Unvollendete Zeiten - Zafer Çilingir - E-Book

Unvollendete Zeiten E-Book

Zafer Çilingir

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Beschreibung

Geboren 1929, während einer Naturkatastrophe in der Türkei, trägt Satılmış das unscheinbare und dunkle Stigma dieses Ereignisses mit sich. Es lässt ihn nicht los und beeinflusst fortwährend die Suche nach seinem Platz im Leben. Zur selben Zeit versucht Felix, dessen Leben durch eigene Tragödien gezeichnet ist, in Berlin eine Existenz aufzubauen. Doch er muss feststellen, dass er in einem sich wandelnden Deutschland immer wieder Schwierigkeiten hat, sich zurechtzufinden. Unabhängig voneinander werden beide in Zeiten von Krieg, Neubeginn und ihren persönlichen Ambitionen, in ihrer Entwicklung etliche Male auf die Probe gestellt. Schließlich treffen sie im geteilten Berlin der 60er Jahre zusammen, um dort nicht nur mit ihrem Schicksal, sondern auch mit ihrer Vergangenheit konfrontiert zu werden.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Zafer Çilingir

Unvollendete Zeiten

Roman

© 2023 Zafer Çilingir

Umschlaggestaltung und -motiv: © Zafer Çilingir

Umschlagbeschreibung: Ostpontisches Gebirge bei Çaykara - Türkei

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ISBN Hardcover: 978-3-384-02149-6

ISBN E-Book: 978-3-384-02150-2

Druck und Distribution im Auftrag :

tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Germany

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist Zafer Çilingir verantwortlich. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form ohne die Zustimmung von Zafer Çilingir verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag von Zafer Çilingir, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland.

Hinweis: Dieser Roman enthält Beschreibungen von körperlicher, psychischer und sexualisierter Gewalt.

Inhalt

Cover

Titelblatt

Urheberrechte

OF TÜRKEI 9. JULI 1929

BERLIN DEUTSCHES REICH 9. JULI 1929

TRABZON TÜRKEI 6. JULI 1949

PALANDÖKEN GEBIRGE BEI ERZURUM OSMANISCHES REICH 17. FEBRUAR 1916

SCHWARZES MEER TÜRKEI 6. JULI 1946

IM ZUG NACH ISKENDERUN TÜRKEI 19. SEPTEMBER 1950

BERLIN DEUTSCHES REICH 2. MAI 1945

TRANSPORTSCHIFF ›GENERAL JAMES H. McRAE‹ INDISCHER OZEAN 3. OKTOBER 1950

2. BRIEF

ZWISCHEN KUNU-RI UND SUNCH’ŎN KOREA 1. DEZEMBER 1950

4. BRIEF

BERLIN DEUTSCHLAND 13. AUGUST 1961

ISTANBUL TÜRKEI 8. NOVEMBER 1961

8. BRIEF

IM ZUG NACH MÜNCHEN, MÄNNERBEREICH JUGOSLAWIEN 3. DEZEMBER 1961

IM ZUG NACH MÜNCHEN, FRAUENBEREICH JUGOSLAWIEN 3. DEZEMBER 1961

MÜNCHEN DEUTSCHLAND 25./26. JUNI 1962

10. BRIEF

BERLIN DEUTSCHLAND 1. APRIL 1964

13. BRIEF

BERLIN DEUTSCHLAND 6. JULI 1967

Unvollendete Zeiten

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Titelblatt

Urheberrechte

OF TÜRKEI 9. JULI 1929

BERLIN DEUTSCHLAND 6. JULI 1967

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OF TÜRKEI 9. JULI 1929

Vom Westufer des Solaklı Flusses konnte Mahmut das komplette Flussdelta überblicken, das sich hier an der Mündung zum Schwarzen Meer über eine solch enorme Fläche ausbreitete, dass er beinahe glaubte, er befände sich an der Mündung eines gigantischen Stroms. Tatsächlich war der Solaklı aber alles andere als ein Strom, eher ein kleiner Fluss, dessen Größe je nach Jahreszeit und Regenfall variierte. Sein Blick verfolgte den Flusslauf in Richtung Süden. An den Gebirgshängen erkannte er vereinzelt die braunen Flächen der vom Regen abgetragenen Erde. Vor drei Tagen waren dort noch tiefgrüne Wälder gewesen, die voller Leben waren.

Wie viele Tiere wurden wohl aus dem Leben gerissen?, dachte Mahmut. Ein paar Vögel flogen scheinbar orientierungslos über ihm hin und her. Hatten auch sie ihr Zuhause verloren? Wussten auch sie nicht, wo sie jetzt leben sollen? Der Regen war allem gegenüber unerbittlich.

Die Sonne stand tief und schwebte wie ein gleißender Feuerball über dem Horizont des Schwarzen Meeres. Unter dem sich langsam aufklärenden Himmel herrschte eine schwüle, drückende Hitze, die sich wie ein feuchtes, heißes Handtuch um Mahmuts Nacken legte und von dort aus seinen ganzen Körper einnahm. Er trug an einem so heißen Tag wie heute mehr Kleidung als nötig. Seine noch immer durchnässten, halbhohen schwarzen Lederstiefel, an dessen linkem Paar sich schon die Sohle ein wenig löste, brannten wie Feuer auf den in feuchte Baumwollsocken gekleideten Füßen. Die schwarzgraue Tweedhose war zwar nur noch im Bereich des Saumes ein wenig feucht, sog aber gleichsam mit jedem Schritt, den er tat, das Wasser des Solaklı Flusses auf. Sein weißes Hemd klebte schweißnass an seinem Oberkörper und als er sich dafür entschied, den dicken, kakifarbenen Baumwollmantel auszuziehen, der ihn im Ersten Weltkrieg bei der Schlacht um Erzurum das Leben gerettet hatte, konnte der Schweiß unter seinen Achseln trocknen. Er sah an sich herunter. Das war alles, was er noch besaß. Er war sich des Fragens, wie es dazu kommen konnte, über geworden. Vor einer Woche hatte er noch Träume, Ziele, ein Leben gehabt. Doch nun war er auch des Lebens müde.

Mahmut legte den Mantel über seinen Arm und lehnte sich an den zerbrochenen Rest einer Hauswand, die noch vor ein paar Tagen zu einem Wohnhaus gehörte. Die Ruine erhob sich wie eine weitere, klaffende Wunde ins Stadtbild von Of. Eine Wunde, dachte Mahmut, sie wird wieder verheilen. Nicht so wie die, die ihm zugefügt wurde. Diese würde er für immer mit sich herumtragen müssen.

Was hätte ich denn anders machen können?, dachte er abwesend.

Er hatte seine schwangere Ehefrau Mevlüde, die mit schrecklichen Unterleibsschmerzen zu kämpfen hatte, zu einem Arzt bringen müssen.

Er musste seine sechsjährigen Zwillingstöchter Hülya und Fatma und seinen fünfjährigen Sohn Hüseyin zu den Nachbarn bringen, damit sie auf sie aufpassen.

Er musste Mevlüde auf der dreistündigen Fahrt nach Of im Ochsenkarren beruhigen.

Er musste den Arzt in Of bestechen, damit er seine Frau zuerst behandelte.

Er musste dennoch zwei Stunden das Wehgeschrei seiner Frau mit anhören, ohne ihr helfen zu können.

Er hatte Freude und Erleichterung verspürt, als er seinen neugeborenen Sohn in den Armen hielt. Doch er wusste damals noch nicht, dass er zum selben Zeitpunkt seine anderen Kinder verloren hatte.

Mit einem schwermütigen Gesichtsausdruck blickte Mahmut hinaus aufs Meer, während er langsam mit seinem Taschentuch den Schweiß von seinem Nacken wischte.

Auch wenn es im ostpontischen Gebirge sehr häufig regnete, konnte sich Mahmut nicht daran erinnern, dass der Solaklı jemals auf solch eine Breite angeschwollen war. Die Kraft, mit der die scheinbar unaufhörlich tosenden Wassermassen ihren Weg ins Schwarze Meer suchten, hatten ihn anfangs beeindruckt und gleichzeitig verängstigt. Auch die Fassungslosigkeit und Verzweiflung über das Leid, das diese Naturkatastrophe den Menschen zugefügt hatte, beschäftigte ihn. In diesem Moment aber waren all diese Gedanken und Gefühle verschwunden und von einer selbstmörderischen Apathie ersetzt.

