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Der zweite Fall für Maja Sonderberg. Falsche Musik, Fahrtausfälle, Bügel, die sich nicht schließen lassen – die Geisterbahn auf der Cranger Kirmes wird manipuliert. Doch warum? Und von wem? Aus der ersten Mordgeschichte wird Maja klar, dass sie erneut in die Fußstapfen ihres ermordeten Vaters Stephan Sonderberg treten muss, obwohl sie die grauenhaften Bilder ihres letzten Falls noch nicht verarbeitet hat. Doch sie muss sich beeilen, denn in in nur 10 Tagen zieht die Kirmes weiter. Der Countdown läuft.
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Seitenzahl: 232
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Mandy Roheger
Varietas
Mord auf der Cranger Kirmes
Maja Sonderberg ermittelt, Teil 2
Ruhrkrimi-Verlag
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
© 2024 Prof. Dr. Mandy Roheger
© 2024 Ruhrkrimi-Verlag
Taschenbuch: ISBN 978-3-911633-03-1
Auch als e-Book erhältlich
Originalausgabe /11/2024
Titelbild: © Tim Schwarz
Alle Personen, Namen und Ereignisse sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit realen Personen, Namen und Ereignissen sind zufällig und nicht beabsichtigt.
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Mandy Roheger
Im November 1992 wurde ich in Herne, im Ruhrgebiet geboren und habe meine Liebe für die schroffen, aber ehrlichen, herzlichen Leute und die Industriekultur dort nie verloren.
Als Juniorprofessorin der Psychologie habe ich das Glück eines meiner Hobbys zum Beruf machen zu können: Das Erforschen und Verstehen der menschlichen Psyche. Das ist es, was mich auch in Kriminalfällen am meisten interessiert: Was treibt die Täter an? Welche Motivationen haben die einzelnen Protagonisten? Während meines Studiums in Köln konnte ich meine zweite große Leidenschaft, das Schreiben, weiter fördern: beim Autor Stefan Keller belegte ich verschiedene Kurse zum Schreiben von Kriminalromanen, bei denen auch die Figur von Maja Sonderberg entstanden ist.
Dieses ist der zweite Band mit der unfreiwilligen Ermittlerin Maja Sonderberg.
Prolog
Der Moment, als die Glasscherbe durch die Haut schnitt und das warme Blut schwallartig über ihre Hand quoll, hatte etwas befreiendes. Bis zu diesem Moment hatte sie das Gefühl gehabt in einem Traum zu leben, abgeschottet, wie in einem Kokon, der nicht schützt, sondern isoliert. Erleichtert sah sie zu, wie die Person ihr gegenüber sich mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen mit beiden Händen an den Hals fasste.
Als das Blut im Takt des Herzens herausspritzte und Hände, Oberkörper, Boden benetzte, da fühle sie sich zum ersten Mal richtig, zum ersten Mal in der Realität, zum ersten Mal frei.
Die Person sank nun auf die Knie, ihre Augen drehten sich in die Höhlen und sie kippte mit dem Oberkörper nach hinten. Mit einem leisen Knall schlug der Schädel auf den Untergrund, die blutbefleckten Hände glitten vom Körper. Tiefe Ruhe durchströmte sie, als sie dachte: »Nun kannst du mir nicht mehr weh tun.«
Tag 1
Alles war bunt und laut. Kreischend helle Farben, Türkis, Kadmiumgelb, Saphirblau, die nicht zusammenpassten auf den ersten Blick, aber auf den zweiten dann irgendwie doch, dominierten Majas Sichtfeld. Die Luft roch schwer und klebrig nach gebrannten Mandeln und Zuckerwatte, so intensiv, dass die Zunge beinahe am Gaumen klebte. Emsig liefen Leute hin und her, in kurzen Hosen und verschwitzten T-Shirts, die große Bretter und Kisten von A nach B trugen, wie Bienen einem klar einstudierten Muster folgend. Auch Maja hatte ein klares Ziel: Eine Mandelbude in der Nähe des Cranger Tors. Es war der erste Tag der Cranger Kirmes in Herne, kurz vor