Unterwegs in Sein und Zeit - Alfred Denker - E-Book

Unterwegs in Sein und Zeit E-Book

Alfred Denker

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Beschreibung

Immer, auch in seinen komplexesten Werken, stellt Heidegger in den Vordergrund, dass das Dasein unmittelbar, nicht auf den Menschen einzuengen und endlich sei. Heidegger hat mit "Sein und Zeit" nicht nur den wohl bedeutendsten philosophischen Entwurf des 20. Jahrhunderts vorgelegt, sondern sich auf seinen Denkwegen immer "Unterwegs in Sein und Zeit" erkannt und gelebt. Mit zahlreichen bisher völlig unbekannten Details aus dem Leben Martin Heideggers.

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Alfred Denker

Unterwegs in Sein und Zeit

Einführung in das Leben und Denken von Martin Heidegger

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

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Klett-Cotta

© 2011 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Printed in Germany

Cover: Rothfos & Gabler, Hamburg

Unter Verwendung eines Fotos von © Ullstein Bild – Fritz Eschen

Datenkonvertierung: Koch, Neff & Volckmar GmbH, KN digital – die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart

Printausgabe: ISBN 978-3-608-91315-6

E-Book: ISBN 978-3-608-10243-7

|5|Für meine Töchter

Elena, Anna, Chaima

|9|Warum Heidegger?

Warum Heidegger? Mit dieser Frage wird jeder Philosoph, der sich ernsthaft mit dem Leben und Werk Martin Heideggers auseinandersetzt, heute immer wieder konfrontiert. Warum gerade Heidegger und nicht Lévinas oder Gadamer? Heidegger ist doch der Nazi-Philosoph! Seine Schriften sollten Emmanuel Faye zufolge aus den philosophischen Bibliotheken entfernt und als Nazi-Literatur eingeordnet werden.1War Heidegger nur ein philosophischer Zauberer und als Mensch unlauter und unredlich?2In der Öffentlichkeit hat sich das Bild Heideggers in den letzten Jahrzehnten von einem großen Denker in eine unsympathische und fragwürdige Figur und einen philosophischen Scharlatan gewandelt. Die Metaphysik wird zusammen mit der langen Geschichte des abendländischen Denkens einfach als überholt und altmodisch – wenn nicht sogar als sinnlos – beiseite geschoben. Es ist meines Erachtens Zeit, endlich Widerspruch einzulegen.3Zugegeben, Heideggers Denken ist anstößig. Aber weshalb eigentlich?

Martin Heidegger war zeitlebens und ist auch heute noch anstößig, denn sein Denken ist unzeitgemäß. Seit Sokrates ist es die Aufgabe der Philosophie, unzeitgemäß zu sein, also genau die Fragen zu stellen, die eine Gesellschaft lieber ungefragt lassen möchte. Der Philosoph stellt alles infrage. Und er weiß, dass er nichts weiß, |10|jedenfalls zunächst. Aber diese Unwissenheit ist schwer auszuhalten und für die meisten Menschen unerträglich. Wer möchte nicht unangefochten sein Leben leben, in einer Familie ›zuhause‹ sein und mit ihr seine Tage verbringen? Wir denken, sprechen und leben, wie man das eben so tut und macht. Genau diese allgemeingültige, ja alltägliche Auffassung zu hinterfragen ist Aufgabe der Philosophie. Wir sehen die Welt, so wie man sie sehen soll. Wir denken nicht darüber nach, ob wir die Welt auch anders sehen und wahrnehmen könnten. Der Philosoph sucht die Grenzen dieser Selbstverständlichkeit auf und geht, wenn möglich, über sie hinaus. In dieser Grenzüberschreitung vollzieht er seine Existenz in und aus der Freiheit. Philosophieren heißt, zuerst fragen und dann sich in diesem Fragen frei machen, um schließlich in dieser unheimlichen Freiheit heimisch zu werden.

