Ursula fängt Feuer - Mercedes Rosende - E-Book

Ursula fängt Feuer E-Book

Mercedes Rosende

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Beschreibung

Ursula López ist auf der Flucht, mit Millionenbeute im Gepäck. Die emsige Kommissarin, die ihr auf den Fersen war, ist abgeschüttelt, genauso die Ganoven, die ihr das Geld streitig machen wollten. Der Traum von der Villa in Montevideos Nobelviertel scheint greifbar nahe – und verdient, schließlich konnte die unzufriedene, übergewichtige Fünfzigjährige in der Rolle der braven Bürgerin nie Erfolge feiern. Doch als Ursula die Identität der falschen Person annimmt, bemerkt sie plötzlich einen neuen Verfolger: dunkler Bart, Metallbrille, boshafte Miene – ist das nicht der aus dem Gefängnis entflohene Mafioso, der durch alle Nachrichten geistert? Zu spät wird Ursula bewusst, in was für großverbrecherische Fußstapfen sie da getreten ist.

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Seitenzahl: 372

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Über dieses Buch

Früher Hobbykriminelle, heute stolze Straftäterin: Ursula ist auf der Flucht, mit Millionenbeute im Gepäck. Ihre Verfolger sind abgehängt, die Villa in Montevideos Nobelviertel zum Greifen nah. Doch als Ursula die Identität der falschen Person annimmt, gerät sie ins Visier eines entflohenen Mafioso, der noch eine Rechnung zu begleichen hat.

Zur Webseite mit allen Informationen zu diesem Buch.

Mercedes Rosende, geboren 1958 in Montevideo, Uruguay, studierte Recht und Integrationspolitik. Für ihre Romane und Erzählungen wurde sie mit dem LiBeraturpreis, dem Premio Municipal de Narrativa, dem uruguayischen Nationalliteraturpreis und dem Código Negro ausgezeichnet. Sie lebt in Montevideo.

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Peter Kultzen (*1962) studierte Romanistik und Germanistik in München, Salamanca, Madrid und Berlin. Er lebt als freier Lektor und Übersetzer spanisch- und portugiesischsprachiger Literatur in Berlin.

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Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Englische Broschur, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)

Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.

Mercedes Rosende

Ursula fängt Feuer

Kriminalroman

Aus den Spanischen von Peter Kultzen

E-Book-Ausgabe

Unionsverlag

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Impressum

Dieses E-Book enthält als Bonusmaterial im Anhang 1 Dokument

Die Originalausgabe erschien 2023 bei Editorial Planeta, Montevideo.

Lektorat: Nina Hübner

Originaltitel: Nunca saldrás de aquí

© by Mercedes Rosende 2023

Die deutsche Ausgabe erscheint in Vereinbarung mit der Ampi Margini Literary Agency und mit Genehmigung von Mercedes Rosende.

© by Unionsverlag, Zürich 2025

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Gesicht - GeorgePeters (istockphoto); Motel - Daniel Gregoire (unsplash)

Umschlaggestaltung: Peter Löffelholz

ISBN 978-3-293-31195-4

Diese E-Book-Ausgabe ist optimiert für EPUB-Lesegeräte

Produziert mit der Software transpect (le-tex, Leipzig)

Version vom 28.06.2025, 12:02h

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Inhaltsverzeichnis

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Inhaltsverzeichnis

URSULA FÄNGT FEUER

UrsulaFagúndezVanessaUrsulaLeonildaRoccoUrsulaRoccoUrsulaLeonildaUrsulaRoccoUrsulaRoccoUrsulaVanessaUrsulaRoccoUrsulaVanessaRoccoUrsulaLeonildaUrsulaPedroUrsulaRoccoUrsulaPedroUrsulaRoccoVanessa und UrsulaUrsula und VanessaPedroUrsulaRoccoUrsulaPedroPintos CunhaUrsulaPintos CunhaLeonildaPintos Cunha und UrsulaUrsulaPintos CunhaRoccoUrsula und RoccoRocco und UrsulaRoccoUrsulaUrsula und Pintos CunhaPintos Cunha und UrsulaLeonilda und UrsulaUrsula und Leonilda

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Über Mercedes Rosende

Mercedes Rosende: »Wir dürfen den Sinn für das Komische nicht verlieren.«

Über Peter Kultzen

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Das, sollst Du wissen, wünsch ich mir,

erbärmlich, wie ich bin:

All Deine grausame Routine, Deine Übergriffe,

die Unschuld, die an Deinem Neid erstickte,

die Tränen, die bei anderen Du wecktest,

Dein billiger Mut im Angesicht der Schwachen,

sie haben sich Deinem Schicksal eingebrannt

wie auf dem Rücken eines Kalbs ein Mal.

Da kommst Du nie raus, das hier ist für immer.

Immer – Dir an den Hals sich ketten

soll dieses Wort,

wie eine schwarze Ader,

prall gefüllt mit Gift.

JUAN MANUEL VILLALBA

Ursula

Und wieder passiert es.

Die Adrenalinschlange beißt sie in den Hals. Ursula lässt hastig den Haupteingang des Friedhofs von Buceo hinter sich, überquert die Straße, betritt den Markt und taucht zwischen den Blumenständen unter, deren Besitzer gerade mit dem Abbau beginnen. Während sie die übrig gebliebene Ware zu ihren Lieferwagen schleppen, weicht Ursula Eimern voller Margeriten, Chrysanthemen und dekorativer Zweige aus, stolpert über lose Fliesen und echte oder eingebildete Steine und zertritt welke Nelken, die auf dem Boden liegen, statt Gräber zu verschönern.

Was bringt eine fast fünfzig Jahre alte übergewichtige und völlig untrainierte Frau dazu, sich zu später Stunde auf einem Blumenmarkt gegenüber einem Friedhof herumzutreiben? Um das herauszufinden, müssen wir den Film ein kleines Stück zurückspulen.

Vor nicht einmal zehn Minuten hat Ursula ihre Schwester Luz am Familiengrab sich selbst überlassen und ist schnellen Schrittes auf dem von starren Zypressen gesäumten Weg zwischen anderen Gräbern, Kreuzen und Engeln davongegangen. Zwischen all den Denkmälern zur Erinnerung an die Toten lächelte sie irgendwann in sich hinein und stieß einen Seufzer aus, als hätte sie sich soeben von einer schweren Last befreit. Allmählich wurde es dunkel, und Friedhofsangestellte hasteten umher, um trödelnde Besucher darauf hinzuweisen, dass in wenigen Minuten die Tore geschlossen würden. Woraufhin sich die Leute folgsam auf den Weg zu den Ausgängen machten, schließlich hat außer Darstellern von Horrorfilmen niemand einen Grund, geschweige denn Lust, die Nacht auf einem Friedhof zu verbringen.

Auch ihre Schwester würde nach einem Blick auf die Uhr und die davoneilenden Menschen den Rückzug antreten, hat sich Ursula gesagt, schließlich ist Luz ganz bestimmt nicht der Typ Mensch, der, warum auch immer, an einem Ort versackt, erst recht nicht auf einem Friedhof. Bei diesem Gedanken hat Ursula erneut lächeln müssen, gleichermaßen verschwörerisch und liebevoll.

