1,49 €
Seltsame Geschichten – eine Sammlung, die das Gewöhnliche hinter sich lässt und in die Schatten des Unbekannten führt.
Ein Mann entdeckt eine Tür, die nur an bestimmten Nächten existiert. Eine Frau hört eine Stimme aus dem Spiegel, die ihr Dinge zuflüstert, die sie nicht wissen will. Ein verschlafenes Dorf hat eine Regel: Nach Einbruch der Dunkelheit verlässt niemand das Haus – aber warum?
Diese Geschichten sind wie Traumfragmente, mal verstörend, mal bizarr, immer unheimlich. Sie flüstern von Welten, die knapp außerhalb unserer Reichweite liegen – bis wir zu lange hinsehen.
Tritt ein. Aber sei gewarnt: Manche Türen lassen sich nicht mehr schließen.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2025
Das Museum der verlorenen Sekunden
Die Straße nach Norden
Die Ranch des Schweigens
Die Uhr
Das Ritual
Spiegel der hundert Seelen
Denk Dir das Ende
Hier werden ein paar ziemlich seltsame Geschichten erzählt – mal geheimnisvoll, mal schräg, mal voller Überraschungen. Die Autorin hat ihnen ihren ganz eigenen, unverwechselbaren Stil verpasst und lässt die Leser:innen mit einem besonderen Angebot zurück: Wie würdest du die Geschichten enden lassen?
Das Museum der verlorenen Sekunden
Niemand wusste genau, wann das Museum eröffnet wurde. Es stand einfach eines Tages da, eingeklemmt zwischen einer Bäckerei und einem Geschäft für orthopädische Schuhe, als wäre es schon immer dort gewesen. Das Schild über der Tür war unscheinbar: „Museum der verlorenen Sekunden – Eintritt frei.“
Drinnen roch es nach altem Papier und Regen, obwohl es draußen seit Wochen nicht geregnet hatte. In den Vitrinen lagen winzige Glasfläschchen, jede mit einer schimmernden, goldenen Flüssigkeit gefüllt. „Das sind die verlorenen Sekunden“, erklärte der Museumswärter mit einem Lächeln, das zu breit für sein Gesicht war. „Sekunden, die du verlegt hast. Sekunden, die dir gestohlen wurden. Sekunden, die einfach … verschwunden sind.“ Er blieb stehen, griff in seine Tasche und zog ein besonders kleines Fläschchen hervor. „Diese hier gehört Ihnen.“
Rafael war erst seit drei Tagen in der Stadt, und er hatte jetzt schon das Gefühl, dass sie ihm nichts mehr zu bieten hatte. Er war wegen eines Jobs hergezogen – einer befristeten Stelle in einer Kanzlei, die ihm genauso gleichgültig war wie der Rest seines Lebens. Seine neue Wohnung war klein, aber ausreichend. Die Straßen waren sauber, aber ohne Charakter. Die Menschen wirkten beschäftigt, aber nicht interessant. Es war eine Stadt wie jede andere, und Rafael war wie immer gelangweilt. An diesem Nachmittag schlenderte er ziellos durch die Nebenstraßen, die grauen Pflastersteine unter seinen Schritten monoton gleichmäßig. Sein Kaffee war längst ausgetrunken, das Display seines Handys zeigte keine neuen Nachrichten, und das Buch in seiner Tasche interessierte ihn heute auch nicht. Er hatte nichts zu tun, also lief er einfach weiter.
Dann sah er es. Das Museum fiel ihm erst auf, als er direkt davor stand. Vorher war es ihm nicht aufgefallen. Es war so, als hätte es sich erst in dem Moment entschieden, sichtbar zu werden. Das Gebäude lag eingezwängt zwischen einer altmodischen Bäckerei, die nach Hefe und Vanille roch, und einem Geschäft für orthopädische Schuhe, das nur von älteren Leuten betreten wurde. Die Fassade war schlicht, fast unscheinbar. Über der Tür hing ein dezentes Messingschild mit der Aufschrift:
Stadtmuseum Eintritt frei
Rafael runzelte die Stirn. Noch so ein kleines Stadtmuseum, in dem vermutlich ein paar verstaubte Objekte ausgestellt waren, die niemanden interessierten. Heimatmuseen, Mineralienausstellungen, historische Sammlungen von alten Schreibmaschinen – er hatte schon genug davon gesehen, weil ihm so oft langweilig war. Er fand Museen öde, aber da ihm sowieso immer alles öde erschien, machte das kaum einen Unterschied.