Wären wir doch nur im Dorf geblieben, dachte er, während er mit tränenerfüllten Augen etwas in den rauschenden Wellen zu erkennen versuchte.

Am 6. Juli 1929 war die Region um der Stadt Of von heftigen, manche mögen sagen apokalyptischen Regenfällen heimgesucht worden. Ununterbrochen fiel der Regen vom Himmel herab und löste somit eine Naturkatastrophe aus, wie die Menschen aus der Region sie noch nicht erlebt hatten und in ihren mündlich weitergegebenen Geschichten so beschrieben:

Berggipfel, die seit Jahrtausenden die Landschaft prägten,

zerbrachen an der Last ihres Schöpfers und vergossen

brockenweise Tränen.

Die Wälder, Jahrhunderte lang der ihr nährenden Erde treu,

ergaben sich schließlich ermattet den unausweichlichen Klagen

und stürzten mit krachendem Geschrei in die Tiefe.

Die aufwendig gebauten Fachwerkhäuser, die sich vormals so

voller Stolz und Ehrfurcht an den Berghängen

aneinanderreihten, wurden wieder eins mit ihren Brüdern und

Schwestern, von denen sie Jahrzehnte zuvor durch

Menschenhand getrennt wurden.

Schließlich waren da noch die Menschen, die als schwächstes

Glied in dieser leidvollen Kette von Katastrophen dazu

verdammt waren, die Klagen der Natur aufzunehmen.

Hunderte von ihnen, niemand weiß es genau, taten dies.

Das letzte Glied der Kette und bei Weitem das stärkste war allerdings der Solaklı. Fortwährend und scheinbar unersättlich nahm er die mittlerweile verstummten Klagen der Hilflosen auf und wurde somit zu einer offenen Wunde, aus der das Leid und die Qualen mehrerer Generationen davon floss.

Die Zeit stand still und schien für viele auch keine Bedeutung mehr zu haben. Für die Menschen der Region war es ein so einschneidendes Ereignis, dass man sich noch Jahrzehnte später in Unterhaltungen an diese Katastrophe mit den Wörtern ›Selden önce1‹ und ›Selden sonra2‹ erinnerte.

Die Überlebenden, die es bis nach Of geschafft hatten, waren anfangs mit ihren Schmerzen allein. Außer den Erinnerungen an ihre Lieben hatten sie nichts Greifbares, anhand dessen sie trauern konnten. So floss auch ihre Trauer ungehindert flussabwärts. Als der Wasserstand des Solaklı etwas gesunken war, lag das ganze Ausmaß der Zerstörung buchstäblich vor ihren Füßen. Hier an der Mündung hatte der Fluss ein wenig an Kraft und Geschwindigkeit eingebüßt und gab somit nach und nach preis, was sich der Regen genommen hatte. Bis zu zwei Meter hoch türmten sich die zahllosen Schutthaufen, die sich dunkel und bedrohlich über die gesamte Mündung verteilten, zu Grabmälern auf. Trotz des Schreckens blieben die Menschen neugierig und fuhren mit kleinen Booten in Richtung der Schutthaufen, um in ihnen Überbleibsel ihres alten Lebens zu finden. Die Neugier, oder auch Sehnsucht nach Gewissheit verdrängte die Gefahr, in die sie sich begaben. Viele von ihnen erlitten dasselbe Schicksal wie die, nach denen sie suchten. Vielleicht würden sie einander in den Tiefen des Schwarzen Meeres wiederfinden.

Denen, die es bis zu den Trümmern und zurück geschafft hatten, bot sich ein entsetzliches Bild, über das sie berichteten. Zwischen den Resten vormaliger menschlicher Zivilisation fanden sich bis zur Unkenntlichkeit aufgedunsene Leichen; einige nackt, andere bekleidet, abgetrennte Gliedmaßen, deren Fleisch teilweise vom Geröll abgeschabt worden war. Sie blickten in Gesichter, in denen der versteinerte Ausdruck des Todes zu sehen war. Dieser Anblick zermürbte einigen Betroffenen so sehr die Hoffnungen, dass sie noch an Ort und Stelle buchstäblich an ihrem Kummer starben.

Mahmut war einer von ihnen, ein Suchender, einer, der dem Grauen ins Gesicht blickte. Das Dorf Mavrotaş, in dem er mit seiner Familie gelebt hatte, lag wie die meisten anderen Dörfer in der Gegend an einem Berghang. Umgeben von einem dichten Buchenwald und im Schatten eines bedrohlich geneigten Felsgipfels, zählte es 67 Einwohner und war somit eines der größeren Dörfer in der Umgebung. Doch von all den Bewohnern hatte Mahmut hier in Of noch niemanden zu Gesicht bekommen. Sämtliche Wege, die ins Landesinnere und auf die Berge führten, waren vom Regen weggespült worden. Eine bedrückende Vorahnung trieb ihn um. Als dann am zweiten Tag der Katastrophe die Überlebenden des Nachbardorfes kamen, bestätigten sie ihm die grausige Gewissheit. Die Bewohner aus Mavrotaş hatten keine Chance auf eine Flucht gehabt. Schon am Abend des ersten Tages, sagten sie, hatte der Regen einen massiven Erdrutsch ausgelöst, der zuerst Teile des Felsgipfels und Sekunden später den gesamten Gipfel zum Einsturz gebracht hatte. Dieser hatte »mit einem schrecklichen Grollen das komplette Dorf verschluckt!«, sagte der Vorsteher des Nachbardorfes und das Entsetzen stand ihm ins Gesicht geschrieben.

Vielleicht hatten Mahmuts Kinder doch überlebt und liefen nun ziel- und hilflos im Gebirge umher. Doch er war Realist genug, um allmählich zu begreifen, dass die Berichte von anderen Überlebenden keinen Spielraum für solche Gedanken zuließen. Auch wenn es so sein sollte, müsste er ihre Leichen finden und sie anständig begraben.

Er suchte tagelang, nächtelang nach ihnen. Und fand nichts, nicht einmal irgendwelche Kleidungsstücke, Möbel oder Geschirr, das vormals ihm gehörte. Es war so, als ob er nie in dem Dorf oder in der Region gelebt hatte. Der Ort, in dem er sich eine Zukunft aufbauen wollte und in dem er seine Kinder großgezogen hatte, war von nun an für immer und alle Zeiten auf keiner Landkarte mehr verzeichnet.

»Wären wir doch nur im Dorf geblieben«, sagte er schließlich leise mit der sonoren Stimme, die ihn älter wirken ließ als 35 Jahre. Die Sonne berührte schon fast den Horizont und das trübe Licht warf lange, unförmige Schatten, die zwischen den Ruinen entlang jagten. Der kräftige Wind war so warm, dass Mahmut den Baumwollmantel über seinen Arm hängen ließ. Er wandte sein Gesicht in Richtung des Windes und atmete tief ein. Die Meeresluft schmeckte salzig im Rachen und er schluckte tief. Vielleicht schluckte er auch einige Tränen herunter. Seine mittelkurzen Haare, die im Sonnenlicht ihren Grauschimmer verloren und eher weiß wirkten, wurden durch den Wind umher geweht und bedeckten ab und zu seine tief liegenden, dunkelbraunen Augen. Er senkte seinen Kopf, fuhr mit der Hand durchs Haar und blickte wieder hinunter zur Mündung. Von den Schutthaufen war nicht mehr viel zu sehen. So wie Mahmut standen nun viele der Überlebenden mit gesenkten Köpfen und schweren Körpern am Ufer. Familien mit ihren Kindern, Ehepaare, einsame Männer und Frauen, all jene teilten dasselbe Schicksal, nämlich nicht nur Angehörige verloren zu haben, sondern auch ihre Heimat. Nachts, so bekam es Mahmut zu hören, kamen immer wieder einige Plünderer, die ihr Glück versuchten. Doch es gab nichts Verwertbares mehr und als schließlich ein paar von ihnen ertranken, sagte man, es läge ein Fluch auf den Trümmern und ließ sie allein. Nachdem die letzten Leichen geborgen waren, sahen sie dem Drängen des Solaklı hinterher, der allmählich das Verlorene ins Schwarze Meer hinaustrieb.

