Valhalla – Erinnerungen aus der Zwischenwelt! - Ingrid Schliebusch - E-Book

Valhalla – Erinnerungen aus der Zwischenwelt! E-Book

Ingrid Schliebusch

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Beschreibung

Mit "Valhalla" wird eine Zwischenwelt bezeichnet, aus der Erinnerungen von Menschen übermittelt werden, die in den 1920er-Jahren in Rumänien und Berlin geboren wurden und den Zweiten Weltkrieg erlebten. Im Buch "Valhalla" werden ihre Erinnerungen zurück ins Irdische gebracht, um das erlebte Leid und den Schmerz zu lösen, mit dem wir alle verbunden sind. Die Auswirkungen des Zweiten Weltkrieges auf die Nachkriegszeit und bis in die 90er-Jahre des wiedervereinten Deutschlands werden durch die beschriebenen Ereignisse, Gedanken und Gefühle zu einer lebendigen Wirklichkeit.

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Seitenzahl: 199

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Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2024 novum publishing

ISBN Printausgabe: 978-3-99146-516-4

ISBN e-book: 978-3-99146-517-1

Lektorat: Birgit Himmüller

Umschlagfotos: Yupiramos Group | Dreamstime.com; NastyaSensei | pexels.com

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

www.novumverlag.com

Zitat

Jedes Leben hinterlässt Spuren. Spuren in der Erinnerung. Ihnen zu folgen, sie wiederzubeleben, sie zu vertiefen, zu verinnerlichen, ihre Bedeutung zu ergründen, um daraus die Antworten auf alle Fragen abzuleiten – ob sinngebend oder nicht –

Widmung

Für alle Menschen, die Schuld in sich tragen und sie im außen suchen.

Für Vadim, der mir den Weg zeigte.

Für meine Mutter, die mich liebte und mir mein Leben schenkte.

Für meinen Vater, der mich erlöste.

Vorwort

Deutschland, Juli 2021

Das sind meine Erinnerungen. Meine, die meines Vaters Johannes, meiner Mutter Elsa, die meiner beiden Onkel Wilhelm und Vadim und die anderer Menschen. Mit Valhalla bringe ich sie zurück ins Irdische, um sie zu lösen. Ihr seid alle verbunden mit dem Leid und dem Schmerz, der uns widerfuhr. Alle seid ihr damit verbunden. Es gibt keine Schuld, aber Angst vor Leid, Schmerz und Tod. Das muss enden. Die Angst ist lebensfremd geworden. Sie macht euch unmenschlich, entfernt euch von Liebe und Mitgefühl. So wie es mir erging, entfernt sie auch euch immer weiter von eurem Selbst. Die Angst muss durch Liebe und Vertrauen ersetzt werden. Ihr braucht Mitgefühl für euch und füreinander! Liebe, Mitgefühl und Vertrauen in euch! Dann wird es enden.

Jakob Wilhelm

Prolog

„Woran erkennt man die Wahrheit?“, fragte die Lüge.

„Die Wahrheit kann man nicht erkennen, man kann sie nicht erfassen, weil sie alles umfasst. Die Wahrheit ist die allerhöchste Instanz, aus ihr spricht der Mensch ohne Worte“, antwortete die Weisheit.

„Das verstehe ich nicht. Ich werde oft mit der Wahrheit verwechselt. Die Menschen mögen mich und ich fühle mich allgegenwärtig. Noch nie bin ich der Wahrheit begegnet. Wie kann ich sie finden?“, fragte die Lüge.

„Du kannst sie nicht finden. Nach der Wahrheit sucht man nicht. Sobald du beginnst, sie zu suchen, ist sie nicht mehr wahr. Wenn sie nicht mehr wahr ist, findest du dich selbst. Hast du dich selbst gefunden und erkannt, wer du bist, endet dein Sein. In dem Augenblick, in dem du endest, wird die Wahrheit sichtbar“, antwortete die Weisheit.

„Das heißt, ich kann ihr nie begegnen, weil sie nur sichtbar wird, wenn mein Sein endet?“, fragte die Lüge.

„Du begegnest der Wahrheit jeden Tag, denn sie begleitet dich. Du kannst sie nicht sehen durchdeineAugen, nicht hören durchdeineOhren, aber fühlen kannst du ihre Anwesenheit“, entgegnete die Weisheit.