Er drückte die Tür auf.
Drinnen war es kühl, und die Luft roch nach altem Papier, Holzpolitur und etwas, das er nicht ganz einordnen konnte – vielleicht Regen, obwohl es draußen seit Wochen trocken geblieben war. Das Licht war weich, beinahe dämmrig, dabei herrschte eine angenehme Stille.
Das Museum bestand aus nur einem langen, schmalen Raum. Entlang der Wände standen Glasvitrinen, darin reihenweise kleine Fläschchen aus dünnem Kristall. Jedes war mit einer schimmernden, goldenen Flüssigkeit gefüllt. Manche enthielten nur einen Tropfen, andere waren fast voll.
Hinter einem schmalen Holzpult stand ein Mann. Sein Gesicht war schmal und etwas zu lang, als hätte jemand es in die Länge gezogen. Seine Augen waren dunkel, und sein Lächeln war zu breit für sein Gesicht.
„Willkommen“, sagte der Mann. „Sie sind heute unser einziger Besucher.“
Rafael steckte die Hände in die Taschen und betrachtete die Fläschchen. „Was ist das hier?“ fragte er, ohne sich allzu sehr für die Antwort zu interessieren.
„Ein Archiv“, sagte der Mann. „Wir bewahren hier verlorene Sekunden auf.“
Rafael hob eine Augenbraue. „Verlorene Sekunden?“
„Ja.“ Der Museumswärter trat zur nächsten Vitrine und strich mit einem schmalen Finger über das Glas. „Sekunden, die Menschen verloren haben. Sekunden, die Ihnen gestohlen wurden. Sekunden, die einfach… verschwunden sind.“
Rafael schnaubte leise. Ein seltsames Konzept für ein Museum. Aber immerhin war es nicht das Langweiligste, das er je gesehen hatte. Der Mann griff in seine Tasche und zog ein winziges Fläschchen hervor. Es war kleiner als die anderen, kaum größer als ein Fingerhut. Die goldene Flüssigkeit darin war dünn, bewegte sich träge, als hätte sie ein eigenes Gewicht. Der Museumswärter hielt ihm das Fläschchen hin. „Diese hier gehört Ihnen.“ Rafael spürte plötzlich eine unangenehme Kälte im Nacken. Er schluckte. „Was soll das heißen?“ Das breite Lächeln des Mannes wurde noch ein kleines Stück breiter. „Nun“, sagte er sanft. „Erinnern Sie sich an den Augenblick, als Sie hier hereinkamen?“
Rafael runzelte die Stirn. Er wollte „Ja“ sagen, aber… irgendetwas stimmte nicht. Hatte er die Tür geöffnet? War er einfach hineingegangen? Oder…? Die Zeit fühlte sich seltsam an. Er blickte auf das winzige Fläschchen. Sein Herz schlug schneller. Hatte er tatsächlich eine Sekunde verloren? Oder vielleicht… mehr?
Die Straße nach Norden
Der Mann ging die Straße entlang. Sein Mantel war schwer von Regen, die Tropfen fielen stetig, lautlos, als hätten sie keine Eile. Links von ihm lag das Meer, eine dunkle Fläche, die sich mit dem Himmel vermischte. Rechts: Felder, Zäune, ab und zu ein verfallenes Haus.
Er war sich nicht sicher, wie lange er schon lief. Vielleicht eine Stunde, vielleicht einen Tag. Die Straße war leer. Keine Autos, keine Stimmen. Nur das Meer, das Atmen des Windes, seine Schritte.