In diesem Buch werde ich versuchen, Martin Heidegger auf seinem Lebens- und Denkweg zu folgen. So werden wir nicht nur dem Menschen Heidegger näher kommen, sondern auch in sein philosophisches Denken eingeführt werden. Wie Bernhard Welte es so treffend formulierte, war Martin Heidegger der vielleicht größte Suchende des vergangenen Jahrhunderts.4Fragen ist genau das, was wir am besten von Heidegger lernen können. Und wenn wir fragen lernen, können wir frei werden. Frei sein heißt, seine eigene Endlichkeit verstehen. Frei kann nur ein endliches Wesen sein. Und nur ein Wesen, das sich seiner Endlichkeit bewusst ist, hat die freie Wahl.

Die Einführung in das Denken eines Philosophen sollte aber auch immer eine Ausführung, ein Hinausführen aus seinem Denken sein. Durch das Mitvollziehen seiner Denkbewegung sollen und wollen wir selbst denken lernen. Indem wir aber selbst zu denken anfangen, lassen wir das Denken des Philosophen hinter |11|uns und befreien uns. Ein grundsätzliches und schwer zu lösendes Problem, mit dem jede Einführung zu kämpfen hat, ist die Komplexität philosophischen Denkens. Wenn es zu sehr vereinfacht wird, verfehlt die Einführung ihr Ziel. Taucht die Einführung zu sehr in die philosophische Begrifflichkeit ein, verliert sie unterwegs ihre Leser.

Im Denken Martin Heideggers zeichnen sich ganz allgemein zwei Phasen ab; die erste reicht von 1909 bis 1945. In dieser Zeit führte er das Leben – seit 1915 – eines Philosophieprofessors und stützte sich in seiner Lehre weitgehend auf die philosophischen Fachtermini. In fast allen seinen Vorlesungen setzte er sich mit den großen Denkern der Philosophiegeschichte wie Platon, Aristoteles, Augustinus, Descartes, Leibniz, Kant und Hegel auseinander. Nach dem Zweiten Weltkrieg hielt er immer wieder Vorträge – meistens für ein nicht-akademisches Publikum – und griff dabei auf die deutsche Alltagssprache zurück. Deshalb ist der Zugang zum Spätwerk Heideggers in dieser Hinsicht wesentlich einfacher.

Martin Heidegger gab sich immer bescheiden, freundlich und einfach. Dennoch war sein Charakter kompliziert – eine Mischung aus Stolz, Eigensinn, Hinterlist und Bescheidenheit. Beziehungen knüpfte er nur mühsam. Im Gespräch war er gehemmt, und es fiel ihm schwer, einem anderen Menschen zu vertrauen oder sich ihm anzuvertrauen. Freilich übte er auf Frauen eine fast magische Anziehungskraft aus. Der Eros war in vielfacher Hinsicht bestimmend für sein Leben und Werk und funkelte aus seinen Augen. Martin Heidegger als Mensch – mit seinen Schwächen und Stärken, seiner Hellsichtigkeit und Blindheit, das Menschlich-Allzumenschliche an ihm – kann nur in einer umgreifenden Biographie dargestellt, erfasst, erkannt und verstanden werden.

»Wege, nicht Werke«, lautet das Motto seines Lebenswerks, das er der Gesamtausgabe seiner Schriften voranstellte. Er vermittelt seinen Lesern sehr klar, dass er seine Schriften als Wege im Denken, und nicht als Werke verstanden wissen möchte. Ähnliches |12|sagen andere Titel wie etwa Holzwege, Wegmarken, Unterwegs zur Sprache und Zur Sache des Denkens aus. Aber wie können wir seine Bücher als Wege und nicht als Werke ›lesen‹?

Mit einer zweifachen Strategie finden wir, davon bin ich überzeugt, einen Weg, um uns Martin Heidegger zu nähern. Er hat erstens sein Denken aus seiner Lebenserfahrung heraus entfaltet. Deshalb werden wir ihm im 1. Kapitel, »Von seiner Herkunft in die Zukunft«, auf seinem Weg in die Philosophie folgen. Es geht dabei vor allem um die Fragen: Was bedeutet Philosophie für ihn? Was heißt es für ihn nun, sein Leben als Philosoph zu gestalten? Welche Perspektive eröffnet seine Auffassung von der Philosophie für uns heute? Diese Fragen tauchen, wie ich im Weiteren aufzeigen werde, auf Heideggers langem Denk- und Lebensweg immer wieder auf.

