also lässt Zilla von Nickel ab und verkündet: „Ich hab’ den Frack!“

Florian nickt zufrieden, das Mädchen, das in der Fensterecke steht, legt die Hände auf den gewölbten Leib und lächelt schüchtern, nur vom Ofen her flucht einer.

„Fabricius, Mensch“, sagt Nickel erfreut.

„Tag, Nickel“, sagt der blond gescheitelte Mann und lockert nervös seinen Schlipsknoten. Als hätten sich beide erst gestern am Bahnhof voneinander verabschiedet - Fabricius, um in der Heimat, Nickel, um an der Front zu dienen. Fabricius weiß nicht, ob er nach einem verlorenen Krieg über den unrasierten Freund im gut sitzenden Frack lachen darf.

Jetzt dreht auch Florian den Kopf, und als er nicht Hoofen, sondern den Sohn des Pfarrers von Sparka sieht, beginnt er fahrig in irgendwelchen Papieren zu wühlen.

„Sie sind ein Schuft“, sagt Florian zu Fabricius. „Wie der Vater, so der Sohn.“ Er fuchtelt mit einer abgegriffenen Bibel, die er vom Tisch nimmt. „Es hat sich ausgeschwängert für euereins, jetzt machen wir die Gesetze."

„Russische, was?‘, fragt Fabricius lächelnd.

Florian schweigt.

„Hören Sie, Florian“, sagt Fabricius und nähert sich dem Tisch. „Mein Vater ist getürmt, ich bin geblieben. Und als rechtmäßiger Erbe bin ich der Direktor der Fabrik. Wenn Sie einen Grund suchen, mich zu enteignen, dann ist die Kleine da drüben der ungeeignetste Grund.“

Das schwangere Mädchen schluchzt auf.

Florians Faust saust auf den Tisch. Als der Krach verhallt ist, fließt Blut über die Bibel. Er hat die zum Aschenbecher degradierte Untertasse zerschmettert.

„Na, dann kann ich wohl gehen“, sagt Fabricius heiser und ist draußen, ohne dem Mädchen am Fenster noch einen Blick geschenkt zu haben. Verstört wischt Florian auf der Bibel herum. Der am Rand verkohlte Ledereinband mit dem Kreuz sticht klar vom Papier auf dem Schreibtisch ab.

Nickel erkennt die Bibel des Vaters.

Es dauert lange, bis er glaubt, was er dann hört. Sie haben den Vater im Steinbruch erschossen, zusammen mit drei geflüchteten Polen, die er in der Kirche versteckt hielt. Die Mutter und die Schwester waren im Pfarrhaus, als die Bombe traf. Am Morgen noch gehörte Nickel zu der Schar, die hofften, denn er lebte und aß aus der Büchse. Jetzt weiß er, der Weg war umsonst, denn der Vater kann ihm nichts mehr sagen. Er vermochte sich nicht rauszuhalten, nachdem er schon die Flaschen an der Friedhofsmauer zerschmissen hatte. Nicht dem Helden fällt der Sieg zu, dem Weisen nicht das Brot und dem Einsichtigen nicht die Gunst.

„Hier war es“, sagt Zilla später im Steinbruch, zeigt auf den Strick und auf eine Patronenhülse und hebt triumphierend Nickels Fleischbüchse hoch.

„Sie gehört Hoofen“, sagt Nickel düster.

„Dem? Ich dachte, wir könnten das essen."

Nickel lässt Zilla bei den Steinen und geht zur Kirche zurück - dorthin, wo er nicht mehr wohnen will, auch woanders in Sparka nicht, denn die feuchten Keller sind schon vergeben. Er läuft im Wald umher, und immer wieder im Steinbruch, Tage und Nächte, und weiß nicht, wem er es anhängen soll, dass er sich verleiten ließ, andere zu schlagen, zu stechen und zu schießen. Er zitiert höhnisch aus der Bibel des Vaters, die Haare wachsen ihm im Gesicht, die Läuse beißen ihn wund, und der Hunger treibt ihn schließlich zu Florian ins Parteibüro zurück.

