Valérie. Die Meisterdiebin von Paris - Andrea Schütze - E-Book

Valérie. Die Meisterdiebin von Paris E-Book

Andrea Schütze

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Beschreibung

Eine kleine Meisterdiebin mit großem Gerechtigkeitssinn!  

Eine Stadt, in der es nur so glitzert und funkelt, die unzählige magische Winkel und verborgene Ecken hat: Paris! Und über den Dächern, dort, wo die Schornsteine emporragen, lebt Valérie. Sie ist, wie ihr Vater, eine Meisterdiebin. Allerdings bestiehlt Valérie die Diebe selbst. Als eines Tages bei einem Einbruch ihres Vaters Gustave alles schief geht, was nur schief gehen kann, geraten die beiden ins Visier der gefährlichen Spione eines alten Feindes. Auf der Flucht trifft Valérie Matteo  - ebenso gut im Anschleichen und Stehlen wie sie selbst. Nur gemeinsam werden sie es schaffen, sich und Gustave zu retten.  

Magisch, phantastisch, geheimnisvoll – eine Geschichte für Kinder ab 10 Jahren

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Das Buch

Über den Dächern von Paris, dort, wo die Schornsteine emporragen und man nachts den Eiffelturm glitzern sieht, lebt Valérie in einem geheimen Unterschlupf. Sie ist, wie ihr Vater Gustave, eine Meisterdiebin. Allerdings bestiehlt Valérie die Diebe selbst. Als eines Tages bei einem Einbruch ihres Vaters alles schief geht, wird es lebensgefährlich, denn sie geraten ins Visier der Spione eines alten Feindes. Auf der dramatischen Flucht vor dem skrupellosen König der Diebe trifft Valérie den gleichaltrigen Matteo - und die beiden haben viel gemeinsam ... Werden sie es zusammen schaffen, nicht nur Valéries Papa, sondern auch sich selbst zu retten?

Magisch, phantastisch, geheimnisvoll!

Der Autor

© Barbara Dietl

Andrea Schütze hat in ihrer Kindheit so ziemlich alle Hobbys ausprobiert, die man sich nur vorstellen kann. Irgendwann ist sie beim Lesen geblieben und schreibt deshalb auch so gerne selber Bücher. Sie hat einen Gesellenbrief als Damenschneiderin, ein Diplom als Psychologin, aber kein Seepferdchenabzeichen. Mit ihren Töchtern lebt sie in einem rosaroten Haus mitten im Schwarzwald. In der Nähe gibt es eine Stelle, an der man gleichzeitig in Deutschland, Frankreich und der Schweiz stehen kann – vorausgesetzt natürlich man hat drei Beine.

Mehr über Andrea Schütze: www.andrea-schuetze.de

Der Verlag

Du liebst Geschichten? Wir bei Planet! in der Thienemann-Esslinger Verlag GmbH auch!Wir wählen unsere Geschichten sorgfältig aus, überarbeiten sie gründlich mit Autoren und Übersetzern, gestalten sie gemeinsam mit Illustratoren und produzieren sie als Bücher in bester Qualität für euch.

Deshalb sind alle Inhalte dieses E-Books urheberrechtlich geschützt. Du als Käufer erwirbst eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf deinen Lesegeräten. Unsere E-Books haben eine nicht direkt sichtbare technische Markierung, die die Bestellnummer enthält (digitales Wasserzeichen). Im Falle einer illegalen Verwendung kann diese zurückverfolgt werden.

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Viel Spaß beim Lesen!

Voler des voleurs, c’est pas voler.(Diebe zu bestehlen ist kein Diebstahl)Französisches Sprichwort

Wer einem Dieb folgt, lernt stehlenAfrikanisches Sprichwort

Ein unheimliches Gebäude, mitten im Wald an einem geheimen Ort. Eine Burg? Ein Kastell?

Im Kamin der Bibliothek lodert ein Feuer.

Spitz und hell züngeln die Flammen empor und hinterlassen schwarze Rußspuren auf den Steinen. Der Kammerdiener hat zu viele Holzscheite hineingelegt, gleich fängt noch der Perserteppich Feuer!