Mahmut wischte sich mit seinem Taschentuch den Staub vom Gesicht, der durch den Wind, der pfeifend durch die Trümmer zog, aufgewirbelt wurde. Er verließ die Ruine, kletterte vorsichtig den Geröllhaufen hinab und sprang beherzt auf die Straße. Auf dieser Seite des Flusses waren kaum Menschen zu sehen. Die wenigen von ihnen waren wohl Einheimische aus Of. Mahmut fragte sich, was sie wohl erlebt hatten. Er dachte darüber nach, wie viele Opfer unter ihren Angehörigen waren und ob es sie ebenso schlimm getroffen hatte wie ihn. Aber in ihren Gesichtern sah er keine Trauer, keine Leere, nur der zielgerichtete Blick und bedächtige Gang begleitete ihren Weg.

So wie damals in Erzurum, im Winter 1916.

Auch dort zogen die Menschen durch die Ruinen der zerstörten Stadt.

Auch dort hatte er in die Augen Trauernder gesehen, das lebende Grauen oder aber stumme, monotone Blicke. Und auch dort hatte Mahmut Menschen verloren, die ihm nahestanden. Nur war die damalige Todesursache eine andere gewesen, von Menschen heraufbeschwört und vollkommen sinnlos.

Wo sollte man auch hingehen, wenn man seine Heimat verloren hat? So lief Mahmut ziellos durch die Straßen.

Seine Frau Mevlüde hatte ihm den Vorschlag gemacht, zu ihrer Schwester Emine nach Trabzon zu ziehen. Sie könnten so lange bei ihr wohnen, bis er dort eine Arbeit fände. Dann würden sie sich eine eigene Wohnung suchen und neu anfangen. Mahmut liebte seine Frau Mevlüde für ihre unendliche Stärke. Sie ließ sich von Rückschlägen nicht zurückhalten. Selbst die Verzweiflung über den Tod ihrer Kinder trug sie auf ihren Schultern, richtete sich jedes Mal morgens wieder auf. Anders als andere verließ sie sich dabei nicht auf das Seelenheil der Religion. Auch sie war islamisch erzogen worden, ihre Stärke allerdings rührte eher von ihren weltlichen Überzeugungen. So sah Mahmut sie. Er dachte daran, was sie gesagt hatte, am Tag, als sie ihre Kinder verloren:

»Auch wenn Gott mir meine Kinder genommen hat, habe ich unter Schmerzen ein neues Kind auf die Welt gebracht, nur um daraufhin wieder in Trauer zu versinken? Gottes Barmherzigkeit mit den Menschen mag grenzenlos sein, doch meine Barmherzigkeit mit ihm ist es nicht!«

An dem Tag, an dem Mahmut ihr die unglückselige Nachricht überbringen musste, hatte sie von jenem Glauben an Gott, der ihr blieb, wohl noch ein Stück mehr abgelassen. Mahmut kannte das, erkannte sich darin wieder. Er hatte selbst seit seinen Erlebnissen im Ersten Weltkrieg erhebliche Zweifel an der Existenz eines Gottes und am Sinn einer Religion.

Warum verliert man auch noch den Glauben an Gott, nachdem man den Verlust von geliebten Menschen ertragen muss?, dachte Mahmut, während er durch die Straßen lief, als plötzlich das harmonische Spiel einer ›Kemençe3‹ seine gedankliche Suche nach einer Antwort unterbrach. Er schaute sich um und sah einen Mann, der vor der Haustür eines noch halbwegs intakten Wohnhauses saß. Hingebungsvoll, mit geschlossenen Augen, ließ er den hypnotischen Klang des dreisaitigen Instruments ertönen. Mahmut hatte schon lange nicht mehr jemanden spielen hören und jener Mann beherrschte dieses Instrument außerordentlich gut. Er schätzte den Musizierenden auf um die fünfzig. Seine füllige und kräftige Statur war unter einem beigefarbenen Hemd zu sehen. Die mit mehreren Flicken bedeckte, schwarze Baumwollhose hing trotz der hockenden Haltung weit über den braunen Lederschuhen, von denen man nur die Vorderkappe sehen konnte. Seine viel zu große Ballonmütze aus grünem Cord hing schief auf seinen dichten, grau melierten Haaren, die ihm fast bis zu den Ohren reichten. Sein ebenso ergrauter, dichter Schnurrbart war ungepflegt und überdeckte seinen Mund. Im Groben und Ganzen erweckte er den Eindruck eines Obdachlosen, der mit seinem Instrumentenspiel ein wenig Geld von den Passanten erbat. Aber sein Kemençespiel war zu perfekt und virtuos, als dass es unbeachtet in den Gassen verhallen durfte.

Mahmut stand auf der gegenüberliegenden Straßenseite, etwa fünf Meter von ihm entfernt, als der Mann seine Augen öffnete und sein Spiel unterbrach.

»Éla daha, as káĥome!4« sagte der Mann auf Pontisch. Seine raue Stimme und die Tatsache, dass er Mahmut auf Pontisch ansprach, ließen ihn ursprünglich wirken. Mahmut war ein wenig irritiert von der plötzlichen Einladung. An das Pontische hatte er sich in dieser Region schon gewöhnt. Der Mann winkte ihm mit dem Streichbogen der Kemençe zu sich, »Éla! Éla daha!5«

Mahmut schaute sich kurz um und ging dann über die Straße auf ihn zu. Verwundert blickte er den Menschen nach, die unbeachtet der Anwesenheit dieses Mannes und seines Kemençespiels einfach vorbeigingen. Fast schien es, als ob sie ihn überhaupt nicht sehen konnten, als wenn der Mann für sie gar nicht existent war. Vielleicht hätte auch Mahmut zu einem anderen Moment diesen Spieler nicht wahrgenommen. Aber nun bemerkte er ihn, sogar sehr intensiv. Ihm stieg ein kräftiger, nach Zitrus duftender Hauch eines Parfüms in die Nase, als er sich neben den Mann setzte.

»Ich heiße Satılmış«, sagte der Unbekannte freundlich und reichte Mahmut die Hand. Mahmut erwiderte den Händedruck zurückhaltend. Satılmış ließ keine Zurückhaltung zu. Beherzt ergriff er Mahmuts Hand und schüttelte sie kräftig.

»Du sprichst doch Rumça6, oder? Hast du mich gerade eben verstanden?«, fragte er auf Türkisch und blickte ihn mit großen Augen an.

»Ja, habe ich«, antwortet Mahmut, woraufhin Satılmış ihm abermals kurz seine Hand schüttelte. Aufmunternd sah er ihn an:

»Willst du mir auch deinen Namen verraten oder soll ich weiterhin versuchen, ihn dir aus dem Ärmel zu schütteln?«

»Mahmut, ich heiße Mahmut Hayat.«

Die Freundlichkeit des Mannes überforderte ihn. Er legte den Mantel auf seinen Schoß und blickte zerstreut umher. Ihm war nicht nach Gesellschaft, aber das Gespräch zu unterbrechen schien ihm unhöflich. Mahmut hoffte, dass es nicht zu lange dauern würde.

»Also gut, Mahmut. Lass uns beim Türkischen bleiben, auch wenn ich das Rumça sehr schätze«, räusperte er sich. »Nun denn, mein Freund, erzähl, hast du was gefunden?«

Satılmış hielt immer noch Mahmuts Hand und das fühlte sich trotz aller Abwehr gut an. Eine warme, weiche Hand, die der Trauer etwas entgegensetzte. Trotzdem fragte er sich, ob man es ihm denn von außen auch ansähe, wie er sich von innen fühlte. Oder stellte Satılmış einfach jedem diese Frage? Er hatte das Gefühl, vom anderen ertappt zu werden. Und natürlich bemerkte Satılmış seine Unsicherheit. Er hatte den Anstand gehabt, einen Moment lang mit ihm zu schweigen. Dann löste er seine Hand, sprach aber in beruhigendem Ton.

»Du musst mir nicht antworten. Ich kenne deine Geschichte bereits. Weißt du, ich sehe dich hier seit ein paar Tagen. Was ich sehe, fällt mir auf. Da sind so viele verlorene Seelen und ihr stoisches Wehklagen erfüllt die Gassen. Sie alle erlebten dieselbe Tragödie. Aber du bist anders als sie. Ich weiß nicht, was dein Geheimnis ist. Natürlich trägst auch du deine Verluste mit dir herum. Aber du bleibst -«

»Meine Kinder«, fiel ihm Mahmut dann ins Wort, »meine beiden Töchter und mein Sohn.«

Satılmış nickte mitfühlend. Dann musterte er ihn und tröstete ihn mit seinem Blick: »Mein aufrichtiges Beileid, mein Freund. Möge Gott–«

»Nein!«, unterbrach er ihn, »bitte keine Gebete. Ich möchte nicht–«.

