Vega 2 – Der Sturm in meinem Herzen - Marion Perko - E-Book

Vega 2 – Der Sturm in meinem Herzen E-Book

Marion Perko

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Beschreibung

Vegas Lage scheint hoffnungslos. Sie wurde entführt und ist in der Gewalt von Bioverse, einem mächtigen Wetterkonzern. Denn das Geheimnis, das sie ein Leben lang bewahrt hat, wurde verraten: Mit der Kraft ihrer Gedanken kann sie das Wetter beeinflussen, Regen beschwören und Wind rufen. In einer Welt, die von Dürre und Stürmen geprägt ist, hat diese Gabe einen unschätzbaren Wert.

Das weiß auch Bioverse’ Chefin Nathalie. Sie nutzt Vegas Gabe gegen deren Willen, um damit ein Werkzeug herzustellen, das die Wetterverhältnisse für immer verändern soll. Vega muss Bioverse aufhalten, aber allein ist sie machtlos. Welche Ziele verfolgen ihre alten Verbündeten? Und soll sie Leo, der sich auf die Seite der Klimaaktivisten geschlagen hat, ein zweites Mal vertrauen? Die Zeit drängt, denn als die wahren Ausmaße von Nathalies Plänen deutlich werden, geht es um jede Minute …

Empfohlen ab 12 Jahren

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Seitenzahl: 434

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Cover

Titel

Marion Perko

VEGA

Der Wind in meinen Händen

Band 2

Insel Verlag

Impressum

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eBook Insel Verlag Berlin 2023

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2023.

© Insel Verlag Anton Kippenberg GmbH & Co. KG, Berlin, 2023.Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München.

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlaggestaltung und Illustration: Isabelle Hirtz, Hamburg

eISBN 978-3-458-77660-4

www.suhrkamp.de

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

Cover

Titel

Impressum

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Informationen zum Buch

VEGA

1

Das Auto hält und sie zerren mir die Kapuze vom Kopf. Meine Haare kleben mir im Gesicht, und als sie mir das Stück Stoff, mit dem sie mich in der letzten halben Stunde geknebelt haben, zwischen den Zähnen hervorziehen, hole ich pfeifend Luft. Mein Mund ist staubtrocken, aber niemand kommt auf die Idee, mir einen Schluck Wasser anzubieten.

Danach fragen kann ich nicht, ich bin zu sehr damit beschäftigt, bei Bewusstsein zu bleiben. Die stickige Luft im Auto, mein rasender Herzschlag, die Hitze unter der Kapuze – an den Rändern meines Blickfelds ploppen schwarze Flecken auf.

Hände ziehen mich vom Rücksitz des EUV. Draußen wird es besser, auch wenn es nicht so einfach ist, mit den gefesselten Händen das Gleichgewicht zu halten. Gierig sauge ich die Abendluft ein, und der Wind, der um die Ecke eines mehrstöckigen Gebäudes streicht, kühlt meine Stirn.

Jemand tritt an meine linke Seite und greift nach meinem Arm. »Hinter uns haben zwei Kollegen eine Waffe auf dich gerichtet. Wenn du irgendwas versuchst, schießen sie.«

Keiner der tausend Gedanken in meinem Kopf findet seinen Weg zu meinem Mund. Ich weiß natürlich, was die Frau mit »versuchen« meint, aber allein die Vorstellung ist dermaßen absurd, dass ich lachen möchte. Ich bin halb verdurstet und so müde, dass ich nur auf den Beinen bleibe, weil mich zwei Leute festhalten. Meine Gabe braucht ein Mindestmaß an Konzentration. Todesangst ist dabei nicht gerade förderlich.

Sie führen mich über einen gepflasterten Weg auf das Gebäude zu. Ein paar Schritte genügen, um mich wieder in meinem Körper zu verankern. Das Adrenalin lässt nach, ich denke klarer.

Gleichzeitig nehme ich meine Umgebung wahr. Neben mir gehen eine Frau und ein Mann, beide in schwarzer Kleidung und beide durchtrainiert. Keine PAO, sondern private Sicherheitsleute. Deren Aufgaben offenbar auch Entführungen umfassen.

Das Gebäude kommt mir bekannt vor, auch wenn ich sicher bin, dass ich noch nie hier war. Aber natürlich weiß ich, wo wir sind. Und wer dadrin auf mich wartet.

Die riesigen Fensterflächen des Gebäudes blitzen. Blumenbeete – unkrautfrei und in voller Blüte – säumen den Weg, ein drei Meter hoher künstlicher Wasserfall plätschert in einer Ecke der Grünfläche vor malerisch platzierten Felsblöcken. Und auf der Glastür, zu der mich die Sicherheitsleute führen, prangt eine Gravur, die einen Globus mit zwei Keimblättern zeigt. Wenn ich nicht schon sicher gewesen wäre, wohin sie mich gebracht haben, wäre hier der Beweis. Das Logo gehört Bioverse, einem der mächtigsten Wetterkonzerne Deutschlands. So mächtig, dass sie anscheinend glauben, über dem Gesetz zu stehen.

Das ganze Anwesen stinkt praktisch nach Geld. Ich will mir gar nicht vorstellen, wie viel Gewinn Bioverse jedes Jahr abwirft, damit so ein Luxus möglich ist. Galle sammelt sich in meinem Mund, als ich daran denke, wie Leo und ich uns auf der Straße durchgeschlagen haben. Und die ganze Zeit hat das hier auf ihn gewartet. Als wäre mein Leben ein Abenteuer, das er für eine Weile von der Außenlinie betrachtet. Ein Rummelplatz, den er hinter sich lassen kann, wenn ihn die Fahrgeschäfte langweilen.

Und da ist er: der Gedanke an Leo, den ich in den letzten Minuten mit aller Kraft unterdrückt habe. Zu spät, den Schmerz jetzt noch einzufangen.

Erinnerungen an die letzten Wochen flackern in meinem Kopf auf wie Blitzlichter – Leo, der mich aus PAO-Gewahrsam befreit, Leo, der mit mir über Dächer flieht, Leo, der mir das Schwimmen beibringt. Der mich küsst. Die ganze Zeit habe ich geglaubt, ich würde seine Motive kennen, wüsste, warum er mir hilft. Aber all sein Wissensdurst, unsere Freundschaft, die Gefühle, die er mir vorgegaukelt hat – sie waren nur dazu da, mich in Sicherheit zu wiegen, bis der Moment gekommen war, mich seiner Tante auszuliefern.

Scham überrollt mich, dass ich so dumm war. Er hat mich so leicht durchschaut. Ein kleines bisschen Geborgenheit, das war alles, was es brauchte, um mich rumzukriegen.

Ein Satz echot in meinem Kopf. Sie dürfen nie davon erfahren …

Wie wahr. Bei Leo konnte es mir gar nicht schnell genug gehen, mit meiner Gabe anzugeben. Und jetzt sitze ich in der Falle.

Hinter uns werden Schritte laut, jemand überholt uns. Anscheinend ist es einer der Kollegen, von denen die Frau gesprochen hat, denn der Mann richtet eine Pistole auf mich und zieht mit der anderen Hand die Glastür auf.

Wir gehen hindurch. Sie haben mich über den Hintereingang ins Gebäude gebracht, denn wir landen in einem schmucklosen Treppenhaus. Drei Stockwerke höher erreichen wir am Ende eines Flurs einen großzügigen Konferenzraum mit einer Fensterfront auf zwei Seiten. Meine Bewacher setzen mich auf einen Stuhl und postieren sich neben mir, die beiden mit der Waffe – der Mann und eine weitere Frau – stellen sich breitbeinig auf die andere Seite des Tischs.

Die haben ja ordentlich Respekt vor mir.

»Kann ich was trinken?«, krächze ich, als mein Blick auf das Tablett mit Wasserflaschen und Gläsern fällt, das neben der Bronzebüste eines Paars auf einer Anrichte steht. Ich verstehe meine Worte selbst kaum, so ausgedörrt ist meine Kehle.