Den eisigen Wind, der kurz darauf, vom Meer her kommend, unter ihre Kleider schlüpfte, hat sie genauso wenig wahrgenommen wie die Feuchtigkeit und den Geruch nach verfaultem Fisch und anderen toten Dingen. Dafür hat sie bei der Ankunft am Haupttor einen Augenblick innegehalten und sich klargemacht, dass es nicht leicht sein wird, Kommissarin Leonilda Lima abzuschütteln. Die hat sie nicht nur gezwungen, auf den Friedhof zu kommen, sondern auch, das Grab ihrer Familie – der Familie López – zu öffnen, weil sie der Ansicht war, dass dort die Beute aus dem Überfall auf den Geldtransporter versteckt sein müsse. Arme Kommissarin, hat Ursula sich gesagt, fest überzeugt von ihrem Irrglauben und immer noch so befangen in ihren provinziellen Vorstellungen von Recht und Ordnung, die kein Mensch mehr ernst nimmt, was nur dazu führen wird, dass sich Leonildas aufgestaute Enttäuschung in der Zukunft in noch größeren Groll verwandeln wird. Aber der Ausflug nach Buceo, der Gang durch die Totenstadt, das Öffnen des rostigen Schlosses und des quietschenden Tors, all das war vergebliche Liebesmüh, denn was sie in dem Grab vorfanden, war nichts als Tod und Verlassenheit, Zerfall und Vergessen – das unausweichliche Schicksal einer jeden Familie.

Als Ursula anschließend der davongehenden Leonilda Lima hinterhersah, hatte sie das sichere Gefühl, dass diese nicht so schnell von ihrer Beute ablassen würde, sie vielmehr – in Erwartung eines Haftbefehls, der niemals eintreffen wird – weiterhin überwachen würde, wohin sie auch ginge. Arme Kommissarin, hat sie daraufhin noch einmal zu sich gesagt, wie kann man nur so einfältig sein und hartnäckig daran glauben, dass sich in einer Welt voll Willkür und Niedertracht so etwas wie Gerechtigkeit herstellen lässt?

Wenig später stand sie unter dem Torbogen des Ausgangs und überlegte unsicher, welche Richtung sie einschlagen solle. Hatte sie etwa Angst? Kopfschüttelnd sagte sie sich, dass sie zunächst unbedingt herausfinden müsse, wo Leonilda auf Spähposten gegangen war, um dementsprechend ihre Flucht zu organisieren. Denn gerade jetzt konnte sie es sich am allerwenigsten leisten, von ihr überwacht zu werden.

Sie sah nach links und rechts, ließ den Blick die Friedhofsmauer entlangwandern, dann über den Blumenmarkt gegenüber schweifen. Die nächsten bewohnten Gebäude waren mindestens einhundertfünfzig Meter entfernt. Das Fenster der Bar an der Ecke zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. Von dort, wo sie stand, konnte Ursula unmöglich ins Innere sehen, aber eine andere Möglichkeit gab es eigentlich nicht – wo sonst hätte die Kommissarin ihr auflauern sollen? Kein schlechter Platz, sagte sie sich, allerdings ein bisschen weit entfernt, was ihr genug Zeit verschaffen würde, um die Avenida Rivera zu überqueren und im Gedränge zwischen den Blumenständen unterzutauchen. Und genau das brauchte sie jetzt: ausreichend Gedränge, um sich ungesehen fortbewegen zu können. Fünf Uhr am Nachmittag wiederum war genau der richtige Zeitpunkt, wenn man es auf größere Menschenansammlungen abgesehen hatte. Um diese Uhrzeit strömen nicht nur zahlreiche Besucher aus dem Friedhofstor; ebenso entsteigen den Bussen Massen von heimkehrenden Arbeitern, die nichts Eiligeres zu tun haben, als nach Hause zu kommen, den Fernseher einzuschalten, die Tüten mit Fast Food auszupacken und ihre Haustiere und Kinder – in dieser Reihenfolge – damit abzuspeisen und anschließend ihre Plastikblumen zu versorgen.

Eine Garantie, dass es ihr tatsächlich gelingen würde, die Kommissarin auf diese Weise auszutricksen, gab es natürlich nicht.

Aber, wie schon gesagt, die Adrenalinschlange hat Ursula in den Hals gebissen, weshalb sie den Torbogen hinter sich lässt und hastig die Straße überquert, zwischen Autos und Bussen hindurch, um anschließend im Gewirr der Blumenstände unterzutauchen, deren Besitzer gerade mit dem Abbau beginnen. Dabei tritt sie auf verwelkte Nelken und weicht Eimern voller Margeriten aus, die kein Grab mehr schmücken werden. Irgendwann bleibt sie stehen und wirft einen Blick über die Schulter: Wie erwartet, kommt dort hinten Leonilda angerannt; sie ist aber noch mehr als einhundert Meter entfernt. Woraufhin auch Ursula einen Zahn zulegt. Woher nimmt sie bloß die Kraft dafür, übergewichtig, wie sie nun einmal ist, so sehr, dass sie schon nach den ersten Stufen auf der Treppe ihres Wohnhauses ins Schwitzen kommt? Völlig unklar, die Adrenalin-These taugt als Erklärung jedenfalls gar nicht schlecht.

Oder drückt sie immer aufs Gas, wenn es danach aussieht, dass sie gegen eine Wand fahren könnte?

Im Schutz der Menge überquert Ursula rasant den Platz vor dem Blumenmarkt und steuert auf eine Gruppe von Häusern mit Sozialwohnungen zu, wo es ebenfalls von Menschen wimmelt – mit ihren Kindern beschäftigte Mütter und Väter und müde Büroheimkehrer.

Sie stellt sich hinter einen Baum, den die Stadtverwaltung vor mehr als fünfzig Jahren eigens für sie dort angepflanzt hat, und beobachtet, inzwischen deutlich entspannter, wie die Kommissarin ratlos zwischen den Blumenständen umherirrt und dabei den Blick immer wieder um nichts weniger ratlos in die Ferne schweifen lässt.

Nach einer Weile gibt Ursula ihren Posten auf und steuert gemächlich die offen stehende Eingangstür eines der bescheidenen Wohnblöcke an. Im Inneren lässt sie sich auf der Treppe nieder und späht von dort nach draußen, entschlossen, so lange zu warten wie nötig.

Sie holt eine Tafel Schokolade aus der Handtasche und beißt Stück um Stück davon ab. Dazu trinkt sie immer wieder aus einer kleinen Wasserflasche, die sie ebenfalls dabeihat. Mehrere Bewohner des Hauses gehen an ihr vorbei und würdigen sie keines Blicks. Sie schleppen Einkaufsbeutel voller Colaflaschen und Chipstüten, die sie gleich an ihre Sprösslinge weiterreichen werden, um sie dazu zu bringen, stumm vor dem Fernseher sitzen zu bleiben, während sie selbst sich unterhalten, diskutieren und streiten und den billigen Wein in sich reinkippen, der beim Vergessen hilft. Sie sehen müde aus und erschöpft von ihren Scheißjobs und der Perspektivlosigkeit.