»Ich verstehe es schon«, beschwichtigte Satılmış. Aber Mahmut war entmutigt.

Er versteht es, dachte er. Nicht so wie der Passant, mit dem er sich vor ein paar Tagen gestritten hatte. Die arme Seele, die es nur gut mit ihm meinte, hatte zu jenem falschen Zeitpunkt ein Wenig Hoffnung verstreuen wollen.

Gott! Gott! Immer nur Gott! Was nützen mir solche Worte? Sollen sie mir meine Kinder wiedergeben? Der Tod ist unbarmherzig und wenn es Gott gibt sowieso. Er hat mir nicht mal ihre Körper gelassen, damit ich jetzt über sie trauern könnte! Wie kann ich mit nichts etwas Leeres mit Leben füllen?

Satılmış ließ sich aber nicht entmutigen. Er kannte die Hoffnungslosigkeit der Menschen hier schon und sah es ihnen nach. Aber manchmal fand er sie auch zu verbittert.

»Natürlich, natürlich, ich verstehe schon. Zu oft vergesse ich, dass Würde und Respekt in ihrem eigentlichen Wesen eine manchmal fragwürdige Freundschaft zu den Menschen pflegen. Zumindest scheinen wir dieselben Erfahrungen gemacht zu haben.« Er legte die Kemençe und den Streichbogen vorsichtig an die Treppenstufen, so als brauchte er seine Hände.

Mahmut schüttelte den Kopf: »Keiner kann meinen Schmerz teilen. Nicht einmal die anderen Überlebenden, die ihre Liebsten verloren haben. Jeder ist mit seinen Schmerzen allein.«

»Hast du mir nicht gerade von deinem Leid erzählt und ich habe dir zugehört? Du bist nicht allein!«, sagte Satılmış zuvorkommend und senkte seinen Kopf.

»Weißt du, deine Geschichte erinnert mich an jemanden, dem ein ähnliches Schicksal widerfahren ist. Es ist auch eine Geschichte von Schmerz, Trennung und Tod und es ist noch nicht so lange her. Doch dies war keine Naturkatastrophe, die aus heiterem Himmel über ihn und die anderen Hunderttausenden herfiel.«

»Was kann denn Hunderttausenden so viel Leid zufügen?«, erwiderte Mahmut. Satılmış’ Körper war nach vorn gebeugt. Die Hände hatte er vor dem Körper gefaltet.

»Diese Katastrophe war geplant, von Menschen, die nicht wussten was sie taten. Menschen, die in anderen Menschen nur ein Aktenzeichen oder eine Nummer sehen. Im Grunde genügte ein Stempel auf einem Formular und dieser jemand verlor sein Zuhause, seine Freunde, seine Heimat. Man brachte ihn in ein Land, das er nicht kannte und dessen Sprache er kaum sprach. Man gab ihm eine neue Bleibe, eine Wohnung, die vormals jemanden gehörte, der möglicherweise auch aufgrund eines Stempels auf einem Formular gezwungen war diese Wohnung zu verlassen, um ebenfalls in ein unbekanntes Land zu gehen, dessen Sprache er kaum sprach. Der Jemand saß also in seiner neuen Wohnung und fragte sich, wer sie bewohnte. Dachte der Vorbesitzer so wie er selbst? Unwahrscheinlich! Vielleicht hatten beide Schwierigkeiten sich in ihrer neuen Umgebung zurechtzufinden.« Mahmut wartete still, dass Satılmış weiterredete. Inzwischen hatte er die Arme vor dem Oberkörper verschränkt. Er musste auch eine Menge erlebt haben. Er wüsste gern mehr über ihn.

»Dieser Jemand wurde lange von den Einheimischen gemieden. Er hat bis heute nicht erfahren warum und das schmerzt ihn sehr. Zwar konnte er sich schrittweise gut in die neue Gesellschaft einleben, doch er musste sich lange einreden, dass ihn selbst keine Schuld an seiner vormaligen Isolation traf. Er gab auch nicht den Einheimischen die Schuld. Diejenigen, die schuldig waren, saßen auf kunstvoll verzierten Stühlen, hinter mächtigen Tischen, die sich in noch mächtigeren Räumen innerhalb eines gewaltigen Hauses befanden. Von dort aus wurde also entschieden, wo dieser jemand zu leben hatte. Wie dieser jemand leben sollte, darüber musste er sich selbst Gedanken machen. So saß er, wie möglicherweise Hunderttausende andere auch, nächtelang in seiner winzigen Wohnung, auf einem Hocker, hinter einem notdürftig zusammengenagelten Tisch und suchte nach Antworten. Einige hat er schon gefunden, aber viele sind noch im Verborgenen.«

Er hielt kurz inne, wischte sich über die Augen und fuhr fort: »Deswegen meine Frage, hast du was gefunden?«

Mahmut sah in Satılmış’ errötete Augen. Er hatte Mitleid mit ihm und war nicht in der Lage, auch nur ein Wort herauszubringen. Stattdessen blickte er auf den Boden und verneinte mit langsamen Kopfbewegungen.

Satılmış nickte ihm tröstend zu: »Ich weiß, mein Freund. Auch ich kenne den Schmerz unbeantworteter Fragen. Und das schon seit sechs Jahren.«

Satılmış war einer der Betroffenen, die durch den sogenannten Griechisch-Türkischen Bevölkerungsaustausch von 1923 gezwungen wurden, ihre griechische Heimat zu verlassen. Der Austausch sollte jedoch kein Austausch werden, sondern eine geplante Vertreibung, vertraglich festgelegt und brutal vollzogen. Mahmut hatte mit ansehen müssen, wie Tausende von Pontosgriechen aus seiner Umgebung ihre Häuser verlassen mussten. Wie Karawanen reihten sich die teilweise völlig überladenen Pferde- und Eselskarren aneinander bis hinunter ins Tal. Vom Imam des Dorfs erfuhr Mahmut, dass sie von Trabzon aus mit Schiffen nach Griechenland gebracht wurden. Er verstand es schon damals nicht. Die Erinnerungen an den Ersten Weltkrieg kamen wieder in ihm hoch und er wusste, dass dies ein unwiederbringliches Ungleichgewicht in der Gesellschaft hervorrufen würde.

Wie war es möglich, Menschen zu vertreiben, die seit Jahrhunderten hier lebten?, dachte Mahmut.

Er machte keine Unterschiede zwischen ihnen, für ihn waren es seine Landsleute. Doch die im Vertrag von Lausanne beschlossene Zwangsumsiedlung enthielt einen entscheidenden Punkt. Nicht die Herkunft oder Sprache der Menschen wurde als Kriterium für die Umsiedlung festgelegt. Die Nationalität eines jeden wurde in erster Linie über die Religionszugehörigkeit bestimmt. Für die Interessen der Vertragsparteien, die jeweils einen homogenen Nationalstaat errichten wollten, war diese Entscheidung natürlich von Vorteil, nicht aber für die Menschen, die davon betroffen waren.

»Ich achte jeden Menschen, der einen Glauben an Gott hat. Doch ich verachte jeden Menschen, der den Glauben dafür nutzt, eine Gesellschaft zu entzweien!«, sprach der Imam des Dorfes seinerzeit in einer Freitagspredigt. In der Tat gab es keinerlei Schwierigkeiten mit den Pontosgriechen in und um Mavrotaş.

Die Schwierigkeiten traten erst später auf, unter anderem aufgrund der Tatsache, dass die Summe der aus Anatolien vertriebenen griechisch-orthodoxen Bevölkerung die der aus Griechenland vertriebenen türkisch-muslimischen Bevölkerung fast um das Dreifache übertraf. Dieses Ungleichgewicht hatte dramatische Folgen, denn nicht viele der ankommenden Türken, in der Summe um die 450.000, ließen sich in den Gebieten nieder, aus denen die Griechen vertrieben wurden. So konnte man eine vormalig funktionierende Infrastruktur nicht mehr aufrechterhalten und es verwaisten mitunter komplette Ortschaften.