Eröffnung. Parallel bereitete sich schon der Kirmesumzug am St. Jörgen-Platz vor, um in einer vier Kilometer langen Partymeile Richtung Kirmesplatz zu ziehen. Die Arbeiter nutzten daher die letzten Stunden, um ihre Fahrgeschäfte vor der Eröffnung zu überprüfen, die bunten Glühbirnen zu polieren, oder - wie im Fall der Mandelbude, auf die Maja zusteuerte - die Waren vorzubereiten. Maja hasste das Treiben auf der Kirmes, die ganzen Leute, die Lautstärke, den Geruch. Als ihre Mutter noch lebte, waren sie jedes Jahr an mehreren der zehn Tage auf die Cranger Kirmes gegangen, doch nach ihrem Tod ging ihr Vater nur noch ein einziges Mal mit ihr - eine Katastrophe. Als Maja, die damals ca. 10 Jahre alt war, sich umdrehte, nachdem sie einer Frau beim Dosenwerfen zugesehen hatte, war ihr Vater Stephan auf einmal verschwunden. Stundenlang suchte sie ihn im bunten Treiben, bekam Panik, weinte, lief weiter. Irgendwann fand sie ihn dann in einem der Hinterhöfe. Völlig betrunken lag er in den Armen von Fremden und grölte mit ihnen einen Karaoke-Song. Nie würde Maja die Stunden absoluter Hilflosigkeit vergessen. Und auch jetzt, fast 20 Jahre später, befiel sie ein ungutes Gefühl, als sie über den Kirmesplatz lief. So ein Unsinn, dachte sie und konnte sich gerade so davon abhalten, sich zu schütteln. Stattdessen fing sie an zu lächeln, denn sie hatte ihre beste Freundin Jacqueline entdeckt, die mit schweißnasser Stirn einen Sack Mandeln in die Warenauslage kippte. Maja lehnte sich gegen die rot-gelbe Verkleidung der Bude, schirmte ihre Augen gegen die gleißende Sonne ab und schaute Jacqueline, die sie um einiges überragte, feixend an.
»Na, bereust du es schon?« Jacqueline wischte sich mit der Rückhand eine verschwitzte Strähne aus dem Gesicht. »Hör mir einfach auf.«, sagte sie nur. Dann drehte sie sich ab, um den nächsten Sack Mandeln zu holen.
»Ich bin erst seit zwei Stunden hier und kann jetzt schon den Geruch nicht mehr ab.«, sagte sie dabei, klang aber eher amüsiert als wirklich genervt.
»Und dabei hat die Kirmes noch nicht mal offiziell eröffnet. Warum noch mal machst du das genau?«, fragte Maja lächelnd und versuchte dabei, sich auf Zehenspitzen zu stellen und eine der Mandeln aus der Auslage zu klauen.
»Finger weg.«, sagte Jacqueline und schlug ihre Hand weg. »Außerdem sind die hier noch kalt, die sind nur Deko. Ich kann dir später Richtige machen, wenn wir aufhaben.«
»Auf keinen Fall, ich hoffe, bis dahin bin ich schon längst zu Hause und kann nochmal den Plan für die Ausstellung durchgehen.«, sagte Maja.
In dem Moment, als Jacqueline sich umdrehte, um einen Lappen zu holen, schnellte sie aber doch erneut mit der Hand nach vorne, griff in die Mandeln und steckte sich schnell zwei, drei, vier in den Mund. Klebrig, süß - und kalt, wie Jacqueline gesagt hatte.
»Hast du die Pflaster dabei? Ich komm um in den neuen Schuhen, damit schaffe ich es nicht, bis heute Nacht auf den Füßen zu bleiben.«, fragte Jacqueline nun, während sie Majas Diebstahl nicht bemerkend mit dem Lappen über die Arbeitsfläche wischte. Als Antwort zog Maja eine Packung Blasenpflaster aus der Tasche und wedelte damit vor Jaquelines Nase.
»Du bist ein Engel. Warte, ich komm eben raus, dann können wir noch eine rauchen.«
Mit diesen Worten verließ sie die Bude durch eine Hintertür und kam dann von der rechten Seite nach vorne zu Maja. Zu zweit stellten sie sich an einen Stehtisch, der zu der Cocktailbar nebenan gehörte. Da dort jedoch niemand zu sehen war, zogen sie sich den Tisch ein bisschen näher in den Schatten der Markise der Mandelbude und Jacqueline holte eine Zigarette hervor, die sie sich hinters Ohr geklemmt hatte.