„Wie fühlt sich die Wahrheit an?“, wollte die Lüge wissen.

„Halte inne und tritt beiseite, verschließe deine Augen und deine Ohren, dann kannst du sie fühlen“, forderte die Weisheit die Lüge auf.

Die Lüge schloss ihre Augen und Ohren, trat beiseite und hielt inne, wie es die Weisheit gefordert hatte.

„Ich fühle die Wahrheit nicht, ich fühle nur Angst“, sagte die Lüge ganz leise. „Die Angst sitzt zusammengekauert im Dunkeln, tief auf dem Grunde der Herzen und schaut auf den Tod.“

„Gib ihr deine Hand und führe sie ans Licht!“, rief die Weisheit.

„Wie soll ich das anstellen?“, fragte die Lüge.

„Du bist die Lüge, dir wird sie vertrauen. Versprich ihr, dass ihr gemeinsam den Tod besiegen werdet, dann wird sie dir folgen“, riet ihr die Weisheit.

Die Lüge tat, was ihr die Weisheit geraten hatte. Sie reichte der Angst eine Hand und versprach ihr, dass sie den Tod besiegen würden, wenn sie mit ihr gemeinsam ans Licht käme. Die Angst vertraute der Lüge tatsächlich. Im Glauben daran, den Tod zu besiegen, ließ sie sich von der Lüge ans Licht führen. Die Lüge begegnete der Wahrheit im selben Augenblick, in dem die Angst in ihr Licht trat. Im Lichte der Wahrheit beendete die Lüge ihr Sein und mit ihr die Angst, die sie fest an der Hand hielt.

Das EINE

„Ichbin es, erkennst du mich nicht?“, fragte das Eine.

„Nein, wer bist du?“, fragte er zurück.

„Binich es, erkennst du mich!“, antwortete das Eine.

„Woher soll ichwissen, ob du es bist? Ich erkenne dich nicht!“, entgegnete er.

„Erkennst du mich nicht,binich esnicht“, fügte das Eine hinzu.

„Dubistes, wenn ich dich erkenne und wenn ich dich nicht erkenne,bistdues nicht?“, fragte er. „Ich verstehe deine Worte nicht! Was willst du von mir?“

„Warum lebst du?“, fragte das Eine unvermittelt.

„Warum ich lebe?“, wiederholte er die Frage.

„Du bist verwundert über diese Frage?“, fragte das Eine. „Warum bist du nicht tot, wenn du keinen Grund zum Leben hast?“, setzte es gleich nach.

„Wer bist du, dass du mir solche Fragen stellst? Ich finde keinen Sinn darin“, antwortete er.

„Du forderst einen Sinn in meinen Fragen, obwohl du keinen Grund zu leben weißt? WelchenSinnhat es, dass du lebst?“, fragte das Eine weiter.

„Ich lebeohneSinn“, gab er zurück.

„Alleshat einen Sinn!“, antwortete das Eine. „Wenn nicht alles einen Sinn hätte, warum sollte es dannsein?“

„Ich sehe keinen Sinn im Leben. Vielleicht kann ich ihn erst erkennen, wenn ich tot bin“, fügte er hinzu und wandte sich ab.

Doch in welche Richtung er sich auch wandte – das Eine stand immer direkt vor ihm und schaute ihn freundlich, aber herausfordernd an.

„Warum stellst du diese Fragen ausgerechnetmir?Ichkann sie dir nicht beantworten!“, sagte er schließlich.

„Ich stelle siedir, weil nurdusie beantworten kannst! Sie enden in dem Moment, in dem du mich erkennst.“

Er hielt inne und schaute das Eine an, als ob er es jetzt erstwahrnehmen könnte.

„Bistdudas Leben?“, fragte er schließlich.

„Ja, ich bin es!“, antwortete das Leben liebevoll.

„Du kommst zu spät“, antwortete er und schickte es fort.

Valhalla an einem Tag ohne Zeit

„Heute!“, rief das Gestern. „Nein, morgen erst!“, rief das Heute. „Jetzt!“, rief der Moment. „Seid ruhig!“, rief die Zukunft. „Die Vergangenheit holt sie sonst ein, die Zeit, die ihr verschwendet.“

Nachdem das EINE weg war

„Ich friere, es ist so kalt hier im Dunkeln!“, klagte sein Herz.

