Vater Mieter Mörder - Thomas Breidenbach - E-Book

Vater Mieter Mörder E-Book

Thomas Breidenbach

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Beschreibung

Toms Ehe steht auf Messers Schneide. Er wohnt mit seiner Frau Sandra und den drei Töchtern im Problembezirk in einem Hochhaus. Das ist anstrengend, die Lebensqualität gering und Sandras Laune verschlechtert sich von Tag zu Tag. Das rettende Ufer: die eigenen vier Wände. Doch die sind gar nicht so leicht zu bekommen … "Vater Mieter Mörder" ist eine Geschichte über Familie, Intrigen, Verrat, Täuschung, aber auch über Hingabe, Loyalität und Durchhaltevermögen. Es ist eine Geschichte über Generationenkonflikte und -gerechtigkeit, über zweite Chancen und wie sehr man sich in einem Menschen täuschen kann. Aber auch über die Liebe, die manchmal über Irrwege zu einem findet.

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Seitenzahl: 628

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2024 novum publishing

ISBN Printausgabe: 978-3-99146-707-6

ISBN e-book: 978-3-99146-708-3

Lektorat: Dr. Angelika Moser

Umschlagabbildungen: LOFT39Studio | Dreamstime.com; www.pixabay.com

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

www.novumverlag.com

Widmung

Für

Alexandra,

die mir

K. und T. geschenkt hat.

Prolog

Aus Wikipedia – Die freie Enzyklopädie: „Unter dem Begriff Ghosting (engl. „Geisterbild“, „Vergeisterung“) versteht man in einer zwischenmenschlichen Beziehung (Partnerschaft oder Freundschaft) einen vollständigen Kontakt- und Kommunikationsabbruch ohne Ankündigung. Obwohl vorher etwa Dates stattgefunden haben oder eine Beziehung bestand, laufen plötzlich jegliche Kontaktversuche ins Leere.

Geghostete werden in ihrem Selbstbewusstsein erschüttert und entwickeln Zweifel an ihrer eigenen Wahrnehmung.

Ghosting-Betroffene können ein Gefühl grundsätzlicher Verunsicherung erfahren oder unter ungünstigen Umständen in eine tiefe Krise geraten. Auch können sie die Angst des plötzlichen und scheinbar grundlosen Verlassenwerdens in nachfolgende Beziehungen mitnehmen. Traumata und Verlustängste können ebenfalls auftreten. In besonders harten Fällen kann es zu einem schwerwiegenden psychischen Schaden bis hin zu Suizidgedanken kommen. Das liegt daran, dass viele sich auch nach dem Abbruch einer kurzen Beziehung sehr verletzt fühlen. Wer auf diese Art und Weise verlassen wird, fühlt sich häufig entwertet, auch weil man dem anderen ja nicht mal mehr ein paar Worte wert war.“

1. Die Offenbarung

Tom holte tief Luft. „Stell dir vor, wir kommen nach Hause. In unser schönes, neues Haus. Die Kinder sind bei deiner Schwester. Der Eingangsbereich ist großzügig. Ich helfe dir aus dem Mantel. Im Kühlschrank wartet eine Flasche Sekt. Frische Weintrauben stehen auf der großen Kücheninsel, die frei im Raum steht. Alles ist hell, die Fenster sind riesig, der Fußboden angenehmes Eichenparkett, die Möbel in Weiß gehalten. Die Sonne steht tief und scheint bis weit in die Räume. Es wirkt ein wenig wie in einem Strandhaus. Ich setze mich auf einen der Barhocker. Du kommst zu mir, legst deinen Arm um meine Hüfte und steckst mir eine Weintraube in den Mund“, teilte Tom einen Tagtraum mit seiner Frau. Sandra atmete tief ein und hielt die Luft an. Sie lagen in ihrem Ehebett und die drei Kinder schliefen. Es war Sonntagabend, etwa 21 Uhr. „Es riecht süßlich im Haus. Es riecht nach dir und nach Zuhause. Eine schöne Eichentreppe führt in der Mitte des Hauses ins Obergeschoss. Ich greife deine Hand und ziehe dich langsam hinter mir her, die Treppe hinauf. Oben angekommen, gehen wir ins Bad. Das Bad ist riesig. Das schönste der ganzen Stadt! Mindestens! Überall stehen Kerzen, das Licht ist gedimmt, zartes Rosa strahlt gegen die weißen Wände. Ich knöpfe dir die Hose auf …“, Tom unterbrach seine Ausführungen abrupt, weil das schöne Luftschloss vom plärrenden Babyphon eingerissen wurde. Johanna machte Tieffliegeralarm. Das Baby verlangte nach seiner Mama.

„Hach, Kinder sind einfach das effektivste Verhütungsmittel …“, seufzte Sandra und quälte sich aus dem Bett.

„Das ist alles mit dem Kindergeld abgegolten, Schatz!“

„Du und deine blöden Sprüche“, seufzte Sandra und verließ das Schlafzimmer auf leisen Sohlen. Tom blieb allein zurück. Irgendwie hatte er den Eindruck, dass Sandra regelrecht erleichtert darüber war. Sie hatten schon gefühlt ewig nicht miteinander geschlafen. Tom kroch auf dem Zahnfleisch, doch Sandra schien es nicht zu vermissen. Er steigerte sich ein wenig in diesen Verdacht hinein und wurde immer unruhiger. Er wartete ewig, doch aus dem Babyphon kam noch stundenlang Gemurmel des Säuglings.

„Seid fruchtbar und mehret euch, haben sie gesagt, diese Sadisten …“, flüsterte er leise zu sich selbst. Irgendwann schlief er einfach darüber ein.

Am nächsten Tag, es war ein Montag, hatte Tom am Nachmittag einen Banktermin. Es ging darum, einen Kredit zu ergattern, um damit ein Haus zu kaufen. Der Bankberater war ein Mittfünfziger mit ordentlichem Plus an Figur. Er stank nach billigem Aftershave und Nikotin sowie Alkohol-Ausdünstung. Er hatte praktisch keine Haare mehr auf dem Kopf und schwitzte elendiglich. Nachdem Tom die Finanzen der Familie und interessante Objekte vorgestellt hatte, begann der Bankberater krampfhaft damit, Tom zu überreden, doch etwas Günstigeres zu kaufen – eine Ruine sozusagen.

„Die können Sie dann ja renovieren, während Sie schon drinnen wohnen“, schlug er vor.

„Sanieren“, korrigierte Tom. „Solche Häuser muss man sanieren. Nein, danke. Das kommt für uns nicht in Frage. Wir haben drei kleine Kinder. Jahrelang in einer Ruine wohnen, das geht nicht“, fuhr er fort. In einer Ruine wohnten sie außerdem schon und sein handwerkliches Geschick konnte mit den Ansprüchen seiner Frau ohnehin nicht mithalten. Mit drei kleinen Kindern war außerhalb der Elternzeit, in der er zurzeit war, sowieso keinerlei Raum für derartige Sperenzchen. Das ging eine ganze Weile so hin und her, bis Tom schließlich aufstand, sich bedankte und verabschiedete. Er hatte genug gehört. Was für eine Demütigung! Der Bankberater hatte sich sichtlich zusammenreißen müssen, ihn nicht lauthals auszulachen. Tom hatte einen finanziellen Striptease hingelegt und statt tosenden Applauses nur Schulterzucken geerntet. Dabei wollte er doch lediglich einen Kredit für ein Haus in einer Vorstadt seiner rheinischen Heimatmetropole. Nichts Spektakuläres, ohne Türmchen oder Pool – einfach bloß die eigenen spießigen vier Wände, von denen alle jungen Familien träumten. Wie sollte er das Sandra erklären? Sie hatte schon Pläne geschmiedet: Kräutergarten, Hobbyraum, das ganze Programm. Und er redete ihr auch seit Monaten, ja sogar seit Jahren, den Mund wässrig. Stattdessen war jetzt weiter Platte angesagt. Denn Tom bewohnte mit seiner Frau Sandra und den Töchtern Marie, Elena und Johanna eine Vier-Zimmer-Küche-Bad-Wohnung im zehnten Stock eines »Sozialbaus« der 1960er Jahre. Ein Traum in Waschbeton – mit nächtlichem Lärm, Müllbergen, Drogenabhängigen, wöchentlichen Polizeieinsätzen und allem, was dazugehörte. Dafür gab es keinerlei Verschattung an den Fenstern der oberen Stockwerke. Toms Wohnung befand sich direkt unter dem Flachdach, das mit Dachpappe gedeckt war. Dementsprechend stieg die Temperatur im Sommer oft bis auf über 30° C. Im Winter war es dafür eiskalt, wenn nicht permanent die Heizungen auf höchster Stufe bollerten. Auf jedem Balkon gab es eine Satellitenschüssel, auf vielen hing die Fahne der Herkunftsländer der Bewohner. Fast überall stapelten sich Sperrmüll und anderer Unrat auf den Balkonen. Dazwischen saß oft jemand und rauchte. Es war die in Beton gegossene Trostlosigkeit. Seit Jahren legten Tom und Sandra deshalb jeden Cent, der übrig blieb, auf die hohe Kante, um das nötige Eigenkapital zusammenzukratzen und damit ein Eigenheim »Im Grünen« zu kaufen. »Im Grünen« hieß in ihrer Preisklasse jedoch eher »An der Bahnlinie und Kläranlage« – doch all das wäre besser gewesen als die Platte. Die Suche dauerte jetzt schon fast fünf Jahre. Sobald sie schwanger gewesen war, hatte bei Sandra der ultimative Nestbautrieb eingesetzt.