»Sicher, dass du nicht auch eine willst?«
Sehnsuchtsvoll starrte Maja auf die Zigarette in Jacquelines Hand. Jedoch hatte sie Margret, der ehemaligen Vermieterin ihres Vaters und nun eine von Majas Vertrauenspersonen, versprochen wieder mit dem Rauchen aufzuhören. Nachdem sie vor einigen Wochen die Leiche einer verschwundenen Schülerin, Jasmin, in einem alten Hotel, einem sogenannten Lost-Place, gefunden hatte und im Anschluss noch selbst beinah dem Täter zum Opfer gefallen wäre, hatte sie mit ihrem Laster wieder begonnen. Doch nun verbrachte sie viel Zeit in der ehemaligen Wohnung ihres Vaters, mit Margret als einem wohlwollendem, aber sehr strengen Schatten. Außerdem hatte dieser Schatten die lästige Angewohnheit, ihr zu prophezeien, dass sie in nur wenigen Jahren ein Raucherbein entwickeln würden (»Schätzchen, ich sach dir, dat is dann wie bei der Sibylle, die hat auch all die Jahre gequarzt wie ein Schornstein und dann auf einma, zack, da musste dann das Bein ab. Und dann hasste den Salat.«). Also presste Maja entschlossen die Lippen aufeinander und schüttelte den Kopf. Jacqueline zuckte nur die Schulter, zündete sich die Zigarette an, nahm einen tiefen Zug und schloss genussvoll die Augen. Während sie die Luft ausstieß, öffnete sie eines ihrer Augen, schielte zu Maja und sagte: »Erzähl das nur nicht Lisa, offiziell habe ich ja auch praktisch schon mit dem Rauchen aufgehört.«
Maja schnaubte. »Ich glaube nicht, dass ich Lisa da was vormachen kann.« An Jacquelines Partnerin war eine gute Detektivin verloren gegangen, dachte Maja.
»Erzähl, wie läuft es mit der Ausstellung?«, fragte Jacqueline nun.
»Ganz gut, ganz gut. Ümran ist gerade dabei, sich um das Catering zu kümmern. Meinst du denn, du bekommst an dem Tag hier frei?«, fragte Maja hoffnungsvoll. Beim Planen ihrer Ausstellung hatte sie die Cranger Kirmes dieses Jahr total vergessen. Für Jacqueline war die Kirmes jedoch heilig und alle zwei Jahre bewarb sie sich an einem Fahrgeschäft oder einem Stand um einen Aushilfsjob für die zehn Tage.
Jacqueline zuckte die Achseln und nahm einen weiteren Zug ihrer Zigarette. Beim Ausatmen beugte Maja sich weg, man musste sich nicht noch mit Absicht in Versuchungen bringen.
»Weiß ich nicht, ich hab noch nicht so richtig mit meiner Chefin hier gesprochen. Sie scheint mir ein bisschen hektisch. Aber egal, wie macht Ümran sich denn? Und wie verrückt ist es, dass du jetzt so berühmt bist, dass sich Leute freiwillig deine langweilige Kunst ansehen wollten?«, fragte Jacqueline grinsend. Maja knuffte sie in die Seite, grinste jedoch auch.
»Ümran ist das reinste Chaos.«, antwortete sie, »Aber ich mag sie, daher kann sie bleiben.«
Ümran war eine Kunststudentin, die Maja bei ihrer Ausstellung half.
»Aber ja, du hast Recht, ohne die ganze Aufmerksamkeit der Zeitungen nach...«, Maja stockte kurz und für Sekunden schob sich ein Bild vor ihre Augen: Jasmins Leiche, zusammengekrümmt, mit bleicher Haut und leblosen Augen, gefangen in einem Brennofen, in dem sie langsam und qualvoll erstickt war. Trotz der sommerlichen Temperaturen bekam sie eine Gänsehaut.
»Nun ja«, fuhr sie fort, »auf jeden Fall hat diese ganze Berichterstattung der Galerie echt gutgetan. Und mit viel Glück finden die Leute meine Kunst dann so gut, dass sie auch ohne Medienrummel noch einmal wiederkommen.«, sagte Maja und lächelte über ihr Unbehagen hinweg. Doch dafür waren sie und Jacqueline schon zu lange befreundet, als dass diese Majas plötzlichen Gefühlsumschwung nicht bemerkt hätte. Sie legte eine Hand auf Majas Arm.