Er erinnerte sich nicht mehr an den Namen der Stadt, aus der er gekommen war. Nur daran, dass dort Rauch aufgestiegen war, schwarz und schwer, und dass er nicht bleiben konnte.
Weiter vorne stand ein Mann an der Straße. Groß, hager, in einem Anzug, der zu neu für diesen Ort war. Der Fremde hob die Hand zum Gruß.
„Wohin gehst du?“ fragte er.
„Nach Norden“, sagte der Mann.
Der Fremde nickte. Sein Gesicht war seltsam vertraut, als hätte der Mann ihn irgendwo schon einmal gesehen – in einer anderen Stadt, in einem anderen Leben.
„Es gibt kein Norden mehr“, sagte der Fremde.
Der Mann sah ihn an. Hinter ihm dehnte sich die Straße, immer weiter, verloren im Regen. Er sagte nichts.
Dann ging er weiter.Der Fremde sah ihn an, als hätte er diese Frage erwartet. Er lächelte nicht, aber seine Augen wirkten amüsiert.
„Weil du ihn längst hinter dir gelassen hast.“
Der Mann spürte ein Ziehen in der Brust. Ein leises Unbehagen, das er nicht benennen konnte. Der Regen rann ihm über das Gesicht.
„Unsinn“, sagte er. „Die Straße führt nach Norden.“
„Vielleicht“, sagte der Fremde. „Vielleicht auch nicht. Geh zurück und sieh selbst.“
Der Mann zögerte, dann drehte er sich um. Die Straße lag da, nass und grau, scheinbar unverändert. Aber etwas war anders. Die Häuser, die er passiert hatte, waren verschwunden. Keine Zäune, keine Felder. Nur eine leere, gerade Straße, die sich ins Nichts verlor.
Er drehte sich wieder zum Fremden, aber der war nicht mehr da.
Nur der Regen blieb. Und die Straße.Der Mann stand eine Weile da, den Regen auf der Haut, die Hände in den Manteltaschen vergraben.
Der Fremde war verschwunden, als hätte es ihn nie gegeben. Doch seine Worte hingen noch in der Luft, schwer wie Nebel: Es gibt kein Norden mehr.
Er atmete tief durch und setzte einen Schritt zurück in die Richtung, aus der er gekommen war. Sein Herz schlug schneller. Vielleicht würde die Stadt wieder auftauchen, mit ihren rauchenden Schornsteinen, den engen Gassen, den Stimmen hinter Fenstern. Vielleicht würde er erkennen, wo er war.
Doch nach wenigen Metern merkte er, dass sich etwas verändert hatte. Der Asphalt unter seinen Füßen war weicher, fast nachgiebig. Die Straße wirkte nicht mehr nass vom Regen, sondern… feucht, auf eine andere Weise. Als hätte der Boden selbst gelebt.
Er blieb stehen.
Es war still. Zu still. Selbst das Meer war verstummt.
Er sah nach vorn, dann nach hinten. Die Straße zog sich in beide Richtungen, doch jetzt war da kein Horizont mehr, kein Meer, keine Felder. Nur Dunkelheit, die sich an den Rändern seines Blickfelds entlangschob, wie eine Flüssigkeit, langsam, stetig.
Der Regen fiel weiter, aber er fühlte ihn nicht mehr.
Dann hörte er eine Stimme.
„Du bist zu spät.“
Es war nicht die Stimme des Fremden. Es war seine eigene.
Langsam drehte er sich um.
Der Mann drehte sich langsam um, sein Atem flach, seine Hände kalt.
Vor ihm stand niemand. Doch die Dunkelheit am Rand der Straße bewegte sich jetzt und kräuselte sich, als wäre sie lebendig. Und dann sah er es: Eine Gestalt trat aus der Finsternis. Nicht der Fremde mit dem Anzug. Sondern jemand anderes. Jemand, den er kannte.
