Vater Goriot - Honoré de Balzac - E-Book

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Honore de Balzac

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Beschreibung

Vater Goriot Honoré de Balzac - Balzacs Roman Le Père Goriot thematisiert an einem praktisch alle Sozialschichten umfassenden Personenensemble sowohl den gesellschaftlichen Aufstieg als auch dessen Niederungen und Abgründe im Kontext der Restauration des beginnenden 19. Jahrhunderts. Balzac gewährt am Beispiel des früheren Nudelfabrikanten Goriot - der nur im Leben seiner Töchter lebt, im Gegenzug ausgenutzt wird und schließlich "wie ein Hund" stirbt - einen Blick auf die ideelle Ausrichtung der Gesellschaft auf Ruhm, Macht, Schein des Dekors und den aufkommenden Kapitalismus, ein immer stärkeres Eindringen des Geldes in alle Lebensbereiche. Der emblematisch für Fortschrittsoptimismus und Rationalismus stehende Streitwagen der Zivilisation überrollt und zerbricht das sich ihm in den Weg stellende "cur" (Herz) kurzer Hand und deutet für den Leser unübersehbar schon zu Beginn des Romans Balzacs exemplarische Schreibweise und literarisches Selbstverständnis an.

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Honoré de Balzac
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Frau Vauquer, geborene von Conflans, ist eine alte Frau, die seit vierzig Jahren in Paris in der Rue Neuve-Sainte-Geneviève zwischen dem Quartier Latin und dem Faubourg Saint-Marcel eine gutbürgerliche Pension führt. Diese Pension, die unter dem Namen ›Haus Vauquer‹ bekannt ist, nimmt Männer und Frauen, junge und alte Leute auf, ohne daß jemals die Moral jenes achtbaren Hauses angezweifelt worden wäre. Aber man hatte auch seit dreißig Jahren kein junges Mädchen dort erblickt, und wenn sich ein junger Mann da einmietete, so mußte er schon einen recht mageren Wechsel haben. Dennoch befand sich im Jahre 1819, zu der Zeit, als das Drama begann, das ich hier erzählen will, ein armes junges Mädchen dort.

Wie verrufen das Wort ›Drama‹ infolge seiner mißbräuchlichen Anwendung in unserer Zeit der sentimentalen Literatur auch sein mag, so muß es doch hier Anwendung finden: nicht etwa, weil diese Erzählung im eigentlichen Sinne dramatisch ist, sondern weil der Leser sicherlich nicht umhin kann, an ihrem Schlusse – intra muros et extra – ein paar Tränen zu vergießen. Wird man meiner Erzählung auch außerhalb von Paris Verständnis entgegenbringen? Die Frage ist berechtigt; denn diese Szenen sind so lokal gefärbt, daß sie nur zwischen den Höhen von Montmartre und Montrouge Würdigung finden können, in jener berüchtigten Talsenkung, wo zwischen unglaublich baufälligen Häusern ekle Gossenrinnsale sich hinziehen. Dort ist das Tal der wahren Leiden, der oft trügerischen Freuden und der immerwährenden Aufregungen, so daß nur das Unerhörteste imstande ist, die Gemüter längere Zeit zu fesseln. Doch begegnet man auch da dann und wann einem Menschen, dessen Leid erhaben ist durch das an ihm begangene Unrecht. Bei seinem Anblick verstummt der Eigennutz und verwandelt sich in Mitleid. Aber der Eindruck, den der einzelne empfängt, ist ihm nicht mehr als eine saftige, schnell verzehrte Frucht. Der Triumphwagen der Zivilisation ist grausam, wie jener des Götzenbildes von Jaggernat. Begegnet er auch manchmal einem Herzen, das weniger leicht zu zermalmen ist, so ist das Hemmnis doch bald überwunden, und weiter geht der große Siegeszug. So werdet auch ihr es machen, die ihr dieses Buch in eurer weißen Hand haltet, euch im behaglichen Sessel zurücklehnt und bei euch denkt: ›Hoffentlich ist die Geschichte unterhaltend!‹ Nachdem ihr das heimliche Elend des Vaters Goriot gelesen habt, werdet ihr mit Appetit zu Mittag speisen und eure Gefühllosigkeit auf Rechnung des Autors setzen, werdet ihn der Übertreibung, der Phantasterei bezichtigen. O wißt es nur: dieses Drama ist weder eine Erfindung noch ein Roman, ›All is true‹; es ist so wahr, daß jeder bei sich selbst, in seinem eigenen Herzen vielleicht, die Grundelemente findet, aus denen es entstanden ist.

Das Haus, in dem sich die Familienpension befindet, gehört Frau Vauquer. Es liegt am Ende der Rue Neuve-Sainte-Geneviève, dort, wo das Gelände sich so plötzlich und steil nach der Rue de l'Arbalète hinuntersenkt, daß Pferde da nur selten zu sehen sind. Dieser Umstand begünstigt die Ruhe, die dort in den zwischen dem Dom vom Val-de-Grâce und dem Panthéon eng zusammengedrängten Straßen herrscht, wo jene zwei gewaltigen Bauten mit den düsteren Farben ihrer Kuppeln die Luft verdunkeln und einen gelben Schein verbreiten. Dort ist das Pflaster trocken, die Rinnsteine haben weder Schlamm noch Wasser, am Rande der Mauern wächst Gras. Der sorgloseste Mensch setzt gleich den anderen Passanten eine trübe Miene auf, wenn er da vorbeikommt, wo das Wagengerassel zum Ereignis wird und die Häuser grau und verdrießlich blicken wie Gefängnismauern.

Wenn sich ein Pariser in dieses Viertel verirrt, so wird er nichts anderes gewahren als Familienpensionen und sonstige Herbergen des Elends und der Langenweile, des Alters, das hinstirbt, und der frohen Jugend, die gezwungen ist zu Knechtschaft und Arbeit. Kein Viertel von Paris ist entsetzlicher als dieses, aber auch keins unbekannter. Besonders die Rue Neuve-Saint-Geneviève ist wie ein Bronzerahmen für die Bilder von Not und Trübsinn, die ich hier aufrollen will und auf die eure Seele nicht genug durch dunkle Töne und traurige Gedanken vorbereitet werden kann. Dunkel und Trauer, wie sie den Besucher der Katakomben umfangen, wenn ihm von Stufe zu Stufe das Tageslicht und der Lärm der Straßen ferner rücken. Ein wahrer Vergleich! Wer möchte wohl entscheiden, was schrecklicher zu schauen ist, verdorrte Herzen oder hohle Schädel?

Die Vorderseite des Hauses, in dem sich die Pension befindet, geht nach einem Gärtchen; das Haus steht also rechtwinklig zur Rue Neuve-Saint-Geneviève. An der Längsseite des Hauses, zwischen diesem und dem Gärtchen, zieht sich eine mit Kieselsteinen gepflasterte Abflußrinne von einem Klafter Breite hin; davor ist ein kiesbestreuter Weg, der von Geranium, Oleander und Granatbäumen eingefaßt wird, die in großen blau und weißen Steingutkübeln stehen. Nach der Straße zu befindet sich ein Tor, das die Aufschrift trägt: ›Haus Vauquer‹, und darunter: ›Bürgerliche Pension für Familien und andere‹. Das Tor ist mit einer lärmenden Glocke versehen, und bei Tage kann man durch das Gitter den Kiesweg entlang blicken, an dessen Ende, also der Straße gegenüber, die Mauer mit einer Malerei geschmückt ist, die einen Bogengang aus grünlichem Marmor darstellt und von einem Künstler desselben Stadtviertels ausgeführt wurde. Vor der Nische, die diese Malerei vortäuscht, steht eine Amorstatue. Mit ihrer abbröckelnden Tünche mag sie den Symbolikern ein Sinnbild der Pariser Liebe sein, der man nur wenige Schritte von dort eine Heilstätte errichtet hat. Der Sockel trägt eine Inschrift, die von der Begeisterung zeugt, mit der man Voltaire 1777 nach seiner Rückkehr nach Paris feierte, und die somit auch auf die Entstehungszeit der Statue hinweist:

 

Der Meister aller Herzen auf Erden;

Er ists – er wars – oder wird es werden.