»Wie geht es dir denn jetzt?«, fragte sie, »Und was ist dein Plan für die Detektei deines Vaters?« Maja schluckte und schaute auf das gegenüberliegende Fahrgeschäft, einem Karussell, welches sich - sobald es denn fuhr - mit großer Geschwindigkeit im Kreis drehte und die Besucher auf kleinen Booten Wellen auf und abfahren ließ. Tja, wie ging es ihr? Noch vor kurzem hatte sie vor sich hingelebt, eine kleine, fast bankrotte Galerie geführt, gemalt und dann - ja, dann war ihr Vater gestorben, sie hatte seinen letzten Fall angenommen. Die vermisste Schülerin, die sie aus Faulheit nicht wirklich gesucht hatte, war ermordet worden und es war ihre Schuld, weil sie sich keinerlei Mühe gegeben hatte, den letzten Fall ihres Vaters zu lösen. Als sie den Mörder stellen wollte, wäre sie fast selbst gestorben. Und obwohl sie ihn gefasst hatte, wurde ihr schlechtes Gewissen nicht leichter, die Last auf ihren Schultern eher jeden Tag schwerer. Und dann kam auch noch heraus, dass ihr Vater keineswegs an einem Herzinfarkt gestorben war, sondern vergiftet wurde. Innerhalb weniger Wochen war Majas ganzes Leben aus den Fugen geraten. Und anstatt sich damit auseinanderzusetzen, hatte sie alles nur Mögliche getan, um nicht nachdenken zu müssen: Eine neue Kunstausstellung geplant, die Akten ihres Vaters geordnet, samt ihrem Kater Marvey in die ehemalige Detektei ihres Vaters umgezogen. Doch für all das fand sie keine Worte und die Stille zwischen Jacqueline und ihr zog sich wie ein altes Kaugummi, während im Hintergrund die ersten Fahrgeschäfte ihre Soundanlagen prüften und laute Chartmusik spielten.
»EY! Hab ich nicht gesagt: Vor dem Laden wird nicht geraucht?«, rief da eine Stimme und rettete Maja vor einer Antwort.
»Ach scheiße«, seufzte Jacqueline, warf die restliche Zigarette auf den Boden und trat sie aus, wobei sie schmerzhaft das Gesicht verzog. Richtig, die Blasenpflaster, dachte Maja. Sie drehte sich um und sah eine platinblonde Frau auf sie zukommen, die nur einige Jahre älter als sie selbst schien, aber tiefe Schatten unter den Augen hatte.
»Los, ich bezahl dich nicht fürs Quatschen!«, herrschte die Frau Jacqueline an und Maja hätte schwören können, es läge ein kleines Grinsen in ihrem Gesicht. Die Frau machte eine Armbewegung, als wollte sie Jacqueline zurück in die Bude scheuchen. Jacqueline grinste Maja schräg an, sagte, »Aye aye, Chefin!« zu der blonden Frau und ging seitlich wieder in die Mandelbude. Die blonde Frau schaute Maja unterdessen länger als üblich an. Hab ich was im Gesicht, fragte Maja sich und fasste sich unwillkürlich an die Wange.
»Grüß Margret von mir.«, rief Jacqueline ihr hinterher, als Maja sich dann doch von der starrenden Frau wegdrehte, »Und sag Bescheid, wenn du Hilfe beim Ausräumen von Stephans Detektei brauchst.«
Maja nickte, hob den Arm zum Gruß und wollte gerade losgehen - endlich weg von diesem süßlichen Geruch, raus aus der Hitze, fliehen vor der lärmenden Chartmusik, die immer ein paar Jahre zu alt war, um noch wirklich modern zu sein - als die blonde Frau nach ihr rief: »Warte, ich dachte doch, dass ich dich erkannt habe. Maja Sonderberg, nicht wahr? Die, die das ermordete Mädchen gefunden hat?« Maja blieb stehen, aber drehte sich nicht um. Bitte nicht, dachte sie bei sich.
»Ja, doch, das bist du. Das muss Schicksal sein! Bitte bleib hier, ich habe einen Fall für dich!«
Oh Hilfe, das klingt wie der Beginn einer Folge »Drei Fragezeichen«, dachte Maja, während die blonde Frau, welche sich als Corinna Gärsten bei ihr vorgestellt hatte und Maja dann in einem resoluten Ton aufgefordert hatte ihr zu folgen, sich an den anderen Schaustellern und Buden vorbei schlängelte. Ironischerweise hatte Maja damit begonnen, die Geschichten der Kinderdetektive nun immer zum Einschlafen zu hören - der einzige Weg für Maja, überhaupt noch in den Schlaf zu finden und nicht von unliebsamen Erinnerungen heimgesucht zu werden. Corinna Gärsten stoppte so abrupt, dass Maja fast in sie hineinlief.