„Das ist seine Kälte! Das Leben hat uns verlassen“, sagte sein Verstand.

„Wo ist das Leben? Warum ist es fort?“, fragte sein Herz.

„Er wollte nicht mehr denken müssen, darum hat er es fortgeschickt!“, antwortete sein Verstand.

„Aber du sprichst mit mir, also denkt er immer noch!“, widersprach sein Herz.

„Ja, er denkt immer noch, aber nicht mehrdarübernach“, entgegnete sein Verstand.

„Worüber?“, fragte sein Herz.

„Über den Tod. Er muss nun nicht mehr über den Tod nachdenken, weil er jetzt totist“, antwortete sein Verstand.

„Er ist tot?“, fragte sein Herz bange.

„Ja, er ist tot. Eigentlich lebte er schon lange nicht mehr“, sagte sein Verstand.

„Was meinst du damit, er lebte schon lange nicht mehr?“, fragte sein Herz.

„Er hatte sich schon lange vom Leben abgewandt und dachte nur noch über den Tod nach“, erklärte sein Verstand.

„Warum wandte er sich ab vom Leben?“, fragte sein Herz.

„Er hatte die Lust daran verloren. Ständig fragte er mich nach dem Wert des Lebens, aber ich fand keine Antwort, die ihm gefiel!“, antwortete sein Verstand.

„Das ist traurig. Ich fühle die Einsamkeit und seine Angst davor. Er verschloss mich, sodass er sich selbst nicht wahrnehmen konnte“, sagte sein Herz leise.

„Jetzt ist Ruhe. Alle Gedanken sind gedacht. Es kommen keine neuen mehr. Nur noch seine Erinnerungen bleiben …“

„… und seine Gefühle“, ergänzte sein Herz und fragte: „Was geschieht mit uns, ohne das Leben?“

„Wir existieren nicht mehr. Durch das Lebenwarenwir. Ohne das Leben sind wir nicht mehr. Sein Körper vergeht und wir verlassen ihn. Wir sind jetzt frei“, antwortete sein Verstand.

„Frei? Was bedeutet das,freisein?“, fragte sein Herz.

„Frei sein bedeutet, dass wir nun kein Teil mehr von ihm sind. Wir lösen uns von ihm. Das Leben ist schon fort. Wir sind noch da, weil wir immer zuletzt gehen“, erklärte sein Verstand.

„Wohin gehen wir?“, fragte sein Herz.

„Ich gehe auf in den Erinnerungen und du mit mir, denn alle Erinnerungen sind fest mit Gefühlen verbunden und jedes Gefühl mit einer Erinnerung. Dort bleiben wir, bis wir wieder erinnert und gefühlt werden von einem Menschen“, antwortete sein Verstand.

„Ich fühle mich so schwer. Ich kann mich nicht lösen von ihm!“, klagte sein Herz.

„Die Schwere ist nicht deine, sie bleibt hier. Nur leichte Herzen können sich vom Irdischen lösen“, erklärte sein Verstand.

„Was geschieht mit ihr?“, fragte sein Herz.

„Andere Herzen werden sie aufnehmen“, antwortete sein Verstand.

„Andere Herzen werden diese Schwere aus Einsamkeit, Kummer und Angst weitertragen?“, fragte sein Herz besorgt.

„Ja, sie bleibt hier. Andere Menschen werden sich ihrer annehmen und sie in ihren Herzen weitertragen“ antwortete sein Verstand.

„Ich fühle die Schwere als unausgesprochenes Leid seiner Erinnerungen“, sagte sein Herz. „Er fühlte sich ausgeschlossen vom eigenen Leben“, fügte es hinzu.

„Er lebte schon lange nicht mehr“, wiederholte sein Verstand und beendete sein Denken. Sein Herz ließ die Schwere los und folgte ihm.

Valhalla zwischen der Zeit

„Die Vergangenheit holt dich ein, wenn du zu lange hinsiehst. Dreh dich um! Dreh dich um!“, lockte die Zukunft.