Unwirsch tritt Raoul Rabraqueur mit der Spitze seiner Stiefel in die Flammen, um das Holz zurück in den Kamin zu schieben. Funken stieben auf und brennen winzige Löcher in seine Hose, die sich kokelnd weiterfressen, bis sie endgültig erlöschen.

Doch das bemerkt der König der Diebe gar nicht, denn er starrt finster auf einen Gegenstand, den er in den Fingern hält. Eine kleine, quadratische Fotografie, fast zart wirkt sie in seiner großen Hand. Aber es ist nicht das strahlende Frauengesicht darauf, das Rabraqueur so fasziniert. Die Notiz auf der Rückseite ist es, die ihn in Bann zieht …

»Rrraaahhh«, stößt er hervor. Dann holt er aus und schleudert das Foto mit gebleckten Zähnen in die Flammen.

Sofort beißt sich knisternd die Hitze ins Papier und die Ecken beginnen sich aufzurollen.

Da gibt sich Rabraqueur einen Ruck, tritt an den Kamin und fasst in die Flammen, um das Foto vor dem Verbrennen zu retten. Es stinkt erbärmlich, als die Härchen auf seinen Händen verkohlen, doch Rabraqueur spürt keinen Schmerz. Er greift nach der Rotweinflasche auf dem Tischchen, zieht den Korken mit den Zähnen heraus und schüttet die Flüssigkeit über das Foto, um das Glimmen zu löschen.

Immer noch lächelt die Frau.

Schnaubend dreht Rabraqueur das Foto um. Die Worte sind ebenfalls noch zu lesen.

Rabraqueur überfliegt sie wieder und wieder, spuckt verächtlich auf den Boden und legt das Foto dann auf seinen Schreibtisch. Er beschwert es mit einer kleinen Statue aus Gold, und tritt an eines der Bücherregale, die die Wände der Bibliothek bis zur Decke ausfüllen. Mit dem Fuß schiebt er grob den dösenden Hund beiseite und zieht die Regalleiter zu sich. Dann setzt er mit Wucht den ersten Schritt auf die Sprosse, sodass sie krachend zerbirst und der Hund sich winselnd in eine andere Zimmerecke verkriecht. Rabraqueur muss bis ganz nach oben steigen, um das gesuchte Buch zu erreichen. Er zieht es heraus und setzt sich damit in den staubigen Sessel vor dem Kamin, nimmt seine Zigarre und blättert ziellos durch die Seiten.

Hier.

Hier steht es.

Das, wonach er schon sein ganzes Leben sucht, und ebenfalls sein Vater und dessen Vater und des Großvaters Vater. Doch niemand war so nah dran, es zu besitzen, wie er. Er hatte es sogar direkt vor seiner Nase. Aber es ist ihm durch die Lappen gegangen. Zwischen den Fingern entwischt. Erst das eine Kind, dann das andere …

Rabraqueur spuckt Tabakstückchen auf den Boden, schlägt die Seiten nun an einer bestimmten Stelle auf und beginnt zu lesen.

Obwohl er es eigentlich gar nicht müsste. Er kennt diese Textstelle im Geheimen Buch der Diebe längst in- und auswendig, jedes einzelne, verfluchte Wort …

Die Große GabeEines Tages wird sie seien,sich offenbaren in derer Zweien.Im selben Mond lebendiglich,einer hat’s, der andre nich’.Du wirst erst wissen, was erblüht,wer sich zu Zeit und Ort bemüht.Wesen, nicht dieselben, aber gleich,machen den Beherrscher reich.

Rabraqueur lässt das Buch sinken. Für einen kurzen Augenblick ist es vollkommen still. Nur das Knacken des Feuers, das Ächzen des hölzernen Gewölbes und der raue Atem des Hundes sind zu hören. Unvermittelt springt Rabraqueur auf und schleudert das Buch auf den Schreibtisch. Klirrend fegt es ein Tablett mit hauchfeinem, japanischem Teegeschirr zu Boden.