»Komm hier rein, hier können wir uns besprechen.«, sagte sie und hielt die Tür eines großen, purpurroten Samtzelts auf. Der Samt war mit goldenen Ornamenten bestickt, die Maja nicht richtig zuordnen konnte. Um den Eingang war eine Lichterkette gespannt, die aufgrund der frühen Uhrzeit noch nicht beleuchtet war. Rechts vor dem Eingang stand ein Klappaufsteller, auf dem Maja aus den Augenwinkeln Zeitungsartikel registrierte. »Den Tod vorhergesagt« und »Madame Malkines Zukunftsvorhersage« waren die beiden Überschriften, die ihr beim Hereingehen ins Auge sprangen. Im Inneren des Zeltes war es warm, stickig und die Luft roch nach Räucherstäbchen. Direkt hatte Maja Schweißperlen auf der Haut und sehnte sich nach einem Luftzug. In der Mitte des Raums standen zwei rote Knautschsessel einander gegenüber, dazwischen ein kleiner mahagonifarbener Rundtisch, auf dem Karten ausgebreitet waren. Corinna Gärsten ließ sich in einen der Sessel fallen und deutete auf den anderen.
»Setz dich. Hier drinnen können wir reden, ohne dass uns jemand zuhört.«, sagte sie.
Maja folgte ihrer Anweisung und wunderte sich noch immer, wie sie in diese Situation gekommen war. Gleichzeitig musste sie sich eingestehen, dass in dem Moment, als Corinna Gärsten von einem Fall sprach, ihr Herz einen Schlag ausgesetzt hatte. Ihren letzten Fall hatte sie nicht ernst genommen - bis es zu spät war. Also sollte sie sich das Hilfegesuch der Frau gegenüber zumindest anhören.
»Okay. Worum geht es? Und nur damit sie es direkt wissen: Ich arbeite nicht umsonst.«, sagte Maja. Manche Angewohnheiten ließen sich dann doch nicht ablegen. Und nur, weil ihre Galerie gerade einigermaßen okay lief, musste das kein Dauerzustand sein. Corinna nickte knapp. Mit ihren langen, manikürten Fingernägeln im French-Look strich sie sich eine Strähne hinter ihr Ohr.
»Mein Mann Thorsten und ich besitzen mehrere Fahrgeschäfte, mit denen wir von Jahrmarkt zu Jahrmarkt ziehen.«, begann sie dann. »Mir gehört die Mandelbude, in der ihre Freundin arbeitet, seiner Schwester Stefanie gehört hier dieses Wahrsager-Zelt, Thorsten selbst besitzt die Geisterbahn hinter uns und den Rossbratwurststand.« Ein Pferdebratwurststand? Maja dachte erst, sie hätte sich verhört, bis sie sich erinnerte, dass die Cranger Kirmes zu Beginn ein Pferdemarkt war. Sie stockte und schaute Maja an.
»Willst du nicht mitschreiben?«
»Fotografisches Gedächtnis.«, log Maja und hoffte, dass sie bei der Hitze in dem Zelt bereits ein so gerötetes Gesicht besaß, dass man ihr die Lüge nicht ansah.
»Ich dachte, dabei geht es nur ums Schreiben? Na ja, egal.«, sagte Corinna und fuhr fort. »Seit einigen Wochen haben wir Probleme mit der Geisterbahn.«
Maja seufzte innerlich. Klar, womit auch sonst, wäre ja zu schön gewesen, wenn einfach der Bratwurststand das Problem gewesen wäre.
»Es passieren die ganze Zeit komische Dinge. Unnatürliche Dinge. Und ja, wir brauchen Hilfe. Dass ich dich treffe, war Schicksal. Stefanie hatte Recht, als sie mir letztens sagte, mich würde Hilfe in Form einer unbekannten Person ereilen.«
»Stefanie - Madame Malkine?«, fragte Maja.
»Was?«, verwirrt schaute Corinna sie an, dann verstand sie. »Ja, ja, genau. Sie ist wirklich gut, du solltest dir auch mal von ihr die Karten legen lassen.«, sagte sie und tippte mit ihren langen Fingernägeln auf die Tarot-Karten auf dem Tisch, was ein lautes Klicken erzeugte.
»Ähm ja, vielleicht. Über was für Vorfälle reden wir denn?«, fragte Maja und wünschte sich nun tatsächlich langsam, sie hätte was zum Schreiben dabei.
»Alles Mögliche. Mitten in der Fahrt gehen auf einmal die Lichter komplett an. Statt der üblichen gruseligen Musik laufen auf einmal irgendwelche Kinderlieder.«
Oh Gott, fast noch gruseliger, dachte Maja.