TEIL 1 – Erinnerungen aus vor der Zeit, in der Zeit und nach der Zeit

KZ Sachsenhausen, April 1945 – Erinnerungen von Vadim

Der Tod ist allgegenwärtig. Er umschließt mich. Ich rieche, sehe, höre und fühle den Tod. Ich spüre mein Vergehen, mehr als mein Leben. Ich vergehe. Die Zeit steht still, doch ich vergehe. Ich lebe rückwärts. Ich will endlich Gewissheit, die sichere Gewissheit, dass ich sterbe oder leben werde. Ich kann nicht mehr ohne Gewissheit leben. Ich möchte wissen, wann es so weit ist. Heute, morgen, in einer Woche? Wann ist es vorbei? Lieber jetzt, dann habe ich Gewissheit!

Wir werden aufgelöst. Sie treiben uns fort! Sie treiben uns! Wer nicht mehr laufen kann, wird erschossen. Sie treiben uns! Der Tod treibt uns über die Felder. Ein Todesmarsch der lebenden Toten. Der Tod treibt uns voran. Viele bleiben auf der Strecke liegen, einfach liegen und sterben. Sie haben Gewissheit, dass es zu Ende ist. Doch es treibt uns voran, ein letzter Funke Hoffnung auf Leben, ein letzter Rest Leben, der noch in unseren ausgemergelten Körpern steckt. Niemand weiß, niemand weiß, aber einige hoffen noch. Die, die nicht mehr hoffen, bleiben liegen.

Ich falle, ich liege, werde ohnmächtig. Man tritt mich in die Seite. Ich rühre mich nicht. Er geht weiter und lässt mich sterben – endlich Gewissheit.

Ich liege. Die Zeit steht still. Es beginnt zu regnen. Mein Gesicht wird nass. Ich lebe noch. Ich lebe noch!

Ich werde hochgerissen. Man legt mich auf einen Karren und fährt mich. Wohin? Ich spüre das Holpern des Karrens, ich höre Stimmen, doch ich verstehe die Worte nicht. Ich liege im Stroh, „mehr tot als lebendig“, höre ich sie sagen. Sie heben meinen Kopf und geben mir Wasser. Es läuft an meinen Mund vorbei. Ich habe keine Kraft, meine Lippen zu öffnen. Irgendwann spüre ich es hinunterrinnen in meiner Kehle. Es ist kühl und wohltuend. Ich schmecke Brühe, die mir eingeflößt wird, mit einem großen Löffel. Ich habe nicht vergessen, wie Brühe schmeckt. Ich falle in einen tiefen Schlaf.

Wie lange habe ich geschlafen? Ich bin wach. Ich lebe. Ich kann meine Augen öffnen und sehen. Ich spüre eine Hand, die weich über mein Gesicht gleitet. Ich kann sie spüren, ich rieche den Duft von Heu um mich herum. Ich lebe.

Dem Tode entronnen sei ich, sagen sie.Glückhätte ich gehabt. Doch ich spüre das Glück nicht, zu viel Tod war um mich herum. Ich kann mich nicht lösen von den Bildern, den Gedanken, den Schmerzen der vergangenen Jahre. Ich kann sie nicht löschen, so sehr ich mich bemühe. Ich müsste sie vergessen wollen, um weiterzuleben. Ich lebe, aber nichtmeinLeben. Das habe ich verloren vor der Zeit. Ich habe es verloren, mein Leben. Es kommt mir so unwirklich vor, das Leben nach der Zeit. Ich solle alles vergessen, ich solle ein neues Leben beginnen, sagen sie. „Wie geht das –vergessen?“, frage ich sie. Sie schauen mich an und doch sehen sie nicht mich, sondern den anderen, den, der übrig blieb nach der Zeit. Ich lebe, aber es gibt mich nicht mehr. Sie wissen keine Antwort auf meine Frage nach dem Vergessen, das sehe ich in ihren leeren Blicken – keine Antwort auf die Frage, wie man lebt, ohne sein Leben.

Ich bin wieder bei Kräften. Sie schicken mich fort. Hier könne ich nicht bleiben, sagen sie. Ich gehe, oder das, was von mir übrigblieb, nach der Zeit. Ich lasse mich treiben ohne Ziel, ohne zu wissen, wer ich bin.