Auf der anderen Seite hatte Griechenland ebenfalls Probleme, die vertriebenen Griechen zu integrieren. Mit einem Mal erfuhr Griechenland einen Bevölkerungszuwachs von 1,2 Millionen Menschen, bei einer einheimischen Bevölkerung von knapp sechs Millionen. Die eigens aufgebauten Lager waren unzureichend ausgestattet, was Krankheiten und Epidemien zur Folge hatte. Das ehemals von den Türken besiedelte Gebiet, das den Vertriebenen zugeteilt wurde, war von zu geringer Größe, als dass es von Hunderttausenden besiedelt und wirtschaftlich betrieben werden konnte.

Letztlich waren die Vertriebenen auf beiden Seiten auch noch starken Aversionen der Einheimischen ausgesetzt gewesen. Obwohl die Gebiete lange Zeit zum Osmanischen Reich gehörten, hatten die Menschen dort zum Teil ihre eigene Kultur und Sprache entwickelt. Die Einheimischen, die nun mit ihnen zurechtkommen mussten, sahen aber darin etwas Fremdartiges und Unwillkommenes.

So wurde in kürzester Zeit und ohne Rücksicht auf die Betroffenen das Gleichgewicht einer vormaligen, wenn auch nicht ganz ohne Reibung funktionierenden, aber dennoch ausgeglichenen Gesellschaft immens verschoben.

»Vielleicht wird die Zeit dieses schreckliche Ungleichgewicht irgendwann wiederherstellen«, hatte der Dorfimam an einem weiteren Freitag gesagt.

»Doch die Ungerechtigkeit wird durch keine Zeit der Welt behoben werden können!«, sagte Mahmut.

Sein Blick war starr und auf den Boden gerichtet. Satılmış sah ihn fragend an, aber bevor er aussprach, was er dachte, wurde er vom Ruf des Muezzins unterbrochen. Mahmut schaute auf und sah die Straße in östlicher Richtung entlang, von wo aus der Gebetsruf kam. Er konnte allerdings kein Minarett sehen. Die Stimme des Muezzins erinnerte ihn an den Dorfimam.

Ist auch er in den Fluten gestorben?

»Willst du zum Gebet? Geh nur, ich möchte dich nicht aufhalten«, sagte Satılmış und nahm die Kemençe in die Hand. Es schien, als wollte er aufbrechen.

Nach Hause, in die fremde Wohnung, an den notdürftig zusammengenagelten Tisch.

»Vielleicht hast du Recht«, sagte Mahmut entschlossen. »Ich war auf der Suche nach Antworten, nach Fragen, ich weiß es nicht. Und je mehr ich suchte, desto unerreichbarer waren sie.«

Satılmış legte die Kemençe wieder vorsichtig auf die Treppenstufen. Er war ein aufmerksamer Zuhörer.

»Ich glaube nicht, dass wir beide je eine Antwort finden. Wozu sich weiterhin den Kopf zerbrechen, über den Zufall, der mir meine Kinder genommen hat, über die Willkür, welche dir deine Heimat genommen hat. Wenn es sich doch nicht ändern lässt.«

Ein plötzlicher Windstoß fegte durch die Straße. Mahmut zog seinen Mantel wieder an. Die Sonne versuchte zwar noch mit letzter Kraft die kalten Ruinen der Stadt zu erwärmen, ehe sie am Horizont vom Schwarzen Meer verschluckt würde, doch das gleißende Rot täuschte, denn es wurde merklich kälter.

»Was wirst du jetzt tun?«, fragte Satılmış und schob seine Mütze zurecht. Mahmut sah, wie ein verirrter Sonnenstrahl sein Gesicht blendete.

»Vielleicht gehe ich nach Trabzon, zusammen mit meiner Frau und meinem Sohn. Hier kann ich nicht bleiben. Dieser Ort ist voller schrecklicher Erinnerungen«, sagte er und knüpfte sich den Mantel zu.

»Dein Sohn? Sagtest du nicht, dass deine Kinder gestorben sind?«

»Er wurde vor drei Tagen hier in Of geboren. Deswegen bin ich auch hier und nicht bei meinen Kindern gewesen, wo ich vielleicht hätte sein sollen -«

»Damit ihr alle gestorben wäret?«, fiel ihm Satılmış ins Wort. »Nur ein Narr hält sich durch Selbstmitleid am Leben! Nein, diesen törichten Gedanken solltest du vergessen.«

Mahmut wollte ihm antworten, doch er sah Satılmış nachdenken. Seine Augen schienen in allen Richtungen zu suchen. In den kurzen Momenten, in denen seine Blicke Mahmuts Augen trafen, wirkte es so, als würde er durch ihn hindurchschauen.

»Dein Sohn hat euer Leben gerettet!«, sagte er plötzlich, »Ihm habt ihr es zu verdanken, dass ihr weiterhin in die Zukunft schauen könnt. Es stimmt, ihr habt dafür einen hohen Preis zahlen müssen, aber bade dich deshalb nicht in Trübsal. Wer hätte denn ahnen können, dass so ein Unwetter geschieht? Und in Trabzon werden dich die Erinnerungen genauso verfolgen!«

»Aber sie wirken stärker, je näher man am Ort des Geschehens ist.«

»Wenn das so ist, dann solltest du nach Istanbul gehen. Oder gleich nach Amerika. So weit weg wie möglich. Glaubst du, dort wirst du nicht an deine verstorbenen Kinder denken?«

Er hat Recht, dachte Mahmut und sah verschämt zu Boden.

»Ich stelle dir diese Frage ungern«, zögerte Satılmış, »Aber willst du die Erinnerung an deine Kinder verdrängen? Ich meine nur, ich bin 1500 Kilometer von meiner Heimat entfernt. Seit sechs Jahren denke ich jeden Tag an meine Frau und meine Tochter. Sie liegen beide auf einem Friedhof in Saloniki. Ich kann sie weder besuchen noch ihre Gräber hierher umbetten lassen. Mit dieser Situation zurechtzukommen hat mich Kraft gekostet und ich wäre bestimmt daran zusammengebrochen, wenn ich nicht jeden Tag an sie gedacht hätte. Weißt du, auch die schrecklichste Erinnerung kann ein Anker sein, der dich am Leben hält.«

Satılmış’ Worte berührten Mahmut und die eigene Verzweiflung wirkte ein wenig schwächer. Es war eine dieser Aussagen, der man kaum eine Antwort der Welt entgegensetzen konnte, ohne dass die Glaubwürdigkeit darunter leiden würde. Insbesondere dann nicht, wenn vorher die eigene Sicht der Dinge genau durch so eine Erzählung relativiert wurde. Mahmut war überfordert. Satılmış aber blickte einfach weiter auf seine gefalteten Hände, deren Finger sich hin und her bewegten und die jeweils andere Hand streichelten. Schließlich stand Mahmut auf und reichte Satılmış die Hand.

»Ich danke dir, Satılmış, für deine weisen Worte. Du hattest Recht, unsere beiden Schicksale ähneln sich. Aber du bist gestärkt aus deiner Situation herausgekommen. Die Unterhaltung mit dir hat mir Kraft gegeben. Ich werde versuchen, mich daran festzuhalten und sie nicht zu verlieren. Ich habe schon genug verloren.«

Satılmış’ Händedruck war fest und das Schütteln wieder kräftig. Mahmut war erleichtert.

»Danke deinem Sohn, nicht mir. Ich bin vielleicht ein kleiner Antrieb gewesen, doch dein Sohn gibt dir die Kraft, die du auf deinem weiteren Weg brauchst.«

»Und du? Was ist mit dir? Was wirst du nun tun?«, fragte Mahmut und löste seine Hand aus der des anderen.

»Mach dir um mich keine Gedanken. Ich werde zurechtkommen. Ich habe eine Zwangsumsiedlung überlebt und nun diese Naturkatastrophe. Es gibt nicht viel, das sich mir noch in den Weg stellen könnte.«

Satılmış nahm die Kemençe und den Streichbogen in die Hände. Mit einem zufriedenen Lächeln nickte er Mahmut zu, klopfte ihm auf die Schulter und ging ein paar Schritte, drehte sich dann aber noch einmal um.

»Dein Sohn, wie heißt er eigentlich? Wie ist sein Name?«

»Wir hatten noch keine Gelegenheit, uns darüber Gedanken zu machen«, antwortete Mahmut. Auch er war schon einige Schritte in entgegengesetzter Richtung gelaufen.