Tom fuhr mit dem Fahrrad von der Bank nach Hause und dachte darüber nach, wie er Sandra die Enttäuschung beibringen sollte. Tom und Sandra waren beide Anfang dreißig und hatten vor sieben Jahren geheiratet. Um Geld für ein Eigenheim zu sparen, hatten sie die Hochzeit nur im ganz kleinen Kreis und ohne Prunk gefeiert. Und sie hatten sehr spartanisch gewohnt und gelebt. Obwohl Sandra ebenfalls Ingenieurin wie Tom war, verdiente sie deutlich weniger. Sie schaffte es einfach nicht, ihre Leistungen ins rechte Licht zu rücken, und fragte in Mitarbeitergesprächen grundsätzlich nicht nach mehr Gehalt. Und so blieb sie jahrelang bei ihrem Einstiegsgehalt, das kaum über dem lag, was eine Sekretärin verdiente. Tom hatte irgendwann aufgehört, ihr deswegen Ratschläge zu geben oder Vorwürfe zu machen. Das hatte immer nur für schlechte Stimmung gesorgt. Er liebte sie über alles und wollte es ihr, wann immer möglich, so komfortabel wie möglich gestalten. Als dann ihre erste Tochter Marie geboren wurde, hatte sich das Thema ohnehin erst einmal erledigt. Sandra wollte ursprünglich warten mit dem Kinderkriegen, bis sie ein Haus gekauft hatten, hatte sich dann aber umentschieden. Zu groß war ihre Angst, aufgrund fortgeschrittenen Alters keine Kinder mehr bekommen zu können oder Fruchtbarkeitsbehandlungen über sich ergehen lassen zu müssen. Doch auch Tom trat, was sein Gehalt anging, seit Jahren auf der Stelle. Er wurde immer wieder vertröstet:

„Die Abteilung ist ohnehin schon viel zu teuer. Du weißt schon, die ganzen Altverträge der älteren Kollegen aus der guten alten Zeit“, erklärte sein Chef ihm gebetsmühlenartig in jedem Mitarbeitergespräch. Tom empfand es als furchtbar ungerecht, dass die Kollegen, die doppelt so alt waren wie er und dafür nur halb so schnell arbeiteten, teilweise das Doppelte verdienten. Er fühlte sich schlicht betrogen. Doch mit drei Kindern war es nicht so einfach, sich beruflich neu zu erfinden, zumal Sandra ihm nicht gerade offensiv den Rücken dafür freihielt. Im Gegenteil: Er war es, der sie stützte.

An einer Kreuzung bog Tom von seinem Heimweg ab, um seinem Onkel Til einen Besuch abzustatten. Onkel Til wohnte in einem Altenheim der Arbeiterwohlfahrt am Ende einer Sackgasse namens Steinweg. Es war das einzige Altenheim der ganzen Stadt mit Tiefgarage. Aus irgendeinem, für Tom nicht nachvollziehbaren Grund waren die Betreiber unendlich stolz darauf und warben offensiv damit. Der Steinweg war bis auf das Altenheim gesäumt von Einfamilienhäusern – Toms Objekten der Begierde. Seinen Neid herunterschluckend radelte er zügig an den spielenden Kindern vorbei. Eigentlich spielten die Kinder nicht richtig. Die Kinder des satten oberen Mittelstandes dieser Siedlung starrten stattdessen auf ihre Smartphones. Aber weil die Cappuccino-Muttis das so wollten, taten sie es wenigstens »an der frischen Luft«. Tom stellte sein Fahrrad im Fahrradständer vor dem Haupteingang des Altenheims ab. Die automatische Doppel-Schiebetür öffnete sich und Tom schlug ein Schwall Kaffee- und Urin-Geruch entgegen. Er fing routiniert eine »flüchtende« ältere Dame ab, die wild entschlossen zur Tür heraus marschierte.

„Aber ich muss doch zum Unterricht! Meine Schüler warten auf mich!“, protestierte die sichtlich verwirrte Frau.

„Aber Frau Specht, Sie wissen doch, dass Sie heute frei haben. Es sind schließlich Ferien!“, erwiderte Tom. Frau Specht war eine Bewohnerin auf Onkel Tils Station und fast einhundert Jahre alt. Früher war sie offensichtlich Lehrerin gewesen. Immer wieder wurde Tom von ihr gelobt, er sei heute brav gewesen und müsse deswegen keine Hausaufgaben machen. Er ging im Altenheim seines Onkels beinahe täglich ein und aus und hatte dort früher als Zivildienstleistender gearbeitet. Tom bedankte sich herzlich, lieferte Frau Specht an der Rezeption des Altenheims ab und schwor sich wieder einmal, sich beim ersten Anzeichen einer Demenz auf der Stelle zu erschießen.

Er hörte sie den Gang hinunter noch lautstark singen, »Kölsche Mädcher, kölsche Junge, sin dem Herrjott jot jelunge!«.

„Meister aller Klassen!“, begrüßte Onkel Til ihn. Tom erzählte von Frau Specht und seinem Plan, dem Alzheimer mit Suizid zuvorzukommen.

„Aber wie willst du das denn anstellen, Junge? Hast doch nicht mal ’ne Kanone!“, antwortete Onkel Til darauf. „Obschon du natürlich eine Kanone in der Platte leicht kaufen könntest. Du weißt schon, wo.“

Tom umarmte den »alten Sack«, wie Onkel Til sich selbst nannte, und erzählte vom Bankberater.

„Das war dieser Schröder, oder? Ist ’ne ganz miese, linke Socke, der Typ! Kloppt sich sicher heut Abend einen drauf …“, schimpfte Onkel Til wie ein Seemann. Er war tatsächlich eine Art Seemann, das betonte er stets, war er doch früher Schlepper im Rheinhafen der Stadt gefahren. Dass das nur die halbe Wahrheit war, sollte Tom bald erfahren.

„Jetzt schiebe ich statt Kohlenfrachtern meinen beschissenen Rollator durch die Gegend! Is’ doch scheiße!“, pflegte er in regelmäßigen Abständen zu fluchen. War auch scheiße, fand Tom. Aber immerhin war Onkel Til sich treu geblieben und sein Verstand scharf wie die Klingen seiner Messer. Onkel Til hatte ein Faible für schöne, scharfe, ausgefallene Messer. Doch weil sie im Altenheim verboten waren, hatte er sie zu Tom ausgelagert. Sandra hatte das gar nicht gepasst.

„Wir haben zwei kleine Kinder, was zur Hölle sollen wir mit einer Messersammlung!?“, hatte sie geschimpft. Johanna war damals noch nicht geboren gewesen. Onkel Tils Messersammlung füllte den halben Keller – Tom behauptete gegenüber seinem Onkel aber stets, die Messer lägen im Wohnzimmerschrank und zeigte zum Beweis gestellte Fotos auf seinem Handy. Die wertvollsten Messer lagerte er tatsächlich, jedoch eher aus Angst vor Diebstahl, auf dem Wohnzimmerschrank. Er und Sandra lagerten alles Gefährliche dort oben – außer Reichweite der Kinder.

„Messer verarschen dich wenigstens nicht, Tom!“, redete sich Onkel Til in Rage und Tom versuchte, das Gespräch wieder einzufangen.

„Wenn ich nur wüsste, was ich tun kann! Ich meine, die Situation ist katastrophal: Es gibt Interessenten ohne Ende, aber kein Angebot“, erklärte er.

„»Sozialismus braucht den Mangel«, Junge! Ich sollte mir diesen Spruch einrahmen und an die Wand hängen“, fiel Onkel Til ihm ins Wort. „Außerdem seid ihr jungen Leute doch selbst schuld! Wer wird denn heute noch Handwerker? Von »Irgendwas mit Medien« und diesem ganzen neumodischen Firlefanz werden jedenfalls keine Steine zu einem Haus zusammengezaubert!“

„Die brauchbaren Häuser wechseln unter der Hand im Familien- und Bekanntenkreis den Besitzer. Und wenn mal ein Haus auf den Markt kommt, dann werden mindestens 600.000 Euro dafür aufgerufen – und dann ist das eine Ruine. Wir haben aber nicht einmal 50.000 Euro auf der hohen Kante. Die Bank möchte aber mindestens die Nebenkosten in Höhe von 15 bis 20 % als Eigenkapital haben. Wir legen im Jahr rund 10.000 Euro zurück, aber die Preise steigen jedes Jahr um 15 %.“

„Ja, ja, ja, ich hab’ schon verstanden: Deine Armut kotzt dich an!“, unterbrach Onkel Til ihn. „Aber diese ganzen Zahlen, Junge, Junge, da schwirrt mir der Kopf!“

„Das entspricht 90.000 Euro im Jahr beim Kaufpreis oder 13.500 bis 18.000 Euro beim Eigenkapital. Das bedeutet: Wir können nicht gegen diese Preissteigerungen ansparen und ja: Es kotzt mich an! Mit Renovierung müssten wir einen Kredit über 800.000 Euro aufnehmen. Bei anfänglicher Tilgung von 2 % …“

„Das klingt nach einem Gendefekt, Junge. Solltest du mal untersuchen lassen!“, empfahl Onkel Til und grinste dabei. Tom sah ihn furchtbar ernst an. Onkel Til kratzte sich am Kopf.

„Bist du jetzt endlich fertig mit deinem Zahlensalat? Was willst du mir sagen?!“

„Ich arbeite mir den Arsch wund, aber ich kann mir nicht mal ’nen Porsche leisten! Die älteren Kollegen arbeiten halb so viel, bekommen dafür doppelt so viel. Wo bleibt da die Generationengerechtigkeit? Außerdem wohnen sie alle in abbezahlten Häusern und ich zur Miete in der Platte!“

„Verstehe. Es war noch nie leicht, an anderer Leute Geld zu kommen! Sieh mal: Es ist doch gar nicht politisch gewollt, dass Leute wie du und ich ein Eigenheim haben. Wegen der Flächenversiegelung und so! Du gehörst zu den Leuten, die man wohl »Durchmischer« oder so was in der Art nennt“, redete Onkel Til in Toms Augen wirres Zeug.