„Drei große Sorgen habe ich“, sagt Florian. „Die Wohnungsnot, den Hunger und die Arbeitslosigkeit. Fabricius ist Ihr Freund. Kann er die Fabrik wieder auf die Beine stellen, damit wir die Arbeiter aus den feuchten Kellern locken?“

Nickel glotzt verständnislos. Florian verteilt Brot, heißt es, und Nickel hat Hunger und kein Dach überm Kopf. Gierig reißen seine Zähne ein Loch in den Brotkanten, den Florian ihm zuwirft.

„Hat für die Nazis gearbeitet, der alte Fabricius. Ich dachte, es wäre klug, dem Sohn einen vor die Nase zu setzen, den die Nazis ins Lager gesteckt haben. Den Emmerich zum Beispiel. Aber es gibt kein Gesetz, das das erlaubt, hat man mir gesagt. “

Nickel kann Florians Ärger nicht recht verstehen. Er hat zu tun, nach den Flöhen zu schlagen, die ihm im Hemd sitzen. Seufzend kritzelt Florian ein paar Zeilen auf ein Stück Papier.

„Dein Freund Fabricius wird dir ein Zimmer abtreten müssen. Der Herr Direktor!“

Seither wohnt Nickel in der Fabrikantenvilla. Aber Florian hat sich geirrt: Fabricius besitzt in seinem eigenen Haus nur noch ein einziges Zimmer, freilich das größte. In den anderen drängt sich, was unterkommen muss.

Unter Freunden teilt man schon, wenn es not tut, ein Zimmer, zumal Nickel nicht fragt, woher Fabricius bestimmte Leckereien bezieht.

Eines Abends klopft es leise, und Zilla tritt zögernd ein. Sie setzen sich in die Abendsonne und holen abwechselnd mit einer Gabel Fleischstücke aus der Büchse, die eigentlich Hoofen gehört. Leise, wie Zilla gekommen, verschwindet sie wieder und hat Brot dagelassen. Nickel aber träumt zum ersten Mal nicht mehr von Toten, sondern von Zillas Zopf, der sich löst, bis die Haare wie ein Spinnennetz im Wind zittern. Sie laufen barfuß durch den Steinbruch, und Nickel holt sie nicht ein, weil immer wieder Steine herunterfallen und Fleischbüchsen, die er wegräumen muss.

Zilla taucht jetzt öfter bei Nickel auf. Aber nur weil Florian gesagt hat: Kümmere dich um ihn, wir brauchen jeden.

Und sie kommt immer dann, wenn sie das einzige Kleid, das sie besitzt, gewaschen und gebügelt hat. Ganz ausgeblichen ist es schon und war doch aus guter, roter Fahnenseide. Zwar ist ein Kreis mit einem Hakenkreuz darauf gewesen, aber der Sergeant aus Woronesh mit den Wasseraugen und der krummen Nase, der zu Hause Schneider ist, hat es Zilla verschwiegen, und Zilla ist glücklich über das Kleid.

Nickel hat es nicht gern, wenn sie von Leuten schwatzt, die Steine abputzen, von Diebstählen auf dem Güterbahnhof, von Frauen, die abends nicht allein auf die Straße gehen wollen, und von Kindern, die im Wald mit rostenden Waffen spielen, von Männern in russischen Uniformen, die Bauernhöfe plündern, von der Wohnungsnot und den unvernünftigen Menschen, die bloß ans Fressen denken und nicht fragen, wo es herkommt, von den Ratten, die Babys anfallen, und von Florian, der kummervoll aussieht vom vielen Ärger mit den Umständen.

„Weißt du was“, sagt Zilla eines Tages, „es gibt nichts Besseres für den Menschen, als dass er isst und trinkt, denn das ist sein Teil für die Mühe, die er im Leben hat. Also nimm deine Papiere vom Panzerfahren und lass dir dafür einen Führerschein geben. Wir brauchen in Sparka Kraftfahrer, und du kriegst was zu essen.“