»Ich bin der Meister, der König! Ich! Mich werdet ihr reich machen, hört ihr? Und wenn euch zu finden das Letzte ist, was ich tue! Wachen!«, brüllt er und stürmt hinaus.

Unter dem Eiffelturm ist heute besonders viel los.

Endlich hat der Frühling auch in Paris Einzug gehalten und in der Luft liegt eine prickelnde, lebensfrohe Stimmung.

Touristen aus aller Welt bevölkern erwartungsvoll den Platz unter den gigantischen Eisenstreben des mächtigsten Wahrzeichens von Paris.

Ein Pierrot, mit einer riesigen Traube bunter Ballons in der Hand, kommt mit dem Verkaufen fast nicht hinterher. Jedes Kind und fast genauso viele verliebte Pärchen möchten einen erstehen – es gibt Kätzchen, Meerjungfrauen, Micky-Mäuse, Einhörner oder Herzen – und mit dem blauen Himmel und dem Eiffelturm im Hintergrund, werden all die unzähligen Selfies, die heute geknipst werden, gleich noch mal schöner.

Auch der Verkauf in den Souvenirshops brummt: Eiffeltürme in allen Größen und Preisklassen, abgedruckt auf Sonnenbrillen, Bechern, Taschen und Postkarten. Reisegruppen aus Asien werden von eifrigen Fremdenführern zu den Ticketständen geleitet, Rucksackreisende dösen mit dem Gesicht in der Sonne an ihr Gepäck gelehnt, Kunststudenten üben mit Blöcken auf den Knien das perspektivische Zeichnen, Kinder flitzen umher und eine Violinistin rührt mit ihren Melodien die Herzen.

Es gibt eine »Lebende Statue« zu bewundern, die selbst dann wie in Stein gemeißelt und unbeweglich bleibt, als ein Hund sein Bein hebt und erst im letzten Moment von seinem Besitzer weggezogen werden kann.

Die Menschen vertreiben sich die Wartezeit vor den Aufzügen mit ihren Handys, reden oder lesen in Reiseführern und Stadtplänen. Eltern versuchen, ihre Kinder im Getümmel im Blick zu behalten, Schülergruppen lachen, Pärchen küssen sich. Es werden Hunderte Fotos gemacht und der ein oder andere steht mit in den Nacken gelegtem Kopf da und lässt die Wucht des gigantischen, stählernen Turmes auf sich wirken.

Jeder ist mit etwas anderem beschäftigt.

Nur nicht mit einem.

Dem Gedanken daran, gerade bestohlen zu werden.

All die abgelenkten, faszinierten und neugierigen Menschen auf dem Platz unter dem Eiffelturm denken an alles andere – nur nicht an Juliette, Mihail und Vincent.

Valérie schon.

»Ich sehe euch, Herrschaften«, wispert sie. »Alle drei. Was gar nicht so einfach ist, denn Juliette streift gerade an den Wartenden vor dem Damen-WC vorbei, während Mihail eine Gruppe japanischer Touristen ins Auge gefasst hat.« Also muss Valérie sich entscheiden und konzentriert sich auf Vincent. Er ist der Geschickteste der drei Taschendiebe, weil seine Taktik so ausgeklügelt ist. Während Juliette und Mihail ihre Opfer ausspähen und anschließend umkreisen, immer näher kommen und irgendwann anrempeln oder streifen, um sie zu bestehlen, ist Vincent schon längst fertig und hat reichlich Beute gemacht.

»Aber nicht, wenn ich dich dabei erwische«, murmelt Valérie und tritt hinter dem Rücken eines ziemlich korpulenten Mannes hervor, der ihr schon eine ganze Weile sicheren Spähschutz gegeben hat, ohne etwas von seiner wichtigen Aufgabe mitzubekommen. Und selbst wenn er sie bemerkt hätte, er hätte sich bestimmt nicht gewundert, denn Valérie sieht völlig unverdächtig aus, überhaupt nicht so, wie man sich gemeinhin eine Meisterdiebin vorstellt, obwohl sie genau das ist.