„»Durchmischer«? Barkeeper, oder was?!“, witzelte Tom, weil er nur Bahnhof verstand.

„Überleg mal: Wenn in der Platte nur noch der Bodensatz wohnt, dann fällt der Kotten doch bis Ende des Jahres auseinander. Es braucht in Vierteln wie diesen auch Leute mit stärkerem Einkommen, aus bürgerlicheren Schichten, die den Laden sprichwörtlich am Laufen halten“, erklärte Onkel Til. Tom guckte ihn furchtbar ernst an. „Dawohnt nurder Bodensatz! Die Budefälltauseinander! Wie auch immer. Das ist mir zu sehr Verschwörungstheorie! Wo ist mein Aluhut?!“, winkte Tom ab.

„Denk mal an diesen Film! Wie hieß der noch? »Icepiercer«?!“, fragte Onkel Til.

„»Snowpiercer«“, korrigierte Tom ihn.

„Richtig! »Snowpiercer«! Da brauchen sie doch immer diese kleinen Jungs, um in der großen Maschine irgendetwas am Laufen zu halten. Genauso ist es bei uns auch: Die Armen werden gebraucht! Es ist nicht gewollt, dass sie wohlhabend werden. Sie sollen Vermietern Rendite verschaffen. Sie sollen die Drecksarbeit erledigen. Und sie sollen Wählerstimmen bringen, wenn sie vom Staat abhängig sind.“

„Mag alles sein. Aber das bringt mich nicht weiter. Ich brauchemehrGeld!“, wandte Tom ein.

„Du könntest Zeitungen austragen, nebenbei, mit den Kindern zusammen“, schlug Onkel Til vor und grinste schelmisch.

„Zeitungen austragen ist doch völliger Mist. Da kann ich mich auch vorne an die Ampel stellen und zur Unterhaltung der Autofahrer mit leeren Bierdosen jonglieren, da kommt mehr bei rum“, antwortete Tom sarkastisch und zeigte seinem Onkel den Vogel.

„Als ob du jonglieren könntest!“, widersprach Onkel Til.

„Kann auch nicht schwieriger sein, als mit einem Dietrich ein Schloss zu knacken“, antwortete Tom und zuckte mit den Schultern.

„Was ist mit Sandras Eltern? Können die euch nicht aushelfen? Ich dachte, die haben Geld wie Heu?“

„Das will Sandra nicht. Sie haben immer gesagt, sie soll nicht mich heiraten, sondern einen reichen Schnösel. Und sie haben Sandra schon immer finanziell am langen Arm verhungern lassen. Sie solle auf eigenen Beinen stehen! Auf denen eines reichen Ehemanns. Was für ein Schwachsinn! Außerdem tanzen die immer noch in Timbuktu um den Heiligen Bimbam, oder weiß der Teufel, was die machen“, seufzte Tom.

„Die sind immer noch auf Weltreise? Seit wie lange jetzt? Fünf Jahre?“

„Ich glaube, es sind bald sogar sechs. Sie haben die Mädchen noch nie gesehen und bei unserer Hochzeit waren sie auch nicht“, erklärte Tom.

„Du hast wirklich die merkwürdigsten Schwiegermonster der Welt. Sollten die dir nicht das Leben ordentlich aktiv zur Hölle machen?!“

Es herrschte eine Weile Stille.

„Angebot und Nachfrage!“, sagte Onkel Til schließlich. „Man müsste entweder das Angebot erhöhen oder die Nachfrage verringern …“, Onkel Til kratzte sich erneut am Kopf.

„Was meinst du? Soll ich etwa jeden Interessenten für unser Haus abmurksen!?“, fragte Tom mehr im Scherz. »Unser Haus«, das war das Luftschloss, mit dem Tom und Sandra sich gegenseitig bei Laune hielten. Das Ganze hatte bereits solche epischen Ausmaße angenommen, dass die beiden öfters vergaßen, dass sie gar kein konkretes Haus im Auge, geschweige denn eines gekauft hatten.

„Schwierig! Du müsstest sie genau abpassen, das Zeitfenster bei Hausbesichtigungen ist kurz, es gibt haufenweise Zeugen und so weiter. Keine gute Gelegenheit für einen Mord“, stellte Onkel Til fest und bekam einen seiner Hustenanfälle.

„Was verstehst du schon vom perfekten Mord!?“, machte Tom sich über Onkel Til lustig, nachdem der aufgehört hatte, zu husten. Onkel Til war Toms Ersatzvater, seit Toms echter Vater, Onkel Tils jüngerer Bruder, sich mit seiner Mutter zerstritten und kurz darauf selbst umgebracht hatte. Tom war gerade mal zehn Jahre alt gewesen. Dementsprechend war Tom Onkel Til sehr dankbar und besuchte ihn täglich im Altenheim. Tom hatte Gerüchte über seinen Onkel gehört: Angeblich war er nicht der biedere Schlepper-Skipper im Hafen gewesen, sondern eine Rotlichtgröße. Doch Tom hatte davon nie etwas mitbekommen und glaubte den Gerüchten deshalb nicht.

„Nerven liegen blank, wa? Sandra dreht sicher durch!? Nimmste auch einen!? Du darfst auch »Nein« sagen“, fragte Onkel Til grinsend und füllte Tom Schnaps in ein Glas, noch bevor dieser geantwortet hatte.

„Hast du nicht immer gesagt, Sorgen könnten schwimmen?“, fragte Tom etwas überrascht.

„Ach, heute wollen wir sie mal ein bisschen strampeln lassen!“, antwortete Onkel Til und zwinkerte ihm zu. Sie stießen an und tranken. Tom verlor kurzzeitig die Kontrolle über seine Gesichtszüge.

„Was zur Hölle ist das denn? Bremsenreiniger?!“

„Oh, einer meiner Mithäftlinge, Peter, brennt ab und zu selbst – im Bad, hier im Altenheim. Er teilt sein edles Tröpfchen mit mir – ein feiner Kerl. Im Gegenzug erzähle ich niemandem von den leichten Mädchen, die er sich aufs Zimmer kommen lässt. Ja, Junge, hier geht es schaurig durch die Lande, da muss man sehen, wo man bleibt!“, erklärte Onkel Til und zwinkerte Tom zu. „Luisa hat mir gestern auch endlich meine Schnapsgläser von Peter zurückgebracht. Wenn du dem etwas leihst, ich sag’ es dir, da musst du schon die Katze dran binden, damit es wieder zurückkommt …“

Luisa war eine Altenpflegerin. Onkel Til erzählte noch eine Weile weiter von seinen »Mithäftlingen«, wie er die anderen Bewohner des Heimes nannte. Tom war es in dem Augenblick jedoch völlig egal, wer sich Prostituierte bestellte, wer sich wann in die Hosen gemacht hatte oder versucht hatte, zu flüchten. Ihm ging nur ein Gedanke durch den Kopf: Wenn er das Angebot der Nachfrage so weit anpassen könnte, dass es ein Überangebot gab, würden sich doch die Preise reduzieren. Tom sah auf die Uhr. Es war Zeit, heimzufahren.

„Du gehst das viel zu verbohrt an, Junge. Wenn ihr jetzt ein Haus kauft, brennt sie in ein paar Jahren mit einem anderen durch und du stehst mit leeren Händen da. Überleg doch mal: Was haben Frauen und Handgranaten gemeinsam? Ziehst du den Ring ab, ist das Haus weg!“, erklärte Onkel Til und sah Tom dabei todernst an, um dann lauthals loszulachen.

„Du hättest dein Gesicht sehen sollen, Junge!“, lachte er weiter. Tom lächelte verlegen.

„Tja, ich hab’ dir ja schon damals gesagt: Einer der fünf Pfeiler für eine solide Altersvorsorge ist, reich zu heiraten. Für ’nen armen Vater, oder in deinem Falle Onkel, kann man nichts, für ’nen armen Schwiegervater schon!“, plapperte Onkel Til weiter.

„Ichhabe’nen reichen Schwiegervater. Leider einen knausrigen“, antwortete Tom zähneknirschend. Plötzlich ging die Tür auf und Luisa, die Altenpflegerin, kam herein.

„So, Junge, ich werfe dich jetzt raus, obschon ich gern noch ein Weilchen mit dir philosophiert hätte, muss ich jetzt zum Bingo-Nachmittag. Mal sehen, ob ich heute die heiß begehrte, legendäre »Baggerfahrt durch die Eifel« gewinne.“

Tom verabschiedete sich von Onkel Til und machte sich auf den Heimweg zu Sandra und den Kindern. Sein Fahrrad knackste in den Pedalen. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis sie den Geist aufgaben. Tom wurde aus seinen Gedanken gerissen, weil ihm ein Smartphone-Teenager-Zombie direkt vor das Fahrrad lief. Er bremste scharf in der Kurve, verlor die Kontrolle über sein Fahrrad und fiel ein paar Meter weit in ein Gebüsch am Straßenrand. Sofort kam eine Meute Kids mit Smartphone angerannt und fing an, zu filmen, wie Tom sich aus dem Gebüsch zu befreien versuchte.

„Hat wohl gesoffen der Alte. Ich riech’s bis hier hin!“, prahlte einer der Halbstarken.

„Und das soll jetzt das Fortbewegungsmittel der Zukunft sein?!“, fragte eine Jugendliche und verzog das Gesicht.

„Ich wünsch’ euch auch ’nen beschissenen Tag!“, bedankte sich Tom und schwang sich auf sein leicht verzogenes Rad. Diese Wohlstandsgören haben ja keine Ahnung, dachte er und radelte deutlich langsamer die Straße entlang.