 

Zur Nachtzeit wird vor das Gitter noch ein festes Eisentor gelegt. Das Gärtchen, dessen Tiefe der Frontseite des Hauses entspricht, liegt zwischen der Straßenmauer und der Mauer des Nachbarhauses eingeschlossen, die ganz von altem Efeu überwuchert ist und dem Vorübergehenden einen malerischen Anblick bietet. An beiden Mauern befinden sich Obstspaliere und Rebstöcke, deren armselige staubige Früchte Frau Vauquers ewige Sorge und den Gesprächsstoff ihrer Pensionäre bilden. An jeder Mauer führt ein Weg zu einer Lindenlaube, die Frau Vauquer, ob gleich eine geborene von Conflans, eigensinnig Lindienlaube nannte, allen Belehrungsversuchen ihrer Gäste zum Trotz. Zwischen den beiden Seitenwegen liegt ein von Obstbäumen umstandenes, von Sauerampfer, Lattich und Petersilie eingefaßtes Artischockenbeet. Unter den Linden steht ein in die Erde eingerammter runder Tisch, von Stühlen umgeben. In den Hundstagen nehmen die Gäste – das heißt jene, die reich genug sind, sich den Luxus eines Nachmittagskaffees zu gestatten, – dort ihren Kaffee ein.

Die Front des Hauses, das über seinen drei Stockwerken noch Mansarden trägt, ist aus Sandstein aufgeführt und mit jener gelben Tünche überstrichen, die fast allen Pariser Häusern ein häßliches Aussehen verleiht. Die in jedes Stockwerk eingepreßten fünf Fenster sind aus kleinen Scheiben zusammengesetzt und mit Jalousieen geschmückt, die alle verschieden hoch aufgezogen sind, so daß nicht eine mit der anderen auf gleicher Linie steht. Auf der Schmalseite hat das Haus in jedem Stockwerk zwei Fenster; die im Erdgeschoß sind mit schmiedeeisernem Gitterwerk versehen. Hinter dem Gebäude liegt ein Hof von ungefähr zwanzig Fuß Breite, wo Schweine, Hühner und Kaninchen einträchtig beisammen wohnen; am Ende des Hofes steht ein Holzschuppen. Zwischen diesem Holzschuppen und dem Küchenfenster hängt der umfangreiche Speiseschrank, unter dem das fettige Spülwasser der Küche seinen Abfluß hat. Dieser Hof hat nach der Rue Neuve-Sainte-Geneviève hin eine schmale Tür, durch die die Köchin den Unrat mit Hilfe eines kräftigen Wasserstrahls hinausspült.

Im Erdgeschoß, das selbstredend den Pensionszwecken dient, befindet sich zunächst ein Salon, der sein Licht von den beiden nach der Straße gelegenen Fenstern erhält und den man durch eine Glastür betritt. Aus diesem Salon gelangt man in den Speisesaal, der von der Küche durch den Treppenflur getrennt ist. Der Flur ist parkettiert und blank gebohnt.

Nichts ist trauriger anzusehen als jener Salon mit seinen Lehnsesseln und Stühlen, die alle in gestreiften Roßhaarüberzügen stecken. In der Mitte des Zimmers steht ein runder Tisch mit einer Marmorplatte und auf dieser ein Kaffeegeschirr aus weißem Porzellan mit halb verwischten Goldrändern, wie man es jetzt allenthalben sieht. Der Boden ist schlecht gedielt, und die Wände sind bis in Mannshöhe getäfelt. Über der Täfelung zieht sich ein Tapetenfries hin, der in bunten Farben die Hauptszenen aus ›Telemach‹ darstellt. Die Wand zwischen den beiden vergitterten Fenstern zeigt den Pensionsgästen das Bild des Festmahls, das Kalypso dem Sohne des Odysseus spendete. Seit vierzig Jahren erweckt dieses Bild die Heiterkeit der jüngeren Pensionäre, die gern des kargen Mahles spotten, zu dem ihre mißliche Lage sie verdammt. Der steinerne Kamin, dessen stets saubere Feuerstelle beweist, daß hier höchstens bei ganz besonderen Gelegenheiten ein Feuer brennt, ist mit zwei Vasen geschmückt, deren jede einen vollen Strauß verblaßter und verstaubter Papierblumen trägt; zwischen den beiden Vasen steht eine gräßlich geschmacklose Uhr aus blauem Marmor. Dieses erste Zimmer hat einen Geruch an sich, für den die Sprache keinen Ausdruck findet und den man Pensionsgeruch nennen müßte. Es riecht nach allem, was staubig, dumpfig und ranzig ist. Es ist ein Geruch, der frösteln macht, der feucht und scharf die Kleider durchdringt; ein Geruch nach kalten Speisen, nach Dienstboten und Armenhaus. Vielleicht ließe er sich beschreiben, wenn man ein Verfahren entdeckte, die katarrhalische Atmosphäre eines jeden Pensionärs – er sei alt oder jung – in ihre widerlichen elementaren Bestandteile zu zerlegen. Und dennoch, verglichen mit dem Speisesaal, der an den Salon anschließt, ist dieser vornehm und lieblich duftend wie das Zimmer einer schönen Frau.

Der Speisesaal ist ganz getäfelt und mit einer jetzt nicht mehr erkennbaren Farbe gestrichen. Auf diesen Hintergrund hat der Schmutz der Jahrzehnte seltsame Gestalten gezeichnet. An den Wänden stehen mehrere Anrichtetische und Schränke, die eine klebrige Kruste angesetzt haben. Sie sind mit geschweiften staubigen Karaffen und Gläsern und mit Stößen dicker weißer, mit blauem Rande gezierter Teller aus den Fabriken von Tournai geschmückt. In einer Ecke steht ein Schrank mit numerierten Fächern, der zur Aufbewahrung der meist sehr schmutzigen und fleckigen Servietten der Pensionäre dient. In diesem Saal kann man längst abgetane Dinge sehen, die alle hier ein unverwüstliches Leben führen. Da ist ein Wetterhäuschen, aus dem bei Regenwetter ein Kapuzinermönch heraustritt; da gibt es schauderhafte Kupferstiche, alle in schwarzen, goldumrandeten Holzrahmen, eine Uhr in kupferbeschlagenem Gehäuse, einen grünen Ofen, öltriefende und staubbedeckte Lampen, einen langen Speisetisch mit einer so fettigen Wachstuchdecke, daß ein witziger Gast mit dem Fingernagel seinen Namen hineinkritzeln könnte, krüppelhafte Stühle, jämmerliche kleine Strohmatten, die sich beständig aufrollen, ohne doch jemals ganz unbrauchbar zu werden, wacklige Kohlenbecken mit Löchern und Beulen und zerbrochenen Scharnieren. Um darzutun, wie alt, morsch, moderig, wacklig, verstümmelt, elend und abgenutzt diese ganze Einrichtung ist, müßte man eine umständliche Beschreibung liefern, die mir der nach Ereignissen verlangende Leser nicht verzeihen würde. Der rote Steinfußboden hat vom Scheuern und Anstreichen allerlei tiefe Höhlungen bekommen. Kurz, es herrscht hier ein Elend ohne jede Poesie. Ist es noch nicht in Schmutz begraben, so hat es doch schon Flecke; fehlen ihm auch noch Löcher und Lumpen, so ist es doch schon erbärmlich abgeschabt.