»Oder letztens haben sich die Bügel mitten in der Fahrt geöffnet. Sowas spricht sich rum, irgendwann kommen keine Leute mehr. Oder sie machen uns die Geisterbahn dicht.«, sagte Corinna. »Und außerdem. Es ist nur so ein Gefühl, aber es ist da etwas nicht in Ordnung. Es ist, als wäre da eine ... eine Präsenz. Mein Mann hält mich schon für verrückt. Aber irgendwas ist da. Irgendetwas stimmt nicht.«
Sie wischte sich mit dem Ärmel ihrer weißen, luftigen Bluse, auf der, wie Maja jetzt sah, das Logo des Mandelstands aufgestickt war, über die Stirn.
Oh je, die arme Frau hat vielleicht etwas zu viel Zeit in ihrer eigenen Geisterbahn verbracht, dachte Maja, das ist jetzt spätestens der Punkt, wo ich aufstehen und dieses furchtbar stickige Zelt mit der verrückten Frau drin verlassen sollte. Aber etwas hielt sie ab. Vielleicht der verzweifelte Ausdruck, der sich in Corinna Gärstens Augen geschlichen hatte. Sie hatte schon einmal jemanden enttäuscht, der sie um Hilfe gebeten hatte. Diesen Fehler wollte sie nicht noch einmal begehen.
»Also dann lassen...«, fing Maja daher an, doch in diesem Moment wurde sie von einem Geräusch unterbrochen. Maja sah zur Tür. Darin stand ein Mädchen, dessen Alter Maja schwer schätzen konnte, irgendetwas zwischen 14 und 18, vermutete sie. Das Mädchen hatte lange aschblonde, fettige und sehr dünne Haare, die ungekämmt schienen, unreine Haut, eine Brille, die ihre Augen riesig und froschmäßig erscheinen ließen. Ihr drahtiger und kleiner Körper wurde von zwei alt aussehenden Krücken gestützt und ihre Stimme klang piepsig, als sie fragte:
»Was macht ihr hier? Ist noch zu?«
Corinna sprang auf und eilte auf das Mädchen zu.
»Deborah, Schatz. Ich weiß, ich muss hier mit der Frau was besprechen. Das ist Maja.«, sagte Corinna Gärsten und zeige auf Maja, die sich ebenfalls erhoben hatte.
»Hey!«, sagte sie nun und winkte dem Mädchen zu. Das starrte sie kurz an, dann lächelte sie auch, schaffte es aber nicht, sie mit den Augen zu fixieren, sondern ihr Blick driftete immer wieder ab.
»Hallo Maja.«, sagte sie jedoch, hob eine Hand mitsamt ihrer Krücke, um ebenfalls zu winken - und geriet ins Straucheln. Noch bevor Maja reagieren konnte, war Corinna an Deborahs Seite und hielt sie fest.
»Komm Schatz, ich bring dich zu deiner Mama. Du sollst doch gar nicht allein hier herumlaufen.«, sagte sie, während sie das Mädchen, Deborah, stützte. An Maja gewandt sagte sie:
»Einen Moment, ich komme gleich wieder.« Und sie verschwand mit Deborah aus dem Zelt. Maja nutzte die Gelegenheit und ging ebenfalls nach draußen. Von dem schweren Räucherstäbchen-Geruch war ihr schon ganz schwindelig, sie musste einmal durchatmen. Sie beobachtete, wie Corinna zusammen mit Deborah langsam - und in Deborahs Fall stark hinkend - zwischen der Geisterbahn und dem benachbarten Backfischstand verschwand, vermutlich in Richtung der Wohnwagen der Schausteller. Dabei fiel ihr Blick auf die Geisterbahn. Wenn Maja sie mit einem Wort beschreiben müsste, dann wäre es wohl »retro«. Oder »überladen«. Die Geisterbahn selbst sah aus wie eine alte, halbverfallene Burg aus grauem Stein und abbröckelndem Putz, und war mit Efeugirlanden, großen Spinnweben und Plastikskeletten an jeder nur möglichen Stelle behangen. Verschiedene Figuren, bestehend aus Beton oder Pappmaschee, standen auf der 1. Etage der Geisterbahn und sollten eine gruselige Stimmung erzeugen. Rechts neben dem Eingang sprudelte ein Brunnen rotes Wasser, dahinter war ein kleines Stück Friedhofsimitat mit Grabsteinen und Holzkreuzen aufgestellt. Die Bahn selbst bestand aus roten Wagen, die nicht so recht zu dem gruseligen Ambiente passen wollten, als wären sie von einem anderen Fahrgeschäft ausgeliehen. Die Wagen fuhren Schienen entlang in das Innere der Geisterbahn hinein, der Eingang war mit einer Schiebetür verschlossen, die sich kurz öffnete, sobald ein Wagen vorfuhr und den Blick auf die absolute Dunkelheit dahinter freigab. Direkt über dem Eingang befand sich noch eine Art Balkon, auf dem die Wagen kurzfristig wieder aus der Geisterbahn hinausfuhren.