Er selbst. Blasser, dünner. Die Wangen eingefallen, die Augen tief in dunklen Höhlen. Dieselbe Kleidung, doch schmutziger, zerrissen. Der andere Mann – sein anderes Ich – betrachtete ihn mit einem Ausdruck, den er nicht deuten konnte. „Wozu bin ich zu spät?“ fragte der Mann. Seine eigene Stimme klang ihm fremd. Der Andere blinzelte langsam. „Zum Erwachen.“ Ein Zittern lief durch den Mann. „Erwachen?“ Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Der Andere trat näher. Nun konnte er ihn noch genauer sehen. Die feinen Risse in seiner Haut. Wie altes Porzellan. „Du bist zu lange gegangen“, sagte der Andere. „Zu lange, ohne zu fragen, warum.“
Der Mann wollte den Kopf schütteln, widersprechen, doch er konnte nicht. Irgendwo tief in ihm wusste er, dass der Andere die Wahrheit sagte. Er erinnerte sich an die Stadt. Den Rauch. Den Moment, als er beschlossen hatte, zu gehen. War er jemals dort angekommen, wo er hin wollte? Ein Wind kam auf, heulte durch die Leere, riss an seinem Mantel. Der Regen hörte auf.
Dann begann die Dunkelheit sich zu bewegen. Sie kroch auf ihn zu, schnell und lautlos. Er wollte zurückweichen. Doch der Andere packte sein Handgelenk. „Es gibt kein Zurück mehr.“
Die Dunkelheit erreichte seine Füße. Dann seine Knie. Und dann… Nichts.
Ein letztes Zittern lief durch den Mann, als die Dunkelheit seine Füße umschloss. Sie fühlte sich nicht kalt an, nicht heiß, nicht nass. Sie fühlte sich an wie… nichts. Und doch hatte sie ein Gewicht, eine dichte, drückende Präsenz, als würde er langsam in eine Masse sinken, die keine Luft, keine Geräusche, keine Zeit kannte. Er blickte in die Augen seines verzerrten Spiegelbildes, dieses Anderen, der nicht nur aussah wie er, sondern sich auch so anfühlte. Eine seltsame Intimität lag zwischen ihnen, ein Wissen, das er noch nicht begriff, aber das tief in ihm vibrierte, wie ein Echo aus einer Zeit, an die er sich nicht erinnerte.
„Was meinst du mit Erwachen?“ Seine Stimme klang dumpf, als spräche er unter Wasser.Der Andere betrachtete ihn lange. Dann sagte er leise, fast bedauernd: „Du bist nie fortgegangen.“
Die Worte sickerten langsam in seinen Verstand, fielen dort wie schwere Steine ins Wasser. Nie fortgegangen? Aber er war doch hier, auf dieser Straße. Er erinnerte sich an jeden Schritt, an den Regen, an den Fremden.
Doch plötzlich begannen die Erinnerungen zu flackern, als wären sie Bilder auf altem Zelluloid, das sich unter Hitze verzog. Die Stadt mit ihrem Rauch. War da wirklich Rauch gewesen? Oder war es nur Nebel? Und die Straße … Hatte sie immer schon ins Nichts geführt?
„Das hier ist nicht real“, sagte der Andere. Etwas in ihm wollte protestieren, aber dann spürte er es. Ein tiefes, entsetztes Wissen, das sich aus einer dunklen Ecke seines Geistes löste, in der es sich all die Zeit versteckt hatte. Er erinnerte sich. Er erinnerte sich an den Schuss. An das harte Holz in seiner Hand. An den Rauch, der nicht aus Schornsteinen kam, sondern aus der Mündung eines Revolvers. Der Schmerz, nur für einen Moment. Das kühle Metall, das Blut, das sich warm über seine Finger ergoss. Er hatte diese Straße nie betreten. Er hatte nie die Stadt verlassen. Er war nie gelaufen. Er war gefallen.