»Gebt ihm einen guten Namen! Er ist das Einzige, dass einen Menschen niemals genommen werden kann und sein Leben lang begleiten wird. Wohin es ihn auch ziehen mag.«

Er winkte Mahmut zu und ging die Straße herunter. Mahmut schaute ihm noch eine Weile hinterher, ehe er sich umdrehte und wieder seiner Frau und seinem Sohn entgegenging, die zusammen mit dreißig anderen Überlebenden in einem leerstehenden Haus am westlichen Stadtrand von Of untergebracht waren.

Die Sonne war schon im Schwarzen Meer verschwunden. Nur noch Fragmente ihres goldenen Schimmers reflektierten an den dicht aneinander liegenden Schäfchenwolken und spendeten so noch einige Minuten Tageslicht. Auf dem Weg zum Haus dachte Mahmut über die Begegnung mit Satılmış nach. Er überlegte, wie es sich wohl anfühlte, vertrieben zu werden; in ein fremdes Land, ohne Familie, ohne Freunde zu gehen.

Dürfte ich mir aussuchen, wo ich leben möchte?

Und was würde er dort zuerst tun? Vermutlich würde er sich eine Arbeit suchen. Aber welche?

Als Bauer müsste ich wohl aufs Land ziehen.

Und was, wenn man ihn in einer Stadt ansiedelte? Wie würde er sich verständigen?

Trabzon ist nicht weit weg und Probleme mit der Verständigung würde ich dort auch keine haben.

Als Bauer würde er dort vielleicht auch keine Arbeit finden, aber das störte ihn nicht. Er entschied, dass es an der Zeit für einen Neubeginn war. Einen Neubeginn in der Stadt.

Ich könnte als Werkzeugmacher arbeiten. Ich war auch immer gut darin Dinge zu reparieren. Wenn es gut läuft, könnte ich sogar einen eigenen Betrieb eröffnen!

Mahmut war guten Mutes. Vor ein paar Tagen dachte er noch daran, in die Gegend um Maçka zu gehen. Einigen Überlebenden wurde angeboten sich dort niederzulassen, weil viele Pontosgriechen vor der Zwangsumsiedlung dort beheimatet waren. Deren Höfe lagen nun brach und warteten auf Wiederbelebung. Doch Mahmut hatte sich nun entschieden: Er würde sein Glück in Trabzon versuchen.

Abrupt hielt er inne. Hätte er nicht Satılmış fragen können, ob er mit ihm käme? Noch einmal schaute er zurück, aber außer der dunklen Straße erwiderte nichts seinen Blick. Stattdessen erschien bereits in Sichtweite das Haus, in dem die Überlebenden untergebracht waren.

Es hatte drei Stockwerke und war wie fast alle Häuser in der Gegend im traditionellen Stil erbaut. Der Grundriss war nahezu quadratisch. Die Wände vom fensterlosen Erdgeschoss bestanden aus Natursteinen. Nur eine große, wuchtige Holztür durchbrach die massive Wand. Die beiden Geschosse darüber waren im Fachwerkstil erbaut und zur Straßenseite mit einem Erker versehen, der durch halbrunde Stützen getragen wurde. Aus den hohen, schmalen Fenstern war nichts zu hören. Das einzige Lebenszeichen, das man als solches vernehmen konnte, war das flackernde Licht einer Petroleumlampe im zweiten Stock.

Mevlüde scheint noch wach zu sein.

Mahmut war erleichtert. Er ging zur Tür und öffnete sie vorsichtig, konnte aber dennoch nicht verhindern, dass sie ein knarzendes Geräusch von sich gab. Eine schwere, verwohnte Luft kam ihm entgegen und er trat vorsichtig über die Schwelle, die innen höher war. Wer es nicht wusste, konnte leicht darüber stolpern. Mahmut schloss die Tür und war erleichtert. Sein Eintreten hatte niemanden geweckt.

Das Erdgeschoss war ein einziger großer Raum, dessen Decke durch vier symmetrisch angeordnete, hölzerne Stützen getragen wurde. Diese Anordnung und die ungewöhnlich große Deckenhöhe ließen den Schluss zu, dass der Raum vormals als Scheune genutzt wurde. Jetzt war er fünfzehn Personen eine Bleibe. Sie lagen im ganzen Raum verteilt, schliefen zwischen ihrem Hab und Gut, das in der Ordnung, die ihnen in diesem Moment möglich war, um sie herumlag; manches hastig verstaut in Tüchern, Säcken und Körben aus geflochtenen Haselzweigen. Mahmut war ein wenig erstaunt darüber, dass einigen von ihnen sogar die Zeit geblieben war, ein paar Möbel auseinander zu bauen und sie mitzunehmen. Er bewegte sich langsam durch den spärlich von drei Petroleumlampen beleuchteten Raum in Richtung der steinernen Treppe, die sich am anderen Ende des Raumes befand. Ein seltsamer Gedanke beschäftigte ihn. Mahmut überlegte, was er wohl mitgenommen hätte, wenn er rechtzeitig im Dorf gewesen wäre.

Die Kommode? Nein, die wäre zu schwer gewesen. Ebenso wie der Kleiderschrank oder der Esstisch. Vielleicht ein paar Bänke und Hocker? Aber warum, was hätte ich davon? Ich hätte sie verkaufen können. Doch die wenigen Lira, die ich dafür bekommen hätte, wären der Anstrengung nicht wert gewesen.

So schlich er sich gedankenschwer die Treppe hoch. Im ersten Stock folgte Mahmut der Windung des kleinen Flurs, lief vorbei an den drei geschlossenen Türen, aus denen ebenfalls keine Geräusche kamen. Mit bedächtigen Schritten stieg er die hölzerne Treppe hoch, die bei jeder zweiten Stufe leise quietschte.

Im zweiten Stock gab es nur zwei kleine Zimmer, eines nur für Mahmut und Mevlüde. Sie waren die Einzigen, die ein Neugeborenes bei sich trugen. Man wollte ihnen die Ruhe geben, »die eine neu gegründete und junge Familie in diesen Zeiten braucht«, hatte der Kommandant der Gendarmerie an jenem Tag gesagt. Außerdem war es das einzige Zimmer, das noch teilweise möbliert war; mit einem in die Jahre gekommenen, osmanischen Diwan, einem kunstvoll geformten hölzernen Schaukelstuhl und mehreren Wandteppichen. Ein fast schon prachtvoller Ort in einer schwierigen Situation. Mahmut war sehr dankbar, hatten sie doch nichts anderes dabei als ihre Kleidung, die sie am Leibe trugen.

Leise öffnete er die Tür. Mevlüde schlief auf dem Diwan, halb zugedeckt mit einem der Wandteppiche. Ihr rechter Arm lag ausgestreckt auf der Lehne und ihre Finger berührten sanft die Rückenlehne des Schaukelstuhls, in dem ihr Neugeborenes schlief. Mahmut zog seine Schuhe aus und, nachdem er zwei Schritte gemacht hatte, auch seine Socken. Sie hinterließen feuchte Flecken auf dem Holzfußboden. Er ging zum Schaukelstuhl und betrachtete seinen Sohn. Eingewickelt in Tüchern und kaum größer als ein Brotlaib, schlief er tief und fest. Sein schnelles Atmen war trotz der vielen Lagen Tücher deutlich sichtbar. Die Trägheit des Tages, die Gedanken um die Zukunft, der Verlust seiner Kinder, all das geriet ein wenig in den Hintergrund, wenn er in das kugelrunde Gesicht seines Sohnes schaute. Es war so, wie es Satılmış gesagt hatte und Mahmut fühlte die Kraft, die von diesem kleinen Lebewesen ausging. Er würde nicht zulassen, noch einmal eins seiner Kinder zu verlieren.

»Du bist zurück«, sagte Mevlüde schläfrig. Sie zog langsam ihren Arm von der Lehne und versuchte sich aufzurichten.

»Bleib liegen«, flüsterte Mahmut und hielt sie sanft an ihren Schultern. Mevlüde war noch zu geschwächt durch die Entbindung und ließ sich von Mahmut wieder hinlegen. Sie schloss ihre Augen und drehte ihren Kopf zur Seite.

»Bist du wieder am Fluss gewesen?«

»Ich habe mir nur ein wenig die Beine vertreten.«

Er schob ihr geöffnetes Kopftuch ein wenig beiseite und streichelte sanft über die schulterlangen, hellbraunen Haare, die wie ein seidenes Tuch über ihre linke Wange drapiert schienen. Instinktiv drehte sie ihren Kopf in Richtung der Berührung.