»Die Gespenstervilla« stand in einer roten Leuchtschrift ganz oben auf der Geisterbahn befestigt. Jetzt im Hellen und noch vor der Eröffnung der Kirmes konnte Maja der Bahn nicht viel abgewinnen. Allerdings hatte sie seit neustem eine Abneigung gegen verlassene Häuser und dunkle Orte entwickelt, weshalb sie nicht unbedingt scharf darauf war, die Geisterbahn auszuprobieren. Corinna kam zurück, diesmal mit einem Mann im Schlepptau, der schon einige Jahre älter war als sie, aber mit seiner schwarzen Lederjacke, der zerrissenen schwarzen Jeans und seinen längeren braunen Haaren jünger wirkte, als die Falten um seine Augen vermuten ließen. Corinna zeigte auf Maja und sagte irgendwas zu dem Mann, was Maja aufgrund der plötzlich einsetzenden Gewittergeräusche und einem Wolfsheulen jedoch nicht hörte - anscheinend hatte jemand in der Geisterbahn gerade den Sound angestellt. Der Mann schüttelte verärgert den Kopf, und Corinna duckte sich zur Seite. Eine unbewusste Bewegung. Der Mann schien sie nicht wahrzunehmen und ging weiter auf Maja zu. Er streckte ihr die Hand hin, als er fast vor ihr stand. »Thorsten Gärsten. Mir gehört die Geisterbahn. Aber das hat meine Frau Ihnen bestimmt schon erzählt.« Maja drückte seine Hand, er hielt sie eine Sekunde zu lange fest, während er sie ohne Scheu von oben bis unten musterte. Gerade als Maja fragen wollte, ob sich das Paar einen Reim auf die Vorfälle bisher machen konnte - ob sie wen verdächtigten, ob sie immer mit denselben Leuten unterwegs waren, Details zum Ablauf, sagte Thorsten Gärsten:
»Wissen Sie, wir sind beide extrem beschäftigt. Das weiß meine Frau auch.«, hier warf er Corinna einen Seitenblick zu, den Maja nicht wirklich deuten konnte.
»Der erste Kirmestag ist der entscheidende. Alles muss laufen. Und gleich kommt jemand von der Stadt und macht den finalen Sicherheitscheck und die Abnahme. Wenn das nicht passt, dann können wir nicht öffnen. Finanzieller Ruin. Also, hier nehmen Sie das.«
Und mit diesen Worten hielt er Maja zwei bierdeckelgroße, karminrote Plastikchips hin, auf denen »Die Gespenstervilla« stand. Maja nahm sie in die Hand, sie waren erstaunlich schwer.
»Fahren Sie mit der Bahn und morgen früh, bevor die Kirmes öffnet und alles seinen gewohnten Gang geht, können wir reden und ich zeige Ihnen die Technikräume und was Sie sonst noch sehen wollen. Wobei ich der Meinung bin, dass das alles nur dumme Kinderstreiche sind und nichts, womit man Sie belästigen müsste.«
Erneuter Seitenblick zu Corinna, die jedoch auf ihre Schuhe starrte, einem Paar rosafarbene, auf Hochglanz polierte Ballerinas. Maja zog eine Augenbraue hoch.
»Dafür, dass sie es als Kinderstreiche abtun, haben sie aber erstaunlich viel Security Personal engagiert.«, sagte Maja, der beim Betrachten der Geisterbahn drei in schwarz gekleidete, breitgebaute Männer aufgefallen waren, die um die Geisterbahn herumliefen.
»Oder ist das normal bei einer Geisterbahn?«
Thorsten Gärsten fuhr sich durchs Haar, wirkte kurz gestresst, doch dann grinste er. »Erwischt.«, sagte er. Das Grinsen blieb auf seinen Lippen, erreichte jedoch nicht seine Augen.