Das Erwachen war keine Rettung. Kein Neubeginn. Es war die Erkenntnis. Das Verstehen, dass er sich die ganze Zeit in einem Raum zwischen Leben und Nichts bewegt hatte. Ein letzter Traum, ein verzweifeltes Wandern ohne Ziel, um der Wahrheit zu entkommen. Doch jetzt gab es kein Entkommen mehr. Die Dunkelheit zog weiter, über seine Hüften, seine Brust, seine Schultern. Er wollte etwas sagen, aber seine Stimme war verschwunden. Sein anderes Ich neigte den Kopf. „Jetzt weißt du es.“ Die Dunkelheit berührte seinen Hals. Dann sein Kinn. Seine letzten Gedanken waren keine Worte. Nur das Gefühl, dass er sich selbst belogen hatte, so lange er konnte. Dann verschwand er. Und die Straße war wieder leer.
Der Mann spürte das Ziehen in seinem Körper. Als würde etwas an ihm zerren, von innen heraus, in Fasern, die er nicht kannte. Die Dunkelheit kroch weiter, wollte ihn ganz verschlingen. Doch jetzt – jetzt begann er, sich dagegen zu wehren. Er durfte nicht einfach verschwinden. Er wollte aufwachen.
Aber wie?
Er versuchte, die Dunkelheit abzuschütteln, trat zurück, doch sie ließ ihn nicht los. Die Straße, das Meer, der Regen – alles um ihn herum begann sich aufzulösen, wie Tinte in Wasser. Nur sein anderes Ich stand noch da. Regungslos. Unberührt.
„Du kämpfst“, sagte es leise.
Der Mann keuchte. „Natürlich kämpfe ich!“
Der Andere schüttelte langsam den Kopf. „Aber du weißt nicht, wie.“
Und das war die Wahrheit.
Er war hier, gefangen in dieser brüchigen Welt, aber es gab keine Türen, keine Wege hinaus. Die Stadt war verschwunden, die Straße führte nirgendwohin. Er konnte laufen, schreien, kämpfen – aber gegen was? Die Dunkelheit griff höher. Seine Brust war schwer, seine Gedanken wurden zäh. War das das Ende? War es das, was mit Menschen geschah, die nicht mehr wussten, wie man zurückkehrte?
Dann spürte er etwas.
Ein Geräusch. Ein Hauch. Ein ferner, dünner Faden von Klang.
Es war nicht der Wind.
Es war… ein Piepen.
Dumpf. Leise. Ein Rhythmus, der kam und ging, wie ein Puls.
Sein Herz setzte einen Schlag aus.
Das Geräusch war wichtig. Es war… bekannt.
Das Piepen wurde lauter. Klopfte an die Wände seiner Welt.
Er sah den Anderen an. „Was ist das?“
Der Andere wirkte für einen Moment… unentschlossen. Als hätte er etwas nicht erwartet.
„Etwas von draußen“, murmelte er.
Draußen.
Das Wort ließ ihn erbeben.
Draußen bedeutete, dass es noch eine andere Welt gab. Eine echte Welt.
Seine Finger ballten sich zu Fäusten. Der Regen, die Straße, die Stadt – alles flackerte jetzt, wie eine alte Filmrolle, die gleich reißen würde.
„Ich komme hier raus“, sagte er.
Der Andere sagte nichts. Aber in seinen dunklen Augen lag ein Wissen. Und dann kam das nächste Geräusch. Eine Stimme. Dumpf, fern. Aber da. Jemand rief nach ihm. Sein Name. Er wusste nicht, wer es war. Aber es spielte keine Rolle. Er riss sich los.
Die Dunkelheit schrie – oder war es der Wind? Die Welt um ihn zerbrach, wurde zu Staub, zu Licht, zu …
Luft.
Er keuchte. Sein Körper war schwer, als würde er aus Blei bestehen. Sein Atem war flach, seine Brust hob sich mühsam.
Dann ein weiteres Geräusch. Das Piepen war schärfer geworden. Regelmäßiger. Licht stach durch seine geschlossenen Augenlider.
Seine Finger zuckten.