In seinem ganzen Glanze zeigt sich dieses Gemach, wenn morgens gegen sieben Uhr die Katze der Frau Vauquer auf die Anrichtetische springt, die Milch beschnuppert, die dort in zugedeckten Schüsselchen steht, und ihr Morgenschnurren anhebt. Nun erscheint auch bald die Witwe in ihrer Tüllhaube, unter der sich die schlecht sitzende Perücke vordrängt. Sie schlurft in ausgetretenen Pantoffeln daher. Ihr alterndes, schwammiges Gesicht, aus dem die Nase wie ein Papageienschnabel heraussticht, ihre kleinen fetten Hände, ihre fleischige Gestalt passen ganz zu diesem Zimmer, wo aus tausend Winkeln das Elend grinst und die Gewinnsucht lauert und dessen warme, dumpfe Luft Frau Vauquer atmet, ohne davon angeekelt zu werden. Ihr Gesicht, das kalt ist wie ein erster Herbstfrost, ihre verkniffenen Augen, deren Ausdruck vom Balletteusenlächeln bis zur sauren Miene des Maklers beständig wechselt, ihr ganzes Äußeres paßt zu dieser Pension, wie die Pension zu ihr paßt. Zum Gefängnis gehört auch der Wärter; eins ohne das andere ist undenkbar. Die aufgeschwemmte Gestalt der kleinen Frau ist die Folge ihrer dumpfen Lebensweise, wie der Typhus die Folge der Ausdünstungen des Krankenhauses ist. Unter ihrem Hausrock, der aus einem alten Straßenkleide gefertigt ist und dessen Wattefutter aus dem zerschlissenen Oberstoff hervorquillt, schaut ein gestrickter wollener Unterrock hervor, der prophetisch alles verrät: in ihm spiegelt sich der Salon, der Speisesaal, das Gärtchen, in ihm ahnt man die Küche und die Pensionäre.

Ungefähr fünfzig Jahre alt, gleicht Frau Vauquer allen den Frauen, ›die Unglück gehabt haben‹. Ihr gläserner Blick hat den unschuldigen Ausdruck einer Kupplerin, die sich entrüstet stellt, um sich desto teurer bezahlen zu lassen, die jedoch aus Eigennutz zu allem bereit ist, bereit, Georges oder Pichegru preiszugeben, falls Georges oder Pichegru noch preisgegeben werden könnten. Trotz alledem ist sie ›im Grunde eine gute Frau‹, sagen die Pensionäre, die sie, weil sie gleich ihnen klagt und stöhnt, für vermögenslos halten. Was ist Herr Vauquer gewesen? Sie äußerte sich niemals über den Dahingeschiedenen. Auf welche Weise hatte er sein Vermögen verloren? ›Durch Unglücksfälle‹, erwiderte sie. Er hatte sich schlecht gegen sie benommen, ihr nichts hinterlassen als die Augen zum Weinen, als dieses Haus und das Recht, mit keinem Unglücklichen Mitleid zu empfinden, da sie, wie sie sagte, selbst alles gelitten habe, was nur irgend zu erleiden möglich sei.

Als die Köchin, die dicke Sylvia, den Schritt der Herrin hörte, beeilte sie sich, für die im Hause wohnenden Pensionäre das Frühstück aufzutragen. Die auswärts wohnenden Kostgänger pflegten nur das Mittagessen zu abonnieren, das monatlich dreißig Franken kostete.

Zu der Zeit, da meine Erzählung beginnt, betrug die Zahl der Vollpensionäre sieben. Im ersten Stock befanden sich die beiden besten Wohnungen des Hauses. Frau Vauquer bewohnte die unansehnlichere, und die andere gehörte einer Frau Couture, der Witwe eines Beamten der Republik. Sie hatte ein sehr junges Mädchen bei sich, Viktorine Taillefer, an der sie Mutterstelle vertrat. Die beiden Damen bezahlten zusammen achtzehnhundert Franken für ihre Pension. Der zweite Stock enthielt ebenfalls zwei Wohnungen, deren eine einem alten Manne namens Poiret gehörte; in der anderen wohnte ein etwa vierzigjähriger Mann, der eine schwarze Perücke trug, seinen Backenbart färbte, angab, früher Kaufmann gewesen zu sein, und sich Vautrin nannte. Das dritte Stockwerk bestand aus vier Zimmern, von denen zwei dauernd vermietet waren: das eine an ein altes Fräulein Michonneau, das andere an einen ehemaligen Nudel-, Makkaroni- und Mehlfabrikanten, der sich Vater Goriot nennen ließ. Die beiden anderen Zimmer waren für Zugvögel bestimmt, für jene armen Studenten, die wie der Vater Goriot und Fräulein Michonneau für Wohnung und Essen zusammen nicht mehr als fünfundvierzig Franken im Monat ausgeben konnten. Aber Frau Vauquer schätzte solche junge Leute wenig und nahm sie nur auf, wenn sich kein besserer Mieter fand: sie aßen zuviel Brot. Gegenwärtig gehörte eins der Zimmer einem jungen Manne, der aus der Gegend von Angoulême nach Paris gekommen war, um hier die Rechte zu studieren, und dessen zahlreiche Familie sich die größten Entbehrungen auferlegte, um ihm jährlich zwölfhundert Franken schicken zu können. Eugen von Rastignac, so nannte er sich, war einer von denen, die wissen, daß es ihre Bestimmung ist, zu arbeiten, die schon im jugendlichen Alter begreifen, welche Hoffnungen die Eltern auf sie setzen, und die sich eine schöne Zukunft zu verschaffen verstehen, indem sie ihre Studien von vornherein der zukünftigen politischen Richtung anzupassen suchen, um später einmal ihre Zeit und die Gesellschaft zu beherrschen. Ohne sein neugieriges Beobachten und die Sicherheit, mit der er sich zu den Pariser Salons Zutritt zu verschaffen wußte, würden dieser Erzählung die Farben der Wahrheit mangeln, die sie zweifellos seiner Klugheit und seinem Scharfsinn verdankt und seinem Bemühen, in ein trauriges Geheimnis einzudringen, das sowohl von denen, die es geschaffen, als auch von dem, der es erduldete, sorgsam gehütet wurde.

Über diesem dritten Stock befanden sich ein Trockenboden und zwei Mansarden, in denen Christoph, der Hausknecht, und die dicke Sylvia, die Köchin, schliefen. Außer den sieben Vollpensionären hatte Frau Vauquer noch durchschnittlich acht Studenten der Rechte oder der Medizin und zwei oder drei andere Stammgäste, die alle in diesem Viertel wohnten und lediglich das Mittagessen bei ihr einnahmen. Die Mittagstafel wurde für achtzehn Personen gedeckt und konnte auf zwanzig erweitert werden. Am Frühstückstisch jedoch fanden sich nur die sieben Mieter ein, die fast den Anblick einer einzigen Familie boten. Ein jeder erschien in Pantoffeln und erlaubte sich vertrauliche Bemerkungen über Kleidung oder Gebaren der Kostgänger und über die kleinen Ereignisse des Vorabends. Diese sieben Pensionäre waren die verzogenen Lieblinge Frau Vauquers, die ihnen Sorgfalt und Rücksichtnahme mit mathematischer Genauigkeit je nach der Höhe ihres Pensionspreises zumaß. Das gleiche traurige Geschick verband sie, diese Leute, die der Zufall hier in dieser Pension zusammengeführt hatte. Die beiden Mieter des zweiten Stockwerks bezahlten jeder zweiundsiebzig Franken im Monat. Diese billige Unterkunft, die man nur im Faubourg Saint-Marcel zwischen der Bourbe und der Salpêtrière findet und auf die sie alle mit Ausnahme der Frau Couture angewiesen waren, beweist, daß alle Pensionäre unter der Last des Elends schmachteten, das bald mehr, bald weniger klar zutage trat. Auch konnte man die ganze Trostlosigkeit der vorhin beschriebenen Einrichtung des Hauses in der ebenso abgenutzten Kleidung seiner Bewohner wiederfinden. Die Männer trugen Überröcke von rätselhafter Farbe, Schuhwerk, das man in den besseren Stadtteilen als abgetragen verwerfen würde, fadenscheinige Wäsche und geflickte Hosen. Die Frauen trugen alte, wieder und wieder gefärbte Kleider, morsche, ausgebesserte Spitzen, vergilbte Kragen, mehrfach gewendete Brusttücher und Handschuhe, die vom langen Tragen glänzend geworden waren. Trotz ihrer abgenutzten Kleidung aber hatten alle kräftige Gestalten, Körper, die den Stürmen des Lebens zu trotzen gewußt, harte, kalte Gesichter, verwischt wie das Gepräge abgegriffener Taler. Hinter den welken Lippen schimmerten starke gelbe Zähne. Beim Anblick dieser Leute ahnte man etwas von verklungenen oder noch in Gang befindlichen Dramen: Dramen, die nicht bei Lampenlicht und bemalter Leinwand vor sich gehen, sondern lebendige und stumme Dramen, die das nun starre Herz einst heiß bewegten, endlose Dramen.