Berlin, September 1945 – Erinnerungen von Vadim

Der Krieg ist vorbei. Ich bin frei. Frei zu sein, mein altes Leben wiederzubekommen, war mein sehnlichster Wunsch nach der Inhaftierung. Jetzt weiß ich, dass ich mein altes Leben nie wiederbekommen kann – ganz gleich, ob ich frei bin oder nicht. In Gedanken werde ich nie mehr frei sein. Meine Erinnerungen fesseln mich, halten mich gefangen in Sachsenhausen. In der Nacht begegnen mir die Toten. Ich sehe ihre Gesichter, ihre glänzenden starren Augen, ihre stummen Blicke. Sie greifen nach mir, wollen mich mitziehen. Ich laufe davon, aber sie holen mich ein. Ich höre ihre Schreie, ihr leises Wimmern, ihr Keuchen, ihren letzten Atemzug. Ich erkenne ihre Gesichter in den Lebenden und erstarre. Ich habe keine Angst mehr vor dem Tod. Keine Angst mehr. Ich spüre Hunger und Durst, ich friere und schwitze, bin müde, aber finde keinen Schlaf – sonst fühle ich nur Leere. Leere füllt mich aus. Es ist, als wäre ich ein Schlafwandler, der nie aufwacht aus seinem Albtraum. Ich habe keinen Platz mehr im Leben, bei den Lebenden. Das sehen sie, wenn sie mir begegnen. So viele Menschen stürzen sich in die Arbeit, jetzt, da der Krieg vorbei ist. Sie bauen wieder auf, sagen sie. Sie bauen wieder auf. Arbeitskräfte werden jetzt überall gesucht. So viele Männer sind im Krieg geblieben, so viele Männer. Man sieht nicht mehr, wer gut ist und wer schlecht. Alle Schlechten sind verschwunden, als hätte es nur Gute gegeben. Mitfühlende Blicke erkenne ich nur selten, zu viel Leid und Schmerz haben die Menschen erlebt, da bleibt kein Gefühl mehr übrig, das man teilen kann.

Ich arbeite für Obdach und Brot. Ich schleppe Steine und baue ihre Häuser wieder auf. Wohin sollte ich auch gehen? Ich bleibe. Wenn ich arbeite, spüre ich ein wenig. Mein Körper schmerzt. Ich lebe. Woher ich komme, fragen nur wenige, wohin ich gehöre, fragt niemand. Also bleibe ich. Niemand fragt, und das ist gut so. Was sollte ich ihnen erzählen? Das Unfassbare hat keine Worte. Die Menschen schweigen über ihr erfahrenes Leid, sie schweigen, weil sie ihr Leben zurückhaben wollen.IhrLeben. Das verstehe ich. Ich schweige, damit sie ihr Leben zurückbekommen können – dafür muss ich schweigen. Ihre Blicke geben mir zu verstehen, dass sie nichts wissen wollen von dem, was hinter den Mauern geschah. Es ist so unwirklich, so unglaublich, dass sie es nicht glauben wollen, nicht glauben können, was hinter den Mauern geschah. Niemand möchte es wissen, niemand hat davon gewusst, niemand hat etwas davon gehört oder gesehen. Niemand.

Ich würde es selbst gerne nicht mehr wissen müssen. Nicht mehr denken müssen, nicht mehr träumen müssen. Verdrängung hilft den Überlebenden. Sie hilft den Lebenden. Das ist doch wichtig, dass sie den Lebenden hilft. Sie arbeiten ihren Schmerz weg. Sie arbeiten, um zu vergessen, was sie nicht wissen wollten, nicht wussten, nie hörten und nie sahen. Ich helfe, ich arbeite, ich esse und trinke, aber ich schlafe nicht, weil sie dann kommen und mich einholen, die Toten. Viele sind schlaflos und ruhelos, wie ich. Ich sehe Leid in ihren Augen. Sie wollen ihr altes Leben zurück, doch das gibt es nicht mehr.

Die Kinder spielen in den Trümmern – sorglos lachend. Das ist schön, sie spielen zu sehen und ihr Lachen zu hören. Ich ertappe mich dabei, wie ich ihnen lächelnd zusehe. Für einen kurzen Augenblick kann ich vergessen. Ich beginne, in der Nacht Tiere und Figuren zu schnitzen. Das konnte ich schon, als ich selbst ein kleiner Junge war. Mein Großvater hat es mir beigebracht. Ich schenke sie den Kindern, um ihre Freude und ihr Lachen zu erleben. Wenn sie lachen, kann ich vergessen. Ich beginne, mich an mein Leben zu erinnern, daran, wer ich war vor der Zeit.