2. Die Beichte

Sandra war alles andere als begeistert. „Wird also nix? Na toll, Tom! Hab’ ich dir doch gleich gesagt! All das Gespare, all das Gelaber, alles für den Arsch!“, schimpfte sie und schnaufte, als Tom ihr die frohe Botschaft verkündet hatte.

„Er hat halt gemeint … mit nur einem Einkommen und drei Kindern … da wird das bei den derzeitigen Preisen nix. Gibt halt kein Angebot und so. Hocken alle in ihren Buden, bis der Arsch im Sarge liegt“, antwortete Tom schulterzuckend. Sandra musste kurz lachen, dann boxte sie ihn in den Bauch, umarmte ihn und sie blieben gefühlte fünf Minuten so stehen. Sandra war ein Feger gewesen, ein Traum von einer Frau, eigentlich viel zu anspruchsvoll für ihn, fand Tom oft. Er war zwar auch attraktiv, ordentlich durchtrainiert, ein markantes Gesicht mit Vollbart, doch sie spielte in einer anderen Liga als er. Die Jahre, das Stillen, der Schlafentzug, die Kinder, der Stress des Alltags und die Platte hatten schließlich aus dem Schmetterling eine Raupe gemacht. Sandra ließ sich oft gehen, naschte zu viel, trieb keinen Sport mehr und wurde von Tag zu Tag runder. Dennoch war Tom noch immer sehr verliebt in sie und würde alles für sie tun. Schließlich löste Sandra sich aus der Umarmung.

„Dieses »Haus« macht mich verrückt. Jeden Tag ist etwas anderes kaputt. Jeden Tag randaliert ein anderer Nachbar. Gerne auch mal alle zusammen. DieserscheißAufzug ist so oft kaputt, dass ich mich schon nicht mehr traue, ihn zu benutzen. Rund um dieses Haus stapelt sich der Müll. Es gibt mehr Ratten als Singvögel. Wir haben nicht genug Platz. Ich kann nicht mal abends duschen, weil diese Bruchbude zu hellhörig ist. Ich will meine Ruhe und Rückzugsraum! Ich halte es nicht mehr aus! Was ist mit dem schönsten Badezimmer der Stadt!? Alles nur Luftschlösser! Und meine Freundinnen wohnen in ihren schicken Häusern, bombardieren mich mit Fotos und Geschichten, wie toll das ist, wenn man Platz hat und einen Garten und zwei Bäder und, und, und …“, hielt sie Tom nach einer Weile die übliche Bergpredigt. Er sagte nichts dazu.

„Und hier? Alles ekelhaft, alles voller Kippen, Müll und Junkies! Das ist doch kein Ort, um Kinder großzuziehen! Ich halte es nicht mehr aus! Ich will hier raus!“

Ein paar Tage zuvor waren sie mit den Kindern auf der Wiese hinter dem Haus gewesen, um dort zu spielen und das Baby Johanna ein wenig im Gras krabbeln zu lassen. Doch es dauerte keine dreißig Sekunden, da hatte Johanna einen Zigarettenstummel im Mund. Zigarettenstummel sind giftig bis tödlich für Säuglinge und Kinder. Sie hatten regelrecht in Kippenstummeln gesessen. Die ganze Wiese war voll, weil es beliebter Hausbewohner-Sport war, die Fluppen im hohen Bogen vom Balkon zu schnipsen. Tom und Sandra fanden es einfach widerlich. Und es war ein weiterer Sargnagel in Sandras Stimmung. Ihre Wut wechselte zu Trauer und ein paar Tränen kullerten ihr die Wangen hinunter.

„Hast du mit Til geredet? Wegen den scheiß Messern!? Marie hat sich schon wieder eins gemopst vorhin. Ich schmeiße die blöden Dinger auf die Straße! Ich hab’ die Schnauze voll!“, wechselte sie urplötzlich das Thema.

„Wie ist sie denn da drangekommen?!“, fragte Tom sichtlich verwundert.

„Na wie immer: Hat sich einen Stuhl genommen, ist am Schrank hochgeklettert …“, erklärte Sandra. Tom wiegelte ab und unterbrach Sandras Erklärung.

„Die Kinder und ich haben schon gegessen. Zeit fürs Bett!“, fuhr sie fort und machte eine Handbewegung, als gelte es, eine Festung mit Mistgabeln und Pechfackeln zu stürmen.

„Wer drei Mal A sagt, muss auch drei Mal B sagen“, seufzte Tom. Mit drei kleinen Kindern war der Alltag von ihm und Sandra stark durchgetaktet. Sie hatten sich bei der Arbeit kennengelernt und arbeiteten beide als Ingenieure bei einem Maschinenbaukonzern am Stadtrand. Sandra pausierte seit nunmehr über vier Jahren, hatte nach dem zweiten Kind mal kurz ein paar Wochen gearbeitet, doch wegen der dritten Schwangerschaft und andauernder Krankheit der ersten beiden Kinder wieder abgebrochen. Tom war in Elternzeit, um seine körperlich und seelisch hart angeschlagene Frau zu unterstützen. Ihr Deal war, dass Sandra sich um das Baby kümmerte und Tom um Marie, vier Jahre alt, und Elena, zwei Jahre alt. Er versuchte, seine Frau zu entlasten, wo es nur ging. Doch was er auch machte, es war nie gut genug: Die Wäsche war nicht akkurat genug gefaltet, das Essen nicht würzig genug, die Reihenfolge von was auch immer falsch, die falsche Temperatur im Geschirrspüler, vergessen, den Müll rauszubringen und so weiter. Als sie noch keine Kinder hatten, hatten sie die Hausarbeit ziemlich halbe-halbe geteilt und keine Probleme dieser Art gehabt. Erst mit dem Elternsein fingen diese Dinge plötzlich an, für Sandra die Welt zu bedeuten. Tom war sich sicher, dass es ihre Art war, dem Alltagsstress zu begegnen, dem Chaos mit perfekter Ordnung entgegenzuwirken. Doch er war nicht in der Lage, ihr zu vermitteln, dass ein Großteil ihres Stresses von diesen völlig überzogenen Vorstellungen herrührte. Der Gipfel des Ganzen war der Traum vom Eigenheim. Mit dem Eigenheim waren in Sandras Vorstellung alle Probleme auf magische Art und Weise plötzlich in Luft aufgelöst. Und so pushte sie Tom, wo es nur ging. Er schnappte sich Marie und Elena und dirigierte sie zum Zähneputzen ins Bad, drückte den beiden ihre Zahnbürsten in die Hand und quetschte den letzten Rest aus der Zahnpastatube darauf. Marie fing an zu putzen. Elena kaute mehr auf der Zahnbürste herum. Die sah durch das ewige Darauf-Herumgekaue schon aus wie jemand, der in die Steckdose gefasst hat. Als Marie fertig war, putzte Tom ihr die Zähne nach. Anschließend war Elena dran. Die zappelte dabei jedoch so herum, dass Tom ein regelrechtes Tänzchen aufführen musste, um ihr die Zähne final zu putzen. Dann sagten die Mädchen ihrer Mama gute Nacht und Tom brachte sie ins Bett. Die beiden teilten sich ein Kinderzimmer und er las ihnen noch eine Geschichte vor. Da es schon recht spät war, schliefen sie Gott sei Dank zügig ein. Elfengleich lupfte Tom auf Zehenspitzen aus dem Zimmer und schloss die Tür, die dabei bedrohlich knarrte. Doch keine der beiden wachte auf. Dann ging er in das andere Kinderzimmer, gab Johanna und Sandra einen Gute-Nacht-Kuss und verschwand dann ins Schlafzimmer. Er hatte nichts gegessen und nicht mal Zähne geputzt. Und so flog er mitsamt seiner Klamotten ins Bett, entledigte sich gerade noch der Jeans und der Socken, zog sich die Bettdecke über den Kopf und schlief binnen weniger Sekunden ein.

3. Die Bruchbude

Die Platte war ein gigantischer Gebäudekomplex. Hochgezogen in den frühen Sechzigern des 20. Jahrhunderts, um die Wohnungsnot nach dem Krieg und während des Wirtschaftswunders zu lindern. Hier lebten mehr als 200 Familien aus 50 Nationen Tür an Tür und Wand an Wand. Tom war hier aufgewachsen und kannte es kaum anders. Er hatte Sandra überredet, dort einzuziehen, weil es unschlagbar günstig war. Damit wäre es einfacher, Eigenkapital anzusparen, hatte er ihr versprochen. Doch im Alltag war die Platte anstrengend. Ihre Wohnung lag im zehnten, dem obersten Stockwerk des Hochhauses. Darüber gab es noch ein Halbgeschoss mit Waschmaschinen- und Trockenraum. Der Aufzug war so oft kaputt, dass man besser die Treppe nahm, wenn es wichtig war, zeitnah oben oder unten anzukommen. Die Nachbarn waren meist so sehr mit sich selbst und ihrem Elend beschäftigt, dass sie tagsüber nicht dazu kamen, Regale aufzuhängen, und diese Arbeiten dann vorzugsweise nach Mitternacht erledigten. So auch diese Nacht. Tom schreckte hoch, weil die Kinder alle drei gleichzeitig anfingen, zu weinen. Aus dem Tiefschlaf geweckt zu werden, fühlte sich jedes Mal mehr an wie Folter. Es dauerte einen Moment, dann kapierte er, warum die Kinder weinten und schrien: In der Nachbarwohnung bohrte jemand ein Loch nach dem anderen in die Wand. Es war die Wand, die das Kinderzimmer von Marie und Elena von der Nachbarwohnung trennte, da war Tom sich sicher. Er kannte die Akustik in der Platte von klein auf. Er zog sich Hausschuhe an und schwang sich den alten Baseballschläger von Onkel Til über die Schulter. Der Baseballschläger trug die etwas in die Jahre gekommene Aufschrift »Meinungsverstärker«. Es war schon das vierte Mal innerhalb weniger Tage, dass die Verrückten aus der Nachbarwohnung mitten in der Nacht anfingen zu bohren. Tom verließ die Wohnung. Die Kinder plärrten noch immer, doch sie zu beruhigen, hatte keinen Sinn, solange noch gebohrt wurde. Tom klingelte Sturm, woraufhin der Bohrlärm schlagartig verstummte. Es dauerte eine Weile, bis jemand öffnete. Als die Tür aufging, schlug Tom ein Schwall Haschischgeruch entgegen.