Zweitens werden wir uns von Heidegger in bestimmte Themenbereiche der Philosophie einführen lassen. Aber statt nur darzulegen, was Heidegger über bestimmte Themen wie Existenz, Tod, Sprache, Technik gesagt hat, folge ich dem Denkweg, den er geöffnet hat. So wird es möglich, mit Heidegger weiter- und – wenn nötig – auch gegen ihn zu denken.

Wer Heideggers langen Denk- und Lebensweg in einem schmalen Buch darstellt, muss sich beschränken. Eine Einführung in sein Denken soll gerade nicht die Ergebnisse seiner Denkwege in aller Ausführlichkeit wiedergeben, sondern uns in sein Denken einführen. Solange wir die Denkbewegung eines Denkers nicht selbst mitvollziehen, bleibt sein Denken für uns verschlossen. Durch diese Einführung sollen wir dafür in den richtigen Schwung kommen. Gerade weil eine Einführung sich immer auf das Wesentliche einer Philosophie beschränken muss und keine Vollständigkeit beanspruchen kann, ist sie zwangsläufig subjektiv. Ein anderer Interpret würde andere Akzente setzen und eine andere Auswahl treffen, als ich es tue. Ich habe mich entschieden, Martin Heideggers Denken fast ausschließlich auf Grundlage seiner |13|zu Lebzeiten veröffentlichten Schriften zu erörtern, denn er hat seinen Denkweg mit der Publikation seiner Schriften wohlüberlegt dargestellt. Er hätte andere Schriften publizieren können, wie etwa seine Beiträge zur Philosophie. Vom Ereignis, die erst posthum 1989 erschienen sind. Auch bei seinen Aufsätzen und Vorträgen hätte er eine andere Auswahl treffen können. Den einen Vortrag hat er veröffentlicht, einen anderen für seinen Nachlass aufgespart. Durch die Auswahl und Reihefolge seiner Veröffentlichungen hat er selbst uns einen Kompass und eine ›Landkarte‹ an die Hand gegeben, damit wir ihm auf seinem Denkweg folgen können. Ab und zu werde ich, vor allem um biographische Hintergründe zu erläutern, auf besonders wichtige Passagen in seinen veröffentlichten Briefen eingehen.

Jeder Philosoph versucht seine eigene Zeit in Gedanken zu fassen. Aber nur wenigen Denkern gelingt es, das Wesen der menschlichen Existenz tief zu ergründen und zugleich zu erhellen. Die meisten Philosophen fallen vermutlich deshalb der Vergessenheit anheim, weil ihr Denken viel zu zeitgemäß oder sogar nur zeitgemäß ist. Sie vermögen es nicht, auch andere Zeiten anzusprechen. Ihre Gedanken sind heute nur noch für Philosophiehistoriker von Interesse. Als verhängnisvoll erwies es sich etwa für den Neukantianismus, dass er eine allzu zeitgemäße Philosophie war und deshalb auch nur zwischen 1890 und dem Ersten Weltkrieg die philosophische Szene beherrschen konnte. Ein anderes bekanntes Beispiel ist Ernst Haeckel, dessen Hauptwerk, Die Welträtsel, zu den meist verkauften Bücher der Philosophiegeschichte gehört. Dennoch kennt man heute kaum noch seinen Namen. Die wenigen großen und maßgeblichen Denker wie Platon, Aristoteles, Descartes oder Kant sind vermutlich deshalb so bedeutend, weil ihr Denken unzeitgemäß ist, also über ihre eigene Zeit und vielleicht sogar jede Zeit hinausweist. Denn ihr Denken sagt allen Menschen zu allen Zeiten etwas. Entscheidend haben ihre Gedanken unsere Art und Weise zu denken und zu sprechen beeinflusst |14|und geprägt. Große Denker haben die erstaunliche Fähigkeit, immer auch Anfänger zu bleiben. Was Philosophieren heißt, erfahren und lernen wir durch das Denken der überragenden Philosophen.