Sie holt eine Schere aus der Kleidertasche und will ihm an die Haare, weil Nickel mit seiner Mähne ein Ärgernis in der Stadt ist. Nickel amüsiert, dass sie genau weiß, was zu tun ist. Er lässt sich scheren und besteht, von Zillas mütterlichen Händen erwärmt, darauf, dass sie ihn baden muss. Zilla zögert einen Augenblick und überlegt, ob das auch zu ihrer Aufgabe gehört, aber schließlich kann sie nicht zusehen, wie Nickel vom Ungeziefer gefressen wird. Sie schleppen Holzscheite aus Florians Keller herüber und stecken sie in den Badeofen. Mit ernstem Gesicht und schwitzend schrubbt Zilla den Nickel mit der Wurzelbürste, bis er aufheult, Zilla in der Mitte fasst und ins Badewasser hebt, wo er sie schimpfend stehen lässt.

„Gib mir ’n Hemd“, sagt sie, als er sich schon über das mitgebrachte Brot hermacht. Tropfend hüpft sie zum Tisch.

„Hab’ keins“, sagt Nickel und schluckt gierig.

Zilla rüttelt an der Tür des schweren Wäscheschranks und fischt triumphierend ein weißes Leinenhemd heraus.

„Leg’s ’rein“, sagt Nickel. „Ist nicht meins.“

Zilla streckt das Hemd vor und weicht zurück. „Soll ich vielleicht erfrieren?“, fragt sie.

„Mach, was du willst.“

Zilla klammert das nasse Kleid auf die Leine, die quer durchs Zimmer gezogen ist, und hockt sich im fremden Hemd zu Nickel. Sie essen und beobachten einander über die Tischplatte hinweg. Zillas dunkle Augen funkeln groß über ihren eingefallenen Wangen. Verführerisch sieht sie gerade nicht aus. Unruhig rutscht sie hin und her, zeigt auf den Frack und sagt mit spröder Stimme: „Du musst ihn waschen.“

„Muss ich das?“, fragt Nickel.

„Du musst doch arbeiten“, flüstert sie, weil Nickel sie unverwandt anstarrt und ihr heiß unterm Hemd wird, was dummerweise auf die Sprache schlägt.

Ohne zu klopfen öffnet Fabricius die Tür und stellt einen Koffer ins Zimmer. Neugierig tritt er näher, sieht Zilla in seinem Hemd und Nickel ohne eines und lacht hämisch.

„Denk bloß nicht, ich hab’ was mit Nickel“, krächzt Zilla.

„Wieso denn“, sagt Fabricius. „Ihr habt Hopse gespielt.“

Nickel springt Fabricius an den Hals, sie beschuldigen einander der Unzucht und locken die Nachbarn herbei, vertriebene Bauern und ausgebombte Städter, Verwundete, elternlose Kinder und was ein Unglück wie der Krieg am Ende übrig lässt. Zilla läuft flatterhemdig umher, wird in den Streit hineingerissen und zeigt den Leuten ihren Po. Verschämt ziehen sich die Zuschauer zurück, und die Kämpfer lassen ab voneinander, denn allzu eifrige Fechter sind beide nicht.

Fabricius leckt Blut von der Lippe, kramt in seinem Wäscheschrank und wirft Nickel ein frisches Hemd gegen die zerschundene Brust. Er legt behutsam den Koffer auf den Tisch und lässt die Schlösser schnappen. Genüsslich packt er aus: Speck und Wurst, Brot und Käse, Wein und Kekse, Kaffee und Haferflocken. Er macht sich über die Wurst her und lädt mit vollem Munde zum Zugreifen ein, was Nickel sogleich tut und Zilla nach kurzem Zögern.

Gemeinsamer Hunger verbindet.

„Was bist du für'n Mensch, Fabricius?“, fragt Zilla. „Bist ein Direktor, aber schleppst Eisenstücke wie ein Gemeiner.“

Fabricius schlägt Nickel aufs Kreuz und entkorkt verschmitzt eine Flasche. Nach einer Weile sagt er, das ist Sparkaner Art: Wer hier geboren ist, der bleibt hier. Auch Nickel hat es nicht in der Fremde gehalten. Zillas Ostpreußen ist abgebrannt, Nickels Familie ist tot, und Fabricius hat sich von seinen Eltern getrennt. Das alles ist Deutschland, egal, wo man ist.