„Hi, könnt ihr bitte mit dem Bohren aufhören? Normale Leute schlafen um diese Zeit!“, sagte er freundlich, aber bestimmt. Der Nachbar, ein junger Mann von vielleicht Anfang 20, sah ihn mit riesigen Pupillen an.

„Das waren wir nicht, Mann!“, antwortete er ziemlich stoned. Tom zog die Augenbrauen hoch.

„Natürlich wart ihr das nicht …“, antwortete Tom. „Auch wenn ihr es nicht wart, hört bitte trotzdem damit auf. Danke.“

Er drehte sich um und ging zurück in seine Wohnung. Tom und Sandra hatten die Kinder gerade einigermaßen beruhigt und wieder am Schlafen, da ging erneut der Höllenlärm los. Tom war im Kinderzimmer der beiden Mädchen und spürte den Bohrer regelrecht in seinen Kopf vordringen. Wieder schnappte er sich Onkel Tils Meinungsverstärker. Wieder klingelte er Sturm. Wieder dauerte es eine Weile, bis jemand öffnete.

„Was stimmt mit dir nicht, Alter!?“, schimpfte der Kiffer. Tom holte tief Luft, stieß ihn mit dem Meinungsverstärker zur Seite und betrat die Wohnung. Dann bog er rechts ab in das Zimmer, wo er den Bohrer vermutete. Volltreffer – der zweite Kiffer war dabei, ein völlig verkorkstes, schiefes Regal aufzuhängen. Tom nahm die Bohrmaschine, riss das Kabel aus der Steckdose, öffnete das Fenster und warf die Bohrmaschine aus dem Fenster im zehnten Stock.

„Gute Nacht!“, wünschte er und verließ die Wohnung wieder. Die beiden Experten standen mit offenem Mund da und sahen ihm ungläubig nach.

Doch wie zur Strafe für seine harte Reaktion schien sich die Platte am nächsten Morgen gegen ihn verschworen zu haben. Sandra entdeckte Schimmel an den Wänden der Räume, die das Bad umgaben. Tom machte sich selbst ein Bild von der Lage und kam zu dem Ergebnis, dass irgendwo aus einem Rohr Wasser auszutreten schien. Tom griff zum Handy – das Festnetz funktionierte schon eine ganze Weile nicht mehr, weil jemand im Keller den Kabelstrang durchtrennt hatte – und wählte die Hotline der Hausverwaltung. Er hatte sie in den letzten Jahren so oft gewählt, dass er sie schon auf Kurzwahl hatte. Es ging natürlich zunächst ein Computer dran. Doch Tom hatte seine ganz eigene Methode dafür.

„Ich hätte gern eine Portion Currywurst mit Pommes“, sagte er ins Telefon.

„Tut mir leid. Ich habe Sie nicht richtig verstanden“, antwortete die Computerstimme und sagte erneut das Menü auf. Tom bestellte ein zweites Mal Currywurst mit Pommes, dann gab der Computer auf und platzierte ihn in der Warteschleife, um mit einem Mitarbeiter zu sprechen. Während er wartete, lief er mit dem Handy in der Wohnung herum und versuchte, Ordnung in das Chaos zu bringen. Überall lagen Spielzeuge und getragene Wäsche herum.

„Hausverwaltung Blitz, Sie sprechen mit Maria“, plärrte es plötzlich aus dem Lautsprecher des Telefons. Tom hatte einige Mühe, der Dame am Telefon zu erklären, was Sache war.

„Sie müssen besser lüften!“, empfahl sie. Tom verlor kurz die Fassung, riss sich jedoch zusammen.

„Unser Bad hat kein Fenster“, antwortete er nüchtern.

„Oh, äh, ja, dann muss wohl jemand gucken“, stimmte Sie schließlich in gebrochenem Deutsch zu. „Ich gucke Termin.“

Tom seufzte. Dann bekam er einen Termin.

„Am Mittwoch?! Soll das ein Witz sein? Hier läuft irgendwo Wasser aus einer Leitung unkontrolliert in die Wand!“, protestierte Tom. Doch die Dame am anderen Ende der Leitung ließ das völlig kalt. Tom legte auf. Er konnte die Anspannung von Sandra geradezu spüren. Sie schien im Chaos der Kinder, dem Druck und der Hausarbeit regelrecht zu ersticken.

„Jemand müsste hier echt mal aufräumen!“, seufzte sie. Tom entschied sich, mit den Kindern rauszugehen. Er nahm – mutig – den Aufzug, denn er hatte Zeit. Und genug Essen und Trinken eingepackt. Doch der Aufzug machte nicht schlapp. Mit Elena an der Hand und Johanna auf dem Arm ging er in den Keller, legte das Baby in den Kinderwagen und trug dann den Kinderwagen in zwei Einzelteilen die Treppe vom Keller zur Haustür hoch, um ihn anschließend draußen die Treppe von der Haustür wieder herunter bis auf den Vorplatz zu schleppen und zusammenzubauen. Diese absurde Architektur brachte Tom regelmäßig zum Verzweifeln. Loszuziehen war jedes Mal ein Kraftakt. Auf dem Vorplatz spielten zwei Jungs aus der Nachbarschaft.

„Geht ihr zum Spielplatz, Tom? Nehmt ihr uns mit?! Bitte!“, fragte Louis. Louis war 6 Jahre alt und ging in die erste Klasse. Tom kannte ihn von Geburt an, denn er wohnte drei Wohnungen unter ihnen im siebten Stock. Seine Eltern erlaubten es nur, dass er das Grundstück der Platte verließ, wenn ein Erwachsener dabei war. Tom nahm ihn daher regelmäßig mit. So hatten die Mädchen mehr Spielkameraden und Tom erfuhr den neuesten Klatsch und Tratsch aus der Platte. Es machte ihm Spaß, ein Bataillon Gartenzwerge zu befehligen.

„Okay, von mir aus. Wie heißt du denn?“, fragte Tom den anderen Jungen, den er nicht kannte.

„Carlos!“, antwortete der wie aus der Pistole geschossen.

„Er wohnt nicht in der Platte. Sein Stiefvater hat ein Haus gekauft am Ende der Schillerstraße!“, erklärte Louis.

„Ja, meine Mama hatte schon sieben Männer seit Papa“, stimmte Carlos zu. „Sie hat so lange weitergesucht, bis uns einer ein Haus gekauft hat!“

Tom war einigermaßen baff und stand mit offenem Mund da. Aber die Kids meinten es ernst. Er baute sich vor den Jungs auf und hielt seine übliche Ansprache.

„Es wird nicht rumgeschrien. Und auch nicht zwischendurch abgehauen, klar?!“, sagte er mit ernster Miene und die beiden Jungs standen wie Rekruten am ersten Tag eingeschüchtert vor ihm. „Alles klar! Dann mal los! Wo kein Schnee liegt, kann gelaufen werden!“

„Schnee? Mitten im Sommer?! Du bist ja verrückt, Papa!“, stellte Marie fest. Dann gingen sie los zum Spielplatz am Ende der Wolfsgasse. Tom verwickelte die Nachbarskinder gern in Gespräche. Er wusste von Louis, dass er furchtbar in ein Mädchen in seiner Klasse verliebt war. Kaum zu glauben, heutzutage ist man schon in der ersten Klasse verliebt, dachte Tom.

„Und, Louis? Hast du das Mädchen schon gefragt, ob sie dich heiraten will?!“, fragte er geradeheraus. Carlos kicherte. Doch Louis kannte keine Scham.

„Sie heißt Jasmin! Und nein, ich habe sie noch nicht gefragt! Aber ich werde sie heiraten! So viel steht fest!“

„Was braucht man eigentlich alles, um eine Frau zu heiraten, Louis?“, begann Tom sein übliches Fragespielchen.

„Geld! Viel Geld!“, platzte es aus Carlos heraus.

„Wofür braucht man denn das Geld?!“

„Um einen Ring zu kaufen. Und den muss man dann der Frau an den Finger stecken und dann kann man sie heiraten“, sprudelte es aus Louis regelrecht heraus. Tom musste schmunzeln.

„Und um ein Haus zu kaufen!“, warf Carlos ein.

„Aber die Frau, die muss doch auch zustimmen, oder nicht?!“, hakte Tom nach. Die Jungs zögerten. „Und wofür braucht man noch Geld?“

Louis und Carlos kratzten sich am Kopf.

„Na für die Hochzeit natürlich!“, rief Marie plötzlich. Tom war ein bisschen überrascht und nicht weniger stolz.

„Und was braucht man noch?“, bohrte er weiter. Doch die Jungs kamen nicht drauf. Für sie war die Sache geritzt: Geld, Ring kaufen, an den Finger stecken, Heiraten, fertig. Das Leben konnte so einfach sein, wenn man ein sechsjähriger Junge aus dem sozialen Brennpunkt war.

„Und wo findet man eine Frau?!“, fragte er und spürte, wie die Frage den Jungs regelrecht den Schweiß auf die Stirn trieb.