Schon bald, sagt sich Ursula wütend, aber kein bisschen resigniert, werden erst aus einer Wohnung, dann aus der nächsten und schließlich von überallher Cumbias und Reggaeton und Plena und die Stimmen der Teilnehmer von Quiz-, Koch- und Survivalshows zu hören sein – die reinste Hölle. Auf der kalten Treppenstufe sitzend, verschlingt Ursula das letzte Stück Schokolade und denkt mit wachsendem Hass, dass diese Leonilda Lima schuld daran ist, dass sie an einem derart scheußlichen Ort Zuflucht suchen muss, wo die grauenvolle Musik immer lauter und der Geruch nach Eintöpfen aller Art immer unerträglicher wird.

Vor dem Haus halten mehrere Busse hintereinander, die Fahrgäste drängen hinaus.

»Jetzt«, sagt sich Ursula.

Hastig verlässt sie das Haus und mischt sich unter die müden verschwitzten Körper. Es ist ein Wunder, dass sie nicht über eine der von Baumwurzeln angehobenen Bodenplatten stolpert, und so gelangt sie zu einem freien Taxi, steigt ein, beugt sich zum Fahrer vor und nennt ihm eine Adresse im Stadtzentrum.

Das Auto fährt los.

Ursula wendet den Kopf und sieht durch die Heckscheibe, dass die Kommissarin auf sie beziehungsweise das Taxi zurennt, das dummerweise vor einer roten Ampel halten muss. Ihr Herz schlägt wie wild, sie sagt sich, dass Leonilda schon in wenigen Sekunden beim Auto ankommen und die Tür aufreißen wird. Schwitzend und mit zitternden Händen wirft Ursula einen Blick zur immer noch roten Ampel, dann wendet sie sich wieder um und sieht die Kommissarin immer näher kommen. Sie kann bereits ihr von der Anstrengung verzerrtes Gesicht und die Schweißtropfen auf ihrer Stirn erkennen. Bereit, aus dem Wagen zu springen und davonzulaufen, wohin auch immer, greift Ursula nach dem Türgriff. Sie drückt ihn hinunter, die Tür öffnet sich einen Spaltbreit, kalte Luft dringt herein, doch als sich Ursula gerade hinausstürzen will, wird die Ampel grün und zeigt an, dass es leider zu spät ist für die arme Kommissarin Leonilda Lima. Die Partie ist abgepfiffen.

»Fahren Sie los!«, schreit Ursula, und das Taxi rast mit Vollgas davon.

Durch die Heckscheibe beobachtet sie, wie Leonilda um Luft ringend stehen bleibt und mit den Armen fuchtelt. Ihre Gesichtszüge sind da allerdings schon nicht mehr zu erkennen. Erfolglos versucht die Kommissarin, ihrerseits ein Taxi anzuhalten. Hat Ursula etwa Angst gehabt, und sei es nur für einen kurzen Augenblick? Sie macht es sich auf der Rückbank bequem. Zu sich nach Hause kann sie nicht, das ist ihr klar, der Eingang wird bestimmt überwacht. Sie wird sich für diese Nacht ein Hotel suchen.

Seufzend lehnt sie sich zurück. Luz muss bereits auf dem Weg zum Versteck sein, im Gepäck das Geld aus dem Überfall auf den Transporter. Ihre Schwester wird sich um alles Nötige kümmern.

Sie hat dafür jetzt keine Zeit, sie muss zwei Besuche absolvieren.

Und dann ihre Flucht organisieren.

Fagúndez

Es ist Sonntag, und es ist Winter. Wir sind in der Polizeidirektion von Montevideo, die auch das sogenannte Zentralgefängnis beherbergt, ein Gebäude mit zweitausendfünfhundert Quadratmetern Grundfläche und der »Luxusknast« innerhalb des labyrinthischen, stets kurz vor dem Zusammenbruch stehenden uruguayischen Strafvollzugssystems. Beim Öffnen einer beliebigen Zellentür böte sich uns hier der Anblick aufgeplatzter Matratzen, über den Boden verstreuter schmutziger Kleidungsstücke, gegen sämtliche Sicherheitsvorschriften verstoßender improvisierter Wasserkocher wie auch unverzichtbarer Thermoskannen samt Matebechern und Saugröhrchen, wie sie ausnahmslos jeder Einwohner Uruguays in allen Lebenslagen mit sich herumschleppt.

Wäre es auf den Gängen und in den Zellen nicht so entsetzlich kalt, könnte man glatt den Eindruck haben, sich im schlimmsten Gefängnis der grausamsten Diktatur Mittelamerikas zu befinden.

Aber begeben wir uns lieber ins Erdgeschoss, wo es weder Dreck noch Zellen noch Häftlinge gibt, stattdessen aufgeräumte Büros und Beamte in Uniform; und in den Büros wie auch an den Empfangstresen kümmern sich saubere, freundliche Leute um die Besucher.

Angesichts dessen, was sich gleich vor seinen Augen abspielen wird, könnte Polizeikommissar Fagúndez allerdings auch an Edmond Dantès und das Château d’If denken, als er plötzlich die Häftlinge durch den Flur spazieren sieht, aber weit gefehlt, denn den Namen Alexandre Dumas hat Polizeikommissar Fagúndez nie gehört. Sein fassungsloses Staunen beim Anblick der vier sich nähernden Gestalten, die offensichtlich vorhaben, das Gebäude durch den Haupteingang zu verlassen – ohne dass die anwesenden Polizeibeamten auch nur einen Finger rühren –, wird vielmehr an einem bloßen nervösen Lachen zu bemerken sein, wohingegen er nicht die geringste Neigung zeigen wird, sich auf die Suche nach historischen Parallelen oder literarischen Bezügen zu machen. Die vier Ausbrecher werden mit schnellen, aber keineswegs hastigen Schritten an den Polizisten vorbeigehen – die den Blick zur Decke richten oder ihren Mobiltelefonen zuwenden – und schließlich auf die Calle Yí hinaustreten, wo rein zufällig, oder aber, weil jemand es bestellt hat, genau in diesem Augenblick ein Taxi vorfahren wird.

Die vier werden einsteigen und verschwinden.

Eigentlich hatte Fagúndez, der erst gestern seine neue Stelle im Archiv des Zentralgefängnisses angetreten hat – zuvor war er auf einer einfachen Bezirkswache tätig –, von seinem Vorgesetzten strikte Anweisung erhalten, bis zum Mittagessen sein Büro im Keller nicht zu verlassen. Trotzdem befindet er sich in diesem Augenblick hier im Flur, also genau dort, wo er nicht hätte sein dürfen. Wie gelähmt steht er da, mit einem Ordner in der Hand, und bringt keinen Laut hervor, von dem unangebrachten Lacher einmal abgesehen, den er nicht hat unterdrücken können. Irgendwelche Reaktionen hat er damit allerdings nicht ausgelöst, bei niemandem in seiner Umgebung. Dafür hat er das Gefühl, sich – wie einst Lots Frau – in eine Salzsäule verwandelt zu haben, weil er etwas Verbotenes gesehen hat. Überflüssig zu sagen, dass er immer noch nicht wirklich begriffen hat, dass es sich bei den vier Männern, die soeben an ihm vorbeigekommen sind, tatsächlich um flüchtende Häftlinge gehandelt hat und dass er selbstverständlich keine Ahnung hat, wer dieser Lot sein soll.