Das Mädchen mit der Schiebermütze aus Cord, der braunen Lockenmähne, dem langen geblümten Sommerkleid, den knöchelhohen Sneakers und der uralten, sattelförmigen Umhängetasche aus Leder, sieht eher aus wie … wie … ja, wie eigentlich? Valérie lächelt bei dem Gedanken an ihr Vorhaben und taucht in die Menge ein. Nicht, dass man überhaupt weiß, wie typische Diebe aussehen oder es typische Diebe überhaupt gibt, aber ganz gewiss käme einem nicht ein so spezielles Mädchen wie Valérie in den Sinn. Und wenn doch, wäre das auch nicht weiter tragisch, denn Valérie ist darüber hinaus noch völlig unsichtbar. Okay, nicht unsichtbar im Sinne von Geist oder Gespenst oder durchsichtig, aber irgendwie nicht richtig sichtbar für Leute mit einem ganz normalen Gehirn, einem ganz normalen Verstand und ganz normalen sechs Sinnen. Das heißt, so gut wie für jeden Menschen auf diesem Planeten. Eine Begegnung mit ihr bleibt mehr ein flüchtiger Eindruck, eine Frage, ob man wirklich gerade gesehen hat, was man gemeint hat zu sehen. Oder war es eine Täuschung, bloß Einbildung? Valéries Vater nennt es »Eine der beiden Gaben«, Valérie selbst nennt es »praktisch«.

Und das ist es, wie wir gleich sehen werden.

Beinahe unsichtbar kann Valérie also durch die Touristenmassen schlendern, um Vincent nicht aus den Augen zu verlieren.

Wie üblich hat er sich verkleidet, sorgfältig und überlegt. Heute mimt er eine Art interessierten Geschichtsprofessor oder Gelehrten, irgendwie aus der Zeit gefallen, mit Bart und runder Brille, braunem Anzug und burgunderroter Fliege. Unter dem Arm klemmt eine alte Aktentasche, aus der Vincent immer wieder ein Notizbuch herausholt, um etwas hineinzukritzeln.

Vermeintlich herausholt, um vermeintlich etwas hineinzukritzeln.

Denn Vincent wird stehlen. Sein Weg wird ihn langsam, aber stetig schnurgerade durch die Menschenmenge führen, dabei wird er sich interessiert geben, vertieft, gleichzeitig irgendwie in Eile, ganz so, wie sich jemand verhalten würde, der wahrlich Besseres zu tun hat, als ziellos herumzuschlendern. Während Vincent in Jacken, Rucksäcke oder Kinderwagentaschen greifen wird, bleibt er niemals stehen, schaut niemanden an und blickt nur zwischen Eiffelturm und Notizbuch hin und her, als wäre er schwer beschäftigt.

»Von wegen«, sagt Valérie und nimmt die Verfolgung auf. »Ich kenn dich zu gut«, murmelt sie.

Nur noch wenige Meter trennen sie von Vincent. Sie kann regelrecht spüren, welchen Weg über den Platz er nehmen wird. Fast ist es so, als sei Valérie ihm durch dieses Gespür stets einen Schritt voraus, obwohl sie hinter ihm herläuft. Sie kann den Geruch seines Anzuges jetzt wahrnehmen und verzieht das Gesicht. Sie weiß genau, wo Vincent ihn gestohlen hat. Alle Secondhandklamotten von Monsieur Jérômes Stand auf dem Flohmarkt am Ufer der Seine riechen nach dieser speziellen Mischung aus Kleiderschrank, altem Parfum und seinem Pfeifenrauch, mit dem sie den ganzen Tag eingenebelt werden, während er den vorbeischlendernden Besuchern hinterhersieht.