„Na, die findet man halt!“

„Wo denn? Im Supermarkt im Regal kann man die kaufen, oder wie?“, machte sich Tom über die Zwerge lustig. Doch die Jungs hatten Spaß und lachten sich kaputt.

„Die wachsen auf Bäumen!“, blödelte Louis mit.

„Oder die fallen vom Himmel!“, stieg Carlos mit ein und hielt sich den Bauch vor Lachen.

„Frauen findet man bei einem Fest. Zum Beispiel dem Oktoberfest! Ihr Blödies!“, platzte es aus Marie heraus und Tom starrte seine Vierjährige verblüfft an. Woher wusste sie das denn nun schon wieder, dachte er. Als sie an der Hausnummer 8 der Wolfsgasse vorbeikamen, traute Tom seinen Augen nicht. Dieser Trottel von Hausbesitzer war tatsächlich dabei, mit den Händen weißen Zierkies aus seinem Vorgarten zu schaufeln, um darunter mit dem Laubsauger – was auch immer – aufzusaugen. Tom grüßte freundlich, während er »was für ein Vollidiot!«, dachte. Der Mann grüßte äußerst widerwillig zurück.

„Da haben Sie aber viel zu tun!“, rief er Tom und den Kindern hinterher. Offensichtlich dachte er, alle fünf Kinder seien Toms.

„Von den blauen, blauen Bergen kommen wir, unser Lehrer ist genauso doof wie wir.

Mit der Brille auf der Nase sieht er aus wie ’n Osterhase!“, sang Marie plötzlich drauf los.

„Du singst das völlig falsch!“, protestierte Louis und Carlos stimmte ihm zu.

„Aha? Wie geht denn der Text?“, fragte Tom, obwohl er genau wusste, was jetzt kam.

„Von den blauen, blauen Bergen kommen wir,

unser Lehrer ist genauso doof wie wir.

Mit drei Brötchen in der Fresse,

kommt er jeden Tag zur Messe.

Von den blauen, blauen Berge kommen wir,

unser Lehrer ist genauso doof wie wir.

Mit der Fluppe in der Fresse,

kommt er jeden Tag zur Messe.

Von den blauen, blauen Bergen kommen wir!“, sangen Louis und Carlos zusammen und hatten Spaß ohne Ende.

„Nein, völlig falsch!“, protestierte Marie.

„Ich habe ein Rätsel für euch!“, wechselte Tom das Thema und packte einen Klassiker aus: „Was ist schwerer: ein Kilo Blei oder ein Kilo Federn?!“

„Ein Kilo Blei!“, antworteten die beiden Jungs wie aus einem Munde.

„Falsch!“

„Ja, dann ein Kilo Federn?!“, antwortete Louis und war sich unsicher. „Hä?!“

„Beides ist gleich schwer, ihr Blödies!“, verkündete Marie stolz. Tom hatte das Rätsel mit ihr schon mal gemacht und ihr erklärt, was ein Kilo ist. Die beiden Jungs starrten sie ungläubig an. Dann fingen sie an zu lachen. „Noch ein Rätsel! Noch ein Rätsel!“, riefen sie aufgeregt. Tom überlegte kurz.

„Was ist das Wichtigste im Leben?“, fragte er dann und schaute in strahlende Gesichter.

„Geld natürlich! Geld, Geld, Geld!“, schrien die Jungs regelmäßig. Tom hob die Augenbrauen und schaute sie streng an.

„Und was ist mit Gesundheit? Was nützt euch alles Geld der Welt, wenn ihr tot seid?!“, hakte er nach.

„Deko! Für mein Grab!“, antwortete Louis wie aus der Pistole geschossen. Dann schauten er und Carlos sich an und rannten die letzten hundert Meter zum Spielplatz voraus.

„Jungs sind echt blöd!“, stellte Marie trotzig fest und rannte hinterher. Am Spielplatz angekommen, stürmten sie die Geräte.

Sie verbrachten etliche Stunden auf dem Spielplatz, dann kehrten sie nach Hause zurück. Tom konnte nicht fassen, dass Sandra keinen Finger krumm gemacht hatte.

„Hier sieht’s ja aus, als sei die serbische Armee durchgezogen“, stellte Tom mit Galgenhumor fest. Sandra saß auf der Couch, in der einen Hand ein Glas Wein, in der anderen das Handy.

„Hallo Schatz, hast du was gekocht?“, fragte er und steckte den Kopf durch die halb geöffnete Wohnzimmertür. Sandra antwortete nicht. Sie wedelte mit dem Handy, auf dem die Speisekarte der Pizzeria am Ende der Schillerstraße geöffnet war. Sie hatte die Speisekarte online gefunden. Tom war sich sicher, dass es die falsche Speisekarte war. Sandra hatte am Ende eine Bestellliste geschrieben. Tom warf einen Blick drauf.

„Die haben doch gar keine Pommes?“, wandte er ein.

„Aber steht doch hier. Und Marie und Elena wollen Pommes! Und ich will Pizza!“

Dennoch rief er mit Sandras Liste an und bestellte. Die Bestellung wurde irgendwie stockend aufgenommen. Tom war sich sicher, es musste der Praktikant gewesen sein. Er machte sich auf den Weg, die Bestellung abzuholen. Als er im Laden ankam, herrschte dort schon Hektik. Es gab eine große Schlange und es dauerte eine Weile, bis Tom an der Reihe war. Dann bekam er seine Bestellung und alles war falsch. Tom las dem Chef seine Bestellung vor.

„Das sind nicht meine Nummern!“, protestierte der Pizzabäcker. „Wo hast du die her?“

„Na aus dem Internet!“, antwortete Tom.

„Meine Speisekarte ist nicht im Internet!“, antwortete der Pizzabäcker und wedelte mit seiner Papierspeisekarte.

„Mein Praktikant hat den Ofen offengelassen und jetzt hat er auf tausend Grad aufgeheizt. Guckst du hier, Pizza im Wert von mehreren Hundert Euro“, fluchte der Pizzabäcker mit italienischem Akzent und machte eine theatralische Pause, „für den Müll!“

Dann warf er süffisant die nächste angebrannte Pizza in den Müll. Tom konnte ja nichts dafür. Dennoch war das mit den verwechselten Nummern der Tropfen, der bei Giovanni, so hieß der Pizzabäcker, das Fass zum Überlaufen brachte. Tom hasste es, dass Sandra ihn so sehenden Auges in die Scheiße ritt. Und er bereute es, sich nicht durchgesetzt zu haben. Er stritt noch eine Weile mit dem Pizzabäcker und war kurz davor, zu gehen, doch die Blöße bei Sandra wollte er sich nicht geben. Er musste einige Zeit auf die Pizzen warten. Während er so dastand und wartete, wurde ihm plötzlich klar, dass es Absicht von Sandra gewesen sein musste. Sie kannte die Speisekarte in- und auswendig. Und sie wollte nicht, dass die Kinder dauernd Pommes und solches Zeug aßen. So wäre es dann seine Schuld gewesen, dass die Kinder keine Pommes bekamen. Siewollteihn ins offene Messer laufen lassen. Dann bekam er immerhin seine und Sandras Pizza. Er gab Giovanni zum Abschied die Hand und ordentlich Trinkgeld.

„Nichts für ungut, scheiß Tag …“, entschuldigte Giovanni sich. Tom dachte nach. So leicht wollte er Sandra nicht davonkommen lassen. Er entschied sich, zu improvisieren, und machte einen riesigen Umweg, um noch beim Dönermann seines Vertrauens vorbeizugehen und Pommes aufzutreiben.

„Tom, mein Freund, wie immer?! Cüs, du warst bei der Konkurrenz!“, begrüßte der Dönermann ihn und zeigte auf die Pizzen. Sein Name war Aki.

„Nee, heute nicht »wie immer«. Nur zwei Portionen Pommes, für die Mädchen. Aber bitte mit Blaulicht. Und, wenn es schnell geht, macht nix!“, knurrte Tom.

„Was ist da los?! Vallah, Krise zuhause?!“, fragte Aki gut gelaunt und lachte. „Mit Frauen“, er machte eine Pause und sah Tom aus großen Augen furchtbar ernst an, „immer Krise, Vallah!“

„Da hast du verdammt Recht!“, stimmte Tom zu.

„Kannst du jetzt bei mir mit PayPal bezahlen! Guck dir das an, wie geil ist das denn, Mashallah!“, erzählte der Dönermann völlig enthusiastisch.

„Cüs, Aki, unnormal geil! Wer nicht mit der Zeit geht …“

„Geht mit der Zeit, genau! Mein Cousin hat mich auf die Idee gebracht.“

„Welcher von den 40?“

„Es sind 38, okay, cüs, 38! Hey, da fällt mir ein Witz ein!“, verkündete Aki stolz. „Warum lieben alle Döner!?“, er machte eine dramaturgische Pause, um dann den Witz aufzulösen: „Dürüm!“

Er lachte sich darüber kaputt. Tom schmunzelte. Es dauerte noch ein paar Minuten, dann stellte Aki die beiden Portionen Pommes auf die Theke.

„Denn Fritten schmecken immer joot!“, sang der Dönermann in unverfälschtem Kölsch. Tom knallte einen Fünfer auf den Tresen, nahm seine Pommes und eilte nach Hause.

„Siehst du! Hab’ ich doch gesagt, die haben Pommes!“, triumphierte Sandra. Tom sah in ihren Augen, dass sie überrascht und sauer war, weil ihr Plan nicht aufgegangen war. Doch Tom sagte nichts dazu. Es gab hier nichts zu gewinnen. Diese ganze Nummer und der Streit mit dem Pizzabäcker hatten ihm gehörig die Laune verhagelt.

Am Mittwoch kam endlich ein Handwerker. Doch der schaute sich die Sache im Bad nur kurz an – und ging dann wieder.