Beim Verschwinden der vier Männer wurde keinerlei Alarm ausgelöst, und es sah offensichtlich auch niemand die Notwendigkeit, durch Rufe oder anderweitig darauf aufmerksam zu machen. Der Einzige, der sich gewundert hat, ist Polizeikommissar Fagúndez. Und auf der Calle Yí kehrt gleich darauf die gewohnte sonntägliche Stille wieder ein, als wäre nicht das Geringste passiert. Wie es aussieht, wird bis zum Ende dieses Tages im Zentralgefängnis auch nichts mehr passieren.

Der Kommissar steht immer noch ratlos mit dem Ordner in der Hand da und fragt sich, ob es sich bei dem Geschehen womöglich um eine Verwechslung oder einen Irrtum, eine Halluzination oder pure Einbildung gehandelt hat. Den Gesichtern oder dem Verhalten seiner Kollegen lässt sich keine Antwort entnehmen, in irgendeiner Weise beunruhigt oder erschrocken wirken sie jedenfalls nicht. Was ihn nur noch mehr verwirrt. Mit je einem Becher Kaffee in der Linken und der Rechten kommt Nancy an ihm vorbei. Allerdings meidet sie seinen Blick und entfernt sich mit zusammengekniffenen Lippen und stark gerunzelter Stirn durch ebenden Gang, aus dem nicht einmal eine Minute zuvor die vier Häftlinge gekommen sind. Auf dem einzigen Stuhl der Wachstube sitzt Dorrego, mit Kopfhörern. Bestimmt hört er Musik, denn sein Körper bewegt sich sachte hin und her. Miguel oder Armando wiederum – Fagúndez hat sich die Namen seiner neuen Kollegen noch nicht eingeprägt – geht hinter dem alten Eichenholztresen auf und ab und macht sich an irgendwelchen Papieren zu schaffen. Er schichtet sie zu immer neuen Haufen aufeinander und sieht dabei hoch konzentriert aus.

Den Ordner an die Brust gepresst, wagt Fagúndez, der weiterhin stumm dasteht, es nicht, das bedeutsame, wie verabredete Schweigen zu unterbrechen. Wann hat er den Ordner aus dem Regal in seinem Kellerbüro genommen und sich auf den Weg nach oben gemacht, um etwas zu fragen? Es ist gerade einmal eine Minute her, aber in einer Minute kann so viel passieren … Seufzend schließt er die Augen, drückt den Ordner noch fester an sich, lehnt sich an die Wand und fängt an, heftig ein- und auszuatmen, bis sein Blut schließlich sein Hirn mit so viel Sauerstoff versorgt, dass ihm klar wird, dass er der einzige Polizeibeamte im Zentralgefängnis ist, der nicht wusste, was passieren würde.

Vanessa

Guten Tag, Pedro. Ist Post für mich gekommen?«

»Guten Tag, Señora Vanessa. Wie geht es Ihnen? Alles gut?«

»Ja, danke.«

»Das Wetter bei uns in Barra kann ganz schön wechselhaft sein, aber jetzt bekommen wir wohl erst mal ein paar Sonnentage. Und ja, der Briefträger war da und hat etwas für Sie abgegeben, ich wollte es Ihnen gerade bringen, hier, bitte schön.«

»Danke.«

»Brauchen Sie noch irgendwas, für die Hütte?«

»Nein, danke, alles in Ordnung.«

»Falls doch, Sie wissen ja, wo Sie mich finden.«

»Ja, natürlich.«

»Immer gern, Señora Vanessa.«

Was für ein nerviger Typ! Geht es nicht mit ein bisschen weniger Gequatsche? Es gibt wirklich nichts Peinlicheres als Leute, die sich bei einem einschmeicheln oder einen verführen wollen, obwohl einem offensichtlich nicht im Geringsten der Sinn danach steht. Diesen Pedro kann sie nicht ausstehen. Ob es daran liegt, dass er so verklemmt ist, oder sich dermaßen unterwürfig bei ihr anzubiedern versucht, oder einfach an dem nicht zu kaschierenden Haarausfall, kann sie nicht sagen. Glücklich ist er jedenfalls nicht, das merkt man an der Art, wie sein Adamsapfel ständig hüpft.

Sie geht in der angenehm frischen Luft durch den Garten zu ihrer Hütte und setzt sich an den Plastiktisch davor. Öffnet den Umschlag, den Pedro ihr gerade ausgehändigt hat, und entnimmt ihm etwa zwanzig großformatige Fotos. Sie lächelt zufrieden, so viel Material bekommt sie nicht alle Tage.

Das erste Foto legt sie nach kurzem Ansehen zur Seite. Mit den nächsten Bildern hält sie sich kaum auf, erst dem achten widmet sie wieder einen genaueren Blick, legt es dann ebenfalls zur Seite. Beim letzten angekommen, fängt sie noch einmal von vorn an. Diesmal geht sie langsamer vor, nimmt jedes einzelne Foto sorgfältig in Augenschein, konzentriert sich auf Einzelheiten wie den Haaransatz, die Form der Augenbrauen, die Beine. Worauf es jedoch vor allem ankommt, das weiß sie genau, ist ein harmonisch-ausgeglichener Gesamteindruck, der sich gleich beim ersten Hinsehen vermitteln muss. Und Schönheit macht alles natürlich sowieso viel leichter – der Haaransatz und die Form der Augenbrauen oder Beine spielen dann keine Rolle mehr. Derartige Fotos landen wie automatisch auf dem Stapel der Bilder, die in die engere Auswahl kommen.

Als sie fertig ist, macht sie eine Pause, schenkt sich den ersten Campari ein, betrachtet das Meer und sagt sich, dass Adriana und sie wirklich ein gutes Team bilden. Von Anfang an sind sie bei ihrem Geschäft so vorgegangen: Keine E-Mails mit angehängten Fotodateien, überhaupt keinerlei Spuren im Netz, schließlich sind die kaum zu löschen. Und die Speicherkarten der Kameras, diese brandgefährlichen kleinen physischen Entitäten, werden nach erfolgreichem Geschäftsabschluss sofort vernichtet.

Die Fotoshootings veranstaltet Adriana in Räumlichkeiten, die sie über eine Plattform mit Geschäftssitz in Indonesien oder Irland anmietet. Bevor sie ihre Models dorthin bringt, zieht sie nicht nur sämtliche Vorhänge zu und lässt die Rollos herunter, sondern entfernt oder verdeckt auch alles, was dem Interieur einen irgendwie persönlichen, wiedererkennbaren Anstrich verleihen könnte.