»Er war ganz ruhig und ist vor einer Stunde eingeschlafen«, sagte sie müde.

Wie schön sie ist, dachte er, während er ihr Gesicht ansah. Obwohl sie nur ein Jahr jünger als er war, wirkte sie noch fast jugendlich. Ihr leicht ovales, konturloses Gesicht wirkte weder faltig noch unrein. Vom Alter war es kaum gezeichnet. Ihre schmale, spitze Nase und die vollen Lippen fand Mahmut wunderschön, sie wirkten sinnlich.

Mahmut hatte Glück gehabt, als er im Juni 1919 um ihre Hand bat. Mevlüde war sehr begehrt und wurde sogar von Männern aus den umliegenden Dörfern umworben. Mevlüdes Vater Süleyman, ein Veteran des Türkisch-Griechischen Krieges von 1897, bevorzugte Mahmut wohl auch wegen der Tatsache, dass er im Ersten Weltkrieg tapfer gekämpft hatte. Und glücklicherweise fand auch Mevlüde, dass Mahmut der richtige aller Werber war. Seine unaufdringliche, eher schüchterne Art hatte sie von ihm eingenommen. Er war vielleicht nicht der schönste Mann, doch war er derjenige, der eine Vorstellung und die Mittel besaß, wie sie in Zukunft zusammenleben würden. So hatte es sie gefreut, als ihr Vater seine Zustimmung für die Hochzeit gegeben hatte.

Das leise, schlaftrunkene Seufzen seines Sohnes unterbrach seine Gedanken. Er schlief weiterhin tief und fest, bewegte dabei seinen winzigen Kopf unruhig hin und her. Mahmut stellte fest, dass er selber müde war. So nahm er die beiden Wandteppiche, die zusammengerollt in der Ecke lagen und faltete sie zu einer kleinen Matte zusammen. Dann legte er sich darauf und deckte sich mit seinem Mantel zu.

Mahmut hatte immer noch keine Idee für einen Namen. Er war müde, doch die Unruhe hielt ihn noch eine Weile wach.

Ein bedeutender Name, ein Name durch den wir neue Kraft schöpfen können.

So bekam sein Sohn den Namen, der ihn sein ganzes Leben lang begleiten würde, Satılmış Hayat.

***

1 Vor der Überschwemmung

2 Nach der Überschwemmung

3 Ein regionales Lauteninstrument

4 »Komm her, setz dich zu mir!«

5 »Komm! Komm her!«

6 Regionale Bezeichnung für die Pontische Sprache

BERLIN DEUTSCHES REICH 9. JULI 1929

Die Uhr, die sich über dem Eingang des imposanten Anhalter Bahnhofes befand, zeigte 11:20 Uhr. Rund um den Bahnhof herrschte reges Treiben.

Das Gefühl, sich in einer Großstadt zu befinden, trat hier am Askanischen Platz nicht nur am Abend besonders hervor. Auch tagsüber wurde durch die ankommenden, aber auch abreisenden Menschen das Flair einer pulsierenden Metropole verbreitet. Neuankömmlinge, die unschuldig und naiv ihr Glück in Berlin suchten und früher oder später dieser Stadt verfallen würden, sei es im positiven oder negativen Sinne. Einheimische, die es noch gerade geschafft hatten, ihrem eigenen Verfall entgegenzuwirken und noch rechtzeitig die Kurve nehmen konnten. Oder aber einfach nur Reisende, die es sich leisten konnten, für ein paar Tage ihrem Alltag zu entfliehen.

Gleich mehrere Hotels boten in der Umgebung Übernachtungsmöglichkeiten an. Das beeindruckendste von allen, dass weit über die Grenzen des Deutschen Reichs bekannte Hotel Excelsior, befand sich direkt gegenüber dem Anhalter Bahnhof. Das Hotel stach nicht nur aufgrund seiner Größe aus dem Straßenbild der Königgrätzer Straße hervor, sondern auch durch die neobarocken Stilelemente, die eine gewisse Exklusivität vermitteln und dem Namen des Hotels alle Ehre erwiesen. Auch wenn beide Gebäude, der Anhalter Bahnhof und das Hotel Excelsior, sich architektonisch im Historismus befanden, verband sie dennoch mehr als ihre beeindruckende Architektur.

Zum einen waren beide Gebäude, von ihrer Nutzung und Bedeutung her, die größten ihrer Art im Deutschen Reich. Zum anderen gab es da aber auch diese ungreifbare Magie zweier Sehnsuchtsorte, die wiederum unterschiedlicher nicht sein konnten. Auf der einen Seite ein Ort der Bewegung, der Hektik, der flüchtigen Blicke. Auf der anderen Seite ein Ort der Ruhe, des Wohlgefühls, der Gemeinsamkeit. Um diese Sehnsuchtsorte in gewisser Weise zu vereinen, war es im Grunde nur konsequent, dass beide Gebäude durch einen unterirdischen Tunnel, natürlich dem längsten Hoteltunnel Europas, miteinander verbunden waren.

Mehrere Straßenbahnlinien kreuzten einander hier am Askanischen Platz und beförderten die Menschen in alle Himmelsrichtungen. Das sporadische Klingeln der Straßenbahnglocken vermischte sich ab und an mit dem teilweise rhythmischen Geklapper von Hufen, hervorgerufen von den Pferden, die immerfort gleichmütig ihre Droschken durch die Straßen zogen. Die Droschken wurden schrittweise von den immer zahlreicher werdenden Autos, die sich mit ächzenden Motorengeräuschen die Vorherrschaft auf den Straßen genommen hatten, verdrängt. Die Autos dagegen standen in direkter Konkurrenz zu den Doppeldeckerbussen, die mitunter noch lauter kreuz und quer durch die Straßen fuhren und ihren Teil zum pulsierenden Leben der Stadt beitrugen. Vervollständigt wurde diese Geräuschkulisse durch das einhellige Pfeifen der Dampflokomotiven, die tagein, tagaus am Anhalter Bahnhof verkehrten.

Noch vor ein paar Monaten, als Felix mit seinem Vater regelmäßig den Bahnhof besuchte, hatte er eine unglaubliche Freude daran gehabt, wenn die Dampflokomotiven langsam in den Kopfbahnhof einfuhren und ihre Pfeife betätigten. Doch seit zwei Monaten ging er nicht mehr so häufig zu den Bahnsteigen. Die Polizei achtete vermehrt auf Bettler und das Gesindel, die die Passagiere belästigen könnten. Einmal wurde er fast dabei erwischt, wie er einer Frau die Handtasche stehlen wollte. Er konnte zwar noch das silberne Feuerzeug aus der Tasche nehmen, aber die umstehenden Passagiere hätten ihn beinahe gepackt. Wenn überhaupt noch, schlich er sich nur am Abend in den Bahnhof und auch nur dann, wenn dort nicht so viele Polizisten waren.

Der Himmel war bedeckt und die Wolken ließen nur vereinzelt Sonnenstrahlen hindurch. Es war recht kühl und Felix hoffte, dass es später ein wenig wärmer würde. Das Einzige, was er an Kleidung besaß, trug er an sich. Seine Beine bedeckte eine knielange Hose aus schwarzem Filz, die von einem schon sehr abgenutzten, ledernen Hosenträger gehalten wurde. Am Oberkörper trug er ein schwarzweiß kariertes Flanellhemd, das bereits Flecken hatte und worauf das karierte Muster in einigen Bereichen nicht mehr zu erkennen war. Über dem Hemd trug er eine Jacke aus dunkelbraunem Cord, an deren Ellenbogen die abgewetzten Lederflicken nur noch teilweise am Ärmel angenäht waren. Felix war glücklich über seine dicken Baumwollstrümpfe, die er bis zu seinen Knien hinaufzog, wenn es kälter wurde. Sein ganzer Stolz aber waren seine schwarzen Lederschuhe. Sie waren schon sehr gebraucht und abgewetzt, aber hatten keine Löcher oder andere Beschädigungen. Es machte ihm auch nichts aus, dass die Schuhe zwei Nummern zu groß waren, denn die Lücke stopfte er immer mit alten Zeitungen voll.

Und wenn ich groß bin, dann passen sie mir immer noch!, dachte er, spuckte auf seinen rechten Schuh und wischte mit dem Ärmel drüber.