Vincents Weg führt ihn an einer Familie vorbei und Valéries Kopfhaut beginnt sanft zu kribbeln. Hier ist sie, die perfekte Gelegenheit, denkt Valérie. Vincent wird ausnutzen, dass das Kind im Buggy angefangen hat, zu weinen. Die Mutter wird sich um das Kleine kümmern. Der Vater ist abgelenkt, weil er gerade dabei ist, das Geschwisterchen auf seine Schultern zu heben.

In Valéries Gedanken läuft die Szene wie ein Film ab, obwohl sie noch gar nicht geschehen ist. Valérie ist so konzentriert, dass sie nichts mehr um sich herum wahrnimmt. Sie ist Vincents Schatten. Selbst ihre Bewegungen sind jetzt synchron zu seinen.

In diesem Moment tritt ein, was Valérie vorhergesehen hat.

Um die Hände frei zu haben, steckt die Mutter das Handy in ihre Hosentasche und kramt ein Baby-Fläschchen aus der Kinderwagentasche. Dabei fällt ein Kuscheltier zu Boden und gibt den Blick auf eine bunte Geldbörse frei.

Valérie rollt mit den Augen, weil das hier fast lächerlich einfach werden wird. Sie läuft inzwischen dicht hinter Vincent. Sie ist bereit. Gleich wird alles blitzschnell ablaufen und Valérie genießt jede Sekunde dieser Jagd.

Vincent tritt nun lächelnd an die Frau heran, bückt sich, hebt das Kuscheltier auf, wechselt die Aktentasche unter den anderen Arm, reicht ihr mit einer winzigen Verbeugung und einem höflichen »Voilà Madame« das Spielzeug und geht zügig weiter. Doch bereits nach wenigen Schritten ist Vincent schon nicht mehr im Besitz seiner Beute, weder des gestohlenen Handys in seiner linken Jacketttasche noch des zwischen Aktentasche und Körper eingeklemmten Geldbeutels. Denn beide Gegenstände hat Valérie ihm mit einer einzigen flinken Bewegung abgenommen. Sie steckt sie in die Taschen ihres bunten Kleids und hält im Gewimmel Ausschau nach der bestohlenen Familie, um ihnen die Sachen zurückzugeben. Da, sie hat sie entdeckt und läuft los. Im selben Moment wird sie von einem Mann angerempelt, der mit einer Leine in der Hand nach seinem Hund sucht. Er läuft gebückt und lässt seinen Blick über den Boden schweifen.

»He«, ruft Valérie, greift instinktiv nach dem Träger ihrer Umhängetasche und sieht dem Mann hinterher.

»Tintin?«, hört sie ihn rufen. »Kleiner Tintin! Komm her, Tintin!«

Er klingt traurig und verzweifelt. Hilfsbereit sehen die Menschen sich um, doch Tintin ist nirgends zu entdecken.

Hoffentlich findet er ihn wieder, denkt Valérie mitfühlend, doch mit einem Mal wird ihr eiskalt. Ihr Herz beginnt zu klopfen. Moment mal, hier stimmt doch was nicht, oder? Kann es vielleicht sein, dass dieser Mann …

Und noch bevor Valérie ihre Hände auf die Taschen gelegt hat, weiß sie, was geschehen ist.

»Sacrément!«, flucht sie und ihr wird schlagartig schlecht. »Er hat mich bestohlen. Der Mistkerl hat mich bestohlen!«, zischt sie fassungslos.

Sie klettert auf den Rand eines Blumenkübels und lässt ihren Blick über die Menge schweifen.

»Ich krieg dich«, murmelt sie. »Glaub nicht, dass ich dich nicht finde …«

Doch unter dem Eiffelturm ist so viel Trubel, dass es unmöglich ist, ihn in dem wogenden Gewimmel auszumachen. Noch dazu ging alles so schnell, sodass Valérie nicht mal sicher ist, nach wem genau sie eigentlich Ausschau hält.

Missmutig lässt sich Valérie auf eine Bank fallen und massiert ihre Finger. Da kann sie schon die Bewegungen ihres Gegenübers vorausahnen, was für ihren Vater übrigens Gabe Nummer zwei ist, und trotzdem lässt sie sich bestehlen, als wäre sie die totale Anfängerin. Und noch dazu mit solch einem billigen Trick.