Die fertigen Bilder druckt sie später mit einem Drucker ohne Internetverbindung aus und verschickt sie per Post, ohne Absender und an ein Postfach oder das Hotel, in dem Vanessa sich jeweils befindet. Nach genauer Durchsicht wählt diese nie mehr als drei oder vier der zehn oder zwölf oder, wie dieses Mal, sogar zwanzig ihr zugesandten Fotos aus und leitet sie, wiederum per Post und mit erfundenem Absender, an eine Reihe von Adressen weiter, die sie in einem besonderen Verzeichnis aufgelistet hat. Die meisten sind Büros oder Firmenniederlassungen, Privatadressen gibt es dagegen so gut wie nie.

Und dann wartet sie auf die Antworten der Empfänger.

Dieses Mal hat sie vier Fotos ausgesucht. Adriana hat großartige Arbeit geleistet, die Porträtierten wirken entspannt, unverstellt, völlig natürlich. In diesem Geschäft gibt es nichts Schlimmeres als Künstlichkeit. Grell geschminkte Gesichter, knallrote, zu Kussmündern verzogene Lippen, gespielt sinnliche oder offen herausfordernde Posen – bei ihrer Kundschaft, das weiß sie genau, verfängt derlei nicht. Adriana besorgt auch die Kleidung für die Shootings. Weiche Stoffe in zum jeweiligen Teint passenden Pastelltönen – Himmelblau und Wassergrün für die eher Dunkelhäutigen, Fliederfarben oder Altrosa für die Hellhäutigen; manchmal zusätzlich ein bisschen was in Beige, damit es an eine Daguerreotypie erinnert. Die zu Porträtierenden platziert sie, zurückhaltend beleuchtet und nur mit einem Hauch Rouge auf den Wangen, auf mit dunkelblauem, bordeauxrotem oder schwarzem Samt bezogenen Sofas, stellt ihnen Kekse und Erfrischungsgetränke hin, dazu etwas zum Lesen oder Spielen. Beim Ablichten lässt sie sich Zeit, ihr Gegenüber soll vergessen, dass da jemand ist, der sie, hinter der Lampe stehend, beobachtet und fotografiert.

Nach anfänglicher Schüchternheit zeigen ihre Modelle schon bald Anzeichen von Langeweile, weil es keinen Fernseher gibt und sie auch keine Mobiltelefone mitbringen dürfen. Sie sehen sich in dem unbekannten Raum um, und ihr Blick trifft auf schmucklose Wände und ödes Mobiliar, nichts, was in irgendeiner Weise fesselnd wirken könnte. Sie ergreifen eins der bereitliegenden Bücher, blättern darin, knabbern an einem Keks, strecken die Arme nach einer Puppe aus, machen es sich schließlich auf dem Sofa bequem und vergessen darüber Adriana. Im Lauf der Zeit nimmt ihre Anspannung sichtlich ab, die Miene hellt sich auf, manchmal stellen sie sogar die Füße auf die Armlehne und lassen eine Hand seitlich hinabbaumeln.

Adriana benutzt kein Blitzlicht und gibt kaum Anweisungen, manchmal tritt sie heran und legt ein Stück von einem Oberschenkel frei oder knöpft eine Bluse auf, aber nur an der Stelle, wo im nächsten Jahr eine Brust erscheinen wird, sie schiebt den Stoff ein wenig zur Seite, damit die kleine Warze sichtbar wird, die trotz des geringen Alters ihrer Besitzerin anzuschwellen beginnt. Manchmal schlafen ihre weiblichen Gäste auch ein oder sind einfach nur abgelenkt, jedenfalls öffnen sie dabei wie von selbst die Beine und stellen ihre Genitalien zur Schau, präsentieren eine noch in der Entwicklung begriffene Vulva beziehungsweise etwas, das an eine entzückende Sparbüchse aus Fleisch erinnert. Solche Bilder sind Gold wert, das ist Vanessa und Adriana klar, und ein solches Goldstück hat sie heute erhalten.

Adriana ist eben durch und durch Künstlerin, nicht einfach nur Fotografin.

Vanessa hat sie auf der Hochzeit einer Freundin aus Montevideo kennengelernt, auf einem ganz in Weiß geschmückten, von sattgrünem Rasen umgebenen Landgut – all der Tüll und die Blumen und das Laub bildeten einen wunderschönen Kontrast –, eins dieser Feste, wo es viel zu viel zu trinken gibt, bis die Gäste der Reihe nach umkippen, die Frauen mit vollgekotzten Pailletten, die Männer mit Schweißringen unter den Achseln ihrer Alpakajacken, wo sich alle, mit ihren Kränzen aus Plastikblumen um den Hals, von ihrer schlechtesten Seite zeigen, um eine gekünstelte, wenig dauerhafte Heiterkeit zu erzeugen, von der am nächsten Morgen nichts als Kopfschmerzen übrig sind.

Entscheidend war dabei, wie immer, der Zufall: Ein paar Tage nach dem Fest schickte die Braut ihr mehrere Dateien mit Hochzeitsfotos, die Vanessa zunächst wenig interessierten und die sie gedankenlos öffnete, nur um sich gleich darauf im Klaren zu sein, dass das genau die Art zu fotografieren war, die sie für ihr geplantes Geschäft brauchte.

Sie stellt das Campariglas auf die Seite, ordnet die vier Fotos zu einem Quadrat an und betrachtet sie aufmerksam. Die beiden oberen sind einfach nur schön, da gibt es weiter nichts zu sagen; und die beiden unteren überzeugen auf den ersten Blick zumindest in Bezug auf den Haaransatz oder die Form der Augenbrauen oder die Beine. Wichtig ist, dass für alle Geschmäcker etwas dabei ist. Schönheit und die ersten Anzeichen der Pubertät sind immer viel wert; eine perfekte Nase, ein eleganter Hals oder ein unschuldiges Grübchen am Kinn können manchmal jedoch wesentlich einträglicher sein als ein sich gerade erst herausbildendes Paar Schamlippen. Eben etwas für alle Geschmäcker, ohne dabei aber so weit zu gehen wie manche Konkurrenten, schließlich ist Vanessa eine Frau mit festen moralischen Grundsätzen – für homosexuelle Gelüste hat sie jedenfalls nichts im Angebot.

Sie lächelt erneut. Morgen wird sie zur Post gehen und die Sendungen abschicken.

Die meisten Adressen in ihrem Notizbuch befinden sich in Montevideo, Punta del Este, São Paulo und Buenos Aires. Die dazugehörigen Kunden zahlen sehr gut, ihnen kommt es nicht auf den Preis an, sondern auf die Qualität.

Allmählich wird es dunkel und damit auch kalt. Aber der Nachmittag war wunderbar. Vanessa geht in die Hütte, holt ein Köfferchen mit Zahlenschloss hervor, stellt die nötige Kombination ein und entnimmt dem Inneren zwei kleine Hefte, in die sie verschiedene Dinge einträgt. Ihre Lebensversicherung, sagt sie sich. Das erste Heft enthält Angaben über ihre aktuellen wie auch ehemaligen Kunden, darunter Personen des öffentlichen Lebens. Für den Fall der Fälle, sollte es einmal brenzlig werden, sind sie Gold wert. Im zweiten Heft verzeichnet sie alles, was die Models betrifft. Sie beginnt mit den Eintragungen zu den neuen Kandidatinnen. Nach einer Weile merkt sie, dass sie hungrig ist. Der Tag ist wie im Flug vergangen. Sie legt das erste Heft und den Umschlag mit den Fotos in das Köfferchen und schließt es wieder ab. Im zweiten Heft muss sie später noch weiterschreiben. Bis dahin verstaut sie es sorgfältig auf dem Boden ihres großen Reisekoffers.

Sie wirft einen Blick durchs Fenster auf die Terrasse im Licht der letzten Sonnenstrahlen. Gleich wird sie zum Abendessen gehen, nicht mehr an ihre Arbeit denken, noch ein Glas trinken und aufs ruhig daliegende dunkle Meer hinaussehen. Ein guter Frühling erwartet sie.

Ursula

Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, wenn ich mich zu Ihnen setze.«

»Entschuldigung, sprechen Sie mit mir?«

»Ja.«

»Tut mir leid, ich glaube, ich kenne Sie nicht.«

»Sie sind doch Inspektor Clemen. Hat man mir jedenfalls gesagt.«

»Das stimmt, der bin ich.«

»Ich kenne Sie leider auch nicht. Darf ich mich vorstellen: Ursula López.«

»Aha.«

»Mein Name scheint Ihnen nichts zu sagen.«

»Ehrlich gesagt, nein.«

»Macht nichts, ist bloß eine Frage der Zeit, irgendwann fällt der Groschen.«

»Ich fürchte, ich weiß nicht, worauf Sie …«

»Also, das, worüber ich mit Ihnen zu sprechen habe, lässt sich schlecht im Stehen erledigen, erst recht nicht in so einer schäbigen Bar.«

»Ich weiß wirklich nicht, was Sie von mir wollen, Sie treffen mich jedenfalls in einem äußerst ungünstigen Moment an. Ich muss heute Abend noch mal zurück in die Arbeit und habe keine Zeit für irgendwelche Unterhaltungen. Und Sie müssen bestimmt auch langsam nach Hause.«

»Den Abwasch erledigen, meinen Sie, was?«

»Das habe ich nicht gesagt. Aber Feministinnen wie Sie …«

»Langes Stehen tut mir einfach nicht gut, wegen meiner Halswirbelsäule, verstehen Sie? Außerdem habe ich Arthrose. Wenn ich da nicht aufpasse, habe ich die ganze Nacht Schmerzen …«

»Und was hat das mit mir zu tun?«

»Ich glaube, für Sie ist es auch nicht gut, wenn ich die ganze Zeit neben Ihnen stehe und ein Gesicht ziehe.«

»Also, wie gesagt, ich habe im Augenblick nicht die geringste Zeit für …«

»Ich sage jetzt einfach mal zwei Wörter, damit Sie kapieren, worum es geht. Das erste Wort lautet Antinucci, das zweite Überfall.«

»Dann sind Sie also die Frau, die …«

»Genau, endlich begreifen Sie.«

»Setzen Sie sich doch, Señora …«

»López. Ursula López.«

»Señora López.«

»So ist es viel besser, danke. Sie wissen ja gar nicht, wie mich diese verdammte Wirbelsäule quält.«

»Schon gut, jetzt weiß ich ja, wer Sie sind.«

»Wurde aber auch Zeit. Ich dachte schon, ich muss Ihnen die ganze Geschichte von dem Überfall auf den Geldtransporter haarklein erzählen.«

»Mich würde mehr interessieren, wie Sie es geschafft haben, mit der Beute abzuhauen.«

»Dazu kommen wir noch, alles zu seiner Zeit.«

»Ich bin ganz Ohr.«

»Wie ich sehe, wollten Sie sich gerade über einen Kaffee und zwei Croissants hermachen. Gute Idee, das bestelle ich auch.«

»Nur zu, machen Sie es sich bequem … Möchten Sie außerdem noch etwas?«

»Bequem? Na ja … Dass es hier besonders gemütlich wäre, kann man jedenfalls nicht behaupten. Dazu läuft der Fernseher, und auch sonst gibt es jede Menge Lärm. Und dieser grünlich schimmernde Bildschirm. Stört Sie das nicht?«

»Nicht im Geringsten.«

»Und der Klogestank?«

»Was für ein Klogestank?«

»Na gut, wie Sie wollen. Kommen wir zum Geschäftlichen.«

»Ich höre.«

»Ich bin hier, weil ich Ihre Hilfe brauche.«

»Verstehe ich richtig? Sie überfallen einen Geldtransport, und dann kommen Sie und bitten die Polizei um Hilfe?«

»Falsch: Ich habe keinen Geldtransport überfallen. Das ausführende Organ war El Roto, und der Kopf dahinter Doktor Antinucci. Das wissen Sie ja selbst, das brauche ich Ihnen nicht zu erklären, Clemen.«

»Na gut, Sie haben den Überfall nicht durchgeführt, stimmt. Aber Sie haben das Durcheinander ausgenutzt, sind in den anderen Transporter gestiegen und mit der Beute verschwunden.«

»Was soll ich sagen? So ist es auch wieder nicht abgelaufen, jedenfalls nicht einfach nur so. Als ich den Schauplatz betrat, war das ein einziges Tohuwabohu.«

»Ein was?«

»Ein Wahnsinnschaos, ein totales Durcheinander. Die Kriminellen hatten den Geldtransporter in die Luft gejagt, alles war voller Blut und Leichen. Das können Sie sich nicht vorstellen, wie in einem Kriegsfilm. Und der eine Kriminelle, dieser Ricardo Prieto, besser bekannt als El Roto, hat auf alles geschossen, was sich bewegt hat. Nebenbei bemerkt, dieser gefährliche Mörder hätte in diesem Augenblick nirgendwo anders sein dürfen als im Gefängnis. Können Sie mir erklären, wieso Prieto frei auf der Straße herumlief?«

»Mich fragen Sie das?«

»Natürlich Sie. Stehen Sie etwa nicht für Gesetz und Ordnung? Wen soll ich denn sonst fragen?«

»Ich glaube …«

»Ich weiß genau, dass der Kerl wegen Mord im Gefängnis saß. Der wurde sicher nicht von einem Moment auf den anderen freigelassen. Wieso lief er dann am helllichten Tag auf der Straße herum?«

»Als der Überfall stattfand, war El Roto gerade erst entwischt, auf dem Weg ins Gericht, wo er eine Aussage hätte machen sollen. Haben Sie das nicht mitbekommen? Alle Medien haben darüber berichtet.«

»Ich lese weder Zeitung, noch sehe ich fern. Dass das uruguayische Strafvollzugssystem sich in einem desaströsen Zustand befindet, weiß ich aber auch so. Wir anständigen Bürger sind hilflos der Willkür von Kriminellen ausgeliefert. Was für ein Parfüm verwenden Sie?«