Irgendwo in der Ferne weinte jemand.
Er öffnete die Augen. Und sah es …
Die Ranch des Schweigens
Bill wischte sich den Schweiß von der Stirn. Die Sonne brannte unerbittlich auf die ausgedörrte Erde der Ranch, und jeder Spatenstich fühlte sich an, als würde er gegen Stein graben. Seine Hände waren rau und rissig von der Arbeit, die niemals endete. Die Arbeit, die er allein tat. Während sie drinnen lag.
Er wusste genau, wo sie war. Wo sie immer war. Auf dem fleckigen, nach Rauch und Alkohol stinkenden Sofa, mit einer halbleeren Flasche Whiskey auf dem Bauch. Vielleicht schlief sie. Vielleicht war sie wach und
und beobachtete ihn durch die schmutzigen Fenster, während er sich
abmühte wie ein Tier.
Bill biss die Zähne zusammen. Sein Rücken schmerzte, aber er konnte nicht aufhören. Es gab niemanden sonst. Die Kühe mussten versorgt werden, die Zäune mussten halten. Sonst war alles umsonst.
„Bill!“ Ihre Stimme war schrill, durchdringend. Ein Geräusch, das sich in seinen Kopf fraß wie ein rostiges Messer.
Er wartete. Bewegte sich nicht. Vielleicht würde sie wieder einschlafen, würde vergessen, dass sie gerufen hatte.
„Bill, verdammt, du unnützer Bastard!“
Sein Kiefer mahlte. Seine Finger umklammerten den Spaten so fest, dass die Knöchel weiß wurden. Unnütz. Bastard. Er hörte die Worte seit Jahren. Immer dieselben. Immer mit demselben verächtlichen Lachen, das sie in ihre Sätze mischte, als wäre er ein Hund, der nicht parierte.
Langsam richtete er sich auf, ließ den Spaten in die Erde sinken. Die Luft roch nach Staub, nach Vieh, nach dem abgestandenen Rauch, der aus dem offenen Fenster drang.
Er ging zur Veranda, stieg die knarrenden Holzstufen hinauf. Im Inneren der kleinen, dunklen Hütte war es stickig. Der Gestank von Alkohol, kaltem Essen und alter Wut hing in der Luft.
Sie lag da, genau wie er es sich vorgestellt hatte. Ihre Augen halb geschlossen, das graue Haar strähnig, die Bluse fleckig. Eine leere Flasche Jack Daniels baumelte in ihrer Hand.
„Ich verdurste hier“, lallte sie. „Mach mir einen Drink.“
Bill stand ruhig da. Er betrachtete sie. Ihre rissigen Lippen, die gelblichen Zähne. Ihre Augen, in denen kein Funke Zuneigung lag. Nie gelegen hatte.
Seine Hände ballten sich zu Fäusten. Sein Blick fiel auf die leere Glasflasche auf dem Boden. Er dachte nicht oft über den Tod nach. Aber in diesem Moment fragte er sich, wie still es auf der Ranch wohl wäre – ohne sie.
Das Glas zeigte lustige Mickey-Mouse-Motive.
Vor langer Zeit hatte sie es mal aus der Stadt mitgebracht – nicht, weil sie etwas für Kindheit oder Nostalgie übrig hatte, sondern weil es kostenlos war. So eine Werbeaktion, damit Muffy Mustard seinen verdammten Senf loswurde. Er erinnerte sich genau an den Tag, als sie dieses Senfglas mit nach Hause brachte, eine dieser billigen Plastikflaschen in der einen Senf und das Glas in der anderen Hand. Sie hatte gelacht und gesagt, dass der Senf scheiße schmeckte, aber immerhin war ein Glas dabei.
Seitdem benutzte sie es für alles. Whiskey, Bier, billigen Dosenkaffee. Das Bild auf dem Glas war längst abgeblättert, Mickeys Gesicht kaum noch zu erkennen. Nur ein Schatten von dem, was mal da gewesen war – genau wie sie selbst.