Wissen möcht’ ich schon, denkt Nickel, wo der das feine Zeug herhat! Um den heißen Brei herumzureden, verstand der Fabricius schon früher, aber diesmal hatte er Schmerzhaftes berührt. Und wenn der Schmerz einen überfällt, will man nicht mehr fragen. Zilla beginnt in Gedanken in den Dünen ihres Fischerdorfes herumzurennen, und Nickel säuft.

Fabricius aber denkt, dass er sich hüten wird, den beiden zu sagen, wer ihn in Sparka zu bleiben zwingt. Sein Vater wurde bleich vor Wut, als Fabricius vor der neuen Villa in Mannheim stand und erklärte, er wolle nie mehr nach Sparka, solange dort der Florian regiert. Gedroht hatte er, seinen Sohn entmündigen zu lassen, falls der nicht in Sparka aushielte, bis Florian dort nichts mehr zu regieren habe.

Als die Sonne die Wipfel der Bäume besteigt und vier leere Weinflaschen auf dem Fußboden liegen, schiebt Fabricius die Essenreste vom Tisch und flucht auf die Väter, die alles versauen. Sein Vater sitzt schon wieder in einer feinen Villa. Und er, Fabricius, wühlt noch in den Trümmern nach Maschinen. Aber das wird sich ändern, und er fragt, ob Zilla sie nicht beide lieben könne.

Die kichert verlegen, weil Liebe doch eine ernste Angelegenheit zu zweit ist. Aber wie soll ein Fabrikantensohn das wissen, der ein armes Mädchen geschwängert und sitzen gelassen hat? Zilla möchte nicht in faule Sachen verwickelt werden. Was Florian wohl denkt, wo sie so lange bleibt?

„Weißt du noch“, sagt Fabricius, „wie wir das Ding mit dem Kaninchen gedreht haben? Der Fuchs warst du, Nickel. Hast es selbst essen wollen, was?“ Nickel schweigt und trinkt.

Als die rote Sonne ins untere Fenstereck sinkt, sind die Männer blau, und Fabricius ist in Zillas Gunst. Sie verspricht, mit Florian zu reden, ob Fabricius seinen Ingenieur zu Ende studieren kann. Denn Hitler ist schuld, dass die Hochschulen geschlossen wurden und Fabricius in die Kriegsfabrik des Vaters musste, und fremde Schuld übernimmt die neue Gesellschaft nicht. Nickel aber wird Kraftfahrer auf dem Bau, bestimmt Zilla, weil das ein wichtiger und schöner Beruf ist an der frischen Luft.

Bei dem Wort „Bau“ wird Nickel böse. Davon war keine Rede. Gegen das Fahren hat er nichts, nur aufbauen wird er in diesem Scheißdeutschland nichts. Lieber geht er in die Blechbude und repariert alte Maschinen!

Zilla zuckt zusammen. Mit Nickel ist kein Auskommen, kaum hat er einen Tropfen Alkohol im Hals, redet er verdreht. Florian fällt ihr ein, der sich Sorgen machen wird, denn er liebt sie wie der leibliche Vater. Sie stolpert über ihren Stuhl.

Und weil Fabricius auf der Tischplatte schläft, nimmt Nickel die schwankende Zilla auf den Arm und trägt die paar Kilo unterm Kleid vor Florians Tür. Dort stellt er sie ab, donnert gegen die Füllung und macht sich davon, ehe der Florian herausschaut und der dritte Abschnitt von Nickels Leben unliebsam zu Ende geht, indem Zilla wie ein Sack in die Arme von Florian fällt.

Der vierte Abschnitt

Im Leben des Nickel zeigt, wie ein Meister namens Erich lebenswichtige Kenntnisse über die Handhabung von Metallen und Frauen vermittelt und wie vier rüde Gesellen dem Nickel beinahe das Lebenswichtigste nehmen, wodurch sich alle folgenden Abschnitte erübrigt hätten.

Florian sagt, wenn der Pfarrer mit drei Genossen in die Steine beißen musste, dann wird er, Florian, dem Sohn des Pfarrers auf die Beine helfen, auch wenn am Ende wieder ein Pfaffe herausspringt.