»Ich?«

»Natürlich Sie. Wer sonst?«

»Sie stellen vielleicht Fragen. Parfüm kauft mir meine Frau, es befindet sich in einem roten Flakon, mehr kann ich dazu nicht sagen.«

»Verbene, Ananas, Zitrone.«

»Wie bitte?«

»Nichts, nichts, kümmern Sie sich nicht um mich.«

»Also gut, zurück zum Thema. Kannten Sie Prieto?«

»Gott fragt nicht, sondern vergibt.«

»Bleiben Sie mir weg mit Ihren Weisheiten, und sagen Sie lieber, wie es sein kann, dass jemand wie Sie einen Typen wie diesen Roto kennt, aber nicht nur das, Sie wissen außerdem, dass er wegen Mordes zu einer langen Haftstrafe verurteilt war. Obwohl Sie behaupten, weder Zeitung zu lesen noch fernzusehen.«

»Sprechen wir lieber über das, was mich hergeführt hat, Señor Clemen, das ist besser für Sie, und für mich auch.«

»Ich weiß nicht, wovon Sie reden. Dass das, was für Sie gut ist, auch für mich gut sein soll, höre ich jedenfalls zum ersten Mal.«

»Wie gesagt, ich betrat den Schauplatz erst, nachdem dieser Prieto alle um sich herum niedergeschossen und das Geld in einen Lieferwagen verfrachtet hatte. Wollen Sie wissen, weshalb ich mein Versteck verlassen habe? Von dort aus hatte ich bis dahin alles beobachtet.«

»Halt, nicht so schnell. Jetzt müsste ich als Polizist Sie eigentlich erst mal fragen, was Sie in diesem Moment an diesem Ort zu suchen hatten.«

»Um ehrlich zu sein – ich war nur Germán zuliebe dort. Wie soll ich es sagen, damit es nicht kitschig klingt? Er war völlig verängstigt, er ist ein schwacher, depressiver Mensch. Er war zur Teilnahme an dem Überfall gezwungen worden und hatte mich um moralischen Beistand gebeten.«

»Verstehe ich richtig? Sie waren zu seiner Beruhigung dort, während er einen Geldtransporter überfiel?«

»Sparen Sie sich Ihre zynischen Bemerkungen, Inspektor Clemen. Die Sache hat mehrere Menschen das Leben gekostet.«

»Entschuldigung. Erzählen Sie weiter.«

»Ich habe also von Weitem zugesehen. Ich stand hinter einem Laster, in ungefähr einhundert Metern Entfernung.«

»Das heißt, Sie und Ihr Partner hatten alles genau geplant.«

»Da täuschen Sie sich, wir hatten überhaupt nichts geplant.«

»Dafür, dass Sie improvisiert haben, haben Sie es jedenfalls gar nicht schlecht hingekriegt.«

»Auf Ihren Sarkasmus gehe ich auch diesmal nicht ein.«

»Danke, sehr großzügig von Ihnen.«

»Ich stand, wie gesagt, hinter einem Laster, aber irgendwann ist die Sache komplett aus dem Ruder gelaufen.«

»Das Tohuwabohu?«

»Sagen wir einfach, es wurde völlig chaotisch, so verstehen Sie es vielleicht eher. Und da sah ich mich zum Eingreifen gezwungen. Aber geplant hatte ich nichts, glauben Sie mir. Ich hatte bloß einen .38er Revolver eingesteckt, für alle Fälle, in meiner Handtasche.«

»Gehen Sie immer bewaffnet aus dem Haus?«

»Man weiß ja nie, Inspektor, die Welt ist voller Gefahren …«

»Aha. Und inwiefern wurde es chaotisch?«

»Diese Granate oder Rakete oder was auch immer war bereits explodiert, und der halb zerstörte Geldtransporter stand da und brannte vor sich hin. Prieto hatte mehrere Menschen erschossen und zog sich eine Line Koks nach der anderen rein. Die Geldsäcke hatten er und Germán schon in den Lieferwagen geschleppt. Aber dann hat El Roto plötzlich auf Germán angelegt. Offensichtlich wollte er ihn erschießen.«

»Das haben Sie aus der Ferne sofort erkannt, ja?«

»Ist doch klar. Der Überfall war zu Ende, das Geld befand sich im Lieferwagen. Wozu hätte El Roto Germán da noch brauchen sollen?«

»Sagen Sie es mir.«

»Für nichts. Das ist Germán spätestens in dem Moment auch klar geworden. So wie mir klar wurde, dass mein Freund sterben würde, wenn ich El Roto nicht aufhielt.«

»Und das haben Sie getan, ohne zu zögern.«

»Natürlich. Was hätte ich sonst machen sollen?«

»Mit anderen Worten: Sie haben ihn niedergeschossen.«

»Das war Notwehr.«

»Selbstverständlich. Und dann?«

»Kaum lag El Roto auf der Straße, hat uns jemand mit einem Granatwerfer unter Beschuss genommen. Von wo aus, ist mir bis heute nicht klar, aber um uns herum schlugen jede Menge Geschosse ein.«

»Noch so ein Tohuwabohu, sozusagen.«

»Genau. Aber das war echtes Kriegsgerät, so was bekommt man nicht im normalen Waffenhandel, da bin ich mir sicher. Sind Sie dieser Sache bei Ihren Ermittlungen nachgegangen?«

»Ich werde mir Ihren Vorschlag notieren.«

»Germán ist daraufhin nichts Besseres eingefallen, als ohnmächtig zu werden. Können Sie sich das vorstellen? Ich musste ihn also eigenhändig zu dem einzigen Auto schleppen, das noch von keinem Geschoss getroffen worden war.«

»Der Toyota-Kleinlaster mit den Geldsäcken.«

»Der Toyota-Kleinlaster mit den Geldsäcken.«

»Und dann sind Sie abgehauen.«

»Zuallererst wollte ich uns mal außer Reichweite von diesem Granatwerfer bringen …«

»Woher wussten Sie, dass es sich um einen Granatwerfer handelt?«

»Ich lese keine Zeitungen, aber ins Kino gehe ich schon. Was hätten Sie denn gemacht, Inspektor? Wären Sie dageblieben? Ich musste uns das Leben retten.«

»Und die Geldsäcke, die sich zufälligerweise im Laderaum befanden …«

»Hätte ich sie etwa zum Fenster rauswerfen sollen? Sehen Sie es doch mal so: Wenn ich das Geld nicht mitgenommen hätte, wäre es an Ort und Stelle verbrannt. Oder jemand anders hätte es sich unter den Nagel gerissen. Die Leute aus den umliegenden Häusern, zum Beispiel. Die hatten schon die ersten halb verkohlten Scheine durch die Luft fliegen sehen. Die warteten doch bloß darauf, sich die Taschen vollzustopfen.«

»Sie sind ja wirklich eine umsichtige Person.«

»Nebenbei bemerkt: Vor Ihren Leuten musste ich mich auch in Sicherheit bringen, Clemen. Die haben sich mir hartnäckig an die Fersen gehängt, Herr Inspektor.«