Bill stellte das Glas vor ihr auf den Tisch. Es klapperte leise auf dem Holz, aber sie reagierte nicht. Nur ein zufriedenes Grunzen, als sie danach griff. Er sah zu, wie sie trank. Der Geruch von Alkohol stieg ihm in die Nase, brannte ihm fast die Augen. Sie schluckte gierig, wischte sich mit dem Handrücken über den Mund und ließ den Blick über ihn gleiten.Bill spürte das vertraute Pochen in seinen Schläfen, das ihn jedes Mal überkam, wenn sie sprach. Wenn sie ihn rief, um ihre Befehle zu erteilen, als wäre er ihr verdammter Diener. Sein Blick glitt zur leeren Whiskyflasche auf dem Boden. Dickes Glas, schwer genug.
Er hatte schon oft daran gedacht, sie einfach aufzuheben und ihr mit aller Kraft über den Schädel zu schlagen. Einfach nur zuzusehen, wie sie verstummte. Wie das widerliche Lallen aus ihrem Mund ein für alle Mal endete. Er stellte sich vor, wie die Flasche splitterte, wie sie mit glasigen Augen zu Boden sank, endlich still, endlich bedeutungslos.
Doch noch hielt ihn etwas zurück. Vielleicht war es die Routine, die ihm vertraut war – arbeiten, gehorchen, ertragen. Vielleicht ein winziger Rest dieser alten, dummen Hoffnung, dass sie sich irgendwann ändern könnte. Dass sie ihn eines Tages nicht mehr mit diesem abfälligen Blick ansah, als wäre er Dreck unter ihren Schuhen.
Oder vielleicht war es einfach nicht der richtige Moment. Noch nicht.
Bill stand reglos in der stickigen Luft des kleinen Wohnzimmers. Seine Finger zuckten, wollten sich um den Flaschenhals schließen, das Glas heben, die Sache beenden. Aber stattdessen stand er nur da, die Wut kochend, aber eingesperrt hinter einer Mauer, die er nicht ganz durchbrechen konnte.
Seine Mutter rülpste leise und richtete sich schwerfällig auf.
„Verdammt, Bill. Stotterst du jetzt auch noch, oder warum stehst du da rum wie ein Vollidiot?“
Sein Kiefer mahlte. Wortlos drehte er sich um, ging in die kleine Küche, riss eine neue Flasche aus dem Schrank. Ihre Lieblingsmarke – billig, stark, zerstörerisch. Er schraubte den Deckel auf, goss das bräunliche Gift in ein Glas, während sein Blick auf das große Fleischmesser fiel, das neben der Spüle lag. Auch damit hatte er schon oft Fantasien gehabt. Ein sauberer Schnitt, vielleicht zwei. So schnell würde es gehen. Er hob das Glas auf, starrte hinein. Seine Finger kribbelten, sein Herz pochte dumpf gegen seine Rippen. Dann griff er nach dem Messer. Nicht um es zu benutzen – nicht jetzt. Nur, um es in der Hand zu halten. Um das Gewicht zu spüren.Noch nicht, dachte er. Aber bald.
„Du stinkst nach Dreck“, murmelte sie, die Augen halb geschlossen. „Geh duschen. Ich kann dich nicht ansehen.“
Etwas in ihm zuckte zusammen. Nicht vor Schmerz – dafür war es zu spät. Nein, es war eher eine Art leises, inneres Klicken. Als wäre eine Schraube, die lange lose gewesen war, endgültig herausgefallen.
Er drehte sich um und ging. Doch in seinem Kopf sah er immer wieder das Glas mit Mickey Mouse. Und wie es in ihrer Hand zersprang.
Natürlich duschte er nicht. Wozu auch? Die Arbeit war noch nicht vorbei, und wenn er jetzt ins Haus ging, würde der Schmutz am nächsten Tag genauso wieder an ihm kleben.