Was bedeutet dies alles für das Denken Martin Heideggers? Ist er ein zeitgemäßer oder unzeitgemäßer Denker? Gehört er schon ins Museum der Philosophiegeschichte, oder spricht Heidegger uns heute noch an? Knapp 40 Jahre nach seinem Tod ist es noch zu früh, eine Entscheidung zu treffen. Wer sollte darüber überhaupt entscheiden? Und wie? Ausschlaggebend ist doch: Inwieweit ergreift uns heute noch sein Denken? Daraus ergibt sich eine weitere Aufgabe meiner Einführung: Sie soll uns für eine Philosophie begeistern. Nehmen wir das Denken eines Philosophen durch eine Einführung bloß zur Kenntnis und kultivieren durch ihre Lektüre ein wenig unsere Allgemeinbildung, dann verfehlt sie ihr Ziel. In das Denken eines Philosophen einzuführen bedeutet immer zugleich auch, über dieses Denken hinaus- und in unser eigenes Reflektieren hineinzuführen.

Heideggers Lebenswerk ist umfangreich und tiefsinnig. Er war, wie so oft gesagt wird, einer der einflussreichsten Denkers des 20. Jahrhunderts.5Die Philosophiegeschichte des letzten Jahrhunderts hätte ohne Heidegger sicherlich eine ganz andere Richtung genommen. Aber ist ein Denken schon deshalb bedeutsam, weil es einflussreich und gerade darum auf der Höhe der Zeit war? War das 20. Jahrhundert in philosophischer Hinsicht nicht eigentlich eher eine dürftige Zeit? Welcher Denker des 20. Jahrhunderts könnte sich mit Platon oder Kant messen? Oder anders gefragt: Selbst wenn Heidegger nur seine eigene Zeit in Gedanken gefasst hätte, würde uns seine Philosophie dann die Geschichte des 20. Jahrhunderts besser verstehen lassen? Und wäre das nicht schon ein guter Grund, sich mit seinem Denken zu befassen? |15|Aber wer interessiert sich heute noch für die Geschichte des Denkens und das schwer verständliche Werk eines Philosophen? Ist das Neueste auf jedem Gebiet nicht viel interessanter und bedeutsamer als diese? Anlass genug also, einmal ganz grundsätzlich zu fragen, ob es heute überhaupt noch sinnvoll ist, sich mit Philosophie zu beschäftigen. Haben wir eigentlich nichts Besseres und Vernünftigeres zu tun?

Solange wir die Philosophie nur als akademische Disziplin betrachten, brauchen wir sie in der Tat nicht. Sie bleibt uns dann fremd, wenn nicht gar gleichgültig, und wir können uns mit dem Gedanken, dass sie an der Universität gut aufgehoben ist und dort auf jeden Fall aufgehoben bleiben soll, beruhigen. Aber Philosophie ist wesentlich mehr als ein intellektueller Zeitvertreib oder ein glitzernder Baustein unserer Allgemeinbildung, mit dem wir andere beeindrucken können. Philosophie ist eine Grundmöglichkeit menschlicher Existenz, weil alle Menschen von Natur aus nach Wissen streben,6weil jeder von Natur aus wissen will. Und gerade dieses Wissenwollen oder diese Wissbegierde ist das Wesensmerkmal der Philosophie. Für einen Philosophen wie Heidegger ist die Philosophie sogar die höchste Form menschlicher Freiheit.

Wie alle Philosophie fängt auch Heideggers Lebenswerk mit dem Erstaunen an. Er staunt über die Tatsache, dass wir in unserem Leben die Erfahrung machen, dass es eine verständliche und sinnvolle Welt »gibt«. Nur weil Denken und Sein in so erstaunlicher Weise aufeinander abgestimmt sind und somit übereinstimmen, können wir bei jedem Seienden fragen, was es ist. Und deshalb gibt es auch auf solche Fragen eine Antwort: Das hier ist ein Baum; das da ist ein Haus. In unserem alltäglichen Dasein haben wir immer schon ein inbegriffenes Seinsverständnis, das in der Weise zum Ausdruck kommt, wie wir anderen Menschen begegnen |16|und wie wir mit den von Menschen hergestellten Dingen und mit der uns umgebenden Natur umgehen. Diese in ihrer Bedeutsamkeit uns immer schon vertraute Welt ist unsere Heimat. Alles, was ist, hat Bedeutung und steht in einer Bedeutungsganzheit. Die in Heideggers Lebenswerk zentrale Frage Was heißt Sein? richtet sich zuerst auf den Sinn von Sein, der in unserem Dasein offenbar wird. Philosophieren ist daher ein Nachspüren, eine Besinnung auf den Sinn des Seins. Aber es gibt ein Seiendes – und das ist der springende Punkt von Heideggers Denken –, das nicht ist, sondern zu sein hat. Was es wirklich heißt, zu sein zu haben, können wir nur in unserer eigenen Existenz erfahren. Auch in dieser Hinsicht gehen die Wege der Philosophie und der Wissenschaft auseinander. Wo die Wissenschaft nach Objektivität und Allgemeingültigkeit strebt – ihre Aussagen sollen von jedem zu jeder Zeit und überall überprüft werden können –, da kann die Philosophie ihren Gegenstand nur in unserer konkreten individuellen Existenz erschließen. Wir können nie objektiv von außen beschreiben, was es heißt, ein Mensch zu sein; wir können es nur im Vollzug unserer eigenen Existenz erfahren. »Merke auf dich selbst: kehre deinen Blick von allem, was dich umgiebt, ab, und in dein Inneres – ist die erste Forderung, welche die Philosophie an ihren Lehrling thut. Es ist von nichts, was ausser dir ist, die Rede, sondern lediglich, von dir selbst.«7Unser Leben ist letztendlich unsere eigene Antwort auf die Frage, was es heißt, ein Mensch zu sein. Die Tatsache, dass nur wir selbst unser Leben selbst leben können, belegt die Vereinzelung der menschlichen Existenz. Da wir aber als Individuum immer nur mit anderen Individuen leben, sind wir in unserer Vereinzelung nie ganz allein. Dies ist auch der Grund, warum wir Heideggers Denken nur von seiner faktischen Existenz aus erschließen können und warum es sinnvoll ist, |17|sein Lebenswerk als Werk eines Lebens zu interpretieren. Von Heidegger wird oft behauptet, er halte die Biographie für das Denken eines Philosophen für belanglos oder sogar schädlich, was aus zwei Gründen meiner Ansicht nach nicht zutrifft. Heidegger lehnt das journalistische Interesse am Privatleben eines Philosophen ebenso ab wie den Versuch, sein Werk mithilfe einer Psychologisierung seiner Persönlichkeit zu erschließen. Heidegger, der sein Denken im Sinne einer Hermeneutik der Faktizität verstanden und konzipiert hat, will in der menschlichen Existenz, die wir nur in ihrer konkreten Faktizität erschließen können, die wesentlichen Vollzugsstrukturen des menschlichen Daseins aufdecken. Eben deshalb ist sein Denkweg so ungewöhnlich und aufregend. Weil wir immer irgendwie auf der Welt zuhause sind und innerhalb eines kulturellen Horizonts den Sinn unseres eigenen Lebens entwerfen, neigen wir dazu, die Bedeutsamkeit des Seins immer wieder einzuschränken. Wir schließen uns gleichsam gegen alles ab, was für uns keinen Belang, keinen Zweck und keine unmittelbare Bedeutung hat. Wir engen damit den Horizont unserer Existenz ein und verlieren uns selbst in der Angst vor dem Unbekannten, statt unser Leben mit dem Neuen und noch Unbekannten zu bereichern. Dieser Grundzug im Wesen des Menschen führt letztendlich auch zu der Angst vor dem uns fremden Anderen, ob er nun Jude, Muslim, Bettler oder Obdachloser ist. Deshalb bleiben wir immer weniger, als wir sein könnten. Und wir verlieren dadurch auch die Möglichkeit, im Gespräch mit anderen Menschen unsere eigene Existenz besser verstehen zu lernen. Gerade die akutelle, zunehmende Angst vor dem Islam macht es unmöglich, in einen Dialog mit ihm zu kommen. Dabei sollten wir immer bedenken: Wer nicht mehr mit seinen Mitmenschen reden will, droht seine eigene Menschlichkeit zu verlieren. Der Tod Gottes ist nach Heidegger nicht deshalb so tragisch, weil ein Gott gestorben sein soll, sondern weil eine ganze Dimension und damit eine Vielfalt an Möglichkeiten menschlicher Existenz verlorengegangen |18|sind. Ohne Gott und die Religion wird unsere Welt buchstäblich kleiner und ärmer werden.

In seiner Philosophie vertieft Heidegger die Seinsfrage in ihrer Doppeldeutigkeit. Die Antwort auf die Frage Wer bin ich? setzt die Antwort auf die Frage Was ist Sein? voraus. Aber was sein heißt, kann ich nur in meiner eigenen Existenz erfahren. Dieses Paradox, dass ich nur, wenn ich weiß, wer ich bin, auch wissen kann, was sein heißt, und dass nur wenn ich weiß, was sein heißt, auch wissen kann, wer ich bin, kann nur durch eine durchgängige philosophische Vertiefung gelöst werden. Diese Vertiefung besteht im Wesentlichen darin, dass wir uns, statt uns auf unsere Entwürfe festzulegen, uns von diesen auch wieder befreien sollen. Dieses Streben nach Offenheit, nach Erweiterung unserer Horizonte und nach Transzendierung der Grenzen unserer Endlichkeit nennt Heidegger Gelassenheit. In der Gelassenheit versuchen wir, das Sein frei sein zu lassen, damit es sich uns so offenbaren kann, wie es ist. Die Einfalt der Gelassenheit ist zugleich der Reichtum unserer Existenz, weil sie uns sein lässt, wer wir sein können. Heideggers Philosophie ist der durchgehende Versuch, immer wieder die Grenzen und Beschränkungen unseres Daseins aufzuzeigen und auf Möglichkeiten der Transzendenz und der Befreiung hinzuweisen. Er ist sich, wie kaum ein anderer Philosoph, dessen bewusst, dass die Philosophie sich nur an ihrer Quelle, also am Staunen erquicken kann.

Es gibt nicht nur das rechnende Denken der Wissenschaft, sondern auch das besinnliche Denken der Philosophie. Es gibt nicht nur die Sprache als Informationsbetrieb, sondern auch die Dichtung. Es gibt nicht nur die Macht des Geldes, sondern auch die Hingabe der Liebe. Auf der Spur des Denkweges Martin Heideggers lernen wir, uns für das Geheimnis der menschlichen Existenz offen zu halten. Die Bedeutsamkeit seines Denkens liegt darin, dass es uns immer wieder erlaubt, neue Fragen zu stellen und die Grenzen unseres Daseins zu überschreiten.

|19|Martin Heidegger, 20er Jahre

Ich danke meinem Lektor Herrn Dr. Johannes Czaja für die immer angenehme Zusammenarbeit und seine sachkundige Betreuung dieses Projektes. Herrn Dr. Alwin Letzkus schuldige ich großen Dank für seine sorgfältige Korrekturarbeit. Ich danke Herrn Prof. Dr. Holger Zaborowski, mit dem ich in den letzten 10 Jahren immer wieder über Heidegger und sein Denken gesprochen habe. Danken möchte ich auch den vielen Teilnehmern an den Meßkircher Seminaren, mit denen ich meine Heidegger-Interpretation diskutieren konnte. Einen besonderen Dank schulde ich dem Verlag Klett-Cotta und ihrer Geschäftsführung für ihre großzügige Unterstützung in schweren Zeiten. Ich danke der Familie Heidegger für ihre langjährige Freundschaft. Schließlich danke ich meiner Frau Elena für alles, was sie mir geschenkt hat.