Das alte Fräulein Michonneau trug über ihren müden Augen einen schmierigen Schirm aus grünem Taft, mit Messingdraht umwunden, bei dessen Anblick selbst der Engel des Mitleids sich abgewendet hätte. Ihr mit dünnen, weinerlichen Fransen geschmückter Schal schien ein Skelett zu umhüllen, so eckig traten ihre Formen unter dem Tuch hervor. Welche Säure hatte dieses Geschöpf seiner weiblichen Formen beraubt? Sie mußte einst hübsch und wohlgestalt gewesen sein. War es das Laster, der Kummer, die Begierde? Hatte sie zuviel geliebt? War sie Putzmacherin gewesen oder Kurtisane? Büßte sie Triumphe einer kecken Jugend, die alle Freuden genossen, durch ein Alter, vor dem ein jeder entsetzt zurückwich? Ihr matter Blick machte frösteln, ihre verkümmerte Gestalt drohte. Sie hatte die schrille Stimme der Grille, die im Gestrüpp dem Winter entgegenzirpt. Angeblich hatte sie einen an Blasenkatarrh leidenden alten Herrn gepflegt, den seine Kinder für mittellos gehalten und daher verlassen hatten. Dieser Greis hatte ihr eine Leibrente von tausend Franken vermacht, die von Zeit zu Zeit von den Erben angefochten wurde. Obgleich das Spiel der Leidenschaften ihr Gesicht entstellt hatte, zeigte es doch die Spuren einstiger Zartheit und lieblicher Formen, die vermuten ließen, daß auch der Körper sich noch einige Reste von Schönheit bewahrt habe.

Herr Poiret glich mehr einer seltsamen Maschine als einem Menschen. Wenn man ihn wie einen grauen Schatten eine Allee des Botanischen Gartens entlanggleiten sah, auf dem Kopf eine alte, eingedrückte Mütze, einen Stock mit gelber Elfenbeinkrücke in der zitternden Hand, mit flatternden Rockschößen, die nur schlecht seine fast leeren Beinkleider bedecken konnten, die Waden in blauen Strümpfen, wankend wie ein Betrunkener, dazu mit schmutziger weißer Weste und zerknittertem Vorhemdchen aus grobem Musselin, das niemals den Anschluß an die Krawatte zu finden vermochte, die seinen Truthahnhals umwand, so fragte man sich wohl, ob dieses Schattenbild der kecken Rasse der Söhne Japhets angehöre, die auf dem Boulevard des Italiens dahergaukeln. Welch eine Last hatte ihn so zusammenschrumpfen lassen, welche Leidenschaft sein aufgedunsenes Gesicht gezeichnet, das man bei einer Karikatur für Übertreibung gehalten hätte? Was war er gewesen? Vielleicht hatte er im Justizministerium gearbeitet, in den Büros, wo man die Kostenrechnungen der Scharfrichter nachzuprüfen hat, die Rechnungen über schwarze Augenbinden für die Hinzurichtenden, über Kleie für die Körbe und Schnur für das Fallbeil? Vielleicht war er Geldeinnehmer beim Schlachthaus oder Unterinspektor beim Gesundheitsamt gewesen? Kurz, dieser Mann schien einer der Esel an der großen sozialen Mühle gewesen zu sein, ein Lastträger, der seinen Herrn nicht einmal kannte, ein Zapfen, um den das öffentliche Elend, der öffentliche Unrat sich gedreht, einer der Menschen, bei deren Anblick wir uns sagen: ›Es muß auch solche Käuze geben.‹ Das schöne Paris verleugnet solche von geistigen oder körperlichen Leiden verblaßte Gestalten. Aber Paris ist ein wahrer Ozean. Werft das Senkblei hinein, ihr werdet seine Tiefe nie ermessen! Durchreist es, beschreibt es: wieviel Sorgfalt ihr auch anwendet, es zu durchreisen, zu beschreiben, wie zahlreich und eifrig auch die Erforscher dieses Meeres sein mögen, – man wird darin noch immer eine jungfräuliche Stelle, einen unbekannten Winkel, Blumen, Perlen, Ungeheuer, irgend etwas Unerhörtes, von den literarischen Tauchern Vergessenes finden. Das Haus Vauquer ist eine dieser seltsamen Ungeheuerlichkeiten.

Zwei Gestalten nun waren es, die in auffallendem Gegensatz zu der Masse der Pensionäre und Kostgänger standen. Die eine war Fräulein Viktorine Taillefer. Obgleich sie die krankhafte Blässe der Bleichsüchtigen hatte und sich dem allseitigen Elend, das den Hintergrund dieses Bildes abgibt, durch eine zur Gewohnheit gewordene Traurigkeit, ein bedrücktes Wesen und ärmliches Äußeres anschloß, so war ihr Gesicht dennoch jung, ihre Bewegungen waren rasch und ihre Stimme hell. Ihr junges Elend glich einem in falsches Erdreich eingesetzten Strauch, der seine Blätter gelb und kraftlos hängen läßt. Ihr zartes Gesicht, ihr mattblondes Haar, ihre überschlanke Gestalt zeigten jene Anmut, die unsere Dichter von heute in den Bildwerken des Mittelalters finden. Ihre grau und schwarzen Augen hatten einen sanften Ausdruck und spiegelten christliche Entsagung. Ihre Kleidung, die einfach und billig war, umhüllte jugendliche Formen. Sie war hübsch. Im Glück wäre sie entzückend gewesen, denn das Glück ist die Poesie der Frauen. Wenn die Freude eines Ballfestes auf dieses bleiche Gesicht seinen rosigen Schimmer geworfen, wenn die Annehmlichkeit eines behaglichen Lebens diese schon leicht eingesunkenen Wangen gerundet und erfrischt und wenn die Liebe diese traurigen Augen belebt hätte, so hätte Viktorine mit den schönsten jungen Mädchen wetteifern können. Es fehlte ihr das, was der Frau zum zweiten Mal Leben schenkt: Schleier und Spitzen – und Liebesbriefe. Ihre Geschichte könnte Stoff für einen ganzen Roman abgeben. Ihr Vater glaubte berechtigte Gründe zu haben, sie nicht anzuerkennen; er weigerte sich, sie bei sich aufzunehmen, bewilligte ihr jährlich nur sechshundert Franken und beabsichtigte, sein ganzes Vermögen seinem Sohne zuzuwenden. Frau Couture, eine entfernte Verwandte der Mutter Viktorines, die seinerzeit in Verzweiflung zu ihr geflüchtet und dort gestorben war, sorgte für die Waise wie für ihr eigenes Kind. Leider besaß die Beamtenwitwe nichts auf der Welt als ihre Witwenschaft und ihre Pension; sie würde das arme junge Mädchen eines Tages ohne Hoffnung und ohne alle Mittel der Gnade der Welt überlassen müssen. Die gute Frau führte Viktorine jeden Sonntag zur Messe und alle vierzehn Tage zur Beichte, um sie wenigstens zur Frömmigkeit zu erziehen. Sie tat recht daran; denn einzig die religiösen Gefühle boten diesem verleugneten Kinde eine Zukunft; dem armen Kinde, das seinen Vater liebte und alle Jahre zu ihm ging, um ihm die Verzeihung der Mutter zu bringen, das aber Jahr für Jahr vor unerbittlich verschlossene Türen kam. Ihr Bruder, ihr einziger Vermittler, hatte sie in vier Jahren nicht ein einziges Mal besucht und sandte ihr keinerlei Unterstützung. Sie flehte Gott an, ihrem Vater die Binde von den Augen zu nehmen, das Herz ihres Bruders zu erweichen; und sie betete für beide, ohne sie anzuklagen. Frau Couture und Frau Vauquer fanden nicht Worte, die stark genug waren, um die rohe Handlungsweise jener Männer zu bezeichnen. Wenn sie den schändlichen Millionär verfluchten, so ließ Viktorine hingegen sanfte Worte vernehmen, gleich der verwundeten Taube, deren Schmerzensschrei noch immer Liebe atmet.