»Das macht mich richtig sauer«, mault Valérie.

Dann muss sie trotz ihrer Wut plötzlich gähnen.

Gestern Nacht ist es spät geworden, sie hat bis drei Uhr morgens im Atelier de la Haute Couture an der Nähmaschine gesessen, um das neue Kleid fertig zu nähen. Zufrieden streicht Valérie über den Stoff. Es ist ein rundum pudelgutes Gefühl zu wissen, dass man jeden einzelnen Stich selbst gesetzt hat. Und wenn sie sich nicht so über den Zwischenfall ärgern würde, könnte sie dieses Gefühl auch noch richtig genießen. Aber der Gedanke an den Hundesuchtrick des Mannes – oder war es doch ein Junge? – lässt ihr keine Ruhe.

»Als ob der seinen Hund verloren hat!«, schnaubt Valérie und hebt die Klappe ihrer Umhängetasche.

Valérie streichelt Edith und Piaf nachdenklich übers Fell. Die beiden Mäuse blinzeln aus ihrem Nest aus Stoffresten verschlafen in die Helligkeit. Auch sie haben die Nacht im Atelier verbracht, beim Schnurren der Nähmaschine lässt es sich ganz besonders gut schlummern, aber müde sind sie trotzdem schon wieder.

»Das Kleid ist wunderschön geworden«, wispert Edith und hebt den dazu passenden Stoffrest hoch. Mit jedem genähten Kleidungsstück wird ihr Nest auf dem Taschenboden kuschliger.

»Danke«, sagt Valérie und überlegt für einen kurzen Moment, ob sie ihnen von dem Zwischenfall erzählen soll, doch die beiden sehen so müde aus. »Dann schlaft mal weiter«, murmelt sie und klappt den Deckel zu.

Leichtes Gewackel verrät ihr, dass die Mäuse sich noch tiefer in ihre Höhle hineinwühlen.

Valérie sieht sich um. Sie muss einfach noch mal versuchen, den Kerl zu finden. Es ist schließlich eine Frage der Ehre, dass die Familie ihre Sachen wiederbekommt. Valérie hat ein scheußlich schlechtes Gewissen deswegen.

Aber sosehr sie sich auch anstrengt, sie kann ihn nirgendwo entdecken.

Gerade als Valérie beschließt, aufzugeben und nach Hause zu gehen, fällt ihr eine Gruppe junger Mädchen auf, sie sind kaum älter als sie selbst, und umringen mit selbst gemalten Schildern in der Hand ein älteres Ehepaar.

»Ihr blöden Kühe!«, schimpft Valérie entrüstet und springt auf. »Haben die denn überhaupt keinen Funken Gauner-Ehre?«, mault sie.

Das Bestehlen von Touristen, die extra in »ihre« geliebte Stadt kommen, um all die wunderschönen Gebäude, Ecken und Winkel zu bewundern und sich von der Pariser Magie verzaubern zu lassen, ist ja schon scheußlich genug. Wie traurig, all die Reiseschnappschüsse, Selfies und Familienbilder zu verlieren. Das schöne Geld, die Ausweise und Kreditkarten, mit deren Verlust die Laune ins Bodenlose sinkt und dadurch die komplette Reise von einem dunklen Schatten überlagert wird … Aber Menschen mit simulierten Krankheiten und geschauspielertem Leid das Geld aus der Tasche zu ziehen, weil sie ein mitfühlendes Herz auf dem rechten Fleck haben, das ist wirklich das Allerletzte. Valérie ist jetzt richtig sauer. Nein, das hat nicht das Geringste mit Handwerk zu tun, mit Kunst und Fingerfertigkeit, mit Eleganz, Übung, Geschicklichkeit und …

Valérie schnaubt vor Empörung. Sie könnte sich richtig reinsteigern. Die Kunst des Stehlens zur Meisterreife zu bringen, dafür trainiert sie jeden Tag viele Stunden, an guten und weniger guten Straßendieben, an frechen, talentierten, dummen oder begabten. Sie stiehlt zurück so viel sie kann, jeden Tag von morgens bis abends, wenn ihr Vater glaubt, sie säße in der ehrwürdigen Bibliothèque Mazarine, um sich durch die vierhunderttausend Bücher aus vielen vergangenen Jahrhunderten zu schmökern. Nun zu sehen, wie dreist diese Gruppe operiert, das geht zu weit.