„Müssen Sie machen Termin mit Gas-Wasser-Scheiße-Firma. Ich Fliesenleger. Nix Gas-Wasser-Scheiße“, erklärte der Handwerker. Tom atmete tief durch, bedankte sich und wählte die Nummer der Hausverwaltung.

„Wie? Sanitärfirma? Aber ich dachte, Fliesen kaputt?!“, antworte die Dame an der Hotline. Es war eine andere als die beim ersten Telefonat. Tom erklärte noch mal, was Sache war. Die Frau bat höflich um Entschuldigung und versprach, am nächsten Tag käme jemand anderes. Tom wartete den ganzen nächsten Tag. Um 18 Uhr war immer noch niemand da gewesen.

„Sie rufen außerhalb der Servicezeiten …“, plärrte es aus Toms Handy, als er erneut bei der Hotline der Hausverwaltung anrief. Am nächsten Morgen, Freitag, klingelte um 6 Uhr in der Früh jemand Sturm. Es war ein Handwerker von der Sanitärfirma. Tom rieb sich die müden Augen und zeigte die Wände.

„Da muss ich Werkzeug aus dem Auto holen, bin gleich zurück“, sagte der Handwerker und versuchte, die Wohnung durch die Abstellkammer zu verlassen. Tom wies ihm den Weg.

„Donnerwetter! Damit konnte nun wirklich niemand rechnen! Dass ein Handwerker Werkzeug benötigen würde!“, sagte Tom sarkastisch zu sich selbst. Doch der Handwerker kam nicht wieder. Erst nach etwa drei Stunden klingelte er erneut an der Tür. Ohne ein Wort der Erklärung machte sich der Handwerker an die Arbeit und begann, großzügig im Flur und im Bad Wände aufzustemmen. Der Lärm war infernalisch. Tom beorderte Sandra und die Kinder nach draußen. Die aufgestemmten Wände offenbarten ein regelrechtes Labyrinth von Rohren in verschiedenen Farben und Durchmessern.

„Ach du Scheiße …“, seufzte der Handwerker. Dann klingelte sein Handy.

„Wie? Ja? Oh, Scheiße! Okay, ich komme!“, sprach der Handwerker ins Handy und packte hektisch sein Werkzeug ein.

„Komme morgen wieder, Notfall!“, sagte er kurz und war durch die Tür – diesmal sogar durch die richtige. Tom fasste sich an den Kopf. Die Wohnung sah aus, als sei eine Bombe eingeschlagen: Riesige Berge Schutt lagen im Flur und im Bad verteilt. Wenn Sandra das sieht, bekommt sie einen Nervenzusammenbruch, dachte Tom und holte Eimer, Müllbeutel und Kehrschaufel. Es dauerte fast eine Stunde, bis die Wohnung wieder in einigermaßen erträglichem Zustand war. Tom besah sich die Rohre. Er fand keines, das nicht irgendwie völlig hinüber aussah. An mehreren Stellen tropfte Wasser und rann an den Rohren hinunter bis auf den Fußboden, wo es sich dann großflächig verteilte.

Am nächsten Morgen, dem Samstag, klingelte der Handwerker wieder um 6 Uhr. Tom quälte sich aus dem Bett, zog sich an und ließ den Handwerker herein. Der inspizierte sogleich die Rohre.

„Das müssten wir eigentlich alles komplett neu machen … aber das zahlt die Eigentümergesellschaft garantiert nicht. Ich geh jetzt erst mal das Wasser abstellen“, erklärte der Handwerker achselzuckend. Dann verschwand er wieder. Es dauerte eine halbe Stunde, bis er zurück war. Völlig außer Atem stand er bei Tom auf der Matte. Er hatte allen Nachbarn Bescheid gesagt, dass das Wasser abgestellt wird, und war die Treppe vom Keller bis in den zehnten Stock hochgelaufen.

„Ich hasse Hochhäuser“, murmelte er.

„Kann ich bei Ihnen irgendwo rauchen?“, fragte er dann und Tom zeigte ihm den Balkon. Tom suchte einen Aschenbecher, fand aber keinen. Er nahm stattdessen eine Müslischüssel.

Nach der Raucherpause fing der Handwerker an, die Rohre auseinanderzunehmen. Es dauerte bis zum Nachmittag, bis er alles wieder zusammenhatte. Zwischendurch verschwand er, um im nächsten Baumarkt noch Material zu besorgen. Tom stand der Schweiß auf der Stirn. Wenn der jetzt abhaut, ohne dass das Wasser wieder geht … wer weiß, wie lange das dauert, dachte er. Und tatsächlich. Gegen 16 Uhr verkündete der Handwerker:

„So, Feierabend für heute! Der Teil bis zu Ihrem Haupthahn fürs Bad ist wieder okay. Ich komme morgen, ähm, ich meine, am Montag, und mache den Rest fertig.“

Tom schielte in Richtung des Meinungsverstärkers, der hinter der Wohnungstür an der Wand lehnte. Das ganze Wochenende ohne Wasser im Bad? Das waren glorreiche Aussichten. Doch er ließ den Handwerker ziehen und schrieb Sandra eine Nachricht, die Luft sei wieder rein. Sie hatte die Wohnung noch nicht ganz betreten, da roch sie schon Lunte.

„Hat der etwa hier geraucht?“, fragte sie vorwurfsvoll.

„Auf dem Balkon!“, antwortete Tom und ärgerte sich, dass er den improvisierten Aschenbecher, die Müslischüssel, noch nicht aufgeräumt hatte. Sandra schwebte regelrecht durch die Wohnung wie ein Spürhund auf der Fährte nach einem Verbrecher. Sie fand die Müslischüssel und ließ einen Brüll los, dass Tom nur so zusammenzuckte. Die Kinder waren völlig perplex, das Baby fing an zu schreien.

„Du kannst ihn doch nicht seine Kippen in meine Müslischüssel entsorgen lassen!“, fauchte sie und eilte mit der Schüssel quer durch die Wohnung zur Küche.

Am nächsten Montagmorgen, Punkt 6 Uhr, klingelte es wieder an der Tür. Es dauerte einige Stunden, dann war der Handwerker fertig und stellte das Wasser wieder an. Tom rutschte ein Seufzer der Erleichterung heraus.

Doch noch waren ja die Wände offen. Wieder wählte er die Hotline der Hausverwaltung.

„Ja, da kommt morgen jemand gucken“, sagte die Dame am Telefon, wieder eine andere als die beiden Male davor. Und tatsächlich, am nächsten Tag stand jemand auf der Matte. Doch zu Toms Entsetzen stellte der fest, dass der Wasserschaden so weit fortgeschritten und so großflächig sei, dass alles raus müsse – inklusive Badewanne.

Es dauerte bis Donnerstag, dann kam eine Firma und baute die Badewanne aus. Dann kloppten sie unter ohrenbetäubendem Lärm die Bodenfliesen und die untere Hälfte der Wandfliesen heraus. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis der ganze Schutt mit Eimern in den Aufzug geschafft war.

„Und wie geht es jetzt weiter?!“, fragte Tom sichtlich genervt.

„Muss Trocknungsfirma kommen.“

Tom fühlte sich wie ein Bauleiter.

„Miete eine Wohnung, da rufst du bei der Hausverwaltung an, wenn was kaputt ist, und die kümmert sich um alles, haben sie gesagt!“, murmelte er vor sich hin und rief an.

„Nächste Woche, Mittwoch frühestens“, erklärte die Frau am Telefon ohne auch nur den Hauch eines Bedauerns in der Stimme.

„Ähm, entschuldigen Sie bitte. Wir haben kein Wasser, keine Toilettenspülung, nix. Unsere Wohnung sieht aus wie Dresden ’45. Wir haben drei kleine Kinder, wie soll das gehen?!“, fragte Tom sichtlich aufgebracht. Doch der Dame von der Hotline war das egal.

„Es gibt keinen früheren Termin. Zu wenig Handwerker“, antwortete sie.

„Wir schaffen das schon, Tom. Für unser Haus, für unseren Traum!“, machte Sandra ihm Mut.

„Immerhin haben wir Wasser in der Küche. Wir füllen für die Klospülung einfach Eimer ab“, fuhr sie fort. Tom wunderte sich über ihren Optimismus. Doch schon am zweiten Tag stritten sie heftig. Sandra machte ihm Vorwürfe, dabei konnte Tom ja nichts dafür, dass diese Bude auseinanderfiel.

„Ich will duschen, Tom, Mann! Was für eine Scheiße!“, fluchte sie.

„Nicht vor den Kindern …“, versuchte Tom sie zu beschwichtigen. Doch Sandra war wie ausgewechselt. Der Stress, die Hormone, all das hatten aus seiner Traumfrau ein Wrack gemacht. Ein Wrack mit Ansprüchen und genauen Vorstellungen, wie die Dinge zu laufen hatten. Ansprüchen, die Tom und die Realität nicht erfüllen konnten.

Die Trocknungsfirma stellte einen großen Bautrockner auf, der Tag und Nacht laufen sollte. Der Bautrockner machte Lärm wie ein Eurofighter beim Start – und verbrauchte vermutlich so viel Strom wie ein ganzer Straßenzug. Tom konnte regelrecht hören, wie der Stromzähler Freudensprünge machte. Doch es musste ja weitergehen. Aufgeben war keine Option.

Eine ganze Woche mussten die Bautrockner laufen. Das Timing war denkbar schlecht, denn am Wochenende stand die Hochzeit von Sandras Schwester Carolina an. Und da wollte Sandra sich und die Kinder natürlich auf Hochglanz polieren. Doch das gestaltete sich so deutlich schwieriger. Tom schlug vor, für die Nacht ein Zimmer in einem Hotel in der Nähe zu mieten, doch Sandra lehnte ab.

„Wir brauchen doch das Geld, Tom!“, erwiderte sie.