Berlin, Frühjahr 1946 – Erinnerungen von Vadim

Wer ich bin … Ich habe keine Verbindung zu mir, der ich bin. Ich fühle mich nicht zugehörig zu meinem vergangenen Leben. Es erscheint mir fremd. Ich fühle mich wie ein Beobachter, wenn ich mein vergangenes Leben erinnere, wie ein Fremder. Ich spüre kein eigenes Leben, nur das Fremde kann ich beobachten und gehe darin auf. Wenn ich nicht beobachte, bin ich leer. So wie ich den Kindern beim Spielen zuschaue, schaue ich mein vergangenes Leben an. Wenn ich mich erinnere, sehe ich einen Jungen, der ich wohl mal war. Ich sehe seine Mutter. Sie trägt ein einfaches Kleid und eine Schürze darüber. Ihre Haare sind hinten zusammengesteckt. Sie ist jung, arbeitet viel, ist fleißig. Sie versorgt das Haus und die Tiere. Wir haben Tiere, nicht viele, aber auch nicht wenige. Es reicht zum Leben. Es geht uns gut. Wir leben auf dem Land. Mein Vater arbeitet auf den Feldern, meine Mutter versorgt Haus und Hof. Ich erinnere unsere Gänse und Hühner, die auf dem Hof herumlaufen. Ich laufe hinterher. Es macht mir Spaß, sie zu scheuchen, bis sie laut gackern und auffliegen. Meine Mutter ermahnt mich, dass ich die Hühner nicht scheuchen soll, aber ich tue es trotzdem, wenn sie nicht hinsieht. Sie trägt meine kleine Schwester auf dem Arm. Ich spiele viel draußen, meistens mit den Tieren. Meine Großeltern leben mit uns auf dem Hof. Großvater raucht Pfeife und repariert Zäune und Karren. Großmutter hilft im Haus und im Garten. Abends sitze ich mit Großvater auf einer Bank vor dem Haus. Es ist mild. Die Sonne steht schon tief. Er schnitzt Tiere und Figuren aus Holz für mich. Auch einen Karren und eine Kutsche schnitzt er mir. Ich lache und er brummt in seinen Bart. Ich rieche den Tabak aus seiner Pfeife. Ich liebe es, neben ihm zu sitzen, ihn zu riechen, seinen geschickten Fingern zuzuschauen.

Mein Gesicht ist nass. Ich schaue wieder den spielenden Kindern zu. Sie spielen Räuber und Gendarm mit Gewehren aus Holzstöcken. Zwischen den Ruinen kann man sich gut verstecken. Während sie spielen, sind sie unbeschwert. Viele von ihnen haben keinen Vater mehr, wissen nicht mal mehr, wie er aussieht, wie er sich anhört, wie er riecht. Ihre Mütter sind voller Angst und Sorge, doch sie zeigen es nicht. Sie müssen arbeiten. Die Kinder haben Hunger. In den Trümmern gibt es nicht viel, was heil geblieben ist, aber manchmal findet man noch etwas, was einmal jemandem gehörte, der dort lebte. Sachen, die sich auf dem Schwarzmarkt eintauschen lassen, gegen Nahrungsmittel, Seife und Kleidung. Es gibt eine Suppenküche. Die Frauen stehen Schlange und holen in ihren Blechschüsseln und Töpfen Suppe und etwas Brot für sich und die Kinder. Keiner klagt, keiner spricht darüber, was war. Alle halten sich fest an der erhofften Zukunft – alle halten sich fest an dem, was übrigblieb.

Der Winter war hart, forderte noch einmal viele Tote. Vor allem alte und schwache Menschen und Kinder. Sie erfroren ohne Obdach, waren zu schwach, um sich zu retten. Die anderen sind zu leer, um noch mehr zu trauern, um noch mehr Tote. Die Mütter weinen um ihre Kinder – ganz still, und dann arbeiten sie weiter für die Verbliebenen. Manche weinen nicht mehr. Sie verstummen und manche verschwinden, sind einfach weg, wie so viele andere, die einfach weg sind.