Eugen von Rastignac hatte ganz das Gesicht eines Südländers: einen weißen Teint, schwarzes Haar und blaue Augen. In Wuchs und Manieren, in Haltung und Auftreten erkannte man den Sohn aus adligem Hause, wo schon die erste Erziehung auf Tradition des guten Geschmacks aufgebaut wird. Obgleich er seine Kleider schonen mußte und an gewöhnlichen Tagen die Anzüge vom Vorjahr aufzutragen pflegte, so konnte er doch manchmal in eleganter Kleidung ausgehen. Gewöhnlich trug er einen alten Gehrock, eine schlechte Weste, eine abgenutzte, schlecht gebundene Studentenkrawatte, dementsprechende Beinkleider und geflickte Stiefel.

Zwischen diesen beiden jungen Menschen und den anderen Pensionären bildete Vautrin, der Vierzigjährige mit dem gefärbten Bart, den Übergang. Er war einer jener Leute, von denen es im Volksmunde heißt: ›Ein prächtiger Kerl!‹ Er hatte breite Schultern, eine gewölbte Brust, harte Muskeln und dicke, viereckige, brennend rote Hände, die an jedem Fingerglied ein dickes Haarbüschel aufwiesen. Sein tief gefurchtes Gesicht trug den Stempel der Härte und strafte sein freundliches, schmiegsames Benehmen Lügen. Seine tiefe Stimme, die gut zu seiner plumpen Munterkeit paßte, war nicht unsympathisch. Er war ein Spaßmacher und immer bemüht, sich nützlich zu erweisen. Wollte irgendein Schloß nicht schließen, so hatte er es alsbald abgeschraubt, gereinigt, geölt, gefeilt und wieder angeschraubt, wobei er sagte: »Darauf verstehe ich mich.« Er verstand sich übrigens auf alles: auf Schiffahrt, Meereskunde, Frankreich, das Ausland, auf Geschäfte, Menschen und Ereignisse, auf die Gesetze, die Gasthöfe und die Gefängnisse. Wenn jemand stöhnte und klagte, so fragte er ihn aus und erbot sich, ihm zu helfen. Er hatte Frau Vauquer und einigen anderen Pensionären mehrmals Geld geliehen; aber seine Schuldner wären lieber gestorben, als daß sie diese Schuld nicht so schnell wie möglich wieder abgetragen hätten, so sehr flößte sein durchdringender und entschlossener Blick den Leuten Angst ein. Durch die Art, wie er ausspuckte, bewies er eine unerschütterliche Kaltblütigkeit, die zeigte, daß er selbst ein Verbrechen wagen würde, wenn es gälte, aus einer mißlichen Lage herauszukommen. Wie ein strenger Richter ging sein Auge allen Dingen auf den Grund, allen Fragen, allen Gewissen, allen Empfindungen. Er pflegte nach dem Frühstück auszugehen, zum Mittagessen heimzukommen und den Abend wieder draußen zu verbringen; erst gegen Mitternacht kam er zurück und verschaffte sich mit Hilfe eines Hausschlüssels Eingang, den Frau Vauquer ihm anvertraut hatte. Er allein genoß diesen Vorzug. Aber er stand sich auch am besten mit der Witwe, die er um die Taille faßte und ›Mama‹ nannte, eine Schmeichelei, die sie gar nicht zu würdigen wußte; denn die gute Frau hielt dies offenbar noch für leicht, wohingegen Vautrin der einzige war, dessen Arme lang genug waren, um den gewaltigen Umfang dieser Frau zu umspannen. Ein großmütiger Zug von ihm war es, fünfzehn Franken im Monat für den Gloria1 zu bezahlen, den er beim Nachtisch einzunehmen pflegte. Weniger oberflächliche Leute als diese vom Strudel des Pariser Lebens mitgerissenen jungen Männer und diese gegen alles, was sie nicht schmerzte, gleichgültigen Greise hätten sich über den zweifelhaften Charakter Vautrins ihre Gedanken gemacht. Er kannte oder erriet alles, was seine Umgebung betraf, er wußte ihrer aller Geschichte, während sie weder von seinem Denken noch von seinem Tun eine Ahnung hatten. Obgleich er seine anscheinende Gutmütigkeit, seine beständige Liebenswürdigkeit und Heiterkeit wie eine Schutzwehr zwischen sich und den anderen aufgerichtet hatte, ließ er doch oft den fürchterlichen Abgrund in seinem Charakter ahnen. Er hatte einen beißenden Witz, der des Juvenals würdig gewesen wäre, und gefiel sich darin, die Gesetze zu schmähen, die oberen Klassen zu geißeln und sie der Inkonsequenz gegen sich selbst zu überführen; alles dies verriet, daß er auf die gesellschaftlichen Zustände einen Haß hatte und daß es in seinem Leben irgendein sorgsam gehütetes böses Geheimnis gab.

Wohl unbewußt von der Kraft des einen und der Schönheit des anderen angezogen, teilte Fräulein Taillefer ihre verstohlenen Blicke und heimlichen Gedanken zwischen diesem Vierzigjährigen und dem jungen Studenten; aber keiner von ihnen schien an sie zu denken, obwohl der Zufall von einem Tage zum anderen ihre Lage ändern und sie zu einer reichen Partie machen konnte. Im übrigen gab sich keiner der Leute hier die Mühe, nachzuforschen, ob das vorgebliche Unglück der anderen wahr oder unwahr sei. Alle hatten füreinander nur Gleichgültigkeit und Mißtrauen, eine Folge ihrer eigenen mißlichen Lage. Sie sahen sich machtlos, einander ihre Bürde zu erleichtern, und alle hatten schon längst zu den Klagen der anderen den Becher des Beileids geleert. Gleich alten Eheleuten hatten sie einander nichts mehr zu sagen. Es verband sie also nur die Gemeinsamkeit der äußeren Lebensbedingungen, – ein ungeöltes Räderwerk. Alle mußten sie dem blinden Bettler auf der Straße ausweichen, traurige Schicksalsschläge ungerührt mit ansehen und in jedem Todesfall die Lösung eines Problems erblicken, das sie gefühllos gemacht und sogar dem Todeskampf seine Schrecken genommen hatte. Die glücklichste unter diesen trostlosen Seelen war Frau Vauquer, die freie Herrin jenes Armenhauses. Für sie allein war der kleine Garten, den Hitze und Kälte, Trockenheit und Nässe in eine öde Steppe verwandelt hatten, ein blühendes Gehege. Für sie allein besaß das gelbe und düstere Haus mit seinem widerlichen Geruch einen Reiz. Seine Gefängniszellen gehörten ihr; sie nährte die armen Sklaven, die das Leid ihr zugeführt hatte und die sich ihrer Oberhoheit demütig unterwarfen. Wo hätten die armen Wesen in ganz Paris zu ebenso mäßigem Preise gesunde, zureichende Lebensbedingungen gefunden und einen Raum, den sie sich, wenn auch nicht elegant und behaglich, so doch sauber einrichten durften? Selbst wenn sie sich irgendeine schreiende Ungerechtigkeit erlaubt hätte, so würden ihre Opfer das ohne Klage hingenommen haben.

Mußte nicht das Leben in einer solchen Pension ein kleines Spiegelbild der großen menschlichen Gesellschaft sein? – So war es auch.

Unter den achtzehn Tischgenossen fand sich, wie in der Schule, wie in der großen Welt, ein armes ausgestoßenes Geschöpf, ein Sündenbock, auf den Neckerei und Bosheit niederregneten. Zu Beginn des zweiten Jahres, das Eugen von Rastignac hier zubrachte, wurde jene Gestalt für ihn die bedeutsamste von allen, in deren Mitte er noch zwei Jahre zuzubringen verurteilt war. Dieser Sündenbock war der alte Nudelfabrikant, der Vater Goriot, auf dessen Kopf ein Maler alles Licht seines Gemäldes vereinigt hätte. Durch welchen Zufall hatte diese halb gehässige Verachtung, diese halb mitleidige Niedertracht gerade den ältesten, ehrwürdigsten der Pensionäre getroffen? Hatte er durch irgendwelche Lächerlichkeiten oder Absonderlichkeiten, gegen die man unduldsamer ist als gegen das Laster, Veranlassung dazu gegeben? Diese Fragen streifen an gar manche Ungerechtigkeit der Welt. Vielleicht liegt es in der Natur des Menschen, dem alles aufzubürden, der alles erträgt, sei es nun aus wahrer Demut, aus Schwachheit oder Gleichgültigkeit. Lieben wir nicht alle, auf Kosten irgendeines anderen unsere eigene Stärke darzutun? Das schwächste Geschöpf, der Gassenjunge, erdreistet sich, an allen Haustüren die Glocke zu ziehen, oder er klettert an einem neuen Denkmal empor, um seinen Namen daranzuschreiben.

Vater Goriot, ein Greis von etwa zweiundsechzig Jahren, hatte sich im Jahre 1813 von den Geschäften zurückgezogen und bei Frau Vauquer eingemietet. Er nahm damals die jetzt von Frau Couture bewohnten Zimmer ein und zahlte zwölfhundert Franken Pension, als ein Mann, dem es auf fünf Louis mehr oder weniger nicht ankam. Frau Vauquer hatte die Zimmer für eine im voraus bezahlte Summe neu eingerichtet und ihr Geschäft dabei gemacht; die Neueinrichtung bestand aus gelben Kalikovorhängen, lackierten, mit Utrechter Samt bezogenen Lehnstühlen, einigen Öldrucken und einer Tapete, wie sie schlechter kaum in der simpelsten Vorstadtschenke gefunden werden könnte. Vielleicht war es gerade die sorglose Freigebigkeit Vater Goriots, der damals noch achtungsvoll Herr Goriot genannt wurde, was ihn in den Augen der anderen zu einem Dummkopf machte, der von Geschäften nichts verstehe.

Goriot kam und brachte eine reiche Garderobe mit, die glänzende Ausstattung eines Geschäftsmannes, der sich nichts zu versagen braucht. Frau Vauquer hatte achtzehn Hemden aus holländischer Leinwand bewundert, deren Feinheit noch durch zwei von einem goldenen Kettchen zusammengehaltenen Brillantnadeln erhöht wurde, mit denen der Nudelfabrikant sein Vorhemd schmückte. Er trug für gewöhnlich einen blauen Anzug und legte jeden Tag eine weiße Pikeeweste an, unter der sein birnenförmiger Bauch behaglich schaukelte und eine schwere goldene, mit Verlocken behangene Uhrkette in Schwingungen setzte. Seine ebenfalls goldene Tabaksdose enthielt ein Medaillon voller Haarlocken, was ihm das Ansehen eines vom Glück begünstigten Mannes verlieh. Als seine Wirtin ihn vertraulich einen ›galanten Gecken‹ nannte, huschte über sein Gesicht das vergnügte Lächeln des Spießbürgers, dem man sein Steckenpferd tätschelt. In seinen Schränken und Kommoden verwahrte er Silberzeug. Die Augen der Wirtin leuchteten, als sie ihm liebenswürdig behilflich war, die Sachen auszupacken und einzuräumen. Da gab es Vorlegelöffel, Bestecke, Essig-und-Öl-Gestelle, Saucenschüsseln, Fisch- und Kuchenplatten, vergoldetes Frühstücksgeschirr, kurz, eine Menge mehr oder weniger schöner Dinge, die viele Pfund wogen und von denen er sich nicht trennen wollte, denn es waren Geschenke, die ihn an die Feierstunden seines Ehelebens erinnerten.

»Dies hier«, sagte er zu Frau Vauquer und legte die Hand zärtlich auf eine Platte und ein kleines Kännchen, dessen Deckel von zwei sich schnäbelnden Tauben gebildet wurde, »ist das erste Geschenk meiner Frau; sie gab es mir am Jahrestag unserer Hochzeit. Arme Kleine! Sie hatte ihre ganzen Mädchenersparnisse dafür hingegeben. Sehen Sie, liebe Frau, ich möchte lieber die Erde mit meinen Nägeln aufkratzen, als mich hiervon trennen. Gott sei Dank, ich werde bis ans Ende meiner Tage meinen Kaffee aus diesem Kännchen genießen können! Ich bin nicht zu beklagen, ich habe für lange Zeit Brot im Kasten.«

Schließlich hatte Frau Vauquers spähender Elsternblick auch noch in Goriots Hauptbuch ein paar Zahlen entdeckt, die, flüchtig zusammengerechnet, ergaben, daß der treffliche Alte eine Jahreseinnahme von acht- bis zehntausend Franken haben mußte. Von da an nährte Frau Vauquer, geborene von Conflans, die damals achtundvierzig Jahre zählte, aber neununddreißig zugestand, einen gewissen Gedanken. Obgleich Goriots Augen rot und geschwollen waren, weshalb er sie oft trocknen mußte, fand sie ihn von angenehmem und stattlichem Äußeren. Überdies ließ seine kräftige, schön geschwungene Wade und seine lange, breite Nase auf gewisse moralische Eigenschaften schließen, auf die die Witwe Wert zu legen und die das einfältige Vollmondgesicht des Biedermannes noch zu bestätigen schien. Das mußte ein kräftig gebauter Mann sein, fähig, all seinen Geist in Gefühle umzusetzen. Seine taubengrauen Haare, die der Friseur des Polytechnikums ihm jeden Morgen ordnete und puderte, zeichneten fünf Löckchen auf seine niedrige Stirn und standen ihm gut zu Gesicht. War er auch etwas plump, so kleidete er sich doch stets so sorgfältig, schnupfte so reichlich und streute dabei so viel Tabak um sich, daß er ganz den Eindruck eines Mannes machte, der sicher ist, seine Tabaksdose zeitlebens voll Makuba zu sehen. So kam es, daß am Tage seines Einzuges Frau Vauquer, als sie sich abends schlafen legte, im Feuer ihres glühenden Wunsches schmorte wie das Rebhuhn in seiner Speckschwarte; ihre Wünsche aber gingen dahin, das Leichentuch Vauquer abzulegen und als Goriot wieder aufzuerstehen. Sich verheiraten, ihre Pension verkaufen, diesem feinen Bürger die Hand reichen, in ihrem Viertel eine angesehene Dame werden, sich durch Mildtätigkeit angenehm auszeichnen, des Sonntags kleine Ausflüge machen nach Choisy, Soissy, Gentilly, nach Gefallen ins Theater gehen, in die Loge, ohne auf die Freibillette warten zu müssen, die ihr einige ihrer Pensionäre im Sommer zukommen ließen, – sie träumte sich das ganze Dorado eines kleinen Pariser Haushalts zusammen. Übrigens besaß sie, was sie niemandem verraten hatte, ein Sou für Sou zusammengespartes Vermögen von vierzigtausend Franken. Ja, was das Geld anlangte, hielt sie sich mit Recht für eine gute Partie.

›Und im übrigen bin ich dem guten Manne durchaus ebenbürtig‹, sagte sie sich und drehte sich im Bett herum, wie um sich selbst die Formenreize zu vergegenwärtigen, die die dicke Sylvia jeden Morgen im Bett eingedrückt fand.