Die Frau neben mir zögert, dann nickt sie dem Mann rechts von mir zu. Ein paar Sekunden später ist er mit einem vollen Glas zurück und hält es mir an die Lippen.

Ich zucke zurück. »Ich kann selber trinken.«

»So oder gar nicht«, bestimmt die Frau.

In diesem Moment erkenne ich ihre Stimme. Sie war letzte Nacht auf dem Dach im Chemiewerk. Die Wut in meinem Bauch wandelt sich in warme Genugtuung. Sie hat am eigenen Leib erfahren, wozu ich in der Lage bin, und gerade wünsche ich mir, ich hätte sie ein bisschen härter erwischt. Wir starren uns noch ein paar Sekunden an, dann erlaube ich mir ein kleines Lächeln und drehe den Kopf.

Es ist besser, wenn sie mich fürchten.

Der Kerl, der mir das Glas hinhält, stellt sich dämlich an, oder vielleicht ist es Absicht, dass die Hälfte des Wassers auf meinem Shirt landet, trotzdem ist es eine Wohltat, meinen Mund anfeuchten zu können. Dieser verfluchte Knebel.

Gerade als ich genug getrunken habe, dass ich glaube, meine Stimme wieder einigermaßen gebrauchen zu können, geht die Tür auf, und ich schlucke die Fragen, die ich auf die Security-Frau abfeuern will, herunter. Eine blonde Frau betritt das Zimmer, Mitte vierzig vielleicht, und auch wenn ich wusste, dass sie früher oder später auftauchen würde, bringt sie mich aus dem Konzept. Sie lässt ihren Blick schweifen, über die Sicherheitsleute, ihre Waffen, das Glas auf dem Tisch, bis er schließlich auf mir verharrt.

Eine ganze Weile betrachtet sie mich, so als könnte sie mich, meine Gedanken lesen. Aber sie täuscht sich. Dieses verschwitzte, erschöpfte Bündel, das seit sechsunddreißig Stunden nicht geschlafen und einen Tag lang kaum etwas gegessen hat, das bin nicht ich. Nicht die Vega, die den Sturm herausfordert. Die den Wind bis in die Zehenspitzen fühlt.

Ihre zarte, fast durchscheinende Haut macht nicht den Eindruck, als würde sie sich oft dem Wetter aussetzen. Als hätte der eisige Nordwind ihre Wangen je rot gefärbt oder das Mittagslicht Sommersprossen auf ihre Nase getupft. Diese Frau bleibt drinnen, wo keine Gefahr besteht für perfekt geföhnte Frisuren und manikürte Nägel.

Trotzdem mache ich mir nichts vor: Das gepflegte Äußere, die edlen Klamotten, das gehört alles dazu. Es stellt einfach nur klar, dass Nathalie Cyprian eine der mächtigsten Frauen des Landes ist.

Zu welchem Schluss sie über mich kommt, weiß ich nicht, aber ich bezweifle, dass sie sich noch groß ein eigenes Bild machen muss. Ihr Neffe hat ihr sicher brav Bericht erstattet.

Mir dreht sich der Magen um, ich beiße die Zähne zusammen. Sie sieht es, und anscheinend ist das das Signal, das Gespräch zu eröffnen.

»Vega«, beginnt sie. »Wie schön, Sie endlich bei uns zu haben. Mein Name ist Nathalie Cyprian.«

»Sparen Sie sich das Geschwafel«, antworte ich. Es klingt wie ein Knurren, so eingerostet ist meine Stimme.

Sie legt den Kopf schräg. »Inwiefern?«

»Sie haben mich wochenlang ausspionieren und dann entführen lassen! Und da wollen Sie mir weismachen, ich wäre Ihr Gast?«

Sie nickt. »Ich kann verstehen, wie die Umstände auf Sie wirken müssen. Dafür entschuldige ich mich in aller Form. Aber unserer Einladung sind Sie leider nicht gefolgt.«

»Sie haben mich nie eingeladen!« Mein Gesicht fühlt sich ganz heiß an, so wütend macht mich ihr gespreiztes Getue.

»Nicht persönlich. Aber mein Neffe, soweit ich weiß, sehr wohl.«

Ich bleibe stumm, denn ich erinnere mich. Gleich am ersten Tag, nachdem wir uns kennengelernt hatten, hat Leo mich gebeten, mit ihm ins »Institut« zu kommen. Ich schnaube. Damals dachte ich noch, er würde von der Uni sprechen.

»Ich habe Nein gesagt.«

Wieder nickt Nathalie Cyprian bedächtig. »Das war allerdings bedauerlich.«

»Wer glauben Sie eigentlich, wer Sie sind? Denken Sie, nur weil Sie reich sind, können Sie über den Rest von uns verfügen, wie es Ihnen passt? Ich wollte nie hierherkommen! Tun Sie nicht so, als wäre es meine Schuld, dass Sie mich gefesselt und geknebelt und wer weiß wohin verschleppt haben!«

»Na, na.« Sie macht ein tadelndes Geräusch, tritt ein paar Schritte auf mich zu und setzt sich mir gegenüber auf einen Stuhl. »Kein Grund, melodramatisch zu werden. Wir waren gezwungen, ein paar grundlegende Sicherheitsmaßnahmen anwenden, das ist alles. Wir wollten nicht, dass Sie sich verletzen. Oder jemand anders.«

Schade, ich habe gehofft, ich hätte jemanden erwischt, als sie mich gleich außerhalb der EcoQuest-Zentrale in das EUV verfrachtet haben. Anscheinend muss ich beim nächsten Mal fester zutreten.

Wir lassen uns nicht aus den Augen, sie mit dieser kühlen Überlegenheit, ich mit weitaus weniger Selbstbeherrschung. Schließlich bricht sie den Blickkontakt ab und streicht den Stoff ihrer Hose über ihrem Knie glatt.

»Ich verstehe, dass Sie aufgebracht sind, Vega.« Sie sieht mich wieder an. »Aber ich versichere Ihnen, was ich tue, geschieht allein im Interesse der Wissenschaft. Kaum jemand weiß besser als Sie, wie belastend die aktuelle Dürreperiode für unser Land, für ganz Europa ist.«

Sie zögert, dann gibt sie der Sicherheitsfrau neben mir ein Signal. Bevor ich ganz begreife, was passiert, zückt sie ein Messer und schneidet meine Fesseln durch. Mir entwischt ein Stöhnen, als der Druck auf meine Handgelenke nachlässt.

»Als Zeichen unseres guten Willens, Vega«, sagt Nathalie, und wenn ich mich nicht so darauf konzentrieren müsste, nicht zu weinen, weil die Blutzirkulation in meinen Händen wieder einsetzt, würde ich laut schreien.

Stattdessen fährt sie fort: »Ich bitte Sie, eine Woche bei uns zu bleiben und sich vorurteilsfrei eine Meinung darüber zu bilden, was Bioverse macht. Ihr Beitrag wäre von unschätzbarem Wert …« Sie hebt die Hand, als ich Luft hole, um zu protestieren. »… für unser Land. Denn diesem Ziel haben wir uns bei Bioverse verschrieben: Wir wollen die Dürre in Deutschland lindern.« Als ich nicht ausweiche, legt sie ihre Hand auf meine Schulter. »Mit Ihrer Hilfe, Vega, werden wir hoffentlich Erfolg haben.«

Dieses Mal bemühe ich mich, mein Gesicht unter Kontrolle zu behalten. Das soll ich ihr abkaufen? Dass alles, was in diesem Konzern geschieht, nur der Allgemeinheit dient? Dass ihre Gewitterstürme im Namen der Wissenschaft ganze Viertel verwüstet und mich kreuz und quer durch die Stadt gejagt haben?

Es liegt eine Ernsthaftigkeit in ihrem Blick, die mich an ihren Neffen erinnert. Sagt sie die Wahrheit? Liegt ihr wirklich daran, die Dürre zu bekämpfen? Für einen winzigen Moment will ich ihr beinahe glauben … doch da fällt mir wieder ein, wohin es mich gebracht hat, ihrem Neffen zu vertrauen.

Ich balle die Fäuste. »Vergessen Sie's.«

Nathalie betrachtet mich, dann nickt sie und steht auf. »Das ist nicht ganz die Antwort, auf die ich gehofft hatte. Aber es war ein langer Tag. Morgen zeige ich Ihnen, was Bioverse tut. Ich bin mir sicher, das wird Ihre Meinung ändern.«

»Was?« Ich will aufspringen, doch Hände drücken mich zurück auf den Stuhl. »Haben Sie mir überhaupt zugehört? Ich will jetzt gehen!«

Ihre Augen haben nicht die geringste Ähnlichkeit mit denen ihres Neffen. Kalt und blau betrachten sie mich. »Das denken Sie vielleicht jetzt, Vega, aber ich bin überzeugt, ein wenig Ruhe wird Ihre Perspektive ändern. Wir sehen uns morgen.«

Mit einem letzten Nicken schließt sie die Tür hinter sich und lässt nichts zurück als einen Hauch von Maiglöckchen und Sandelholz.

»Lasst mich gehen! Was soll das? Ich will hier raus!«

Ich weiß, dass es nichts bringt, wenn ich gegen die Tür hämmere und Dinge brülle, auf die ich keine Antwort bekomme. Doch obwohl ich umfallen könnte vor Müdigkeit, obwohl mein Magen knurrt und ich schon wieder Durst habe, muss die Wut raus.

Die Security-Chefin – Jill heißt sie, wenn ich ihren Kollegen richtig verstanden habe – hat kein Wort gesagt, als sie mich in dieses Zimmer gebracht haben. Es sieht aus wie ein Ruheraum, ein Bett, ein winziger Tisch mit zwei Stühlen, ein leeres Regal, mehr gibt es nicht. Nur ein kleines Fenster ohne Griff. Ich frage mich, ob das technische Gründe hat und die Funktionsweise der Klimaanlage nicht beeinflusst werden soll oder ob sie hier öfter jemanden einsperren. Aber ich bin sowieso nicht in der Lage zu flüchten, und so verzweifelt, dass ich mich aus dem Fenster werfen müsste, bin ich auch noch nicht.

Ich senke den Kopf und stemme die Hände gegen die Tür. Plötzlich ist die Wut weg, sie lässt das zurück, wovor ich mich gefürchtet habe. Erinnerungen. Einen Gedanken, der wie eine Klinge in mir wütet. Nicht sauber und schmerzfrei wie ein Skalpell, sondern rostig, stumpf, quälend. Als wollte sie größtmöglichen Schaden anrichten. Als sollte die Wunde für immer schwelen.

Leo hat dich verraten …

Jedes Wort reißt ein Stück meines Herzens heraus.

Doch das kann ich nicht zulassen. Nicht hier, nicht jetzt. Ich brauche all meine Kraft, und an Leo zu denken, macht mich ganz sicher nicht stärker.

Mit knirschenden Zähnen stoße ich mich von der Tür ab und gehe zum Fenster. Ich vermisse den Wind. Hier drin bewegt sich die Luft kaum, doch wenn ich nach draußen sehe, dann flirren die Blätter der Bäume. Wolken, fluffige, harmlose Schäfchenwolken, treiben am rosafarbenen Himmel vorbei. Grashalme werfen lange Schatten und verändern in der Brise ihre Farbe.

Ich lege meine Hand an die Scheibe, aber durch das Glas spüre ich nichts. Leer und fremd. So fühlt sich nicht nur der Raum hinter mir an.

Ich bin es auch.

Das Abendessen ist eine einsame Angelegenheit. Noch vor zwei Tagen wäre mir dieser Gedanke absurd vorgekommen, doch ich vermisse Laura, Troy und Inez. Ich vermisse sogar Inez' ständige Vorträge über die ökologischen Auswirkungen von Wettermanipulationen. Bei EcoQuest musste ich nie allein essen, und was für ein Privileg das war, merke ich erst jetzt.

Am meisten aber vermisse ich Esper. Als Freund, so wie in der Zeit, bevor wir zusammen waren. Nicht so, wie ich ihn vermisst habe, als er nach unserem Einsatz in der Gartensiedlung verschwunden war. Als ich mich noch nicht in einen anderen verliebt hatte. Der mir dann das Herz rausgerissen hat.

Ich stütze die Handgelenke auf der Tischplatte auf und schließe die Augen. Warum führt jeder Gedanke zu Leo? Warum? Ich könnte ins Essen heulen, und alles, was passieren würde, wäre, dass ich dran denken müsste, dass Leo auch gerade Tomaten-Graupen-Salat isst.

Ein neuer Gedanke lässt mich auffahren. Was, wenn ich ihm morgen begegne? Wenn ich keine Gelegenheit finde, hier abzuhauen, und ihn jeden Tag sehen muss, solange sie mich hier einsperren?

Ich weiß nicht, was. Vielleicht … wenn ich ihn endlich sehe … vielleicht könnte ich dann richtig wütend sein.

Oder vielleicht bricht es mir einfach noch mal das Herz.

2

Draußen steht die Sonne hoch am Himmel, doch hier drin ist es gleichbleibend kühl. Ich gehe neben Nathalie durch die hohen Flure von Bioverse. Jills Sicherheitsteam lässt mich nicht aus den Augen, aber zumindest haben sie meine Hände nicht mehr gefesselt.

Ich fröstle. Die Luft fühlt sich so unnatürlich an, wie tot. Und gleichzeitig ist sie eine Zumutung. Ich wusste, dass es diese Wirklichkeit in Deutschland gibt. Dass Menschen in klimatisierten Räumen leben und arbeiten. Doch diese andere Realität schien immer so weit entfernt, unerreichbar für alle, die ich kannte, dass mich ihre Alltäglichkeit hier bei Bioverse schockiert.

Nathalie macht große Schritte, ich muss mich anstrengen, um neben ihr zu bleiben, als wäre ich durch den einen Tag in dieser Umgebung schwächer geworden. Wir reden nicht. Meine Vorwürfe hätten keinen Zweck, und ich will ihr nicht die Genugtuung verschaffen, Fragen zu stellen. Hier bin ich im Feindesland. Nicht nur weil sie mich entführt haben – als Wettermacherin muss ich dem Treiben eines Wetterkonzerns gegenüber misstrauisch bleiben. Trotzdem finde ich die Technik, die Nathalie hier stolz vorführt, faszinierend. Doch das darf nicht sein. Ich muss aufmerksam sein und die erste Chance nutzen, um zu verschwinden.

Wir erreichen eine Tür. Wie beinahe alle anderen ist auch sie mit einem Handflächenscanner gesichert. Sie führt in eine riesige Halle. Hinter großen Glasscheiben erkenne ich Kontrollräume mit Schaltflächen und Monitoren. Die Bildschirme sind schwarz, gerade arbeitet wohl niemand daran. Die Sicherheitsleute halten sich im Hintergrund, aber ich habe keinen Zweifel, dass sie jede meiner Bewegungen beobachten.

Mit schnellen Schritten durchquert Nathalie die Halle und zieht eine weitere Tür auf, hinter der sich ein langer Flur erstreckt. Links und rechts gibt es Büros, Serverräume und Labore. Betriebsamkeit erfüllt diesen Teil des Gebäudes, die meisten Leute blicken nicht einmal auf, als wir vorbeilaufen.

Im ersten Stock ändert sich der Grundriss. Hier gibt es in der Mitte ein paar Tische mit Dockingstationen, um die sich Versuchsräume anordnen. Nathalie spricht von Windkanälen, Druckkammern und Feuchträumen, und langsam verliere ich das Interesse. Warum bauen sie hier nach, was sie draußen, unter freiem Himmel, kostenlos bekommen können?

Auf einmal kippt meine Stimmung. Ich bleibe stehen und verschränke die Arme. »Was wollen Sie von mir? Ich habe Ihnen gestern schon gesagt, dass ich nicht mit Ihnen zusammenarbeiten will. Dieses ganze Technikzeug … Was hat das mit mir zu tun?«

Nathalie nickt und deutet auf die gerade unbesetzten Arbeitsplätze in der Mitte des Raums. »Sehen Sie, Vega, Bioverse setzt sich seit Jahrzehnten dafür ein, dass wir das Wesen des Wetters genauer verstehen. Wir investieren Millionen, um den Menschen zu helfen, besser mit den neuen klimatischen Bedingungen zurechtzukommen.« Sie lehnt sich gegen einen der Tische und sieht mich direkt an. »Über die Jahre gab es viele Durchbrüche. Unser Wissen über Klima und Wetter ist seit der Jahrtausendwende enorm angewachsen. Aber Sie …« Sie macht eine elegante Bewegung in meine Richtung. »Sie könnten dieses Wissen auf eine ganz neue Stufe heben.«

Ein paar Herzschläge lang antworte ich nicht. Wir stehen uns gegenüber und betrachten uns still. Kapiert sie es nicht? Ich habe kein Wissen über meine Gabe. Das wollte Leo schon nicht verstehen. Alles, was ich habe, ist die Fähigkeit zu fühlen.

»Ich kann Ihnen nichts sagen, was Sie nicht schon wissen«, antworte ich deswegen.

Einer von Nathalies Mundwinkeln hebt sich. »Aber Sie können es uns zeigen.«

Sie stößt sich von der Tischplatte ab und bedeutet mir, ihr zu folgen. Wir biegen in einen Seitenflur ein. Hinter einer weiteren Verbindungstür treffen wir wieder Menschen. Ein sehr kleiner Mann in einem weißen Kittel eilt vorbei, und ich begreife, wo wir sind. Es ist eine medizinische Abteilung.

Nathalie bleibt vor einem Fenster stehen, durch das ich zwei Liegen, eine Unmenge an Apparaten und Messgeräten erkennen kann. »Alles, was wir von Ihnen brauchen, ist ein Blick in Ihren Kopf.«

Als hätte mich etwas gebissen, weiche ich von der Scheibe zurück.

»Sie wollen mich an diese Kästen anschließen? Mein Gehirn anzapfen?« Langsam drehe ich den Kopf und starre Nathalie an. »Auf keinen Fall.«

Sie macht ein enttäuschtes Gesicht. »Das ist bedauerlich, Vega. Bedenken Sie, wie vielen Menschen Sie helfen könnten, wenn Sie Ihre Gabe teilen.« Sie hebt die Hand, als wollte sie ihre Finger an meine Schläfe legen, aber ich zucke zurück, und sie lässt den Arm wieder sinken. »Solche Fähigkeiten sind ein Geschenk, Vega. Ein Geschenk für die Menschheit, nicht für ein kleines Mädchen.«

Ich presse die Kiefer aufeinander, bevor ich antworte: »Das entscheiden nicht Sie. Und das kleine Mädchen sagt Nein.«

Sie seufzt leise, dann dreht sie sich um und geht einige Türen weiter. Wieder betätigt sie mit ihrer Handfläche den Schließmechanismus. Die Tür gibt den Blick auf eine kahle weiße Zelle frei, in der es nichts gibt als eine schmale Pritsche, einen an die Wand montierten Klapptisch und eine winzige Nasszelle. Kein Fenster, keinen Teppich, noch nicht einmal eine Decke auf der Pritsche.

»Wissen Sie, Vega«, beginnt Nathalie in diesem gefährlich leisen Tonfall, bei dem ich allmählich begreife, dass er ihr wahres Wesen zeigt, »es liegt ganz bei Ihnen, wie Ihr Aufenthalt hier verläuft. Kooperieren Sie, und Sie werden alle Annehmlichkeiten genießen, die mein Haus zu bieten hat. Weigern Sie sich, und ich werde einen Weg finden, Ihnen die nächsten Tage so unbequem wie möglich zu gestalten.« Sie deutet in die Zelle. »Das ist eine Kältekammer. Sie ahnen nicht, wie viel Energie niedrige Temperaturen einem entziehen.«

Langsam wandert mein Blick zwischen der Zelle und Nathalies Gesicht hin und her. Es dauert ein paar Sekunden, dann kapiere ich, was sie andeutet.

Ich schnaube. Wenn sie denkt, ich wüsste nicht, was Kälte einem antut, irrt sie sich. Jedes Mal, wenn ich meine Gabe einsetze, dauert es Stunden, bis mein Körper den Temperaturverlust ausgeglichen hat. Wenn jemand weiß, womit sie da droht, dann ich. Doch selbst Tage voller Eiseskälte sind besser, als an Apparate angeschlossen zu werden wie eine Laborratte.

Die Security-Leute treten näher. Wenn mich das umstimmen soll, muss ich sie enttäuschen. Ich werfe einen Blick in die Kammer, aber meine Entscheidung steht längst fest.

Entschlossen trete ich über die Schwelle und drehe mich zu Nathalie um. »Meine Gabe gehört mir. Ich schulde der Menschheit gar nichts. Und Ihnen erst recht nicht.«

Nathalie hält meinen Blick für einen Moment, dann lächelt sie schmal und legt ihre Hand auf den Scanner. Mit einem leisen Zischen schließt sich die Tür und ich bin allein.

Dass die Schmerzen das Schlimmste sein würden, hätte ich nicht gedacht. Mein ganzer Körper krampft vom Zittern, und ich kriege kaum die Zähne auseinander, um das bisschen Essen hinunterzuwürgen, das sie mir zweimal am Tag hinstellen. Keine Suppe, kein Tee, alles ist kalt – Nathalie ist gründlich.

Dass die Tage vergehen, merke ich nur daran, wie sich die Beleuchtung verändert. Abends wird das Licht fast vollständig gedimmt. Doch ganz ehrlich: Die Mühe könnten sie sich sparen. Jeder weiß, dass man nicht einschlafen kann, wenn man kalte Füße hat. Das hier ist zehntausendmal schlimmer. Wenn ich kurz wegnicke, weil mein Gehirn schlappmacht, holt mich das Zittern garantiert nach ein paar Minuten zurück.

Den Rest der Zeit versuche ich, in Bewegung zu bleiben. Hüpfen kann ich nicht, aber die Knie anziehen schaffe ich meistens. Armkreisen, Rumpfbeugen … Der ganze Mist aus dem Schulsport hält mich jetzt am Leben.

Obwohl, sterben lassen würden sie mich schon nicht. Das rede ich mir ein, wenn ich mal einen klaren Gedanken fassen kann. Was selten vorkommt, wenn der Körper immer häufiger übernimmt und man damit beschäftigt ist, das Schlottern in den Griff zu kriegen.

Irgendwann gebe ich es auf. Es ist zu anstrengend, auf den Beinen zu bleiben. Ich lege mich hin und meine Gedanken driften ab. Ein Teil meines Gehirns wird panisch, aber der größere heißt die Bilder willkommen. Ich liege im trockenen Gras auf dem Rücken, den Arm über den Augen, weil die Sonne so hell ist, und lasse die Wärme durch meine Haut in mein Inneres sickern. Alles in mir leuchtet, in meinem Kopf explodieren goldene Funken wie bei einem Feuerwerk.

Doch mein Körper bekommt keine Chance, das Hochgefühl in meinem Hirn in Entspannung umzusetzen. Hände schließen sich um meine nackten Oberarme, beinahe heiß auf meiner kühlen Haut, und zerren mich in die Senkrechte. Sie warten, bis ich nicht mehr schwanke, dann führen sie mich in einen angrenzenden Raum. Wahrscheinlich ist es hier nur ein paar Grad wärmer, aber mir kommt es vor, als würde ich durch eine Tür hinaus in eine Wüste treten.

Jemand legt mir eine Thermodecke um die Schultern, weil das Zittern zurück ist, und die nächsten paar Minuten habe ich damit zu tun, bei Bewusstsein zu bleiben. Leute in weißen Kitteln checken meinen Blutdruck, meine Herzfrequenz und meine Körpertemperatur, und aus der unterdrückten Panik, die in ihren Bewegungen liegt, lese ich, dass wir meine Belastungsgrenze erreicht haben.

Beinahe grinse ich. Schlimmer kann es also nicht werden.

Aber es war auch schlimm genug.

Ich habe den Gedanken noch nicht ganz zu Ende gedacht, als der Schmerz wie ein Schwert durch mich fährt. Stöhnend krümme ich mich zusammen, und um mich herum bricht wieder Hektik aus, bis sie kapieren, was auch mir aufgeht: Mein Körper wärmt sich auf.

»Gott, verdammt!«, fluche ich, und meine Sprache wird nicht zimperlicher, während die Schmerzen unendliche Minuten durch meine Glieder toben und irgendwann in schier unerträglichem Kribbeln auslaufen. Mittlerweile laufen mir die Tränen aus den Augen und der Rotz aus der Nase, aber wen kümmert's? Als ich wieder denken kann, fokussiert sich alles auf einen Wunsch: Ich werde sie töten. Sie alle. Nathalie, ihre weißbekittelten Lakaien, alle.

Und die Klarheit dieses Gedankens macht mir nur ein winziges bisschen Angst.

Dann ist es vorbei. Ich bin so erschöpft, dass ich sie beinahe anbettle, mich schlafen zu lassen, doch bevor ich auch nur einen verständlichen Satz formulieren kann, gleitet die Tür auf, und Nathalie kommt herein. Ihr Gesicht verrät nicht viel, aber ich kenne sie mittlerweile gut genug, um den Triumph darin lesen zu können, den sie hinter Disziplin und Professionalität versteckt.

Hass flutet mich wie Starkregen eine Schlucht.

Sie setzt sich an einen schmalen Tisch und schlägt die Beine übereinander. Ich suche in mir nach dem letzten bisschen Kraft, das mich aufrechthält. Langsam hebe ich das Kinn und drehe mich zu ihr.

Sie betrachtet mich still, aber ich werde einen Teufel tun und als Erste reden. Ich wüsste auch gar nicht, woher ich die Energie nehmen sollte.

Eine Weile sitzen wir uns also gegenüber, bis sie fragt: »Wie geht es dir?«

Ich lache auf. Es klingt wie Metall auf Schmirgelpapier.

»Wenn du glaubst, so etwas über meine Gabe zu erfahren, muss ich dich enttäuschen. Bisschen kontraproduktiv, das Ganze.«

Über Höflichkeitsfloskeln sind wir längst hinaus.

»Hm«, sagt sie.

Wie wütend so ein winziges Geräusch machen kann.

Ohne ein weiteres Wort steht sie auf, öffnet die Tür und verschwindet. Und auch wenn ich mir gern eingeredet hätte, dass diese Runde an mich geht, bleibe ich mit einem schalen Gefühl zurück. So als würden wir dieses Gespräch bald unter anderen Vorzeichen fortsetzen.

Nach ein paar Stunden fühle ich mich wie neugeboren. Sie haben mir etwas zu essen gebracht, es gab Tee und in meiner Eiskammer war es zumindest ein paar Grad wärmer als in den Stunden zuvor. Sogar geschlafen habe ich ein wenig. Alles in allem habe ich wieder genug Kraft, um meine Gabe einzusetzen – und das macht mich nervös.

Tatsächlich ist auf Nathalie Verlass. Sie lässt mir gerade genug Zeit, um mir auszumalen, was sie als Nächstes mit mir anstellt, bevor die Tür aufgeht und zwei Sicherheitsleute hereinkommen. Der Name des Mannes ist Ric, das weiß ich, weil er mir jeden Tag das Essen hinstellt. Jill ist die andere, die Security-Chefin, die auch bei dem Einsatz in der Chemiefabrik dabei war. Die Erinnerung durchfährt mich wie ein Blitz, versengend und erleuchtend zugleich. Wie schockiert und beschämt ich war, dass ich meine Gabe gegen Menschen eingesetzt hatte. Wie sicher, aufgehoben und zuversichtlich ich mich dennoch gefühlt habe, weil Leo an meiner Seite war.

Wie dämlich.

Als hätten meine Gedanken ihn heraufbeschworen, taucht Leo vor mir auf. Jill und Ric haben mich zwischen sich genommen und auf den Flur geführt, und da steht er, neben einem anderen Mann aus dem Sicherheitsteam. Ich bin so überrascht, dass ich stolpere. Hitze schießt mir ins Gesicht.

Aber sofort ist die Scham vergessen. Alles, was ich fühle, ist Wut, rot glühende Wut.

Ich halte mich gar nicht mit Beschimpfungen auf, sondern werfe mich nach vorn, in der Hoffnung, die Security-Leute zu überrumpeln. Ric lässt mich tatsächlich los, und ich hebe den Arm, will zuschlagen, kratzen, egal, was … Ich will ihm nur einen winzigen Bruchteil der Schmerzen zufügen, die mich seit dem ersten Moment bei Bioverse begleiten.

Doch Nathalies Leute sind schnell. Der andere Mann tritt vor Leo, bevor meine Hand ihn trifft. Ric packt mich, und zu dritt reden sie auf mich ein, aber ich bin noch immer stumm. Ich wüsste nicht, mit welchen Worten ich Leo beschimpfen sollte.

Er hat sich noch kein Stück bewegt. Er steht einfach nur da und starrt mich an. Sein Gesicht ist völlig ausdruckslos, nur in seinen Augen … In seinen Augen kämpfen so viele Emotionen, dass ich mir beinahe einreden könnte, unsere Begegnung würde ihn genauso aufwühlen wie mich.

Wie dämlich!

Endlich übertönt der Tumult um mich herum den Aufruhr in meinem Inneren.

»Schluss jetzt«, zischt Jill und dreht mir den Arm grob auf den Rücken. Tränen schießen mir in die Augen, als der Schmerz durch meine Wut schneidet, und schwer atmend folge ich Jill und Ric den Flur hinunter. Leo und der andere Mann schließen sich an.

Jill löst ihren Griff erst, als wir einen kahlen, nichtssagenden Raum erreicht haben. Auf dem Weg hatte ich Zeit, mir die richtigen Worte zurechtzulegen. Ich richte mich auf und will mich schon umdrehen, um Leo anzubrüllen, als ich Nathalie bemerke. Sie steht an einem Steuerungspult am anderen Ende des Raums und beobachtet uns.

Mühsam schlucke ich meine Beschimpfungen herunter. Ich würde Leo so gern alles ins Gesicht schreien, was meine schlaflosen Stunden zur Tortur gemacht hat, sein Verrat, all die Falschheit, die in seinen Worten, in jeder seiner Berührungen gelegen hat. Aber nicht wenn sie dabei ist. Nicht wenn sie meine Wut zu ihrer Waffe macht. Sie sieht ohnehin viel mehr, als ich sie sehen lassen will.

Also straffe ich die Schultern und wende mich von diesem fremden Leo ab, der keins von seinen weichen, verwaschenen Shirts trägt, sondern eine elegante Hose und ein Hemd. Ein Hemd! Adrett und fügsam wie alle anderen von Nathalies Befehlsempfängern.

Vielleicht hätte ich ihn weiter anschauen sollen, denn jetzt fällt mein Blick auf mein Spiegelbild. Ich sehe mich in einer schwarzen Scheibe, das helle Top, die weite Hose, doch vor allem diese riesigen Augen. Viel zu groß für mein Gesicht.

Bevor sich der Schock festsetzen kann, geht hinter der Scheibe Licht an. Und ich atme scharf ein.

Ein paar Meter von uns entfernt, in einer Art Tunnel mit glatten grauen Wänden, eingeschnallt in ein Geschirr wie ein Tier, steht Esper. Ich winde mich aus dem Griff der Sicherheitsleute und stürze auf die Scheibe zu. Mit den bloßen Fäusten hämmere ich gegen das Glas, brülle seinen Namen, so laut es meine heisere Stimme zulässt, aber er reagiert nicht auf mich. Er kann mich nicht sehen, nicht hören, er ist ganz allein in diesem Kasten, wie ein Versuchskaninchen.

»Wie kommt er hierher?«, stoße ich hervor. Mein Blick fällt auf Leo, der sich neben Nathalie gestellt hat. Seine Kieferknochen treten scharf hervor.

Doch dann fällt mir die dringlichere Frage ein.

»Was hast du mit ihm vor?«, frage ich Nathalie, die nur immer weiter auf dem Display ihres Steuerungspults herumwischt.

Ein paar Sekunden ignoriert sie mich, dann wird ein Summen laut und sie macht eine Handbewegung Richtung Glasscheibe. Mit einer schrecklichen Vorahnung drehe ich mich wieder um.

Das Summen wird zu einem Dröhnen. Espers Haare sind immer noch so kurz, dass sie sich nicht bewegen, aber seine Klamotten flattern, er tritt einen Schritt zurück, um das Gleichgewicht zu bewahren, und dann muss er sich mit seinem vollen Gewicht in den Luftstrom lehnen, um nicht von den Füßen gerissen zu werden. Das Glas unter meinen Händen scheint zu vibrieren, als könnte ich die Kräfte spüren, denen sich Esper entgegenstemmt, aber es ist nur die Erinnerung meines Körpers, der weiß, wie Esper sich fühlt. Der Unterschied ist: Mein Körper ist diesen Kräften nicht wehrlos ausgeliefert. Nicht jetzt. Niemals.

»Hör auf damit!«, brülle ich, ohne Esper aus den Augen zu lassen, doch es geht erst los.

Der Wind in der Kammer wird noch stärker, Espers Muskeln zittern, die Luft zerrt an seinen Augenlidern und Wangen. Ich erkenne den Moment, in dem der Druck zu stark wird und Esper keinen Widerstand mehr leisten kann. Seine Füße verlieren den Kontakt zum Boden und sein Körper richtet sich in dem Geschirr neu aus. Obwohl er festgeschnallt ist, muss er jeden Muskel anspannen, damit die schrecklichen Kräfte ihn nicht umbringen.

Auch wenn ich weiß, dass er mich nicht hört, hämmere ich weiter gegen die Scheibe und brülle Espers Namen. Ich will nicht sehen, was er gerade durchmacht, und doch kann ich nicht wegschauen, weil ich Angst habe, dass er nur so am Leben bleibt, dass nur eine unaufmerksame Sekunde ihn Kraft kostet und tötet.

»Hör auf damit!«, höre ich mich schreien. »Hör auf! Du bringst ihn um.«

Durch mein Toben und das Dröhnen höre ich Nathalies Antwort. »Nein. Du bringst ihn um.«

Alle Kraft verlässt mich. Meine Arme fallen an meine Seiten, ich werde ganz still.

Ich höre ein Keuchen, von mir, vielleicht von Leo, ich weiß es nicht. Ich weiß nur, wie meine Antwort zu lauten hat.

»Hör auf damit, und du bekommst, was du willst.«

In der Scheibe spiegelt sich eine Bewegung, kaum wahrnehmbar, wie ein zufriedenes Nicken, und es dauert nur Sekunden, bis das Dröhnen leiser wird und der Windstrom schwächer. Espers Schuhspitzen berühren den Boden, doch er bleibt vornübergebeugt in seinem Geschirr hängen. Ich erkenne nicht, ob er bewusstlos geworden ist, und bevor ich es herausgefunden habe, nehmen mich die Sicherheitsleute in ihre Mitte und führen mich zu der Tür auf der anderen Seite des Raums.

»Ich will zu ihm!«, verlange ich, aber ich könnte auch die Wand anschreien, so viel Wirkung zeigt es. »Sagt mir wenigstens, ob es ihm gut geht! Nathalie!«

Die Tür vor mir gleitet auf, und als mich Jill und Ric an ihm vorbeizerren, strafft Leo kaum merklich die Schultern. Sein Blick flackert zu mir, er hält unseren Augenkontakt nicht. Sein Gesicht ist ganz grau und da kapiere ich es.

»Du warst das!«, kreische ich und will mich auf ihn werfen, aber die Hände um meine Oberarme lassen es nicht zu. Jetzt sieht er mich doch an und der Ausdruck in seinen Augen ist wie ein Schlag in den Magen. Ich verstehe nicht alles, was ich darin lese, die Schuld, den Trotz, das Flehen – ich verstehe gar nichts mehr.

Dann sind wir an ihm vorbei, und als die Tür hinter uns wieder zugleitet, ist es, als würde ein Schalter in mir umgelegt. Alle Energie fließt aus mir heraus, wie ein nasser Sack hänge ich zwischen Jill und Ric und meine nackten Füße schlurfen über den kühlen Boden.

Sie haben Esper. Leo hat nicht nur mich verraten, sondern alles, was mir etwas bedeutet.

Und deswegen werde ich von nun an tun, was Nathalie will.

Sie betritt das kleine Labor nur wenige Sekunden nach uns und deutet auf einen Stuhl, zu dem Jill und Ric mich führen. Nathalie nimmt auf einem Hocker Platz und dreht sich elegant hin und her.

»Folgendermaßen wird es ablaufen«, unterrichtet sie mich, und ihr Ton regt mich schon nicht mal mehr auf. »Wir werden eine Reihe Experimente durchführen, bei denen du deine Gabe anwendest und wir mit Elektroden deine Gehirnaktivität und deine Vitalfunktionen überwachen. Nichts Dramatisches. Ich will nur verstehen, wie dein Talent funktioniert.« Sie macht eine Pause, als erwarte sie, dass ich etwas entgegne, doch ich bleibe stumm. »Solange du kooperierst, wird dein Freund es bequem haben. Wenn du aus der Reihe tanzt, hast du gesehen, was passiert.«

Wieder blickt sie mich abwartend an, aber ich rühre mich nicht. Ich bin mir sicher, dass sie meine Antwort kennt.

Jemand in einem weißen Kittel streift mir eine Haube aus grauem Gummi über den Hinterkopf, von dem ein Dutzend Drähte wie kleine Antennen abstehen. Ich muss aussehen wie ein Igel mit Badekappe, aber die Zeiten, in denen ich mich über einen solchen Gedanken amüsiert hätte, scheinen Jahrzehnte zurückzuliegen.

»Fang an«, fordert Nathalie mich auf.

Verständnislos starre ich sie an, dann dämmert mir, was ihr Missverständnis ist. Ich schüttle den Kopf.

»So funktioniert das nicht«, erkläre ich. »Ich brauche frische Luft um mich herum. In geschlossenen Räumen kann ich das Wetter nicht beeinflussen.«

Einen Augenblick wirkt Nathalie völlig perplex. Dann heben sich ihre Mundwinkel, und ich weiß genau, was ihr in diesem Moment aufgeht: Wenn meine Gabe drinnen nutzlos ist, muss sie sich über Sicherheitsvorkehrungen keine Gedanken machen. Dann kann ich ihr nicht gefährlich werden.

Doch Nathalie wäre nicht Nathalie, wenn sie sich mit meinem Wort zufriedengeben würde. Sie deutet auf die Elektrodenkappe. »Probier es. Deine Gehirnaktivitäten sind bestimmt die gleichen, ob du in einer natürlichen Umgebung bist oder nicht. Ab morgen werden wir unsere Versuchsanordnungen anpassen.«

Was sie meint, ist: Sie will Vergleichsdaten haben. Ich soll ihr beweisen, dass ich es wirklich versuche. Aber das, was sie verlangt, ist, als würde ich allein ein Gespräch führen. Ich rufe ins Nichts hinein und warte auf eine Antwort, die nicht kommt. Ich will es ihr erklären, doch sie schüttelt den Kopf.

»Keine Ausflüchte. Ich will sehen, was in deinem Gehirn passiert.«

Mir fehlt die Kraft, ihr etwas entgegenzusetzen. Diese letzte Stunde – Nathalies Skrupellosigkeit, die Angst in Espers Gesicht, Leos stummes Schuldeingeständnis – hat mich stärker erschöpft als die Tage in der Kältekammer. Meine Gabe ist wie eine Zuflucht, etwas Tröstliches in Zeiten, in denen ich nichts mehr unter Kontrolle habe. Also stehe ich auf und suche in mir nach diesen Fähigkeiten, die mich begleiten, seit ich denken kann. Die so lange schon bestimmen, was ich bin.

Es ist mühsam. Mir ist immer noch kalt, und die Energie, die ich aufbringen muss, laugt mich weiter aus. Sie ist verschwendet, kein Lüftchen regt sich, während mir nur immer noch kälter wird und mein Gehirn wieder beginnt, mir Bilder vorzugaukeln. Nicht die Schreckensbilder, die ich befürchtet habe, sondern Momente von früher, Schmetterlinge, die um meinen Kopf torkeln, kleine Regenbogen, die den Sommerregen funkeln lassen. Baumwipfel, die sich im Wind wiegen. Die silbrige Oberfläche eines Sees, die sich kräuselt.

Auch meine Gabe ist nur Erinnerung, als ich hier in diesem sterilen Raum stehe und meine Wärme, die Reste davon, fließen lasse.

»Vorsicht!«

Ich weiß nicht, wer gerufen hat, aber ich fahre hoch und fühle im nächsten Moment Arme, die sich um mich schließen. Aus der Hektik, mit der die Wissenschaftlerin einen Stuhl heranzieht, und dem Nachdruck, mit dem mich der Mann daraufsetzt, schließe ich, dass ich beinahe umgekippt wäre. Für ein paar Sekunden dreht sich alles um mich und ich stütze die Ellbogen auf den Knien ab. Jemand reicht mir ein Glas Wasser, nach dem ich mit zitternden Fingern greife.

Ich fange Nathalies Blick auf. Sie betrachtet mich wie einen Käfer, der zertreten an ihrer Schuhsohle klebt, und ganz kurz fühle ich mich genau so.

»Interessant«, sagt sie nach einem Moment. »Da hast du also nicht gelogen.« Sie klappt die Schutzhülle ihres Tablets zu und wendet sich an ihre Lakaien. »Bringt sie zurück in die Kammer und sorgt dafür, dass sie schläft. Nicht mehr als sechs Stunden. Vierzehnhundert Kalorien täglich. Morgen um neun machen wir weiter.«

Ohne ein weiteres Wort geht sie an mir vorbei und verschwindet durch die Tür. Als ihre Schritte verklungen sind, bringen mich meine Aufpasser zurück in meine Zelle.

3

Sechs Stunden Schlaf sind schnell vorbei, wenn man weiß, dass nach dem Aufwachen nichts Gutes auf einen wartet. Ich gähne fast ununterbrochen, aber jedes Mal, wenn mir die Augen zufallen, tönt ein schrilles Piepen durch den Lautsprecher. Zweimal habe ich mir vor Schreck schon auf die Zunge gebissen. Es tut weh, wenn ich etwas trinke.

Dass ich das alles wahrnehmen kann – dass sich der Schlaf beinahe erholsam angefühlt hat –, bedeutet, dass es in der Kammer nicht mehr ganz so kalt ist. Von warm sind wir aber immer noch drei Klimazonen entfernt.

Sie bringen mir Kaffee, was tatsächlich die erste Wohltat ist, seit sie mich hier drin eingesperrt haben. Wahrscheinlich ging ihnen das ständige Tuten selbst auf die Nerven, jetzt wollen sie mich mit Koffein wach halten.

Es funktioniert. Nach ein paar Minuten lässt mein Gähnen nach. Gleichzeitig wachen meine Gedanken auf.

Sie dürfen es nicht wissen …

Die Stimme in meinem Kopf ist hartnäckig lauter geworden, und jetzt, als ich langsam aus dem Überlebensmodus herauskomme, scheint sie mich zu verspotten.

Humorlos schnaube ich. Da hatte sie wohl recht. All die Jahre hatte sie recht. Ich ziehe die Beine an und stelle den Kaffeebecher auf meinem Knie ab. Sie hätten es nie wissen dürfen.

Jetzt wissen sie es. Und ich bin eine Ratte im Käfig.

Ich halte mich an den kleinen Dingen fest. Dem Geschmack von Kaffee. Dem Gefühl, satt zu sein. Warmen Füßen. Frisch gewaschenen Haaren. Damit komme ich durch die folgenden Tage. Einmal finde ich sogar eine kleine Tafel Schokolade eingewickelt in eine Serviette auf meinem Frühstückstablett. Völlig gegen meine Natur esse ich immer nur ein kleines Stück davon. Das Gefühl des Trostes, das die bittere Süße in mir auslöst, bringt mich fast zum Weinen.

Ich schiebe alles weg, was mein Herz oder mein Hirn aus dem Gleichgewicht bringen könnte – denn ich weiß, ich balanciere auf einem hauchdünnen Seil, und unter mir tut sich ein Abgrund auf, der mich verschlingen wird, wenn ich den Schmerz, die Zweifel, die Hoffnungslosigkeit zulasse, die in der Dunkelheit auf mich lauern. Ich muss wachsam sein und mich gleichzeitig betäuben. Es ist ein schmaler Grat.

Wenn ich nicht schlafen darf, starre ich mit trockenen Augen an die Decke. Sollte ich stattdessen weinen? Vielleicht würde ich es sogar gern, aber der Gedanke, welche Genugtuung es Leo verschaffen würde, wenn er wüsste, was für ein Schlachtfeld er hinterlassen hat, hält mich davon ab. Wie alles für ihn aufgegangen ist! Wie ich ihm alles, alles von mir erzählt habe, nur damit er es weiterträgt.

Nein. Ich balle meinen Schmerz und alle meine Gefühle in einem winzigen, eiskalten Klumpen zusammen und halte mich daran aufrecht. Der Rest von mir ist hohl, doch das ist okay. Ich hoffe nur, die nächste Erschütterung bleibt noch ein wenig aus. Sonst kann es sein, dass ich in tausend Teile zersplittere.

Als Nathalie mich endlich nach draußen lässt, bin ich beinahe euphorisch. Sie bringen mich in einen Hof, wo wir anscheinend auf ein Auto warten, aber ich schließe die Augen und ignoriere die beiden Männer neben mir, den Geruch nach Asphalt und Metall, das Surren, das aus den Maschinenhallen an meine Ohren dringt. Für ein paar kostbare Sekunden nehme ich nichts wahr als das Sonnenlicht auf meinem Gesicht, den Wind, der über meine Arme streicht, sanft wie eine menschliche Berührung, den würzigen Duft nach trockenem Gras und Lavendelblüten. Jede Zelle in meinem Körper scheint sich zu regen, ich bin fast überwältigt von den Reizen, die auf mich einströmen, die Wärme, die Luftfeuchtigkeit, die Verwirbelungen. Die fernen Echos der Signale, die ich aussende, ganz automatisch, ohne darüber nachzudenken. Ich war stumm, das geht mir jetzt auf, eingesperrt in meinen Kopf, und ein leises Stöhnen entwischt mir, als ich mich in die Welt hinausstrecke und die Weite fühle. Ich schwanke, doch ein fester Griff an meinem Arm bringt mich wieder ins Lot.

Als sie mich auf den Rücksitz eines schwarzen EUV schieben, frage ich, ob ich das Fenster einen Spalt öffnen darf. Nach kurzem Zögern, so als müsste sie überlegen, ob das gefährlich werden könnte, stimmt Jill zu, und die ganze Fahrt über fühle ich mich wie im Himmel. Der Fahrtwind zerrt an meinen Haaren, und beinahe fühlt es sich so an, als wäre ich frei.

Wir steigen an einem riesigen Getreidefeld aus, das sich golden am Horizont verliert. Wie üblich werde ich mit meiner Schwimmkappe und den Sensoren ausstaffiert, und kurz frage ich mich, ob es besser ist, Nathalies Forderungen besonders gut zu erfüllen oder, im Gegenteil, meine Kräfte zurückzuhalten, damit wir einen Grund haben, auch morgen wieder hierherzufahren. Ich komme zu keinem Ergebnis und dann übernimmt mein Instinkt. Meine Gabe fühlt sich an wie ein Pferd, das zu lange im Dunkeln eingesperrt war – kaum gibt Nathalie mir die Anweisung, nach Regen zu suchen und den Acker zu bewässern, streckt sich mein Geist, und jede Kontrolle, die ich mir auferlegen wollte, wird überrannt. Ich bilde mir die Macht nicht ein, mit der meine Gabe aus mir strömt – jemand keucht leise auf, die Sensoren müssen also andere Werte zeigen als bei den Experimenten in den Bioverse-Hallen. Der Energie nach zu urteilen, die in meinen Fingerspitzen und Zehen pulsiert, sprengen sie die Anzeige.

Doch diese Menschen, Fremde immer noch, obwohl ich seit Tagen Stunde um Stunde mit ihnen verbringe, verschwinden plötzlich. Ich bin Teil von etwas Größerem und für den Moment hören sie auf zu existieren. Die Luft liebkost mich, zart erst, dann stürmischer, und sie weckt das Leben in mir. Was in den letzten Tagen vergraben war, kommt jetzt ans Licht, und ich sende alles aus, um mit dem Wind zu tanzen.

Es ist ein heißer Tag, heiß und trocken, und das Wasser antwortet mir von weit her. Doch es antwortet. Hinter mir höre ich menschliches Flüstern, aber es interessiert mich nicht. Was zählt, ist das Wispern, das die Wolken ankündigt, das Rascheln und Rauschen und Säuseln und Zischen.

Hier!, rufe ich, nicht mit meiner Stimme, sondern mit meinem Geist, der lockt und schmeichelt. Ich recke die Arme zum Himmel, aus Gewohnheit, auch wenn ich weiß, ich brauche die Geste nicht mehr, um die Luft zu dirigieren. Ich will einfach alles spüren, alles, was von hier, vom Boden aus, möglich ist.

Ich bin wieder lebendig. Das Blut rauscht durch meine Adern, meine Finger spielen mit den Böen, die Spitzen meiner Haare flirren um mich, als hätten sie ihren eigenen Willen. Es ist alles leicht. Richtig.

Dann rieche ich den Regen, und ich kann es kaum erwarten, dass er uns erreicht. Ungeduldig sende ich Impulse in die Ferne, verleihe den Wolken mehr Kraft. Um mich herum bricht Hektik aus, Planen werden über teure Instrumente gespannt, Menschen suchen Schutz im Inneren der Fahrzeuge, doch ich mache fast einen Luftsprung, als der erste Tropfen auf meiner nackten Schulter zerplatzt. Eine Sekunde später prasselt der Regen auf meine Kappe, mein Gesicht und meine Arme und ich ziehe mir diese dämliche Mütze vom Kopf. Ich weiß, es wird ihnen nicht gefallen, aber ich will alles fühlen, den Augenblick, in dem die Tropfen mich treffen, wie sie sich zu Rinnsalen sammeln und mir über Kopfhaut, Stirn und Wangen laufen. Von meiner Nase tropfen, meine Klamotten durchnässen und den Boden tränken. Der erdige, frische Geruch ist so intensiv, dass ich mich fast berauscht fühle. Ich stehe da, ganz still jetzt, und lasse die Welt durch mich hindurchströmen. Nichts ist mehr übrig von der Taubheit, die sich über meine Sinne gelegt hat, ich fühle und rieche und schmecke und kann sogar glauben, dass nichts zählt als dieser Moment.

Bis er vorbei ist. Ich habe den Punkt verpasst, als meine Kräfte verbraucht waren, und merke zu spät, dass ich leer bin. Wie eine Marionette mit durchtrennten Fäden sacke ich in mir zusammen. Ich bleibe auf dem Rücken liegen, mit geöffneten Augen, und noch als sie auf mich zustürzen, betrachte ich die silbernen Regentropfen und das Wirbeln der Wolken.

Dann wird alles schwarz.

Auf dem Rückweg wache ich davon auf, dass jemand meine Waden knetet und jemand anders versucht, mir eine widerlich süß schmeckende Flüssigkeit einzuflößen. Damit sie mich in Ruhe lassen, nehme ich die Flasche und kippe das Zeug freiwillig runter.

Draußen regnet es immer noch und hin und wieder fange ich einen ehrfürchtigen Seitenblick der beiden Wissenschaftler auf. Obwohl sie mich seit Tagen an Maschinen hängen und mein Gehirn anzapfen, haben sie noch immer nicht kapiert, was meine Gabe ist.

Ob sie in den folgenden Tagen schlauer werden, weiß ich nicht. Mit mir reden sie nicht, nur Nathalie gibt mir Anweisungen, die ich ausführe, ohne sie zu hinterfragen. Einmal soll ich eine Gewitterfront auflösen, ein anderes Mal eine künstlich erzeugte Regenwolke umleiten. Zu Esper lassen sie mich nicht mehr und auch Leo sehe ich nicht. Aber daran stört mich am meisten, dass die Erkenntnis überhaupt ihren Weg in meine Gedanken findet.

Am achten oder neunten Tag sind wir schon vor Sonnenaufgang unterwegs. Ich gehe davon aus, dass wir ein weiter entfernt liegendes Ziel ansteuern, doch die Fahrt dauert gerade mal eine halbe Stunde. Wir steigen an einem Aussichtspunkt aus. Unter uns steht ein verlassenes Dorf an einer Flussschleife, eingezwängt zwischen Steilhängen. Die ersten Sonnenstrahlen reichen noch nicht ins Tal hinunter, sodass die baufälligen Häuser sich kaum von den hohen Tannen ringsum abheben.

Meine heutige Aufgabe besteht darin, Regenwolken mit so viel Energie zu erzeugen, dass ihr Niederschlag die Häuser fortspült. Schon während sie mich an ihre Computer anschließen, sucht mein Geist nach einem Vorrat an Feuchtigkeit, der dafür ausreicht. Meine Sinne folgen dem Flusslauf, immer weiter, bis ich nicht mehr unterscheiden kann, ob ich Quellwasser, Tau oder Nebel spüre. Weil es so früh ist und die Sonne noch kaum Kraft hat, muss ich mich stärker konzentrieren als sonst und mehr Energie aufwenden. Hoffentlich haben sie Schokolade dabei.

Ich verliere jedes Gefühl für Raum und Zeit. Stehe ich noch an der Abbruchkante hoch über dem Dorf? Ist die Sonne schon ganz aufgegangen? Es ist das einzige Zeichen, das mir die Zeit anzeigt: Die Aufgabe kostet mich Kraft, aber mit jeder Minute, die vergeht, wärmt mich die Sonne mehr, gleicht sie besser aus, was ich an Energie verliere.

Von irgendwoher dringen Geräusche an mein Ohr, die mich unruhig machen. Ich kann nicht sagen, wieso, denn sie sind nicht ungewöhnlich, nicht bedrohlich. Doch ich habe keine Aufmerksamkeit dafür übrig, lausche stattdessen dem Wind, der die Schlucht heraufweht. Er bringt Wärme mit.

Immer stärker bläst er jetzt, verwirbelt die Haarspitzen, die unter meiner Kappe hervorschauen. Nathalie und die Wissenschaftler unterhalten sich, besprechen vielleicht, was meine Gehirnströme ihnen verraten. Ihre Worte verstehe ich nicht, ich habe den Eindruck, dass Nathalie die immer hitziger geführte Diskussion beendet.

Aber eigentlich interessiert es mich nicht. Ich stemme mich gegen den Wind und warte auf den Moment, in dem mein Auftrag erfüllt ist. Er ist so sinnlos, zerstörerisch, ich will ihn einfach hinter mich bringen und dann … Gerade noch fange ich mich, bevor ich »nach Hause« denken kann. So weit kommt es noch, dass mir diese Gefängniszelle wie eine Zuflucht erscheint.

Endlich fühle ich es. Der Regen ist noch weit entfernt, aber er ist auf dem Weg. Beinahe spüre ich sein Prasseln durch den Boden, die winzigen Erschütterungen, die die Erde zum Schwingen bringen. Ich drehe den Kopf nach rechts und öffne die Augen. Graue Wolken mit gelben und lila Schattierungen ballen sich am Horizont, steigen immer weiter auf, kommen schnell näher. Ich sehe den Regenschleier, den sie hinter sich herziehen.