Draußen dämmerte es bereits, die untergehende Sonne tauchte die Ranch in rostiges Licht. Bill zog die Stalltür auf, der schwere Holzriegel knarrte. Der vertraute Geruch aus altem Heu, trockener Erde und Tier blieb in der warmen Luft hängen.
Berta und Lilli hoben träge ihre Köpfe, als er eintrat. Zwei alte Kühe, deren Rippen man unter dem stumpfen Fell sehen konnte. Sie gaben längst keine Milch mehr. Eigentlich hätte er sie schon vor Jahren verkaufen oder schlachten müssen – doch seine Mutter hatte es nie getan. Und Bill fragte sich oft, warum. Wozu brauchte sie die alten Viecher noch?
Sie standen nur angekettet da, Tag für Tag, in der Dunkelheit des Stalls. Niemand kümmerte sich um sie außer ihm. Vielleicht, weil er Mitleid hatte. Sie konnten nichts dafür, dass sie hier waren, genau wie er.
Sanft strich er Lilli über die Stirn, während sie mit müden Augen vor sich hin starrte. Manchmal dachte er daran, die Ketten zu lösen, das Scheunentor zu öffnen und sie einfach laufen zu lassen.
Aber wohin? Hier draußen gab es nichts als trockenes Land, Steine, Staub. Sie würden verdursten, noch bevor sie die nächste Straße erreichten.
Bill seufzte und begann, frisches Wasser in die Tröge zu füllen. Sein Blick wanderte zur offenen Stalltür, hinaus ins weite, stille Land.
Manchmal fragte er sich, ob auch er jemals einfach gehen könnte. Aber genau wie Berta und Lilli wusste er, dass es keinen Ort gab, an den er gehen konnte.
Bill beugte sich über den Wassertrog und schöpfte mit den Händen das kühle Wasser. Er ließ es über sein Gesicht laufen, durch sein struppiges Haar, spürte, wie es den Schmutz von seinem Körper wusch. Es half kaum – der Staub und der Gestank der Ranch saßen längst in seiner Haut. Aber es war besser als nichts.
Er richtete sich auf, fuhr sich mit der nassen Hand durch die Haare und spürte, wie der Abendwind über seine nackte Haut strich. Dann trat er zurück ins Haus.
Sein Zimmer lag unter dem Dach, direkt über der Wohnstube, wo seine Mutter sich vermutlich schon in den Schlaf gesoffen hatte. Es war ein kleiner, kahler Raum mit schrägen Wänden, die an einigen Stellen rissig waren. Direkt unter dem Fenster klaffte ein Loch in der Wand, durch das der Wind zog. Eigentlich machte das Fenster damit keinen Sinn – es hielt weder die Hitze noch die Kälte ab.
Die Einrichtung war spärlich: ein alter Holzstuhl mit wackeligen Beinen, ein schmaler Tisch mit eingeritzten Kerben und sein Bett, das längst seinen Dienst getan hatte. Der Lattenrost war mehrfach geflickt, immer wieder hatte er neue Holzbretter eingesetzt, um ihn notdürftig zusammenzuhalten. Trotzdem knackte er bei jeder Bewegung. Die Matratze hatte in der Mitte eine tiefe Kuhle, die sich seinem Körper längst angepasst hatte, steif vor Dreck, Schweiß und den Jahren, die er darauf geschlafen hatte.
Er ließ sich darauf sinken, spürte, wie sich die Federn unangenehm in seinen Rücken bohrten. Mit einem langen, müden Seufzen starrte er zur Decke. Draußen war es still. Nur der Wind strich durch die weiten Felder, ließ das alte Holz des Hauses leise knarren. Bill schloss die Augen. Und zum ersten Mal an diesem Tag dachte er nicht daran, wie es wäre, wenn seine Mutter einfach nicht mehr da wäre. Zumindest nicht sofort. Bill ließ die Augen geschlossen und zwang sich, nicht an das Haus zu denken.
Tausende von E-Books und Hörbücher
Ihre Zahl wächst ständig und Sie haben eine Fixpreisgarantie.
Sie haben über uns geschrieben: