Vaticano - Michele Boscarelli - E-Book

Vaticano E-Book

Michele Boscarelli

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Beschreibung

León Dupré verdient sein Geld als Autor von Büchern über Verschwörungstheorien. Nicht ganz freiwillig allerdings. Im Jahr 1999 hatte er seinen Job als Antiterror-Experte beim BND hingeschmissen, wie auch sein Freund Sean O'Brian bei der CIA. Beide waren zu dieser Zeit in Afghanistan als Kontaktpersonen von Osama bin Laden stationiert. Bin Laden hatte den beiden damals eine Videobotschaft übergeben, aus der hervorging, dass er detailliert informiert war von einem Terroranschlag, der als 11. September in die Geschichte eingehen sollte. Er bezichtigte in dem Video gewisse Kreise in Amerika und im Vatikan als die Drahtzieher. Mit Hilfe dieser Fakten wäre 9/11 zu verhindern gewesen. Doch sowohl beim BND als auch bei der CIA verschwanden die Videos auf mysteriöse Weise. Eine Reaktion gab es immerhin: Wenige Monate später, im September 1999, wird Osama bin Laden in seiner Festung Tora Bora von einem Kommando der Navy Seals ermordet. Die USA hielten seinen Tod jedoch streng geheim und machten nach den Anschlägen vom 11. September sogar offiziell Jagd auf ihn, Jagd auf einen Toten, der angeblich hinter diesem Terrorakt stecken soll. Wegen Recherchen zu seinem jüngsten Buchprojekt über eine bislang unbekannte Zelle der Illuminaten in Italien ist León in den Abruzzen unterwegs, als er von der Nachricht überrascht wird, Osama bin Laden sei soeben erschossen worden. Er weiß, dass Bin Laden bereits seit über zehn Jahren tot ist. Warum jetzt also diese fingierte Todesbotschaft? Soll sie nur ablenken von den aktuellen politischen Problemen der USA oder soll sie gar als Alibi dienen für einen bevorstehenden Terrorakt, der 9/11 noch in den Schatten stellen könnte? In den Bergen der Abruzzen stößt León Dupré bei seinen Recherchen tatsächlich auf ein Dorf mit dem Namen Illuminati und auf dessen geheimnisvollen Patriarchen, bei dem Vergangenheit und Gegenwart auf mörderische Weise zusammenfinden. Aus dem friedvollen Plan, ein Buch zu schreiben, wir ein tödliches Abenteuer für León.

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Seitenzahl: 567

Veröffentlichungsjahr: 2012

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„Osama Bin Laden ist tot. Das verlautete soeben aus dem Weißen Haus in Washington. Einer Spezialeinheit der Navy Seals gelang es ersten Meldungen zufolge mit Unterstützung des Auslandsgeheimdienstes CIA, den islamischen Terroristenführer in seinem Haus im pakistanischen Abottabad aufzuspüren. Bei dem anschließenden Feuergefecht wurde Bin Laden mit zwei Schüssen in Brust und Kopf tödlich getroffen. Damit geht die über ein Jahrzehnt dauernde Jagd auf den meist gesuchten Terroristen der Welt zu Ende.“ Der Sprecher des italienischen Senders RAI bemühte sich um einen hörbar unaufgeregten Tonfall, als er die Sensationsmeldung dieses Tages in den Abendnachrichten verlas.

León drehte das Autoradio lauter und lauschte entsetzt und angewidert zugleich der Stimme des Nachrichtensprechers: „Wie aus dem Weißen Haus weiter verlautete, hatte es sich bei dem Einsatz um eine chirurgisch präzise Razzia eines kleinen Teams der Spezialeinheit gehandelt. Nachdem ein sofort durchgeführter DNA-Test eindeutig bestätigt haben soll, dass der Tote tatsächlich Osama Bin Laden ist, wurde sein Leichnam unverzüglich im Arabischen Meer bestattet.“

Es folgten die üblichen Verlautbarungen der Politiker. Einige gaben unverhohlen erfreute Kommentare ab, andere gratulierten dem amerikanischen Präsidenten Barack Obama zu der gelungenen Aktion im Kampf gegen den internationalen Terrorismus. Israels Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu ließ mitteilen: „Israel ist nach der Liquidierung Bin Ladens in Freude mit dem amerikanischen Volk vereint.“ Und auch die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte: „Ich freue mich, dass es gelungen ist, Osama Bin Laden zu töten.“

León war fassungslos. „Jetzt geht das wieder von vorne los“, murmelte er verärgert, während er seinen schneeweißen Audi R8 Spyder viel zu schnell in eine scharfe Rechtskurve zwang. Auf dem Weg in die kleine italienische Stadt Teramo war er in L’Aquila links abgebogen, hatte die Autostrada verlassen, um eine kleine, kurvenreiche Bergstraße zu erkunden, die über viele Umwege ebenfalls nach Teramo führte, weit weniger komfortabel allerdings.

León hatte Osama Bin Laden gekannt. Er hatte ihn im Jahren 1999 zweimal getroffen, als Agent der Antiterroreinheit beim Bundesnachrichtendienst. Und wegen Bin Laden hatte León auch seinen Dienst beim BND quittiert. Ihm war der ganze Verein zu verlogen, zu „diplomatisch“ geworden. León hatte ein paar Jahre zu lang gebraucht, um zu merken, dass es bei seiner Arbeit nicht um Wahrheit ging, sondern lediglich um die richtige Nachricht zur richtigen Zeit. Wahrheit war gegenüber dem diplomatischen Timing ein Luxusgut, auf das beim BND und im Bundeskanzleramt keiner wirklich Wert legte. Das wurde León erneut schmerzlich bewusst, als er die Nachricht vom angeblichen Tod Bin Ladens im Radio hörte. Denn dass Osama zwar ein Terrorist war, der aber nichts zu tun haben konnte mit den Anschlägen auf das World Trade Center und das Pentagon am 11. September 2001, das wusste keiner besser als León. Denn 2001 war Osama Bin Laden bereits zwei Jahre tot.

* * *

Die Sonne verabschiedete sich allmählich mit einem rötlich-gelben Farbenspiel hinter der bergigen Landschaft der Abruzzen, die kargen Waldstreifen rasten auf der engen Straße links und rechts an León vorbei und er brauchte seine ganze Konzentration, um die abenteuerlichen Kurven der löcherigen Provinzstraße richtig einzuschätzen, als das Klingeln des Handys León aus seinen Gedanken riss. Er ging etwas vom Gas und drückte auf den Knopf der Freisprechanlage.

„Ist da Beethoven?“, meldete sich eine tiefe männliche Stimme. León erstarrte. „Wer spricht da?“

„Ich habe eine vertrauliche Nachricht für Beethoven“, fuhr der Anrufer ungerührt fort, als hätte er die Gegenfrage nicht gehört.

Beethoven war Leóns Codename gewesen während seiner Zeit bei der Bundeswehr und beim Nachrichtendienst. Weil er als Jugendlicher eigentlich Pianist werden wollte, hatte sein Chef bei der Bundeswehrspezialeinheit KSK, Brigadegeneral Karl Waldmann, ihm in Anlehnung an die gleichnamige Figur aus der amerikanischen Comicserie „Peanuts“ diesen Namen verpasst, den er fortan nicht mehr loswerden sollte.

Weil die Fahrgeräusche störend laut waren, brachte León seinen R8 mit quietschenden Reifen und nicht gerade elegant am Straßenrand zum Stehen und stellte den Motor ab.

„Woher haben Sie diese Nummer?“, versuchte es León noch mal mit einer Gegenfrage. Stille am anderen Ende. Plötzlich ein amüsiertes Gelächter. „Mensch León, alter Junge, kennst Du mich denn nicht mehr?“

„Sean? Sean, bist Du das?“

„Na endlich. Ich habe langsam wirklich geglaubt, Du hättest mich völlig vergessen.“

Sean O’Brian war ein irischstämmiger Bär von einem Mann, ein Hüne von knapp zwei Metern, ein sommersprossiger Rotschopf mit einem gutmütigen Gesicht und in den Jahren beim BND ein guter Freund für León geworden. Ebenso wie León war O’Brian bis 1999 in Afghanistan stationiert, als Verbindungsmann der CIA. Über ihn kam auch Leóns Kontakt zu Osama Bin Laden zustande. Und auch Sean O’Brian hatte 1999 nach seinem letzten Einsatz am Hindukusch die „Firma“ nicht ganz freiwillig verlassen.

„Hast Du schon Nachrichten gehört?“, fragte Sean. Offensichtlich war er ebenso entsetzt von der Meldung wie León.

„Klar. Ich denke, unser Lieblingsterrorist muss wohl wieder auferstanden sein.“

„So sehe ich das auch“, bemerkte Sean. „Ich weiß zwar noch nicht, welche Absicht hinter dieser Falschmeldung steckt. Aber ich fürchte, da kommt eine ganz große Sauerei auf uns zu. Gott sei Dank geht das uns beide nichts mehr an.“

Sean lachte, aber es klang nicht überzeugend. Wie León war auch Sean O’Brian aus Idealismus zum Geheimdienst gegangen, in der Überzeugung, seinem Vaterland aufrichtig dienen zu können. Doch diese Überzeugung hatte man ihm schnell ausgetrieben.

„Hör mal, León, wir sollten uns treffen. Was meinst Du?“ Seans Stimme klang mit einem Mal wieder etwas heller. „Ich bin für ein paar Tage in Venedig“, fuhr er fort, „und Du bist ja auch gerade in Italien unterwegs . . . kurz hinter L’Aquila, wie ich sehe.“

„Woher zum Teufel weißt Du das?“, unterbrach ihn León, „und woher hast Du eigentlich meine neue Handynummer?“

„León, León, hast Du vergessen, für wen ich gearbeitet habe?“

León kam sich in der Tat etwas dumm vor ob der naiven Frage und verzichtete kleinlaut auf die Antwort.

„Okay Sean, gerne. Wie wäre es mit morgen?“

„Passt mir gut. Und wo?“

„Auf einen Bellini um 15 Uhr?“

„Roger“, meinte Sean lakonisch. Beide wussten ohne viel Worte verlieren zu müssen: Für den, der auf sich hält, gibt es nur einen Ort, wo man stilvoll seinen Bellini trinken konnte. In Harrys Bar in der Calle Vallaresso 1323 in Venedig. Sie waren oft zusammen dort gesessen und hatten in der legendären Bar am Canal Grande manchen Bellini vernichtet.

„Bis morgen dann“, erwiderte León, beendete das Gespräch und gab seinem Sportwagen wieder die Sporen.

Harrys Bar ist nur ein paar Schritte vom Markusplatz entfernt und hat ihren Namen von dem Amerikaner Harry Pickering, der das Lokal 1931 zusammen mit seinem Freund Giuseppe Arrigo Cipriani gegründet hatte. In den 1950er Jahren wurde die Bar dann vom internationalen Jet-Set entdeckt. Stammgäste wie Truman Capote, Orson Welles und Ernest Hemingway ließen die Preise bis ins Absurde klettern. Hemingway verewigte sie sogar in seinem Roman „Über den Fluss und die Wälder“. Und der Bellini dort, eine Mischung aus Prosecco und Pfirsichmark, war nicht nur von sensationellem Geschmack, sondern Pflichtgetränk für jeden, der einen Hauch Gastronomiegeschichte atmen wollte.

Hier also würde León morgen seinen alten Freund Sean O’Brian treffen. León überlegte kurz. Über zehn Jahre waren vergangen, seit er zum letzten Mal etwas von Sean gehört hatte. Wie oft hatte er sich vorgenommen, ihn einfach mal anzurufen. Doch irgendwie hat es nie gepasst. Oder sollte nicht passen. Denn León wusste, dass jedes Gespräch mit Sean ihn unweigerlich an alte Zeiten erinnern würde, an Zeiten, an die er eigentlich nicht mehr erinnert werden wollte.

León hatte abgeschlossen mit dem Bundesnachrichtendienst, mit Terrorabwehr, fragwürdigen Verhörmethoden, mit Staatsfeinden, die eliminiert werden mussten und vor allem mit einem Leben, das ihn gezwungen hatte, gegen sein Gewissen, gegen seine Überzeugung und auch gegen geltendes Recht zu handeln.

Mitte 1999 hatte León, nachdem er von heute auf morgen aus der Antiterroreinheit in die Abteilung „SI“, die Abteilung für Eigensicherung, versetzt worden war, den Dienst quittiert. Er wollte nicht für den Rest seines Lebens an irgendeinem Schreibtisch in Pullach Akten abstauben. Es war eine klare Strafversetzung gewesen, weil León etwas wusste, was er besser nicht gewusst hätte. Und er funktionierte, das spürte er schon länger, nicht mehr, wie ein willenloser und loyaler Agent zu funktionieren hat. Selbst im Dienst für das Vaterland schien León nicht mehr alles erlaubt. Und dass der Zweck alle Mittel heiligt, das war für ihn seit jeher nicht mehr als ein dummer Spruch gewesen.

León war mit 24 Jahren als Berufssoldat von seiner Einheit, dem Kommando Spezialkräfte in der Graf-Zeppelin-Kaserne im schwäbischen Calw, in das Amt für Militärkunde versetzt worden. Das AMK ist nichts weiter als eine Tarninstitution für den Nachrichtendienst, über die der BND seine militärischen Mitarbeiter rekrutiert. Und auf Oberleutnant León Dupré hatte der Bundesnachrichtendienst schnell ein Auge geworfen. Er war ein bestens ausgebildeter Fallschirmjäger und Aufklärer, ein Spezialist in Terrorismusbekämpfung und Kommandokriegsführung geworden, ein kühler Analytiker, entschlossen und präzise. Vor allem aber war León, der mit unglaublicher Energie von Kindesbeinen an alle möglichen asiatischen Kampfsportarten trainiert hatte, im Laufe der Jahre zu einem absoluten Profi in Sachen Nahkampf geworden. Es gab keinen Kampfstil, den er nicht kannte, er war Träger des vierten Dan im koreanischen Taekwondo, ein Meister in Kung Fu, beherrschte Kendo, Karate und Ju Jutsu. Deswegen hatte man ihn nach seiner eigenen Ausbildung beim BND auch erst einmal als Nahkampf-Ausbilder eingesetzt, bevor er dann der Abteilung Internationaler Terrorismus und Internationale organisierte Kriminalität „TE“ zugeteilt wurde. Hamas, Hisbollah, Al Kaida und Ansar al-Islam sollten von da an seinen Tagesablauf diktieren.

* * *

Seit dem Gespräch mit Sean tanzten die Gespenster der Vergangenheit wieder in Leóns Kopf und ließen ihn beinahe vergessen, warum er gerade durch diese gottverlassene italienische Berglandschaft fuhr. Seine Eltern, die beide bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen waren, als León 30 Jahre alt war, hatten ihm ein stattliches Vermögen hinterlassen, was es ihm 1999 ermöglichte, Hals über Kopf den Dienst beim BND zu quittieren. Seit damals schrieb er Bücher, Sachbücher. Zunächst hatte er einige Wälzer über Kampfsport und Nahkampf geschrieben, die schnell zu Standardwerken für die Ausbildung bei Nachrichtendiensten und Sicherheitsorganisationen geworden waren. Danach hatte sich León darauf spezialisiert, populärwissenschaftliche Bücher über diverse Verschwörungstheorien zu schreiben, eine Reminiszenz an seinen früheren Job beim Nachrichtendienst und ein nahezu unendliches Gebiet. Im Augenblick schrieb er an einem Buch über den Ingolstädter Geheimbund der Illuminaten.

In einer Facharbeit, deren Kopie er im Stadtarchiv von Ingolstadt gefunden hatte, war León an einer Passage hängengeblieben, in der er gelesen hatte, der Geheimbund der Illuminaten lebe in den italienischen Abruzzen noch heute weiter. Sogar ein ganzes Dorf soll nach ihm benannt sein. Trotz intensiver Recherchen konnte León ein Dorf dieses Namens indes auf keiner Landkarte finden und in keinem italienischen Ortsverzeichnis. Doch nur ein oberflächliches Gerücht? León wollte dem auf den Grund gehen, klang es doch so schön nach einer neuen Verschwörungstheorie. Doch obschon er seit sieben Tagen durch die Abruzzen streifte, fand er keine Bestätigung für diese Legende. „Wäre ein schöner Ansatz für mein Buch gewesen. Mal was wirklich Neues“, dachte er. León war kurz davor, resigniert aufzugeben. Zumal ihm das Telefonat mit Sean und die Meldung über Osama Bin Laden irgendwie die Lust geraubt hatten, seine Suche mit der notwendigen Akribie fortzusetzen. Es war wahrscheinlich ohnehin nicht mehr als ein Mythos.

„So what“, dachte er, ließ sich von seinem iPod, der mit der Bang&Olufsen-Anlage des Fahrzeugs verbunden war, lautstark mit Ouvertüren von Rossini und Verdi berieseln und trat noch etwas entschlossener aufs Gas. Die zehn Zylinder heulten dumpf auf, dann drückte ihn die enorme Beschleunigung der 525 PS wohltuend in den Sitz. León liebte es, diese Kraft zu spüren und zu hören, den Wagen bis an die Grenze der Beherrschbarkeit zu beschleunigen. Immer wieder zirkelte er den Boliden mit abenteuerlichen Geschwindigkeiten durch die mit Schlaglöchern übersäten Kurven. Noch 40 Kilometer hatte er auf der kleinen, kurvigen Provinzstraße vor sich, bevor sie wieder in die gut ausgebaute Autostrada A24 nach Teramo mündete und dem anarchischen Fahrspaß ein jähes Ende bereiten würde. Aber hier gab es so gut wie keinen Verkehr, niemand kam ihm entgegen. León konnte die unglaubliche Kraft des Motors in allen Facetten genießen. Mit jedem Adrenalinschub trat er noch ein wenig energischer aufs Gas.

Die einsetzende Dämmerung raubte León allerdings allmählich die notwendige Sicht für seine Beschleunigungsorgien. Eben wollte er, nachdem er ein kleines, scheinbar menschenleeres Dorf hinter sich gelassen hatte, wieder in die Eisen steigen, als sein rechter Fuß plötzlich voll auf die Bremse trat. León wusste nicht, warum er eine so massive Vollbremsung hingelegt hatte. So heftig, dass er sogar vergessen hatte, die Kupplung zu treten und nun mit abgestorbenem Motor mitten auf der Fahrbahn stand. Es war kein Mensch auf der Straße, kein Tier, kein Hindernis. León ärgerte sich über seine unerklärliche Fehlreaktion, während er mit dem Zeigefinger den Startknopf an der Mittelkonsole drückte und das Triebwerk sich mit sonorem Blubbern zurückmeldete.

Gerade hatte er den ersten Gang in die Aluminium-Schaltkulisse gerammt, als sein Blick in den Rückspiegel fiel. Wäre es noch etwas heller gewesen, hätte man sehen könne, wie León blass wurde. Im roten Schein der Bremsleuchten las er das Ortsschild. Illuminati. Hastig ließ er das Seitenfenster herunter, streckte den Kopf aus dem Auto und schaute nach hinten, um das, was er da seitenverkehrt im Spiegel gelesen hatte, zu verifizieren. Kein Zweifel. Illuminati stand auf dem schmalen, rechteckigen Schild am Ortseingang.

„Verdammt, dieses Dorf gibt es wirklich“, stieß er halblaut hervor und hatte mit einem Mal alles vergessen, Osama Bin Laden, das Gespräch mit Sean, die lästigen Gedanken an seine Vergangenheit. Er war wieder ganz der Buchautor, den seine Spürnase und seine Hartnäckigkeit wieder einmal belohnt hatten.

León wendete den Wagen auf der engen Straße und fuhr andächtig langsam in den Ort zurück. Nur in wenigen Häusern verrieten die beleuchteten Fenster, dass dort jemand wohnte. Ansonsten wirkte das Dorf auf seltsame Art ausgestorben, wie die achtlos zurückgelassene Kulisse für einen längst abgedrehten Film. Lediglich ein paar enge Gassen zweigten von der Durchgangsstraße ab. Kaum mehr als zwei-, dreihundert Menschen konnten hier wohnen in den alten Bruchsteinhäusern, an denen die Jahrhunderte spurlos vorüber gegangen zu sein schienen.

León ließ seinen Blick über die schmucklosen Fassaden gleiten, während sein Wagen langsam ans andere Ende des Dorfes rollte. Es gab keine Geschäfte und, für italienische Dörfer völlig untypisch, keine Kirche in dem Ort. Lediglich aus einem Haus in der Mitte von Illuminati drang durch eine geöffnete Doppeltür Licht ins Freie. Darüber stand auf einer schlichten Holztafel das Wort „Bar“. León parkte seinen R8 vor dem Lokal und programmierte vorsichtshalber noch den aktuellen Standort ins Navigationsgerät ein, bevor er ausstieg und auf die kleine Bar zusteuerte.

Kein „Buonasera“, kein „Salve“ war zu hören, als er mit einem Gruß den Raum betrat. Was er zu sehen bekam, nötigte León allerdings ein bewunderndes „wow“ ab. Er stand in einem liebevoll mit Holzpaneelen getäfelten Gastraum, ausgestattet mit geschmackvoll-schlichten Naturholzmöbeln, einem wunderschönen Terrakotta-Boden und einem wuchtigen Tresen aus Sandsteinblöcken, bedeckt von einer Platte aus dunklem Edelholz.

Es befanden sich kaum mehr als zehn Gäste in der Bar, allesamt ältere Männer in rustikaler Kleidung. Sie sahen aus, als wären sie gerade von der Arbeit in den Weinbergen zurückgekehrt. Lediglich der Mann, der am Tresen saß, war anders. Er kehrte León den Rücken zu. Sein weißes Haar war beinahe schulterlang, aber überaus gepflegt, seine Kleidung vornehm lässig. Er blätterte in einem großformatigen, ledergebundenen Buch und nahm keinerlei Notiz von León. Keiner der Gäste würdigte ihn eines Blickes. Nur der Mann hinter dem Tresen. Er mochte um die 35 Jahre alt sein, war mittelgroß und von drahtiger Statur. Er trug eine weiße Schürze über einer ausgewaschenen Jeans und einem dunkelblauen, kurzärmeligen Hemd. Seine schwarzen, halblangen Haare waren streng nach hinten gekämmt. Und sein Blick war alles andere als einladend.

León trat an den Tresen und bestellte nach einem knappen, unerwiderten „Salve“ einen Cappuccino. Der Wirt nahm die Bestellung wortlos entgegen, drehte sich um und begann, sich der Maschine an der hinteren Wand des Raumes zu widmen, einer fast neuen Faema, der Königin unter den Espressomaschinen. Als der Wirt León den Rücken zukehrte, bemerkte er an der Rückseite seines rechten Unterarmes die Tätowierung einer Eule, die den Betrachter mit großen, leeren Augen anstarrte. Jeder andere hätte sich wohl nur gewundert über das eigenartige Tattoo. León jedoch erkannte das Symbol sofort. Es war die Eule der Minerva, das Symbol des Illuminaten-Ordens.

Das musste er unbedingt festhalten. León trat schnell ein paar Schritte zurück und zückte seine Nikon Coolpix, die er beinahe ständig mit sich trug. Beim Geräusch des ausklappenden Blitzes hielt der Wirt an der Maschine regungslos inne. Doch er hatte keine Zeit mehr sich umzudrehen, da hatte León seine Aufnahme auch schon geschossen. Der schwarzhaarige Schürzenträger fuhr herum, der weißhaarige Mann, der neben León am Tresen saß, schlug eilends sein Buch zu, in dem er eben noch scheinbar völlig versunken gelesen hatte.

„No pictures“ herrschte der Wirt León verärgert an, und das in einem wutentbrannten Ton, der keinen Zweifel daran ließ, dass er es ernst meinte und widrigenfalls auch einschreiten würde. Obwohl León noch immer den Mann hinter dem Tresen fixierte, spürte er, wie sich plötzlich die Blicke sämtlicher Gäste in seinen Rücken bohrten.

Was war hier los? León konnte sich nicht erinnern, jemals unfreundlicher in einem Lokal empfangen worden zu sein. Gerade noch wollte er den Wirt unmissverständlich in die Schranken weisen, besann sich dann aber seines jahrelangen Deeskalationstrainings und steckte die Kamera mit einem kurzen Nicken wieder zurück in die Tasche. „Mein Cappuccino, bitte“, sagte er ruhig. Der Wirt drehte sich wieder um. Nur das Brummen der Espressomaschine unterbrach die seltsame Stille in dieser eigenartigen Bar. Erst jetzt fiel León auf, dass keiner der Gäste auch nur ein Wort gesprochen hatte, seit er den Raum betreten hatte. Sie saßen nur da, unterhielten sich aber nicht. Sein Auftauchen war zweifelsohne der Grund dafür.

Absichtlich unwirsch knallte der Wirt die Cappuccinotasse vor León auf den Tresen. „Ihr Cappuccino“, raunzte er, nicht ohne ein energisches „Schnell“ hinterher zu schieben. León war hier unerwünscht. Um das zu bemerken, bedurfte es keiner ausgesprochenen Feinfühligkeit. Ein Gespräch beginnen zu wollen, was es mit dem Ort auf sich hat, war in dieser angespannten Situation völlig aussichtslos. Keiner würde auch nur ein Wort mit ihm wechseln. Auch nicht der Mann mit den weißen Haaren, der León immerhin interessiert beäugte, als der seinen Cappuccino trank. León sah ihm für einen kurzen Moment in die Augen, als er nach rechts blickte, musterte sein Gesicht, das gar nicht so alt war, wie die weißen Haare es hätten vermuten lassen. León schätzte seinen Nachbarn auf 65 Jahre. Sein markantes und trotz des Alters schönes Gesicht strahlte Bildung und Intelligenz aus, der Blick seiner stahlblauen Augen war stechend und hellwach. Ein Blick, dem nichts zu entgehen schien. Unter seinem weißen Leinenhemd zeichnete sich eine gut ausgebildete Muskulatur ab und seine Hände waren die eines kultivierten Mannes, der sein Brot nicht mit harter Arbeit verdient zu haben schien. Trotz seines Alters vermittelte die ganze Erscheinung, dass es sich um einen Mann handelte, der sich im Zweifelsfall zu verteidigen wusste.

Auch der Weißhaarige musterte León ausgiebig, bemerkte den kraftvollen, sportlichen Körper, der das jahrzehntelange Training als Kampfsportler widerspiegelte, und versuchte, aus Leóns Gesicht zu lesen, was ihn hierher verschlagen haben könnte. Denn er sah nicht aus wie einer der üblichen Italienurlauber. Nein, dieser Mann war kein Tourist. Er machte aber auch nicht den Eindruck, als sei er per Zufall in diesen vergessenen Ort geschneit.

Die beiden Männer checkten sich gegenseitig von oben bis unten ab, beinahe wie zwei Boxer, die sich auf diesem Weg ihre Chancen für einen Sieg ausrechneten. Dabei waren sie sich spontan eigentlich nicht unsympathisch. Aber keiner wollte als erster das Schweigen brechen. So wandte sich León wieder seinem Cappuccino zu, als sein Nachbar mit tiefer, ruhiger Stimme sagte: „Ich denke, Sie sollten jetzt besser gehen.“

León sah ihn verwundert an. Denn der Weißhaarige hatte das nicht auf Italienisch gesagt, sondern in perfektem, akzentfreiem Deutsch. Vermutlich, um León vor den anderen im Raum nicht zu kompromittieren. Woher wusste er überhaupt, dass León Deutscher war? Er sprach ein ebenso akzentfreies Italienisch wie sein Gegenüber Deutsch. Aber dies war wohl nicht die Stunde, um das zu klären. Er nickte dem Weißhaarigen freundlich zu, legte zwei Euro auf den Tresen und verließ grußlos die Bar. Als sein Audi dröhnend Richtung Ortsausgang rollte, glaubte León im Rückspiegel den Wirt zu bemerken, der ihm lange nachsah, nicht ohne dabei seine Autonummer zu notieren.

Auch wenn der Besuch der Bar keinerlei Erkenntnisse gebracht hatte, die León für sein Buch hätte verwerten können, war er fasziniert von dem unerwarteten Intermezzo. Er würde wiederkommen. Und er würde erfahren, was es mit diesem Ort auf sich hat, der den ungewöhnlichen Namen der Illuminaten, der Erleuchteten, trug.

* * *

Der Orden der Illuminaten war eine im Mai 1776 in Ingolstadt gegründete Geheimgesellschaft. Adam Weishaupt, der Gründer, war Professor für Philosophie und Kirchenrecht an der Ingolstädter Universität, der ersten in Bayern. Sein Streben war es, durch Aufklärung und sittliche Vervollkommnung die Herrschaft von Menschen über Menschen überflüssig zu machen. Obwohl der Geheimbund bereits wenige Jahre später wieder verboten worden war, ranken sich bis heute Mythen und Legenden um die Illuminaten. Verschwörerischen Theorien zufolge lebt der Bund bis heute weiter und strebt mit Hilfe der Unterwanderung einflussreicher Positionen in Politik und Gesellschaft sowie durch zweifelhafte Machenschaften die Weltherrschaft an. All das eben, was man jeder Geheimgesellschaft nachsagt.

Ein faszinierendes Thema und ein Fundus für aberwitzige Hirngespinste. Aber selbst die verbriefte Geschichte ist fernab aller Mythen durchaus bemerkenswert. Der Bund, dem berühmte Persönlichkeiten wie Adolph Freiherr von Knigge, Goethe und Johann Gottfried Herder angehörten, hatte eine den Freimaurern ähnliche Struktur. Seine aufklärerischen Ziele brachten den Illuminatenorden rasch in den Fokus der Machthaber, die den Geheimbund kurzerhand nach nur neun Jahren verboten. Goethe, so sagt die Legende, sei dem Orden nur beigetreten, um ihn, wie man heute sagen würde, undercover auszuspionieren.

Auch wenn sich nach dem Verbot die Verfolgung der Ordensmitglieder in Grenzen hielt, kam es doch zu zahllosen Hausdurchsuchungen und Berufsverboten, der Gründer Adam Weishaupt musste aus Ingolstadt fliehen. Die Angst vor den Illuminaten war immerhin so groß, dass die Rekrutierung neuer Ordensmitglieder in Bayern unter Todesstrafe gestellt worden war. Schon im ausgehenden 18. Jahrhundert glaubten dennoch viele an den Fortbestand der Illuminaten im Geheimen. Und selbst heute noch sind Millionen Menschen von der Existenz der Illuminaten überzeugt. Glaubt man den hunderttausenden von Interneteinträgen und -foren, dann sind die Illuminaten nach wie vor omnipräsent.

León musste unwillkürlich schmunzeln, als er daran dachte, dass er ausgerechnet mit derartigen Verschwörungstheorien gutes Geld verdiente. Er wusste, dass die meisten dieser Theorien pure Fantasie waren, im günstigsten Fall mit etwas Halbwissen verbrämte Mythen, denen man eine gewisse Faszination indes nicht absprechen konnte. Das Manuskript für sein neues Buch über die Illuminaten war fast fertig und bediente sich ebenfalls ungeniert derartiger Legenden. Das war es doch, was diese Menschen lesen wollten und was natürlich auch eine gewisse Auflage garantierte.

Seit einer halben Stunde allerdings war sich León gar nicht mehr so sicher, was Dichtung ist und was Wahrheit, seit er tief in den italienischen Abruzzen durch ein Dorf gefahren war, auf dessen Ortsschild „Illuminati“ stand und dessen Bewohner so seltsam waren, dass man spontan bereit war, an eine weltumspannende Verschwörung zu glauben. Die geheimnisvoll stille Bar, der Wirt mit der Tätowierung der Eule der Minerva, der weißhaarige Mann mit seinem perfekten Deutsch. War das alles nur Zufall?

León nahm sich vor, noch einmal intensiv die Archive zu durchforsten, sobald er wieder zu Hause war, um nach Hinweisen auf dieses italienische Dorf zu suchen, das auf keiner Karte verzeichnet, das jedem Navigationsgerät unbekannt war und in dem man als Fremder offenbar alles andere als gern gesehen wurde.

Der weißhaarige Mann, der ihn so intensiv gemustert hatte, ging León nicht mehr aus dem Kopf. Er strahlte soviel Wissen aus, barg offenbar manches Geheimnis, an dem León gerne teilhaben würde. Am liebsten hätte er sofort seinen Wagen gewendet und wäre zurückgefahren nach Illuminati. Solange er aber nicht mehr wusste als den Namen des Ortes, solange würde er wohl kaum etwas erfahren von ihm oder den anderen schweigsamen und feindseligen Bewohnern.

Als León in die Autostrada nach Teramo einbog, stand seine Strategie fest. Zuerst zurück zur Archivarbeit. Dann erst würde er zurückkommen und in den Orten rings um Illuminati anfangen zu recherchieren. Und recherchieren hatte er ja gelernt in den Jahren beim BND.

* * *

In Teramo führte die Straße nach links Richtung Guazzano hinauf nach Castel di Lama, wo León im Hotel Borgo Storico Seghetti Panichi für diesen Abend ein Zimmer gebucht hatte. Erst als er seinen Audi die Via San Pancrazio hochsteuerte auf den Hügel, auf dem das Hotel stand und der einen unvergleichlichen Ausblick bot auf die Sibillini-Berge bis hin zu den Apenninen, erst jetzt ließen ihn seine Gedanken an Illuminaten und Verschwörungstheorien wieder los.

Nachdem er eingecheckt hatte, brachte León sein Gepäck aufs Zimmer, nahm ein Bad und zog sich etwas Frisches an. Eine hellblaue Jeans und ein weißes, tailliertes Hemd. Er holte die Docking-Station, die er auf Reisen stets mit sich führte, aus dem Koffer, steckte seine iPhone in die Halterung und suchte nach der passenden Musik für diesen Abend. Puccini, das war es, was er jetzt hören wollte. Schließlich befand er sich tief in Italien.

León liebte die Opern von Puccini, bewunderte den Komponisten, der es wie nur wenige andere große Musiker geschafft hatte, seine Kunst mit einem Leben zu vereinen, das er in vollen Zügen zu genießen verstand. Er war begeisterter Jäger, liebte schöne und für die damalige Zeit schnelle Autos, wusste gute Kleidung zu schätzen, besaß mehrere Schiffe und sein Liebesleben war ausufernd genug, um ihm die musikalischen Ideen zu liefern für seine Opern, für seine unsterblich romantischen Arien und Duette.

Für León hatte die italienische Oper keine schöneren Momente zu bieten. La Bohème, Tosca oder Turandot: Die schlichte Perfektion in Puccinis Melodien, sein filigraner Umgang mit Dissonanzen und die emotionale Kraft seiner Arrangements faszinierten León. Verdi, Donizetti oder Rossini hatten auch grandiose Opern komponiert. Aber deren Musik endete für León dort, wo Puccini erst zu erzählen begann, über die tragische Liebe der schwindsüchtigen Mimi zu ihrem Rudolfo, über die Hingabe der Tosca für ihren Maler Mario Cavaradossi, über die tiefe Sehnsucht von Prinzessin Turandot.

Erst als León sein Hotelzimmer in eine italienische Opernbühne verwandelt hatte, klappte er sein Laptop auf, ein federleichtes Macbook Air, und nahm die Speicherkarte aus der Kamera, um sie in den Computer einzulesen. Ein zögerliches Klopfen an der Zimmertür unterbrach ihn.

León stand auf, wobei die Speicherkarte zu Boden fiel. Er hob die SD-Card auf und steckte sie in die Hosentasche, bevor er öffnete. „Möchten Sie noch etwas zu essen?“, fragte ein kleines, schüchternes Zimmermädchen mit verlegenem Lächeln, „unsere Küche schließt nämlich in einer halben Stunde.“

„Gut“, erwiderte León, „lassen Sie mir ein Filetto di manzo in Balsamico-Sauce machen mit etwas Grillgemüse.“ Das Zimmermädchen trat lächelnd den Rückzug an, als León ihr noch nachrief: „medium, bitte. Und lassen Sie es im Garten servieren. Ich bin sofort unten. Ach ja, und eine Flasche Ornellaia 2004.“ León liebte diesen toskanischen Rotwein, einen des sogenannten Supertoskaner, bei dem er ähnlich wie bei Puccinis Musik alles um sich vergessen konnte.

Das Weingut in Bolgheri, von wo dieser Wein stammt, ist nicht etwa eine jener traditionsreichen italienischen Tenutas mit einer unendlich langen Geschichte, sondern wurde erst 1981 gegründet mit der Absicht, die Wiege für einen Spitzenwein zu werden. Das Mikroklima in Bolgheri und die geeigneten Böden ließen diese Vision innerhalb von nur zwanzig Jahren Realität werden. Die Trauben werden auf diesem Weingut auch heute noch von Hand gelesen, die Erntemenge ist stark limitiert. Das Ergebnis ist ein Wein, dessen kraftvolle Fülle und Komplexität die meisten anderen toskanischen Weine in den Schatten stellt. Und nicht nur die.

León war im Lauf der Jahre ein Weinkenner geworden, ein Spezialist für italienische Rotweine, speziell für die aus der Toskana. Auch wenn die hochwertigsten Weine der Welt nach wie vor aus dem französischen Bordelais stammen. Die aus der Toskana, das jedenfalls fand León, hatten mehr ursprüngliche Kraft, mehr Persönlichkeit und Charakter. Selbst wenn der nicht immer perfekt war, schätzte León doch die permanenten Bemühungen vieler Winzer, von Jahr zu Jahr besser, noch besser zu werden. Und er kannte viele von ihnen sehr gut. Auch mit den Jahrgängen war León bestens vertraut. Deswegen hatte er sich den Ornellaia 2004 bestellt, der von Weinpäpsten wie Robert Parker mit beinahe 100 Punkten ebenso hoch eingestuft wurde wie der aus dem Jahr 2001.

León setzte sich in den malerischen, von großen Palmen gesäumten Garten. Der Ornellaia stand bereits entkorkt auf dem Tisch. Obwohl erst Anfang Mai, war die Abendluft wohltuend mild. Die Sterne funkelten durch die Blätter der Palmen und in der Ferne tanzten kleine Lichter an den Hängen der Sibillini-Berge. „Ein perfekter Abend für eine perfekte Flasche Wein“, dachte León und ließ den ersten Schluck Ornellaia im Mund aufblühen. 2004 war in der Tat ein bemerkenswerter Jahrgang gewesen für diesen Wein, den León mit echter Andacht trank. Das Filetto ließ nicht lange auf sich warten. Es war nahezu perfekt. Obwohl León keinen sonderlichen Appetit hatte, ließ er kaum etwas auf dem Teller zurück.

„Signore Dupré, Sie werden am Telefon verlangt.“ Das verlegene Lächeln in Form des kleinen Zimmermädchens war wieder da und hielt León ein drahtloses Telefon hin. „Wer weiß denn, dass ich hier bin?“, grübelte León, „vermutlich wieder ein Gag von Sean.“ Er hielt den Hörer ans Ohr und meldete sich mit dem landestypischen „Pronto“.

„Sie fragen sich jetzt sicher, woher ich weiß, in welchem Hotel Sie abgestiegen sind“, meldete sich eine tiefe Männerstimme am anderen Ende. Verdammt noch mal, das war der Weißhaarige aus Illuminati. León hatte die Stimme sofort wiedererkannt, obwohl der Mann jetzt italienisch sprach. Und noch bevor León auch nur eine Frage formulieren konnte, fuhr er fort: „Es war nicht meine Absicht, unhöflich zu sein gerade eben. Aber ich musste die Situation etwas entschärfen. Sie hätten nicht ohne zu fragen fotografieren sollen. Das mag nicht jeder. Vielleicht kommen Sie ja mal wieder durch unsere Gegend. Buona serata.“ Ein leises Knacken in der Leitung signalisierte León, dass sein Gesprächspartner aufgelegt hatte. „Verflucht, woher weiß der, wo ich bin?“, dachte er, kam aber zu keiner brauchbaren Antwort. Der Fremde gab ihm wirklich Rätsel auf. Immerhin war sein „Vielleicht kommen Sie ja mal wieder durch unsere Gegend“ durchaus auch als Einladung zu verstehen. León wollte es jedenfalls so verstanden haben.

* * *

Der Ornellaia ging langsam zur Neige und León nahm noch einen letzten Schluck, bevor er aufstand, um auf sein Zimmer zu gehen. „Ist das Ihr Sportwagen da draußen?“, stoppte ihn eine sanfte Frauenstimme in der Lobby. León drehte sich um und stand einer vielleicht 28-jährigen brünetten Schönheit gegenüber, die ihn mit großen braunen Augen ansah. „Ich würde ihn mir gerne mal etwas genauer ansehen, wenn ich darf.“

Sie hatte eine überaus charmante Stimme mit verführerischem Timbre und sah in ihrem halblangen schwarzen Kleid aus wie einem Modemagazin entsprungen. Eigentlich wollte León ja gerade aufs Zimmer gehen. „Ich kann allem widerstehen, nur nicht der Versuchung“, schoss ihm jedoch ein Aphorismus von Oscar Wilde durch den Kopf und er hörte sich selbst ein süßliches „Certo“ säuseln, bevor er die junge Frau zu seinem Sportwagen begleitete. Sie hatte eine überwältigend gute Figur, schlank und doch sehr weiblich. Ihre wohlgeformte, beachtlich große Brust wurde von ihrem schwarzen Kleid eindrucksvoll in Szene gesetzt. Und ihr Gesicht war das eines Engels. Unschuld und Selbstbewusstsein paarten sich im Blick ihrer finessenreich geschminkten Augen. Die langen, brünetten Haare fielen locker über ihre Schultern und reflektierten das Licht in unzähligen Nuancen von Schwarz bis Rot. Irgendwie hatte León den Eindruck, er habe dieses Gesicht schon einmal gesehen. Aber wo? An wen erinnerte es ihn?

Mit einem Griff an den Türöffner schaltete die Innenraumbeleuchtung des Audi R8 ein und León zog die Fahrertür auf, um den Blick freizugeben auf das Cockpit. „Ich heiße Chiara“, sagte sie wie beiläufig, als sie auf dem Fahrersitz Platz nahm und fachmännisch die Instrumente und Bedienelemente begutachtete. Sie ließ ihre schmalen Finger über die Schaltkulisse gleiten, strich über die Knöpfe aus glänzendem Klavierlack und legte ihre Händen auf das Lenkrad. „Fantastico“, säuselte sie, „seit wann baut man in Deutschland so schöne Sportwagen?“ Und León fand, dass sein Auto durch eine Frau wie diese Chiara auf dem Fahrersitz noch deutlich an Attraktivität zugelegt hatte.

Sie fragte fachmännisch nach Hubraum, PS, Drehmoment und den Beschleunigungswerten, als León schon längst klar war, dass er so eine Frau nicht einfach in der Lobby verabschieden und ins Bett schicken würde. Seit frühester Jugend war er ein ausgesprochener Casanova gewesen. Seine Beziehungen hatten zwar nie lange gehalten. Aber er verehrte das schöne Geschlecht und stand, wie er gerne scherzhaft sagte, immer stark unter dem Eindruck, den er auf eine Frau gemacht hat.

„Darf ich Sie noch zu einem Glas Champagner einladen?“, fragte er auf dem Weg zurück zum Hoteleingang und sie antwortete wie León zuvor mit einem zarten „Certo“ und musste dabei lachen. León war bereits nach wenigen Minuten überwältigt von dem bezwingenden Charme Chiaras und ihrer unwiderstehlichen Ausstrahlung.

„An der Rezeption hat man mir gesagt, sie seien ein deutscher Schriftsteller. Sie müssen sehr erfolgreich sein, wenn Sie sich so ein Auto leisten können“, bemerkte Chiara und León wurde erneut warm ums Herz, als er ihr dabei in die Augen sah. Er fühlte sich Chiara irgendwie hilflos ausgeliefert. Und er liebte diese Art der Hilflosigkeit.

„Ich dachte zuerst, Sie seien Franzose. Dupré ist kein deutscher Name?“ „Mein Vater war Franzose, aus einem kleinen Ort in der Nähe von Paris“. Und auf dem Weg in der Garten erzählte ihr León mit launigem Ton, wie sein Vater, Pierre Dupré, seine Mutter bei einem Deutschlandurlaub kennengelernt und unglaublicher Hartnäckigkeit innerhalb von zwei Wochen heiratsfähig geflirtet hatte. Diese Geschichte hatte sich León als Kind immer und immer wieder anhören müssen.

Der kleine Tisch unter den Palmen im Garten des Hotels war wirklich der ideale Ort für einen kleinen italienischen Flirt. Und die Flasche Dom Perignon, die León geordert hatte, das ideale Getränk. Chiara war eine über die Maßen begehrenswerte Frau und augenscheinlich auch von León ziemlich angetan. Seine 38 Jahre sah man ihm auch nicht unbedingt an. Der lässige Schnitt seiner dunkelblonden Haare und der überaus muskulöse Körperbau ließen ihn um Einiges jünger aussehen.

León war ein gut aussehender Mann. Und wenn es angebracht war, konnte er überaus charmant sein. Es war angebracht. Und wie. León flirtete, was das Zeug hielt, erzählte von seinen Büchern, von Verschwörungstheorien, von gutem Wein, seiner Liebe zur italienischen Oper und bemerkte gar nicht, dass er auch nach zwei Stunden von ihr so gut wie nichts erfahren hatte. Aber es war ja auch nicht die Stunde der Informationen.

„Sie kennen sich bemerkenswert gut mit Autos aus“, schlug León den Bogen zurück zu dem Thema, wegen dem sie ihn in der Lobby angesprochen hatte.

„Na ja, ich bin Italienerin, fahre selbst gerne etwas sportlicher und liebe gut designte Autos, zumal, wenn sie so perfekt ausgestattet sind wie Ihr Audi.“

„Sie sind selber auch ganz gut ausgestattet, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf.“ Er durfte. León konnte nicht verhindern, dass sich seine Augen bei diesen Worten an Chiaras betörendem Dekolleté verhakten. Sie bemerkte seinen Blick und eine leichte Röte überzog ihr Gesicht. „Vielen Dank“, säuselte sie ein klein wenig verlegen, setzte sich aber gleichwohl noch eine Spur aufreizender auf ihren Stuhl.

Chiara wusste ihre Wirkung auf Männer sehr wohl einzuschätzen. Sie beherrschte das Arsenal weiblicher Waffen virtuos. Und für León bediente sie sich fleißig dieser Waffen. Irgendetwas an ihm faszinierte sie. So sehr, dass sie León in seinen Annäherungsversuchen wohlwollend bestärkte. Chiara hatte für sich längst entschieden, wie weit sie zu gehen bereit war. Und das war verdammt weit.

„Woher hat ein Schriftsteller solche Muskeln?“, wollte Chiara wissen, als beide vom Tisch aufstanden. In dem eng anliegenden Hemd sahen seine Brustmuskulatur und die perfekt trainierten Oberarme in der Tat spektakulär aus. „Auch Schriftsteller haben Geheimnisse“, erwiderte er amüsiert und auch ein wenig stolz auf seinen durchtrainierten Körper. Sie sahen sich tief in die Augen, bevor León seine Arme um Chiara legte. Sie ließ es widerstandslos geschehen. Chiara und León waren sich wortlos einig. Sie wollte ihn und er wollte sie.

Als sein Mund nur noch Zentimeter von ihrem entfernt war, ließ er sich noch zu einem trivialen Scherz hinreißen. „Irgendetwas steht zwischen uns“, kalauerte er. „Das spüre ich auch“, war Chiaras nicht minder launige Antwort, bevor beide aufs Zimmer gingen. Es sollte eine unvergessliche Nacht werden.

Giacomo Puccinis Opernarien durchströmten das in gedämpftes Licht getauchte Hotelzimmer. Und wieder spürte León beim Blick in Chiaras rehbraune Augen, dass irgendwie alles anders war als mit all den Frauen, die er bisher kennengelernt hatte. Er fühlte sich auf eine so intensive Art zu Chiara hingezogen, wie er es bislang nur selten erlebt hatte. Er hatte viele Frauen geliebt, viele schöne Frauen. Aber keine war ihm bislang so nahe gekommen wie Chiara. Dieses Abenteuer ging León buchstäblich unter die Haut, bevor es überhaupt begonnen hatte. Er fand es schön und erschreckend zugleich, dieses Gefühl, das er zum letzten Mal gespürt hatte, als er sich mit knapp 15 Jahren in eine doppelt so alte Kellnerin verknallt hatte.

Chiara war nicht nur eine schöne, sondern auch eine außergewöhnlich temperamentvolle Frau. Den Rest besorgte Giacomo Puccini, dessen Arien die Begierde Chiaras ins Unermessliche wachsen ließen. León konnte nicht ahnen, welche Wirkung die Wahl gerade dieser Musik auf Chiara hatte. Es wurde eine der leidenschaftlichsten Nächte, an die León sich erinnern konnte. Gegen vier Uhr morgens schlief er nach drei extrem fordernden Runden ein, obwohl es ihm noch immer schwerfiel, seine Blicke von Chiaras makellosem Körper zu wenden, als sie neben ihm schlafend auf dem Bett lag.

* * *

Es war bereits kurz nach neun, als León vom gleißenden Licht der italienischen Sonne geweckt wurde. Chiara lag nicht mehr neben ihm. Auch im Bad war sie nicht. Ihre Kleider waren weg . . . und Leóns Laptop sowie der Fotoapparat, der auf dem kleinen Schreibtisch in der Ecke gestanden hatte.

„Das kann doch nicht war sein“, murmelte León, „so eine kleine Schlampe. Schläft mit mir, um mich zu beklauen.“ Vermutlich hatte sie den R8 auch mitgehen lassen. León kontrollierte seine Brieftasche. Es fehlte nichts. Auch der Autoschlüssel lag auf dem Tisch. Was sollte das bedeuten? „Ein Traum von einer Frau steigt mit dir ins Bett, liebt dich bis in die Morgenstunden, um einen Fotoapparat und ein Laptop für insgesamt 1500 Euro zu stehlen? Das macht doch keinen Sinn“, grübelte er.

Nachdem er sich angezogen hatte, ging León an die Rezeption, um sich nach Chiara zu erkundigen. „Die Dame, mit der ich gestern im Garten saß. Ist sie noch im Hotel?“ „Signora Lamberti ist bereits abgereist“, meinte der Concierge nach einem Blick ins Gästebuch mit verschwörerischem Lächeln. Leóns kleines Abenteuer hatte sich schnell herumgesprochen, denn der Concierge hatte am vergangenen Abend keinen Dienst gehabt, wusste aber dennoch offenbar genau, nach wem León fragte, ohne dass er ihm einen Namen genannt hätte.

León überlegte kurz, verzichtete aber darauf, wegen eines fehlenden Laptops und einem Fotoapparat einen Aufstand zu inszenieren, womöglich noch mit Polizei, Befragungen, Protokollen. Das war die Sache nicht wert. Auf dem Laptop war zwar das Manuskript seines Illuminaten-Buches. Aber León hatte ein Backup aller Daten auf einer virtuellen Festplatte bei Apple liegen. Er brauchte sich also nur ein neues Laptop zu kaufen und die Daten runterzuziehen.

„Eine wunderschöne Frau, nicht war?“, rief ihm der Concierge noch nach, als León sich schon auf den Weg zum Frühstück gemacht hatte. Er drehte sich noch mal um. „Mit welchem Auto ist die Lady unterwegs?“ „Lamborghini Gallardo 560-4“, war die Antwort.

Das passt doch noch weniger zusammen. Ein Frau mit Stil und teurer Garderobe, einem Hotelzimmer für 400 Euro pro Nacht und einem Lamborghini, der gut und gerne 200 000 Euro kostet, klaut ein gebrauchtes Laptop, lässt aber Geld und Kreditkarten liegen. León grübelte während des Frühstücks immer und immer wieder darüber nach. Eine Erklärung fand er allerdings nicht. Und trotz dieses ärgerlichen Finales konnte er sich ein Lächeln nicht verkneifen, als er an die wundervolle Nacht mit Chiara zurückdachte.

Er musste immer noch lächeln, als er in seinen R8 stieg, das Dach hinter sich verschwinden ließ und mit kraftvollem Blubbern den Kiesweg hinausrollte auf die Via San Pancrazio. Knapp fünfhundert Kilometer lagen vor ihm. Und am Nachmittag pünktlich um 15 Uhr würde Sean O’Brian in Harrys Bar auf ihn warten.

* * *

Langley, Virginia, 11 Uhr Vormittag. John Witmore, Leiter der Abteilung Internationaler Terrorismus bei der Central Intelligence Agency, steuert seinen Chrysler der Park Avenue entlang Richtung Norden. Der Verkehr war noch nicht sonderlich dicht zu dieser Zeit. Der seit Tagen anhaltende Dauerregen hat Johns Stimmung auf einen Tiefpunkt sinken lassen. Und in der Firma standen die Zeichen auf Sturm seit der angeblichen Kommandoaktion gegen Osama Bin Laden in Abottabad. Tausende von Hinweisen auf bevorstehende Anschläge Tag für Tag. Und alle erwiesen sich als hypernervöse Hirngespinste. John war das eigentlich schon vorher klar. Von Al Kaida war keine großartige Reaktion zu erwarten. Dieser desolate und völlig unorganisierte Haufen versprengter Gotteskrieger war nicht einmal in der Lage, sich ordnungsgemäß selbst in die Luft zu jagen. Und jetzt machte sich die ganze Welt verrückt aus Angst vor ein paar Wahnsinnigen, die sich beim Abfackeln westlicher Landesfahnen schon Brandwunden zuziehen. Mit solchen Amateuren war kein Krieg zu gewinnen.

John bog nach rechts ab in die Mccleod Alley und parkte den Wagen nach etwa dreihundert Metern auf dem Gelände des Star Store. Die paar Meter bis zum Café Langley ging er trotz des heftigen Regens zu Fuß. Er wollte nicht unbedingt gesehen werden. Deswegen schlug er den Kragen seines Trenchcoats hoch und zog den Regenschirm weit nach vorne vor das blasse, missmutige Gesicht. John war ein großer, hagerer Mann mit Brille, dem man beim Berufe raten am ehesten noch einen Finanzbeamten geglaubt hätte. Er wirkte weder gefährlich noch irgendwie sonderlich schlau. Genau das war einer seiner unschätzbaren Vorteile.

Im Café Langley angekommen stellte er seinen Schirm in den Ständer am Eingang, bestellte im Vorbeigehen an der Bar einen Kaffee mit viel Milch und steuerte zielstrebig auf den letzten Tisch in der Ecke rechts hinten zu, an dem ihn ein arabisch aussehender Mann mit nervösen Gesten begrüßte. „Was ist mit dem Video?“, presste John halblaut hervor, „es sollte schon vor Tagen fertig sein.“

„Morgen kommt“, antwortete der Araber gebrochen und biss unappetitlich an seinen Nägeln herum. „Aiman al-Sawahiri ist nix Mann, der sich lässt antreiben. Und ist nix Befehlsempfänger von CIA.“ Johns Mine wurde noch finsterer, als sie es vorher schon gewesen war. „Aber Du“, raunzte er zurück, „wofür bezahlen wir Dich?“

„Morgen kommt mit Mail an vereinbarte Adresse“, gab der Araber kleinlaut zurück. Er hatte zwar einen amerikanischen Pass und dank CIA ein ansehnliches Einkommen. Aber das waren Zuwendungen auf Zeit. Umar al-Mawardi war im Iran geboren worden, lebte aber schon seit über zwanzig Jahren in den Vereinigten Staaten und stand beinahe genauso lang im Dienst der Firma. Auf unterster Stufe zwar. Aber die Entlohnung war ordentlich für eine schmutzige Arbeit.

„Also morgen“, wiederholte John die Worte Umars mit einem ultimativ klingenden Unterton. „Aber denk daran, Umar heißt zwar bei euch der Langlebende. Aber das muss bei uns in den Staaten nichts bedeuten.“

Das war eine unverhohlene Drohung, die Umar al-Mawardi so auffasste, wie sie gemeint war. Als muslimischer Handlanger der CIA hatte man zu tun, was der zuständige Agent verlangte. Aussteigen, dieses Wort gab es nicht. Im besten Fall wurde der Pass eingezogen und der Geldhahn zugedreht. Meist jedoch fanden sich unzuverlässige Mitarbeiter in der Tulalip Bay wieder, mit ein paar Löchern im Schädel.

Johns Blick war eiskalt, sein Gesicht verriet den Ärger der letzten Tage und auch, dass er keinerlei Lust hatte, sich noch weiter ärgern zu lassen. „Sobald ich das Video habe, machst Du Dich an die Suche nach einem geeigneten Server im Iran. Wir brauchen in spätestens drei Wochen einen leistungsstarken Server mitten in Teheran, mit dem wir einen großen Datenstrom ins Netz schleusen können. Und einen mit fester IP-Adresse, die sich leicht zurückverfolgen lässt. Wann das Video online gehen soll, wirst Du noch erfahren. Auf keinen Fall zu früh.“

Umar schluckte nervös, Schweißperlen brachten seinen schwarzen Vollbart ein wenig zum Glänzen. Das mit dem Video würde klappen. Aber er wusste auch, dass die Suche nach einem geeigneten Server in Teheran nicht so einfach sein würde. Er hatte einen Schwager in Teheran, der könnte ihm vielleicht helfen. Und der hatte eine auch Hand voll Ganoven im Schlepptau. „Okay, Chef“, stammelte er unterwürfig, um John Witmores Laune nicht noch weiter zu verderben, „ich tue mein Bestes.“

Das war genau der Satz, den John nun gar nicht hören wollte. „Versager sagen immer, sie tun ihr Bestes“, gab er missgelaunt zurück, „warum kannst Du nicht einmal sagen: Okay, das wird erledigt?“ Mit diesen Worten stand John unvermittelt auf, schlürfte seine Kaffeetasse im Stehen leer und war schon wieder am Ausgang, bevor Umar noch etwas erwidern konnte. Ihm war übel nach dem Gespräch. Die Aufgaben, die er von John Witmore bekam, wurden von Mal zu Mal kitzliger. Und der Gedanke, dass er für ein paar lausige Dollar sein eigenes Volk verriet, ließ sich immer schwerer verdrängen.

Umar hatte bisher zwar noch niemanden ans Messer liefern müssen. Aber immerhin brachte er seine Landsleute und Glaubensbrüder dazu, das zu tun, was die CIA wollte. Den Sinn seiner Aufträge verstand Umar nur selten. Dieses Mal noch weniger als sonst. Was sollte das mit dem Server in Teheran? Warum war die CIA so an dem Video von Aiman al-Sawahiri interessiert? Umar war sich noch nicht einmal sicher, ob das alles wirklich die CIA wollte oder nur John Witmore. Wer bei dem Verein sein eigenes Süppchen kochte und wer nicht, war für ihn unmöglich auszumachen. Für ihn war John die CIA. Basta. Andere Kontakte hatte er nicht und würde sie auch nie bekommen.

* * *

Es war schon weit nach acht, als John am nächsten Morgen in seiner kleinen Wohnung in der Nautilus Road aufwachte. Noch im Bett griff Witmore nach seinem Laptop, das auf dem Nachtisch stand, und checkte seine Mails. Umar hatte Wort gehalten. Die Mail war da. John öffnete den Anhang und sah sich das Video an, in dem der zweite Mann von Al Kaida, Aiman al-Sawahiri, seine Botschaft an die Welt formuliert hatte. John Witmore verstand genügend Arabisch, um zu verstehen, was der Terroristenführer sagte. „Bin Laden hat die USA zu Lebzeiten in Angst und Schrecken versetzt und er wird es auch nach seinem Tod tun.“

Seine Glaubensbrüder rief er auf, nicht in privaten Aktionen den Tod Bin Ladens zu rächen, sondern für den großen Schlag gegen den imperialistischen Westen gerüstet zu sein. Ganz offensichtlich war Aiman al-Sawahiri bereit, das Spielchen der CIA mitzuspielen. Natürlich wusste auch er, dass die Nachricht vom Tod Bin Ladens lanciert und er bereits 1999 ermordet worden war. Schließlich hatte er ebenso wie die Amerikaner dafür gesorgt, dass Bin Laden nach seinem Tod 1999 sozusagen am Leben geblieben war, als Identifikationsfigur für den islamistischen Terror auf der einen, als nahezu ideales Feindbild auf der anderen Seite. Jetzt aber schien ihm die neue Situation ebenso gelegen zu kommen wie den USA. Vielleicht hoffte er nach der Meldung von Bin Ladens Ermordung auf neue Impulse, die die Bedeutung von Al Kaida wieder stärken würden. Denn das Terrornetzwerk drohte seit langem schon, in der Bedeutungslosigkeit zu versinken.

Das Video zeigte Aiman al-Sawahiri mit schwarzem Bart und Turban. An der Wand hinter ihm lehnt ein automatisches Gewehr, das John zweifelsfrei als eine Kalaschnikow identifizierte. „Perfekt“, murmelte er zufrieden, während er aus dem Bett kroch. Er zog wie üblich einen seiner mausgrauen Anzüge an und setzte seine Brille auf, die er eigentlich gar nicht brauchte. Aber sie war sehr nützlich, um sein Image als harmloser Schreibtischtäter nicht zu gefährden. Je harmloser er auf andere wirkte, desto sicherer fühlte er sich.

Er ging auf die Straße zum nächsten Münzfernsprecher, warf ein paar Penny ein und verlangte ein Ferngespräch nach Mexiko. Kaum hatte er die Nummer durchgegeben, hörte er auch schon ein nüchternes „Hallo?“ am anderen Ende der Leitung. „Operation Proton. Alles verläuft nach Plan“, murmelte er in den Hörer. Ein Knacksen in der Leitung und John hängte den Hörer zurück auf die Gabel. Natürlich hatte er auch in seiner Wohnung ein Telefon und selbstverständlich ein Diensthandy in der Tasche. Doch John musste vorsichtig sein, verdammt vorsichtig. Mit welchen Methoden die CIA arbeitet, das wusste niemand besser als er.

* * *

Angenehme 24 Grad und ein strahlend blauer Himmel empfingen León, als er seinen Wagen über die Ponte Della Libertà steuerte, die Brücke, die Venedig mit dem Festland verbindet. Auf der Piazzale Roma angekommen, fuhr er in eines der Parkhäuser zur Rechten. Danach nahm León ein Wassertaxi und ließ sich zum Hotel Danieli am Riva degli Schiavoni bringen, in dem er von unterwegs aus ein Zimmer gebucht hatte. Er war schon oft hier abgestiegen und liebte die mondäne Atmosphäre im Danieli, den phänomenalen Blick über die ganze Stadt, den das Restaurant Terrazza Danieli im obersten Stockwerk bot, die Leuchter aus Murano-Glas und die handgearbeiteten Marmorsäulen in dem geschichtsträchtigen venezianischen Palazzo.

„Wieder mal in Venedig?“, fragte der schon etwas in die Jahre gekommene Concierge, der ihn mit Handschlag begrüßte. Es hieß Paolo und wusste über jeden seiner Stammgäste etwas zu erzählen, hätte er denn was erzählt. Paolo vergaß kein Gesicht und was man ihm sagte, brannte sich unauslöschlich in sein trotz des Alters hervorragendes Gedächtnis ein. Ein Geheimnis war bei ihm so sicher aufgehoben wie im Schließfach einer Schweizer Bank. „An was schreiben Sie gerade?“, wollte der grauhaarige Paolo wissen, „Warum schreiben Sie nicht mal ein Buch auf Italienisch, dann könnte ich es auch lesen?“ Paolo lachte verbindlich. Er kannte León schon seit vielen Jahren, wusste auch, was er früher gemacht hatte und fand ihn aufrichtig sympathisch.

Auch León mochte den alten Kauz, der sich nicht nur durch perfekte Manieren und absolute Diskretion auszeichnete, sondern ein wahres Organisationsgenie war und über ein Wissen verfügte, das jede Bibliothek überflüssig machte. Ihm entging nichts und er wäre sicher ein guter Agent geworden, hätte er sich nicht für die gastlicheren Seiten des Lebens entschieden. Als er León den Zimmerschlüssel in die Hand drückte, raunte er ihm verschwörerisch zu: „Signore Sean ist schon mal vorausgegangen.“

„Wer Dich kennt, Paolo, der braucht keine CIA mehr“, witzelte León. „Ach ja, kannst Du mir irgendwo in Venedig ein Macbook Air mit 13-Zoll-Display und 128-Gigabyte Speicher besorgen und auf mein Zimmer bringen lassen?“

„Steht so gut wie oben“, antworte Paolo, „wir setzen es einfach auf die Rechnung. High-Speed-Internet haben Sie selbstverständlich auf dem Zimmer.“ So ein Auftrag war für Paolo nicht erwähnenswert. Gerade von León war er andere Herausforderungen gewohnt. Vor vier Jahren zum Beispiel, als León unbedingt mit einer flüchtigen Hotelbekanntschaft eine Liebesnacht in den Bleikammern des Dogenpalastes verbringen wollte, in denen der berühmte Giacomo Casanova die zweifelhafte Gastfreundschaft der Dogen genossen hatte, bis ihm die Flucht über die Dächer von Venedig gelungen war. Dafür waren für Paolo Beziehungen von Nöten.

Er hatte es dennoch souverän gemanagt inklusive eines Drei-Gänge-Menüs, geliefert vom Restaurant des Hotels, samt einer Flasche Chateau Leoville Las Cases 1961, dem Geburtsjahrgang der Dame. Das fand Paolo richtig abgefahren und war selbstredend voller Stolz auf seine organisatorische Glanzleistung. Dass die erste Besuchergruppe am folgenden Tag die beiden Turteltäubchen noch immer recht spärlich bekleidet in den Bleikammern vorfand, war einem minimalen Regiefehler zuzuschreiben, der einigen Touristen immerhin ein unvergessliches Urlaubserlebnis in Venedig beschert hatte.

León ging vom Hotel aus die paar Schritte zur Piazza San Marco, vorbei am Café Florian in Richtung Nationalbibliothek. Von dort aus waren es nur noch ein paar Meter zu Harrys Bar, die direkt an der Mündung des Canal Grande lag. Als León die Tür aufstieß, sah er Sean bereits an einem der hinteren Tische sitzen. Er hatte leichte Schweißperlen unter seinem roten Schopf und mit seinem bunt gemusterten Hemd sah er aus wie die Inkarnation des amerikanischen Touristen.

Das erste Glas Bellini hatte Sean schon geleert. Er sprang von seinem Platz auf, als er León hereinkommen sah. Über sein Gesicht legte sich der ehrliche Ausdruck von Freude und er kam León ein paar Schritte entgegen. „León, wie lange haben wir uns nicht mehr gesehen? Ich freue mich wahnsinnig“, eröffnete Sean das Begrüßungsritual. Bevor León antworten konnte, hatte Sean ihn schon an die Brust gedrückt und schlug ihm mit seinen mächtigen Handflächen auf den Rücken.

„Sean, ich finde das wirklich riesig, dass wir uns ausgerechnet hier in Venedig treffen.“ Auch León war glücklich, seinen alten Weggefährten wieder einmal zu sehen. „Wenn Osama nicht gewesen wäre, hätte es vermutlich noch einmal zehn Jahre gedauert, bis wir voneinander hören“, sagte León, während die beiden Männer zurück zum Tisch gingen und beim herbeieilenden Ober vorsichtshalber gleich vier Bellini bestellten.

Erzähl, was treibst Du so?“, wollte León wissen, und Sean O’Brian brachte seinen mächtigen Körper in eine möglichst seriöse Position, bevor der León von seiner Firma erzählte, die er seit 2000 betrieb. „Wirtschafts-Spionageabwehr, you know“, beschrieb er in knappen Worten seine Geschäftsidee, die ihm einige potente und solvente Kunden aus der IT-Branche eingebracht hatte. „Ich arbeite unter anderem als Sicherheitschef für Apple. Wenn Du mal einen neuen Computer brauchst . . .“

„Schade, gerade vor zehn Minuten habe ich Paolo gesagt, er soll mir ein Macbook Air besorgen. Wenn ich das geahnt hätte.“ Nach kurzem Überlegen schob León nach: „Deshalb wusstest Du genau, wo ich gestern war. Du hast die Bewegungsprofile von meinem iPhone ausgelesen.“ Sean lächelte verschmitzt. Erst recht, als León ihm von seinem amourösen Abenteuer der vergangenen Nacht und dem Diebstahl von Computer und Kamera erzählte.

„Du vögelst Dich noch mal um Kopf und Kragen. Das habe ich Dir vor fünfzehn Jahren schon prophezeit. Irgendwann musst Du Dir doch die Hörner einmal abgestoßen haben, Du bist jetzt . . .“ Sean überlegte kurz: „Du bist 40. Da darf man schon einmal eine Dame auslassen.“

Seans schallendes Gelächter ließ die Köpfe aller Gäste in der Bar herumfahren, als León ihm erzählte, dass er sein Geld als Sachbuchautor verdient. „Du ein Schriftsteller? Ich fass es nicht. Wenn Du wenigstens Krimis oder Spionageromane schreiben würdest, irgendetwas, womit Du Dich wirklich auskennst.“

Bei zwei weiteren Bellini erzählte León von seiner neuen Buchreihe über Verschwörungstheorien, warum er gerade in den Abruzzen unterwegs war und von seinem Erlebnissen in Illuminati, bevor die beiden Freunde zwangsläufig auf das Thema kamen, das sie nach zehn Jahren wieder zusammengeführt hatte. „Was soll der Blödsinn mit der Tötung Osama Bin Ladens?“, machte Sean den ersten Schritt in die Vergangenheit, „wir beide wissen doch ganz genau, wann und wo Osama gestorben ist. Da musste jetzt so ein armes Schwein dran glauben, weil das Weiße Haus dringend eine Aufsehen erregende Erfolgsmeldung brauchte, die von den aktuellen Problemen ablenkt.“

* * *

León erinnerte sich an den Mai 1999 in Afghanistan und wie er Osama Bin Laden kennengelernt hatte. Er wohnte damals wie auch Sean O’Brian im Serena Hotel, einem mondänen, mehrflügeligen Bau in der Froshgah Street im Herzen von Kabul. Sean war zu dieser Zeit als Mitglied der Bin-Laden-Abteilung der CIA der direkte Kontaktmann von Osama in Afghanistan, León der Verbindungsoffizier des BND. Am 5. Mai bekam León gegen Mittag eine Mail von Sean: „Osama Bin Laden will dringend mit mir reden. Heute Abend 20 Uhr im Silk Route Restaurant. Komm bitte unbedingt dazu. Gruß Sean.“

Als León kurz vor 20 Uhr das Hotel-Restaurant betrat, saßen die beiden tatsächlich an einem der Tische und schienen sich angeregt zu unterhalten. León blieb vor dem Tisch stehen und Osama Bin Laden musterte den aufdringlichen und ihm unbekannten Europäer kritisch von oben bis unten. Sean flüsterte ihm etwas ins Ohr, worauf Osama sich erhob und in perfektem, kultiviertem Englisch den neuen Gast begrüßte. „Seans Freunde sind auch meine Freunde. Salam.“ Ausgerechnet Bin Laden begrüßte ihn mit dem Wort „Frieden“?

Höflich verneigte sich der große hagere Mann, dessen fahle Gesichtsfarbe ihn ziemlich krank aussehen ließ. Auch León neigte den Kopf. „As-salämu alaikum“, gab León den Friedensgruß zurück und erkundigte sich nach seinem Wohlergehen auf Arabisch, was Osama offensichtlich Respekt abnötigte. Es schien dem Gotteskrieger ganz gelegen zu kommen, dass auch der deutsche Nachrichtendienst hörte, was er zu sagen hatte.

„Ein paar verrückte Imperialisten planen einen Angriff auf ihr eigenes Land, bei dem auch viele meiner Glaubensbrüder sterben werden. Ich möchte eine Erklärung abgeben, damit die ganze Welt weiß, dass dieser Wahnsinn nicht von uns Muslimen ausgeht. Morgen, 20 Uhr. Und nur Sie, Sean, und . . . Er stockte kurz, als hätte er den Namen schon wieder vergessen. „Und León“, fuhr er fort. Er schob Sean einen Zettel zu, verneigte sich dezent mit vor der Brust gefalteten Händen und verließ das Silk Route Restaurant. Sean faltete den Zettel auf und fand eine Adresse in Jalalabad, offensichtlich der Treffpunkt. „Richtig gemütlich ist der aber nicht“, frotzelte León, als Bin Laden gegangen war und Sean musste lachen. „Nein, auf Sauftour gehen ist nicht bei ihm.“

* * *

Sean und León verabredeten sich für den folgenden Tag um ein Uhr, um die Fahrt über Sarowbi, Sorubi und Qarghahli nach Jalalabad nahe der pakistanischen Grenze anzutreten, gut 170 staubige Kilometer. Doch die sollte sich lohnen. Denn Osama Bin Laden hatte den beiden etwas zu erzählen, was sie damals weder glauben noch in letzter Konsequenz begreifen konnten.

„Eine Gruppe einflussreicher und von gewissenlosen Kapitalisten bezahlter Amerikaner plant, das World Trade Center in New York, das Pentagon und das Weiße Haus in die Luft zu jagen. Sie wollen zu diesem Zweck Verkehrsflugzeuge entführen, die sie von gut ausgebildeten Glaubensbrüdern in diese Gebäude steuern lassen wollen. Es wird tausende unschuldige Tote geben. Und eine Welle des Hasses wird sich über meine arabischen Brüder ergießen.“ Ein mittelgroßer Pakistani, den Osama mit Abdul anredete, nahm die Worte Bin Ladens mit einer Videokamera auf. „Das wäre doch Wahnsinn“, fiel ihm Sean O’Brian ins Wort, „was sollte das für einen Sinn machen?“

„Der Sinn liegt darin, dass Amerika ein glaubwürdiges Motiv braucht, um einen Krieg vom Zaun zu brechen gegen uns. Denn uns werden sie diesen Anschlag in die Schuhe schieben. Ich versichere, dass weder ich noch einer meiner Brüder etwas zu tun haben mit diesem Plan.“ Es folgten noch einige unglaubliche Details, die Osama über den aberwitzigen Plan wusste, ein paar Namen von Arabern, die in den USA und in Deutschland leben und die sich wohl hatten hinreißen lassen, mit dieser Gruppe von Amerikanern zusammenzuarbeiten, die nach den Schilderungen Osamas von der CIA und aus dem Vatikan in Rom gesteuert wurde. Aus dem Vatikan? León kam die Botschaft Bin Ladens reichlich abstrus vor. Es war schon unwahrscheinlich genug, dass Amerikaner in ihrem eigenen Land einen terroristischen Anschlag von dieser Tragweite planten. Aber dann auch noch der Vatikan? Diese Vorwürfe Osamas würde er schon sehr genau überprüfen, nahm sich León vor.

Bin Laden wies Abdul an, drei Kopien von dem Video zu machen. „Eine für Sie, Sean, eine für Ihren deutschen Kollegen. Und eine bekommt Leonardo, ein guter Freund von der AISE.“ Die Abkürzung AISE steht für Agenzia Informazioni e Sicurezza Esterna, den italienischen Auslandsnachrichtendienst.

Wer war dieser Leonardo? Immer wieder begegnete Sean und León dieser Name. Doch keiner hatte ihn je zu Gesicht bekommen. Er war ein Phantom und eine Legende gleichermaßen. Jeder Agent im mittleren und nahen Osten kannte der Namen Leonardo und jeder wusste, dass er ein ganz großer seines Faches war.

Diese Begegnung mit Osama Bin Laden und die Videokopie, die er Sean und León gegeben hatte, war der Anfang vom Ende ihrer Geheimdienstkarrieren. León lieferte das Video samt ausführlichem Protokoll in gutgläubiger Naivität bei seinem Vorgesetzten Major Michael Reitter in Pullach ab. Doch aus der Überprüfung und der Verifizierung der auf dem Video enthaltenen Fakten, wie León es sich vorgenommen hatte, sollte nichts werden. Nur einen Tag später wurde er ohne Begründung in die Abteilung SI versetzt. Seine Nachfragen, was aus dem Video und seinem Bericht geworden war, blieben ohne Antwort. „Dieser Tanz wird jetzt auf diplomatischem Parkett weitergetanzt“, war der einzige Kommentar, den León zu hören bekam. Er wusste, was die Worte Reitters zu bedeuten hatten: Streng geheime Verschlusssache, von der niemals jemand etwas erfahren wird. Warum?

Tage später hatte León alles hingeschmissen und den BND verlassen. Niemand versuchte auch nur, ihn umzustimmen. Sean ging es kaum anders. Seine Kopie verschwand in den endlosen Gängen von Langley, er wurde kaltgestellt, bis auch er den Dienst in der Firma quittierte.



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