4. Der Zufall

Tom musste raus an die frische Luft. Er schnappte sich die Kinder, nahm mit Carolina und Elena auf dem Arm die Treppe aus dem zehnten Stock bis runter in den Keller und holte den Kinderwagen.

„Können wir auf den Wolfsspielplatz, Papa?! Bitte!“, bat Marie. Tom fand, das war eine gute Idee. Und so schlenderten sie die Schillerstraße entlang und bogen dann in die Wolfsgasse ab. Johanna war schon eingeschlafen.

„Was ist das für ein komisches schwarzes Auto, Papa?“, fragte Marie und deutete auf einen Leichenwagen, der vor der Hausnummer 2 geparkt war. Zwei Mitarbeiter des Bestattungsunternehmens trugen einen Sarg aus dem Haus. Tom kannte den Bewohner des Hauses vom Sehen. Er grüßte immer freundlich, wenn Tom mit den Kindern vorbeiging.

„Das ist ein Leichenwagen. Darin werden tote Menschen zum Friedhof transportiert. In dieser Kiste, die nennt man »Sarg«“, erklärte Tom ruhig und sachlich.

„Verstehe! Also liegt in der Kiste jetzt ein toter Mann?!“, antwortete Marie.

„Genau. Ich denke, in der Kiste liegt der Mann, dem das Haus hier gehört.“

„Und jetzt wird das Haus verkauft, wo da keiner mehr wohnt?!“, fragte sie weiter.

„So schnell geht das natürlich nicht. Das dauert sicher ein paar Wochen, bis die Erben alles ausgeräumt haben, überlegt haben, was es kosten soll und so weiter“, sagte Tom und winkte ab. Der Spielplatz am Ende der Wolfsgasse, im Volksmund »Wolfsspielplatz« genannt, war einer der schönsten der Stadt. Es gab haufenweise Spielgeräte aus echtem Holz, in verschiedenen Größen, Klettergerüste, eine große Kletterpyramide, eine Seilbahn, diverse Sandkästen, Wippen, Schaukeln und so weiter. Als Tom mit den Kindern ankam, stand der Wendehammer voll mit drei Oberklasse-SUVs. Es waren schon vier Mütter mit ihren Kindern, die alle höchstens zwei oder drei Jahre alt waren, auf dem Spielplatz. Natürlich waren sie mit dem Auto hergefahren. Und obwohl es einige freie Parkplätze in der Straße gab, hatten sie ihre Stadtpanzer im Wendehammer geparkt, wo eigentlich absolutes Halteverbot galt. Tom fiel wenig ein, was deutscher war als dieser ultimative Drang, mit dem Auto auch noch den letzten Meter zurückzulegen. Vermutlich wären sie am liebsten bis in den Sandkasten gefahren. Tom grüßte, doch die aufgetakelten Porsche-Muttis grüßten nur widerwillig zurück.

„Also wir haben letztes Jahr gekauft und sind super zufrieden“, sagte eine der Mütter.

„Wir bauen gerade“, erklärte eine andere. Dann rannte sie wie von der Tarantel gestochen los, weil ihr Sohn, Tom schätzte ihn auf drei Jahre, es für eine gute Idee hielt, ein Klettergerüst zu erklimmen. Doch Mutti war der Meinung, das Kind sei dafür noch zu klein. Tom ließ Elenas Hand los. Seine mittlere Tochter war fast einen Kopf kleiner als der überbehütete Zwerg der Porsche-Mutti. Sie sauste an der Mutter vorbei und kletterte das Klettergerüst hoch wie ein Kapuzineräffchen. Die Porsche-Mutti stand da, mit weit offenem Mund, und traute ihren Augen nicht. Doch die Szenerie wurde unterbrochen, weil eine andere Porsche-Mutti angelaufen kam und begann, ihrer Tochter, die oben auf dem Klettergerüst an der Rutsche stand, lauthals Kommandos zu geben.

„Seraja, pass auf, geh mal da rüber, lass den Cedric mal vorbei!“

Cedrics Mutter war auch direkt zur Stelle und rief quasi zeitgleich:

„Cedric, pass auf, geh mal da rüber, lass die Seraja mal vorbei!“

Tom musste furchtbar grinsen. Die Kinder taten ihm unglaublich leid. Sie durften diese wirklich außerordentlich verzwickte Situation, wer denn nun zuerst rutschen durfte, nicht allein lösen. Es brauchte dafür schon zwei Fluglotsinnen in Elternzeit. Tom hörte, wie sich die beiden anderen Muttis in einigem Abstand über ihn echauffierten:

„Wie kann man sein kleines Kind nur so klettern lassen? Also wenn mein Mann das zulassen würde, dem würde ich aber die Leviten lesen, dass es sich gewaschen hat …“

Elena war ein Naturtalent im Klettern. Sie hatte von ihrer Tante Carolina, die passionierte Kletterin war, zum ersten Geburtstag ein Klettergerüst fürs Kinderzimmer geschenkt bekommen. Tom musste sich schon lange keine Sorgen mehr machen, dass sie irgendwo abstürzte. Im Gegenteil, er genoss es und war stolz auf die körperlichen Fähigkeiten seiner Töchter. Marie war nicht ganz so talentiert, glich das aber mit ihrem Alter und ihrer Begeisterung aus. Tom entschied sich, die Ladies noch ein bisschen mehr zu triggern.

„Marie, Elena, möchtet ihr eure Schuhe ausziehen?!“, rief er hinauf auf das Klettergerüst und schon kamen die Schuhe geflogen. Was dann passierte, zauberte ein schelmisches Grinsen auf Toms Gesicht. Die Wohlstandszwerge stürmten zu ihren Muttis mit dem dringenden Bedürfnis, auch die Schuhe ausziehen zu dürfen. Denn Kinder hassen Schuhe, da war Tom sich sicher, besonders im Sommer. Und die Mutti-Gang war sich keineswegs einig: Eine lehnte kategorisch ab, die zweite ließ sich durch Tränen erweichen, die dritte stotterte kurz und erlaubte es dann, die vierte telefonierte mit dem Handy.

„Ja, Blau und Rot sind nicht eine Farbe. Ja und das Buntwaschmittel … was? Nein, nicht in den Trockner, dann läuft das ein“, kommandierte sie in ihr Handy. Tom erntete böse Blicke wegen der Barfuß-Aktion. Warum die Muttis so unentspannt waren, wo doch alle in Saus und Braus lebten, war ihm schleierhaft. Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, entschied er sich, auch noch die Schuhe auszuziehen. Routiniert hängte er seine und die Schuhe der Mädchen an seinen Rucksack. Der Sand war warm und angenehm an seinen Füßen. Doch Toms Triumph wurde jäh unterbrochen, weil Johanna im Kinderwagen wach wurde. Tom holte sie heraus und trug sie erst mal eine Weile im Fliegergriff, d. h. mit seinem Arm durch die Beine und der Hand an ihrer Brust, über den Spielplatz, damit sie sich alles angucken konnte. Er spürte regelrecht die übergriffigen, abschätzenden Blicke der Muttis, ob er das mit dem Baby jetzt auch geregelt bekam. Scheinbar waren ihre Kerle zwar beruflich sehr erfolgreich, im Umgang mit den eigenen Kindern aber regelrechte Vollidioten. Die Emanzipation pendelte sich irgendwo zwischen Umzugskiste und Windel ein. Anders konnte Tom sich das nicht erklären. Marie und Elena waren gut erzogen und pflegeleicht. Und für Johanna hatte er abgepumpte Muttermilch im Fläschchen dabei.

Doch die Eltern-und-kleine-Kinder-Idylle auf dem Wolfsspielplatz wurde aus heiterem Himmel gestört, als eine fünfköpfige Gruppe Halbstarker, vier Jungs und ein Mädchen, etwa im Abiturientenalter, auf den Spielplatz kam. Eines ihrer Smartphones diente als Ghettoblaster, es dröhnte F-Wort-Rap aus dem Mini-Lautsprecher. Sie besetzten zwei der Bänke am Sandkasten, in dem die Wohlstandszwerge mit Spielzeug aus China-Plastik spielten. Schnell brach unter den Muttis operative Hektik aus. Es sei ja ohnehin schon spät und man müsse noch kochen und so, murmelten sie durcheinander. Dann packten sie ihre protestierenden Ableger ein und traten den Heimweg an, noch bevor die Jugendlichen ihre erste Zigarette angezündet hatten. Tom kannte die Jungs, sie waren allesamt in der Platte zuhause. Das Mädchen schien von außerhalb zu sein. Tom lief auf die Jungs zu und beeilte sich, die Jugendlichen zu grüßen, sodass die Muttis es noch mitbekamen.

„Hey Jungs, sagt mal, vier Kerle und ein Mädchen … ist das nicht ein Kerl zu viel?!“, fragte er provokant.

„Wieso? Einer muss doch die Kamera halten?!“, antwortete das Mädel schlagfertig und alle lachten, auch Tom. Die Muttis dagegen schüttelten nur die Köpfe und zelebrierten das Einsteigen in ihre Stadtpanzer wie der Papst die Ostermesse. Dann fuhren sie in ihren drei schwarzen SUVs im Formationsflug wie die Eskorte von Pablo Escobar die Wolfsgasse in Richtung Schillerstraße hinunter.

„Also euch Jungs kenn ich ja, aber du, woher kommst du?“, fragte er und deutete auf das Mädel.

„Ich wohn’ in der »Fick dich Allee«!“, antwortete das Mädel schroff. Sie war rothaarig und aufreizend gekleidet. Für Tom war sofort offensichtlich, dass sie ihn provozieren und die Reaktionen testen wollte. Sie war einer dieser Teenager, die ihre Wirkung auf Männer bis ins Extreme testeten.