Von jenem Tage an benutzte die Witwe Vauquer den Friseur des Herrn Goriot und gab etwas mehr für ihre Kleidung aus, was sie mit der Notwendigkeit entschuldigte, ihrem Hause einen gewissen Glanz zu verleihen, damit es der ehrenwerten Gäste würdig sei. Sie strengte sich sehr an, ihre bisherigen Pensionäre aus dem Hause zu bekommen, unter dem Vorgeben, von nun an nur in jeder Hinsicht angesehene Leute aufnehmen zu wollen. Zeigte sich ein Fremder, so rühmte sie sich der Ehre, die Herr Goriot, einer der geachtetsten Geschäftsleute von Paris, ihrem Hause erwiesen habe. Sie versandte Prospekte, auf denen zu lesen stand: ›Haus Vauquer‹. Es sei, sagte sie, eine der ältesten und berühmtesten Familienpensionen des Quartiers Latin. Man genieße von hier eine prächtige Aussicht auf das Val des Gobelins – vom dritten Stock aus war es sichtbar – und habe dicht beim Hause einen ›hübschen‹ Garten, an dessen Ende eine ›Lindenallee‹ sich ›erstrecke‹. Sie redete ferner von guter Luft und idyllischer Ruhe. Dieser Prospekt führte ihr die Gräfin de l'Ambermesnil zu, eine Frau von sechsunddreißig Jahren, die auf Regelung und Erledigung einer Pension wartete, die man ihr als der Witwe eines ›auf den Schlachtfeldern‹ gefallenen Generals schuldete. Frau Vauquer sorgte für bessere Kost, heizte fast sechs Wochen lang die Wohnräume und hielt die Versprechungen ihres Prospekts gut inne, da sie auch so noch ihren Schnitt dabei machte. Die Gräfin verkündete daraufhin Frau Vauquer, die sie ›liebe Freundin‹ nannte, daß sie ihr die Frau Baronin Vaumerland und die Witwe des Obersten und Grafen Picquoiseau zuführen wolle, zwei ihrer Freundinnen, die vorläufig noch im Marais2 in einer weit teureren Pension eingemietet seien. Sobald die Bureaus des Kriegsministeriums mit ihrer Abrechnung fertig wären, würden diese Damen, wie auch sie selbst, sehr gut gestellt sein.

»Aber«, sagte sie, »die Bureaus werden nie fertig.«

Die beiden Witwen stiegen nach Tisch hinauf in das Zimmer der Frau Vauquer und machten ein kleines Schwätzchen, wobei sie Johannisbeerlikör tranken und Süßigkeiten naschten. Frau de l'Ambermesnil billigte vollständig die Absichten ihrer Wirtin auf Goriot: vortreffliche Absichten, die sie übrigens vom ersten Tage an geahnt habe; sie hielt ihn für einen prächtigen Mann.

»Ah, meine liebe Dame, ein Mann – gesund wie mein Auge!« sagte die Witwe Vauquer, »ein vortrefflich konservierter Mann, der einer Frau noch viel Vergnügen bereiten kann.«

Die Gräfin ließ sich herab, Frau Vauquer ein paar Worte über ihre Kleidung zu sagen, die mit ihrem Vorhaben nicht in Einklang stände.

»Sie müssen sich auf den Kriegsfuß stellen«, sagte sie zu ihr.

Nach langem Überlegen gingen die beiden Witwen gemeinsam zum Magasin du Palais-Royal, wo sie einen Federhut und eine Haube kauften. Die Gräfin schleppte ihre Freundin zum Magasin de la Petite Jeannette, wo sie ein Kleid und eine Schärpe auswählten. Als die Witwe so unter den Waffen stand, hatte sie alle Ähnlichkeit mit einem Pfingstochsen. Nichtsdestoweniger glaubte sie sich so sehr zu ihrem Vorteil verändert, daß sie sich in der Schuld der Gräfin fühlte und sie – allerdings schweren Herzens – bat, einen Hut zu zwanzig Franken von ihr anzunehmen. In Wahrheit rechnete sie damit, sie um den Dienst zu bitten, Goriot auszuhorchen und sie bei ihm herauszustreichen. Frau de l'Ambermesnil widmete sich sehr eifrig diesem Freundschaftsdienst und stellte dem alten Nudelfabrikanten nach, und schließlich gelang es ihr, eine Unterredung mit ihm zu erreichen. Aber da sie ihn den Versuchungen gegenüber, denen sie ihn in ihrem eigenen Interesse aussetzte, zurückhaltend, um nicht zu sagen widerstrebend fand, verließ sie ihn, empört über seine Plumpheit.

»Mein Engel,« sagte sie zu ihrer lieben Freundin, »aus diesem Manne werden Sie nie etwas herausholen! Er ist lächerlich mißtrauisch, ein Geizhals, ein Tölpel, ein Dummkopf, der Ihnen nur Unannehmlichkeiten bereiten wird.«

Zwischen Herrn Goriot und Frau de l'Ambermesnil hatten sich derartige Dinge ereignet, daß die Gräfin nicht mehr mit ihm zusammenzutreffen wünschte. Sie verschwand daher anderntags, wobei sie vergaß, die Rechnung zu bezahlen, die sich auf sechs Monate Kost und Wohnung belief. Ein abgelegtes Kleid im Werte von etwa fünf Franken war das einzige, was sie zurückließ. Mit wieviel Eifer auch Frau Vauquer die Nachforschungen betrieb, sie konnte in ganz Paris keine Auskunft über die Gräfin de l'Ambermesnil erhalten. Sie sprach oft von diesem schweren Schlag, der sie betroffen hatte, und beklagte ihre allzu große Vertrauensseligkeit, und doch war sie mißtrauischer als eine Katze. Aber sie glich sehr jenen Leuten, die den Nahestehenden mißtrauen und sich dem ersten besten Fremden ausliefern; eine seltsame, aber oft beobachtete Tatsache, deren Wurzel im Menschenherzen leicht zu finden ist. Vielleicht haben solche Seelen bei ihrer nächsten Umgebung nichts mehr zu gewinnen; sie haben ihr die Leere ihrer Seele aufgedeckt und fühlen sich mit verdienter Härte von ihr verurteilt. Da sie aber ein unbezwingliches Bedürfnis haben, sich umschmeichelt zu sehen, oder gern Eigenschaften vortäuschen möchten, die sie nicht besitzen, so hoffen sie die Achtung oder die Liebe eines Fremden zu erringen, selbst auf die Gefahr hin, sich eines Tages betrogen zu sehen. Endlich gibt es auch geborene Mietlinge, die ihren Freunden oder Angehörigen nicht den kleinsten Dienst erweisen, weil er hier selbstverständlich wäre, wohingegen, wenn sie sich einem Fremden widmen, ihre Eigenliebe einen Gewinn davonträgt. Je näher ihnen jemand steht, um so weniger lieben sie ihn; je ferner er steht, um so ergebener sind sie. Frau Vauquer gehörte sicherlich zu diesen beiden Arten in hohem Maße kleinlicher, falscher und widerwärtiger Naturen.