»Wir reden morgen. Corinna und ich haben noch viel zu tun und nur noch«, ein demonstrativer Blick auf die Uhr, »weniger als eine Stunde Zeit. Morgen früh, 10 Uhr hier.« Und damit drehte er sich um und fasste Corinna am Ellbogen, die kurz zusammenzuckte, es ihm aber dann gleichtat und sich umdrehte. Mit einem unguten Gefühl im Bauch schaute Maja den beiden hinterher. Irgendwas stimmte nicht und das betraf nicht nur den angeblichen Spuk in der Geisterbahn.
Eine Stunde später saß Maja im Steinmeister, vor sich ein großes bauchiges Glas gefüllt mit Berliner Weiße und Himbeersirup, das sie schon halb geleert hatte. Sie wartete auf Pierre, ihren besten Freund, während sich jetzt, kurz nach der Eröffnung der Kirmes, der Platz und auch der Steinmeister immer schneller füllte. Maja war bereits drei Leuten aus ihrer alten Schulklasse ausgewichen, die nun, da sie wegen des letzten Falls häufiger mal in der Zeitung gewesen war, auf einmal alle mit ihr sprechen wollten. Nun saß sie mit dem Rücken zu den anderen Tischen in der Nähe der Toiletten und versuchte, sich möglichst unauffällig zu verhalten. Wobei das ihre Haarfarbe, ein Hennarot, schon verhinderte. Sie zuckte, als sie auf einmal eine Hand auf ihrer Schulter fühlte, doch als sie sich umdrehte, strahlten sie Pierres blaue Augen an.
»Sorry fürs Warten lassen, man bekommt schon jetzt keinen Parkplatz mehr hier, total ätzend.«, sagte er und ließ sich auf den Platz neben sie fallen, wobei er darauf achtete, den Inhalt der beiden Kurzen nicht zu verschütten, die er in der linken Hand hielt. Ein goldbräunliches Getränk, aus dem jeweils ein Spieß mit einem Gummibärchen rausschaute.
»Ernsthaft?«, fragte Maja mit Blick auf den Schnaps.
»Klar!«, rief Pierre und schob die beiden Schnapsgläser in die Mitte vom Tisch.
»Das ist Tradition. Und so selten, wie ich dich mal auf die Kirmes bekomme, muss das gefeiert werden.«
Maja griff nach ihrem Pinnchen. Die beiden stießen an, schauten sich dabei in die Augen, nahmen das Gummibärchen in den Mund und kippten den Schnaps in einem Zug. Der scharfe und sogleich süßliche Geschmack brannte in Majas Mund, während das schon weiche Gummibärchen an ihrem Gaumen klebte.
»Hui«, sagte sie und blinzelte zweimal, während sie zwei, drei Mal auf dem Gummibärchen kaute und es dann verschluckte. »Da muss ich ja aufpassen, dass ich nicht gleich schon einen im Tee habe«.
»Na, das verkraftest du schon«, sagte Pierre, während er einer der Kellnerinnen winkte, die mit einem Biertablett durch die Tischreihen lief.
»Hat es eigentlich einen Grund, dass wir hier an den Toiletten sitzen müssen?«, fragte er, während er ein Bier vom Tablett nahm und der Kellnerin das Geld gab.
»Naja.«, fing Maja an, doch Pierre unterbrach sie direkt wieder.
»Ach, lass mich raten, du bist einfach zu berühmt jetzt? Kannst dein hübsches Gesicht nicht mehr in der Öffentlichkeit zeigen, ohne direkt Aufsehen zu erregen?« Er grinste, als Maja ihn in die Seite knuffte.
»So in etwa.«, sagte sie nur und verdrehte die Augen. Sie nahm einen Schluck von ihrer Berliner Weiße.
»Dass du echt dieses Zeug immer trinkst. Das ist so ekelhaft süß.«, sagte Pierre und verzog gespielt übertrieben den Mund.
»Sagt der mit dem Gummibärchen-Schnaps.«, meinte Maja nur und grinste. Unterhaltungen mit Pierre waren immer so leicht. Pierre stützte nun seinen Ellbogen auf die rot-weiß karierte Tischdecke, legte seinen Kopf auf seiner Hand ab und drehte seinen Körper zu Maja um, sodass er breitbeinig auf der Bierzeltgarnitur saß.
»Okay, aber nun erzähl. Warum treffen wir uns hier von allen Orten, ich dachte, du wolltest mir deine neue Wohnung zeigen?«, sagte er nun im ernsteren Ton. Maja war vor zwei Wochen zusammen mit Marvey in Stephans altes Büro gezogen. Bis dahin hatte sie in einem kleinen Zimmer in ihrer Galerie gewohnt. Dies nutzte sie nun als weiteren Ausstellungsraum.