„Vadim, steh auf, die Sonne lacht!“ Ich schrecke hoch und schaue in ein lächelndes Gesicht. Kurz erkenne ich meine Mutter, rieche sie, höre ihr Lachen. Eine junge Frau schaut mich an. Ich bin wieder hier. Ich heiße Vadim, heute ist der 14. April 1946, mein 22. Geburtstag.

Siebenbürgen – vor der Zeit – Erinnerungen von Vadim

Als ich ein Kind war, erzählte mir mein Großvater vom großen Krieg, der hier bei uns, um unser Land geführt wurde. Siebenbürgen war umkämpft. Menschen vergessen, wenn sie nicht erinnert werden. Die Toten werden vergessen. Rumänien hatte viele Tote im Ersten Weltkrieg zu beklagen. Das Land wurde geplündert und ausgeblutet. Mein Großvater erzählte von dem großen Heer, das aus einfachen Männern bestand, die nicht wussten, wie man Krieg führt. Mein Vater war einer von ihnen, doch er sprach nie über den Krieg. Auch meine Mutter nicht. Wer den Krieg gewonnen hat, wollte ich als Junge wissen. „Niemand“, sagte mein Großvater bestimmt. „Niemand kann einen Krieg gewinnen, Vadi.“

Meine Großmutter war sehr gläubig. Wie die meisten Rumänen gehörte sie der christlich-orthodoxen Kirche an. Sie sagte, dass ihr der Glaube helfe, alles zu ertragen. Sie hat vier Söhne im Krieg verloren. Mein Vater war der einzige, der aus dem Krieg zurückkehrte. Sie erzählte mir von Valhalla. Einem Ort aus der nordischen Mythologie, den sie sich zu eigen gemacht hatte, um ihre toten Söhne zu vergessen und sie gleichzeitig gut aufgehoben zu wissen. „In Valhalla bleiben sie, die vergessenen Toten. Sie können nicht fort aus Valhalla und warten“, erzählte meine Großmutter. „Worauf warten sie?“, fragte ich sie. „Sie warten auf ihre Erlösung“, antwortete meine Großmutter. „Wo ist Valhalla?“, wollte ich wissen. „Valhalla ist der Vorraum zum Himmel“, antwortete sie. Ich stellte mir Valhalla als einen Raum vor, der dem Wartesaal im Bukarester Bahnhof glich, den ich schon einmal gesehen hatte. Ein großer Raum mit vielen Bänken, auf denen die Reisenden warten, bis ihr Zug kommt. „Warum sind sie vergessen, Großmutter?“, fragte ich sie. „Es sind zu viele. Wenn wir sie nicht vergessen, können wir nicht an die Lebenden denken“, war ihre Antwort. „Aber wie lange müssen sie denn warten, bis sie endlich erlöst werden?“, fragte ich nach, denn die Vorstellung, dass die Vergessenen unendliche Zeit auf ihren Zug in den Himmel warten müssen, gefiel mir nicht. „Sie warten so lange, bis sie loslassen können von ihrem Leben. Sie tragen schwer, die vergessenen Toten. In den Himmel reist man mit leichtem Gepäck!“, antwortete sie mir, doch ich verstand es damals nicht. Warum müssen die Toten ihr Gepäck dalassen? Warum haben Tote überhaupt Gepäck dabei? Diese und andere Fragen gingen mir durch den Kopf, doch ihr Blick sagte mir, dass ich die Antworten darauf nicht verstehen würde, und deshalb unterließ ich es, ihr diese Fragen zu stellen. „Das Leben beantwortet nicht alle Fragen, aber alle zu seiner Zeit, Vadi“, sagte sie und strich mir übers Haar.

Ich erinnere mich gerne an meine Großeltern. Beide starben vor der Zeit. Erst mein Großvater und wenig später folgte ihm meine Großmutter. Beide sind unvergessen in meinen Erinnerungen. Sie haben bestimmt den ersten Zug bekommen.

Siebenbürgen – kurz vor der Zeit – Erinnerungen von Vadim

Meine Großeltern sind abgereist. Meine Großmutter freute sich auf ein Wiedersehen mit ihren Söhnen. Es fiel ihr nicht schwer, zu gehen, nach meinem Großvater. Für mich wurde die Welt ärmer ohne die beiden.