»Wenn ich hier gewesen wäre,« sagte Vautrin zu ihr, »so wäre Ihnen das Unglück nicht zugestoßen. Ich hätte Ihnen die Schurkin schon entlarvt. Ich verstehe mich auf solche Fratzen.«

Wie alle beschränkten Geister hatte Frau Vauquer die Gewohnheit, aus dem engen Kreise der Ereignisse nicht herauszutreten und nicht nach ihren Ursachen zu forschen. Sie liebte es, für ihre eigenen Fehler andere verantwortlich zu machen. Als dieser Verlust sie traf, betrachtete sie den biederen Nudelfabrikanten als die Ursache ihres Unglücks und begann von da an, wie sie sagte, sich an ihm ›schadlos zu halten‹. Als sie die Nutzlosigkeit ihrer Verführungskünste und Putzsucht eingesehen hatte, zögerte sie nicht, einen Grund für die Zurückhaltung des Alten aufzustellen. Sie sagte sich also, daß ihr Pensionär wahrscheinlich schon ›seine Schliche‹ habe. Sie gewann die Überzeugung, daß ihre so zärtlich genährten Hoffnungen nichts als Luftschlösser waren und daß sie, wie die Gräfin, die ihr nun wie eine Kennerin schien, so richtig gesagt hatte, ›aus dem Manne da niemals etwas herausholen würde‹. Naturgemäß ging sie in ihrer Abneigung weiter, als sie in ihrer Freundschaft gegangen war. Ihr Haß entsprang nicht enttäuschter Liebe, sondern enttäuschter Erwartung. Wenn das menschliche Herz Ruhe findet, sobald es den Gipfel der Zuneigung erklommen hat, so hält es doch selten im steilen Abstieg des Hasses inne. Aber Herr Goriot war ihr Pensionär; die Witwe sah sich also genötigt, die Ausbrüche verwundeter Eigenliebe zu ersticken, die Seufzer der Enttäuschung zurückzuhalten und ihre Rachegefühle zu bezähmen, wie ein Mönch, den sein Prior geärgert hat. Kleine Geister befriedigen ihre Gefühle, seien sie gut oder schlecht, durch endlose Kleinlichkeiten. Die Witwe entfaltete die ganze Bosheit ihrer Frauenseele, um gegen ihr Opfer geheime Ränke zu spinnen. Sie begann damit, den in letzter Zeit eingeführten Überfluß in der Beköstigung der Pensionäre wieder abzuschaffen.

»Keine Gurken mehr, keine Sardellen; das sind Dummheiten«, sagte sie zu Sylvia an dem Morgen, da sie ihr ehemaliges Programm wieder aufnahm.

Herr Goriot war ein einfacher Mann, dem die Sparsamkeit eines Menschen, der sich mühsam hatte emporarbeiten müssen, zur Gewohnheit geworden war. Suppe, gekochtes Fleisch und Gemüse, mehr beanspruchte er nicht. Es war also für Frau Vauquer nicht leicht, ihren Pensionär zu quälen, da sie ihm mit ihrem vereinfachten Küchenzettel nichts anhaben konnte. Sie beschloß daher, ihm auf andere Weise zu schaden: sie behandelte ihn verächtlich und suchte ihn in den Augen seiner Mitpensionäre herabzusetzen, sie verstand es, eine allgemeine Abneigung gegen Goriot zu erwecken und sich auf diesem Umweg an ihm zu rächen. Gegen Ende des ersten Jahres war das Mißtrauen der Witwe so groß geworden, daß sie sich fragte, weshalb der Kaufmann, der sieben- bis achttausend Franken Rente, einen kostbaren Silberschatz und Schmuck und Wertsachen besaß wie eine Buhlerin, sich bei ihr eingemietet habe und ihr nur ein zu seinem Vermögen in gar keinem Verhältnis stehendes bescheidenes Pensionsgeld bezahle. Während des größten Teiles dieses ersten Jahres hatte Goriot häufig ein- oder zweimal wöchentlich außerhalb gespeist; dann war es allmählich dahin gekommen, daß er höchstens zweimal im Monat in der Stadt speiste. Die kleinen Vergnügungsfahrten Goriots waren für Frau Vauquer viel zu einträglich, als daß sie nicht über die zunehmende Regelmäßigkeit, mit der ihr Pensionär die Mahlzeiten im Hause einnahm, unzufrieden gewesen wäre. Sie schrieb diese Veränderung sowohl einer langsamen Abnahme seines Vermögens als auch seiner Absicht zu, seine Wirtin zu ärgern. Eine der widerlichsten Eigenschaften der kleinen Seelen ist es, ihre eigene Kleinlichkeit bei den anderen vorauszusetzen. Unglücklicherweise rechtfertigte Goriot gegen Ende des zweiten Jahres die Verdächtigungen, die man über ihn äußerte, indem er Frau Vauquer ersuchte, seine Wohnung in den zweiten Stock zu verlegen und seine Pension auf neunhundert Franken herabzusetzen. Er mußte sogar so sparsam sein, sich während des Winters die Heizung zu versagen. Die Witwe Vauquer wünschte Vorauszahlung, womit Herr Goriot, den sie von nun an ›Vater Goriot‹ nannte, einverstanden war. Wo lag nun die Ursache dieses Niederganges? Das war schwer herauszubekommen; denn wie die falsche Gräfin gesagt hatte, so war es: Vater Goriot war ein Duckmäuser, ein Schweiger. Nach der Logik der Hohlköpfe, die alle Schwätzer sind, weil sie nichts zu sagen haben, müssen alle, die nicht von ihren Geschäften sprechen, schlechte Geschäfte machen. Der früher so geschätzte Kaufmann wurde also ein Schurke, der ›galante Geck‹ ein alter Narr. Bald galt Vater Goriot nach Vautrins Ansicht, der sich zu jener Zeit im Hause Vauquer einmietete, als ein Mann, der an der Börse spekulierte. Bald hieß es, er sei ein Spieler, einer von den kleinen, die am Abend nicht mehr als zehn Franken verlieren oder gewinnen. Bald machte man ihn zu einem Polizeispion; aber Vautrin behauptete, daß er dazu nicht schlau genug sei. Auch für einen Wucherer hielt man den Vater Goriot und sagte, er leihe kleine Summen für hohe Zinsen aus, und ganz gewiß gehöre er zu jenen Leuten, die ihr Leben lang auf eine Lotterienummer setzen. Man traute ihm jede Schwäche und jedes Laster zu. Dennoch, wie empörend man sein Betragen und seine Lasterhaftigkeit auch fand, ging die Abneigung gegen ihn nicht so weit, ihn zu verbannen; er bezahlte ja immerhin seine Pension. Und dann war er ja auch dazu brauchbar, daß jeder seine gute oder schlechte Laune an ihm auslassen konnte, sei es durch leichten Witz oder bissigen Spott. Die einzig richtige Ansicht über ihn schien Frau Vauquer sich gebildet zu haben, und die wurde dann auch allgemein angenommen. Wenn man sie hörte, so war dieser wohlerhaltene und gesunde Mann – ›gesund wie mein Auge, ein Mann, an dem man noch viel Freude haben könnte‹ – ein lockerer Vogel, der gar seltsame Neigungen hatte. Auf welche Tatsachen stützte die Witwe Vauquer ihre Verleumdungen? Einige Monate nach dem Weggang jener niederträchtigen Gräfin, die sechs Monate auf ihre Kosten gelebt hatte, hörte sie eines Morgens vor dem Aufstehen das Rascheln eines Seidenkleides und den zierlichen Schritt einer jungen und zarten Frau, die zu Goriot hineinschlüpfte, dessen Tür sich verständnisvoll geöffnet hatte. Gleich darauf kam die dicke Sylvia, um ihrer Herrin zu melden, daß ein Mädchen, viel zu hübsch, um anständig zu sein, und gekleidet wie eine Fee, mit entzückenden hellen Stiefelchen, die nicht den geringsten Schmutzfleck aufwiesen, wie ein Aal ins Haus und an die Küchentür geschlüpft sei und sich nach der Wohnung des Herrn Goriot erkundigt habe. Frau Vauquer und ihre Köchin verlegten sich aufs Horchen und fingen einige zärtlich betonte Worte auf. Der Besuch währte geraume Zeit. Als Herr Goriot ›seine Dame‹ hinausgeleitete, nahm die dicke Sylvia sogleich ihren Korb und tat, als ginge sie zum Markt; sie folgte dem Liebespaar.

»Frau Vauquer,« sagte sie nach ihrer Rückkehr, »Herr Goriot muß verteufelt reich sein, um sie so auszustatten. Stellen Sie sich vor, daß an der Ecke der Estrapade ein wundervoller Wagen hielt, in den sie eingestiegen ist.«