»Besonders erfolgreich waren die allerdings nicht. Wenn ich mich recht erinnere, haben Sie sie mühelos ausgetrickst. Und die Geldsäcke vor unserer Nase verschwinden lassen. Nicht schlecht …«

»Ganz so einfach war es nicht, glauben Sie mir.«

»Wie auch immer. Aber warum erscheinen Sie auf einmal hier und erzählen mir das alles?«

»Ich werde es Ihnen sagen: Ich bin gekommen, weil ich Sie bitten möchte, mir zwei Leute vom Hals zu schaffen, die allmählich lästig werden. Doktor Antinucci und Kommissarin Lima.«

»Und warum sollte ich Ihnen helfen?«

»Weil ich weiß, dass Sie an der Planung und Durchführung des Überfalls beteiligt waren. Später haben Sie die Presse belogen und gesagt, das ganze Geld sei verbrannt. Wahrscheinlich haben Sie gehofft, die Kohle noch irgendwie zurückzubekommen. Außerdem haben Sie behauptet, irgendwelche überlebenden Täter oder Zeugen gebe es nicht. Aber was war mit El Roto? Und Germán? Und mit dem Typen, der abgehauen ist, bevor es richtig losging? Von mir selbst einmal abgesehen …«

»Sie lesen also doch Zeitung, Ursula.«

»Bloß ab und zu, gerade so viel wie unbedingt nötig. Das Leben ist kurz, und ich will mir nicht auch noch die letzte Freude daran nehmen lassen.«

»Und wieso sind Sie sich so sicher, dass ich an der Sache beteiligt war? Ich nehme an, Sie haben Beweise.«

»Ohne Beteiligung der entsprechenden Stellen hätte sich eine derart aufwendige Operation nicht durchführen lassen. Ich weiß, dass Sie tief in die Sache verstrickt sind, Inspektor Clemen. Die bloßen Tatsachen genügen, um Ihre Mittäterschaft zu belegen.«

»Und jetzt? Ich verstehe immer noch nicht, warum ich der Person helfen sollte, die mir mein Geld geklaut hat.«

»Schauen Sie, der offiziellen Version nach sind die Täter umgekommen, und das Geld ist verbrannt. Aber was, wenn plötzlich dieser Germán auftaucht und etwas ganz anderes erzählt? Und dazu ein zufällig vor Ort gewesener Zeuge, sprich: meine Wenigkeit?«

»Haben Sie keine Angst, mir zu drohen, Señora López?«

»Doch, habe ich, und ich habe mir die Sache gut überlegt, bevor ich hergekommen bin. Zu meiner Sicherheit habe ich alles schriftlich festgehalten, meine eigene Aussage und die von Germán. Kopien davon befinden sich in den Händen von Personen meines Vertrauens, im Fall der Fälle werden sie an die Presse und die zuständigen offiziellen Stellen weitergeleitet. Verstehen Sie, Clemen? Sie können mir die Fingernägel ausreißen und mich in Stücke schneiden. Aber ungestraft kommen Sie nicht davon.«

»Sie halten sich wohl für besonders schlau.«

»Ich schätze, Ihre Vorgesetzten – bis hoch zum Innenminister – sind von den Ereignissen rund um den Überfall einigermaßen alarmiert und fragen sich, ob Ihre Geschichte so stimmt. Eine andere Version der Ereignisse könnte die Öffentlichkeit durchaus interessieren und am Ruf des ein oder andern kratzen.«

»Wenn ich richtig verstehe, soll ich also für Ihre Sicherheit garantieren, obwohl Sie mich um mein ganzes Geld gebracht haben.«

»Genau.«

»Sie überschätzen mich, so viel Einfluss hat ein gewöhnlicher Polizeichef nicht.«

»Wie gesagt, sollte mir etwas zustoßen, fliegen all Ihre Lügen auf. Und jetzt schaffen Sie mir die Kommissarin und Antinucci vom Hals, verstanden? Wo bleibt eigentlich der Kellner? Hallo! Ja, Sie meine ich. Bringen Sie mir zwei Schinken-Käse-Croissants und eine Cremeschnitte. Oder nein, packen Sie mir das Ganze ein, zum Mitnehmen. Und am besten gleich drei Croissants. Also, passen Sie gut auf mich auf, Inspektor, in Ihrem Interesse, und natürlich auch in meinem. Sehen Sie? Was für mich gut ist, ist eben doch auch gut für Sie.«

»Und das Geld, Ursula?«

»Ich hüte Ihr Geheimnis und sorge dafür, dass Sie ohne Strafe davonkommen.«

»Aber die Kohle?«

»Die Kohle gehört mir.«

Leonilda

Sie überquert die schöne Plaza Matriz, wirft im Vorbeigehen einen Blick auf den Marmorbrunnen mit den vier Putti und vier Faunen und biegt bei der Kathedrale eilig rechts in die Calle Sarandí. Dass sie ihr einfach so entwischt ist, kann sie immer noch nicht fassen. Verflixte Ampel – warum musste die genau dann auf Grün springen, als sie fast bei dem Taxi angekommen war? Vor dem Eingang eines Hauses an der Ecke Calle Treinta y Tres bleibt sie stehen.

»Guten Tag? Wohnen Sie hier? Ich bin auf der Suche nach einer Frau aus diesem Haus, ich glaube, sie lebt im obersten Stock. Sie heißt Ursula López. Kennen Sie sie?«

»Guten Abend, würde ich eher sagen.« Die schon ältere Frau mustert Kommissarin Lima von Kopf bis Fuß, lässt ihre Einkaufstüte von einer Hand zur anderen wandern, wendet dann den Blick ab und betrachtet in aller Ruhe die gegenüberliegende Straßenseite, um ihr müdes Gesicht mit den halb geschlossenen Augen zuletzt wieder ihr zuzuwenden. »Ja, natürlich kenne ich die, wie auch nicht? Falls Sie bei ihr vorbeischauen wollen, also, die ist gerade nicht da, sehen Sie selbst, ihr Briefkasten ist bis oben hin voll.«

Diese Information wäre nicht nötig gewesen, der Kommissarin ist klar, dass Ursula zuallerletzt hierher zurückgekehrt wäre, nachdem sie ihr vor gerade einmal einer Stunde in Buceo vor dem Friedhof knapp entwischt ist. Aber warum ist sie überhaupt hinter ihr her? Über einen Haftbefehl gegen sie verfügt sie nicht, und es wird wohl auch keiner mehr erlassen werden, seit die Untersuchungen zu dem Überfall auf den Geldtransporter eingestellt worden sind. Sie steht bloß deshalb hier vor Ursulas Haus und unterhält sich mit einer ihrer Nachbarinnen, weil ihr nichts Besseres einfällt, weil sie nicht weiß, wo sie sonst suchen sollte, und weil sie die Verfolgung trotz allem nicht aufgeben will.

»Haben Sie eine Ahnung, wo sie sein könnte? Fährt sie in den Ferien regelmäßig an einen bestimmten Ort? Hat sie vielleicht ein Haus auf dem Land? Oder am Meer?«