|20|1. Von der Herkunft in die Zukunft

Für Martin Heidegger ist wie für alle bedeutenden Denker die Philosophie das entscheidende Ereignis, das in alle Aspekte des Lebens hineinreicht und diesem seinen Glanz verleiht. Heidegger hat sein Leben als einen Denkweg erfahren und gestaltet. Seine Habilitation, und damit die Lehrberechtigung für die Universität, hat er als ehemaliger Seminarist 1915 tatsächlich als eine Priesterweihe empfunden.8Schon als Privatdozent betrachtete er die philosophische Erziehung der Jugend als seine Hauptaufgabe. Er war, so können wir ohne Übertreibung sagen, zum Philosophen berufen, und alles, was er in seinem Leben tat, stand im Dienste dieser Berufung. Obwohl er jahrzehntelang als Philosoph an der Universität lehrte, wurde die Philosophie für ihn nie zu einem bloßen Broterwerb. Er lebte, was er dachte, und durchdachte, was er erlebte. Doch wie alle Menschen hat auch er klein angefangen. Augenscheinlich schien er durch seine Lebensverhältnisse nicht gerade zum Philosophen prädestiniert zu sein.

Martin Heidegger stammt aus einer einfachen Familie und wuchs zwischen Bodensee und Donau in einem entlegenen Ort am Fuß des badischen Heubergs auf, der schon bessere und aufregendere Zeiten gesehen hatte. Die berühmtesten Söhne seiner Heimatstadt Meßkirch waren der Wiener Hofprediger Abraham a Santa Clara, der am 2. Juli 1644 als Johann Ulrich Megerle in Kreenheinstetten geboren wurde und Zögling der Meßkircher Lateinschule |21|war, und der frühromantische Komponist Conradin Kreutzer, der am 22. November 1780 in Meßkirch zur Welt kam. Der spätere Freiburger Erzbischof Conrad Gröber war, als Heidegger geboren wurde, gerade 17 Jahre alt und Schüler am Konstanzer Gymnasium.

Am 26. September 1889 wurde Martin Heidegger in Meßkirch geboren. Sein Vater Friedrich Heidegger war Küfermeister und Mesner der katholischen Pfarrei. 9. August 1887 hatte er Johanna Kempf geheiratet. Nachbardorf Göggingen, wo ihre Ahnen seit Jahrhunderten ansässig waren. Am 12. November 1891 wurde Heideggers Schwester Maria und etwas mehr als zwei Jahre später, am 6. Februar 1894, sein Bruder Fritz geboren. der beiden Heidegger-Brüder entnehmen können, war ihre Jugend sorglos und glücklich. fromme, ernsthafte und tüchtige Leute. Der Vater war ein großer Schweiger. »Über unnütze Worte brauchte er wohl keine Rechenschaft abzulegen. Nichts hören wollte er von Leuten, die das Gras wachsen hören (wobei es immer bloß ›leutet‹). Unverständlich gewesen wäre seinem freundlichen Ernst das bekannte spanische Sprichwort: ›Zwischen Lachen und Scherzen lassen sich faustdicke Wahrheiten anbringen‹. Immerhin stand er als Mesner (bei Taufen, Trauungen, Beerdigungen) und als Handwerker stets in einer losen Verbindung mit allen Bevölkerungsschichten, meßkircherisch gesagt: mit der ›Hott- und mit der Wischtvolee‹.« kleine Sohn Martin verbrachte lange Stunden in der schön geordneten Werkstatt seines Vaters und half ihm nicht nur bei seinem Handwerk, sondern auch beim Läuten der Glocken. Er ahmte das Leben der Erwachsenen nach: Mit seinen Spielkameraden hielt er »Messen« ab. Sein Kinder-Messgewand ist heute im Meßkircher Heidegger-Museum ausgestellt. Seine Mutter war »eine lebensfrohe Frau, ohne mit Fisimatenten geplagt zu werden«. Kontaktfreudig liebte sie sinnvolle Gespräche und gesellige Unterhaltung; sie verschmähte auch nicht einen Schwatz mit Nachbarinnen. Als Blumenfreundin war sie eine Künstlerin im Schmücken der Altäre vor den kirchlichen Hochfesten.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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