Felix schaute in seine Ballonmütze, die vor ihm auf dem Gehsteig lag. Das gefällt mir nicht!, dachte er. Die Wörter ›Deutsches Reich‹ und ›Reichspfennig‹ konnte man einfach nicht richtig aufteilen, weder mit zwei noch mit drei Buchstaben. Er beugte sich vor seine Mütze, in der sich 13 Reichspfennig-Münzen befanden und drehte jede Münze um, sodass ihm die Schrift nicht mehr ins Auge fiel, wenn er hineinsah.

›Reichsmark‹ hingegen schon, das Wort konnte er nach jeweils zwei Buchstaben aufteilen, Re.ic.hs.ma.rk, aber davon hatte Felix bisher keine bekommen. Es passierte auch nicht sehr oft, dass die Passanten ihm Reichsmark-Münzen in seine Mütze warfen. Kam es mal vor, so drehte er diese auf die Vorderseite, damit er ›Reichsmark‹ lesen konnte, denn das auf der Rückseite befindliche ›Deutsches Reich‹ konnte man nicht mehr aufteilen.

Ein Mann näherte sich Felix mit seiner weiblichen Begleitung. Es war ein älterer, glatzköpfiger Herr mit Nickelbrille und einem kräftigen, gepflegten Schnauzbart. Seine viel jüngere Begleitung ging ein wenig unbeholfen neben ihm. Ihrer eleganten Kleidung nach, waren sie wohl sehr wohlhabend. Als sie an Felix vorbeigingen, warf ihm der Mann eine fünfzig Pfennig Münze in seine Mütze, ohne ihn dabei anzusehen.

»Alfred, du bist ja so großzügig!«, sagte die Frau in einem völlig übertriebenen, fast schon leidvollen Tonfall, »wenn du nicht wärst, hätte der arme Junge womöglich heute nichts zu essen und müsste verhungern!«

»Ich weiß, meine Liebe. Er tat mir so leid und ich wollte ihm helfen«, sagte der Mann ebenso mitleidig und ging Hand in Hand mit seiner Begleitung fort.

Obwohl es das größte und wertvollste Geldstück war, das er bis jetzt bekommen hatte, wurde Felix wieder unruhig und kaute auf seiner Unterlippe herum. Dies tat er immer, wenn er eine fünfzig Pfennig Münze bekam, denn auf ihr stand auf der Vorderseite ›Reichspfennig‹ und auf der Rückseite ›Deutsches Reich‹ und beides konnte man weder aufteilen, noch konnte er die Münzen so umdrehen, dass die Schrift ihm nicht ins Auge fiele. In solchen Fällen hatte er auch schon versucht, das Leerzeichen zwischen den Wörtern miteinzubeziehen, was im Falle von ›Deutsches Reich‹ und der Aufteilung mit zwei Buchstaben wunderbar passen würde. Dann könnte er es auf De.ut.sc.he.sr.ei.ch aufteilen. Doch Felix sprach die Wörter, wenn auch nur gedanklich, immer aus, nachdem er sie aufgeteilt hatte. Und das Wort ›Deutschesreich‹ gab es nun einmal nicht. Es fühlte sich einfach falsch an, das Leerzeichen miteinzubeziehen. Er griff nach der Münze und steckte sie in seine Hosentasche.

Ein Magenknurren signalisierte Felix seinen Hunger. Er nahm die restlichen Münzen, steckte sie ebenfalls in seine Hosentasche und setzte die Ballonmütze auf, an deren Seiten seine fast schon schulterlangen, blonden Haare sich einfach nicht bändigen ließen.

Vom Askanischen Platz ging er südlich in die Schöneberger Straße und bog von dort nach ein paar Metern links in die Bahnhofstraße. Nach ein paar Schritten stand er vor der Westseite des Anhalter Bahnhofes. Er hatte schon oft beobachtet, wie hier mehrere Lieferanten ihre Waren entluden, auch Lebensmittel waren dabei. Er hatte gedacht, dass das alles für die Bahnhofsmitarbeiter war. Aber als er sich eines Abends in einen Mitropa Speisewagen eines Fernzuges schlich, um etwas Essbares zu finden, erkannte er die Verpackungen der Lebensmittel, die noch ein paar Stunden zuvor hier abgeladen worden waren. Felix hatte zwar genug Geld, um eine Kleinigkeit zu kaufen, aber warum? Wenn es einfacher war.

Auch jetzt stand ein Lastwagen vor einem der Ladebereiche. Felix schlenderte auf der gegenüberliegenden Straßenseite entlang und schaute ab und zu herüber. Der Fahrer war nicht zu sehen und auch keine Bahnhofsmitarbeiter. Er sah, dass die Ladeklappe herunterhing und einige Kisten auf der Ladefläche standen. Die Mitarbeiter mussten in der Mittagspause sein. So überquerte Felix achtsam die Straße. Er beeilte sich nicht, lief, ohne irgendeine Aufmerksamkeit zu erwecken. Als er neben dem Hinterreifen stand, hörte er zwar Stimmen, aber die kamen aus dem Gebäude und als er wiederum unter dem Wagen durchschaute und niemanden sah, stieg er auf die Ladefläche. Es standen mehrere Holzkisten herum, einige offen, andere zugenagelt. Der Anblick all der Lebensmittel stimmte ihn freudig. Am liebsten hätte er alles gleich gegriffen und in sein Versteck mitgenommen, aber es war einfach zu viel und er hatte zu wenig Zeit. Er nahm nur eine Flasche Milch und griff nach ein paar Brotscheiben aus der offen liegenden Brotkiste. Als er gehen wollte, sah er aber, dass in der darunterliegenden Brotkiste fertige Stullen mit Butter und Käse lagen. Also warf er die Scheiben zurück und steckte sich zwei belegte Stullen in die Jackentaschen. Dann hüpfte er von der Ladefläche, schaute sich nochmals um und ging ruhigen Schrittes zurück in die Bahnhofstraße.

Zurück am Askanischen Platz, setzte er sich an der Grünflache auf eine Bank und nahm seine Mahlzeit zu sich. Mit großen Bissen verschlang er eine der Stullen und vergaß dabei zunehmend das Kauen. Erst als er kaum noch Luft bekam, machte er eine Pause und trank einen Schluck aus der Milchflasche. Es war ein Festessen für ihn, der normalerweise mittags nur rohes Brot oder vertrocknete Schrippen aß, die er sich aus den umliegenden Geschäften erbettelte. Felix schaute sich das letzte Stück der Stulle noch einmal ganz genau an, schloss dann seine Augen und roch intensiv an Butter und Käse. Er wollte diesen Moment so lange wie nur möglich genießen, denn er erinnerte ihn an seine Mutter und daran, wie sie ihm ab und zu eine Stulle geschmiert hatte. In der Geborgenheit der Ein-Zimmer Wohnung; der Ort, wo er noch vor zwei Monaten mit seinen Eltern gelebt hatte.

Felix leerte die Flasche mit einem letzten Schluck und wischte sich mit dem Ärmel die Milchreste vom Mund. Die Bahnhofsuhr zeigte 12:30 Uhr. Er war müde und gern hätte er sich in seinem Versteck etwas schlafen gelegt, aber er zählte die Pfennige in seiner rechten Hand.

63 Pfennig. Ich brauche aber noch ein wenig mehr.

Gegenüber an der Straßenbahnhaltestelle fuhr kurz darauf die Straßenbahn in Richtung Spandau-West ein. Mit der Linie 55 könnte er ohne umzusteigen bis zum Zoologischen Garten fahren.

Dort sind auch immer viele Menschen, die ich anbetteln oder bestehlen könnte.

Also kramte Felix zehn Pfennig aus seiner Tasche und kaufte beim Schaffner eine Fahrkarte. In der Mitte des Triebwagens setzte er sich an einen Fensterplatz und sah, wie draußen die Gebäude vorbeizogen. Ch.lo.ro.do.nt las er die Werbung auf der blauen Plane eines Lastwagens, der gerade noch aus der Anhalter Straße gefahren war. Dann sah er, wie er in die Königgrätzer Straße einbog und verlor ihn aus den Augen. Sein Blick verfolgte die vorbeiziehenden Häuserfassaden und er erinnerte sich daran, dass dies der Weg war, den er mit seinem Vater fuhr, als sie den Zoologischen Garten besuchten. Noch vor wenigen Monaten wusste Felix nicht, dass es das letzte Mal sein würde, der letzte Ausflug mit seinem Vater.