»Wir sind taubstumm und arm«, steht auf den Plakaten. »Bitte spenden Sie etwas, damit wir Schulsachen kaufen können«.

»Es heißt außerdem ›gehörlos‹, ihr dummen Gänse«, brummelt Valérie, während sie mit großen Schritten den Platz überquert. Dabei denkt sie an Stéphane aus der kleinen Boulangerie an der Ecke. Er war nämlich tatsächlich gehörlos und einer der lustigsten Menschen, die Valérie kennt. Inzwischen ist er aufs Land gezogen, aber immer wenn sie als kleines Mädchen an der Hand ihres Vaters in den Laden kam und er ihnen das Baguette vom Vortag schenkte, hatte er einen Witz erzählt. Mit der Zeit konnte Valérie die kugeligen, fremdklingenden Worte, die aus seinem Mund kamen, immer besser verstehen und beobachtete fasziniert, wie er und seine Frau Luzie in Gebärdensprache miteinander redeten. Zu Hause hatte sie sich anschließend immer auf einen Hocker vor den Spiegel gestellt und sich mit fuchtelnden Fingern mit ihrem Spiegelbild unterhalten.

Die Mädchen haben inzwischen den Kreis um ihre Opfer enger gezogen und beginnen, ihre Mitleidsnummer abzuziehen, indem sie traurig gucken, seltsame Töne ausstoßen, immer wieder auf die Schilder deuten und bettelnd ihre Hände ausstrecken. Es dauert nicht lange, bis die alte Dame anfängt, im Rucksack ihres Mannes nach dem Portemonnaie zu suchen.

Darauf hat die Mädchenbande nur gewartet. Wie Löwinnen auf der gemeinsamen Hetzjagd beginnen sie nun, ihre Beute richtiggehend zu umzingeln. Während die Frau noch umständlich ein paar Münzen aus dem Geldbeutel holt und sie dem Mädchen mit dem traurigsten Blick in die Hand drückt, haben ihre Komplizinnen bereits eine Kamera und eine zweite Geldbörse aus dem Rucksack genommen. In der Seitenwand klafft außerdem ein langer Riss, aufgeschlitzt mit einem Cuttermesser. Die Diebinnen warten noch, bis die alte Dame das Portemonnaie wieder zurücklegt, um auch das mit einem Handgriff zu entwenden, dann schlendert die Gruppe langsam davon.

Was keine von ihnen bemerkt hat, ist, dass Valérie dem verblüfften Ehepaar das Diebesgut längst zurückgegeben hat und sie selbst soeben von Räuberinnen zu Beraubten geworden sind. Zufrieden betrachtet Valérie die fünf Smartphones in ihrer Hand. Aus irgendeinem Grund kann Valérie überhaupt nichts mit Handys anfangen und obwohl sie jeden Tag die besten, teuersten und neuesten Modelle sieht, gibt sie sie gerne und ohne Neid wieder zurück – Valérie ist lieber ganz hier in der Realität, mitten drin im Leben.

Mittlerweile hat die Bande festgestellt, dass irgendwas nicht stimmt, weder die Beute noch ihr eigener kostbarster Besitz noch vorhanden ist, und geben ihrem Entsetzen lautstark Ausdruck, indem sie hysterisch durcheinanderkreischen und nach der Polizei rufen.

»So viel zu taubstumm, oh Mann«, raunt Valérie und marschiert auf sie zu. »Sucht ihr die hier?«, ruft sie laut und winkt mit dem Fächer aus Handys.

Die Mädchen schreien in einer Mischung aus Erstaunen und wütender Erkenntnis auf und stürzen auf Valérie los.

Valérie lacht. Was für ein Spaß! In wenigen Sätzen hat sie einen der mächtigen Füße des Eiffelturms erreicht und erklimmt die Streben. Immer höher hinauf geht es in dem braungrauen Gestänge, bis Valérie ihr Ziel erreicht hat. Es ist die Aufzugschiene. Gleich wird die rote Kabine wieder ihren Weg hoch hinaus zur Plattform antreten. Gerade als sie an Valérie vorbeifährt, platziert sie die Handys auf dem Kabinendach.

»Genießt die Fahrt«, ruft Valérie vergnügt und macht sich an den Abstieg.

Unten steht die Mädchenbande ratlos zusammen. Immer wieder starren sie in das eiserne Gestänge des Turms. Sie können sich nicht erklären, was gerade geschehen ist. War es wirklich dieses Mädchen im Blümchenkleid, die mit den ergaunerten Handys den Eiffelturm hochgeklettert ist? Unsicher sehen sie sich um. Das müssen doch auch noch andere Leute mitbekommen haben?

Grinsend springt Valérie ihnen von einer Strebe direkt vor die Füße.

»Euren Handys war’s in den Potaschen zu langweilig. Sie machen einen Ausflug!«, ruft sie und rennt lachend davon. Erst im nahegelegenen Parc du Champ-de-Mars wird sie langsamer und lässt sich japsend ins Gras fallen.

»So, raus mit euch, Frischluft«, keucht sie, öffnet die Tasche und setzt Edith und Piaf vorsichtig auf die Wiese.

»Ah, non, Natur«, protestiert Piaf, doch als er sieht, wie seine Frau begeistert an den Gänseblümchen schnuppert, huscht ein Grinsen über sein kleines Mausgesicht.

»Bravo ma Chère«, lobt Edith und verspeist das Blümchen.

»Meintest du mich oder das arme Pflänzchen?« Valérie grinst und legt sich auf den Rücken.

Hier ist es wunderbar friedlich. An Valéries Lieblingsstelle scheint der Lärm der Stadt so weit weg, als sei man mit nur wenigen Schritten in ein anderes Land gelangt. Piaf springt auf Valéries Bauch und kuschelt sich in die Rüschen.

»Pennrübe«, sagt Valérie. »Wer so viel frisst wie du, sollte sich etwas mehr bewegen.« Schmunzelnd fährt sie mit dem Finger über den samtigen Rücken der Maus und blinzelt in den Himmel. Der komische Druck in ihrem Bauch, der sich dort breitgemacht hat, seit sie selbst bestohlen wurde, hat sich fast schon wieder aufgelöst. »Seht ihr«, sagt sie und deutet auf das Geflecht aus Kondensstreifen, »sieht aus wie ein Schnittmuster. Das da«, Valérie zieht die Linien mit dem Finger nach, »ist der Stoffbruch-hinten-Mitte, das bedeutet, dort wird der Stoff doppelt gelegt. Und hier, das ist der Halsausschnitt und da, Ärmellöcher. Könnte eine Bluse werden …« Plötzlich gibt Valéries Bauch ein lautes Knurren von sich. Erschrocken flüchtet Piaf ins Gras.

»Hunger«, stellt Valérie fest. »Auf geht’s nach Hause. Vielleicht hat Papa schon was zum Essen organisiert.« Valérie rappelt sich auf. Sie nennt Gustaves Tätigkeit nie Stehlen oder Klauen, schließlich ist es ein Beruf, eine Arbeit, wie jede andere auch. »Na ja«, Valérie kichert und hebt die Mäuse in die Tasche, »nicht ganz vielleicht.«

Aber wie sollte man das auch erklären, schließlich weiß niemand etwas von dieser anderen Welt, aus der sie, ihr Vater und das Mäusepärchen eigentlich stammen … Was auch der Grund ist, weshalb die beiden sprechen können.

Ja, es weiß tatsächlich so gut wie niemand überhaupt von ihrer aller Existenz …