Verantwortlichkeit im Unternehmensrecht X -  - E-Book

Verantwortlichkeit im Unternehmensrecht X E-Book

0,0

Beschreibung

Der vorliegende Tagungsband enthält die um Belege ergänzten Referate des EIZ-Seminars «Verantwortlichkeit im Unternehmensrecht X». Die Beiträge betreffen Themen rund um den Verantwortlichkeitsprozess, wie die Erfahrungen aus den Swissair-Verantwortlichkeitsprozessen, die Aufbereitung komplexer und weit zurückliegender Sachverhalte, Schaden und Kausalität im Verantwortlichkeitsprozess sowie Verantwortlichkeitsrisiken des Verwaltungsrates bei der Abwehr von Aktionärsklagen. Abgeschlossen wird der Band mit einem Aufsatz zu den jüngsten gesetzlichen Änderungen im Verantwortlichkeitsrecht (Verjährungsrecht, Aktienrechtsrevision und Prospekthaftung).

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 402

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Herausgeber: Rolf Sethe, Peter R. Isler
Verantwortlichkeit im Unternehmensrecht X
Verantwortlichkeitsprozesse Tagungsband 2020

Verantwortlichkeit im Unternehmensrecht X von Rolf Sethe und Peter R. Isler wird unter Creative Commons Namensnennung-Nicht kommerziell-Keine Bearbeitung 4.0 International lizenziert, sofern nichts anderes angegeben ist.

© 2020 – CC BY-NC-ND (Werk), CC BY-SA (Text)

Herausgeber: Rolf Sethe, Peter R. Isler – Europa Institut an der Universität ZürichVerlag: EIZ PublishingProduktion, Satz und Vertrieb: buch & netz (buchundnetz.com)Cover: buch & netzISBN:978-3-03805-353-8 (Print – Softcover)978-3-03805-377-4 (PDF)978-3-03805-378-1 (ePub)978-3-03805-379-8 (mobi/Kindle)DOI: https://doi.org/10.36862/eiz-353Version: 1.02-20210126

Dieses Werk ist als buch & netz Online-Buch und als eBook in verschiedenen Formaten, sowie als gedrucktes Buch verfügbar. Weitere Informationen finden Sie unter der URL: https://buchundnetz.com/werke/verantwortlichkeit-im-unternehmensrecht-x/.

1

Vorwort

Die vom Europa Institut Zürich regelmässig durchgeführte „Zürcher Tagung zur Verantwortlichkeit im Unternehmensrecht“ fand am 11. Februar 2020 zum zehnten Mal statt. Die Veranstalter haben bei der Themenwahl versucht, die sich aus der jüngeren Rechtsprechung ergebenden Grundsatzfragen des Verantwortlichkeitsrechts aufzugreifen. Ebenfalls behandelt wurden diejenigen gesetzlichen Änderungen, die sich für das Verantwortlichkeitsrecht aus den Reformen des Verjährungsrechts, der Aktienrechtsrevision und des Finanzmarktrechts ergeben haben.

Die in diesem Tagungsband zusammengefassten Beiträge zeigen die grosse Bandbreite des Verantwortlichkeitsrechts. Die gegenüber den Referaten noch vertieften und aktualisierten Aufsätze wollen mithelfen, offene Rechtsfragen zu beantworten und in einen systematischen Kontext zu stellen. Zugleich sollen sie eine Handreichung für Praktiker sein, die vor der konkreten Aufgabe stehen, in einem Fall die zivilrechtlichen Folgen des Verantwortlichkeitsrechts beurteilen zu müssen. In Bezug auf die Aktienrechtsrevision wurde an der Tagung der damalige Diskussionsstand der parlamentarischen Beratungen vorgestellt; die schriftliche Fassung des Referats behandelt die am 19. Juni 2020 verabschiedete endgültige Fassung der Aktienrechtsrevision (BBl 2020, 5573). Aufmerksame Leser dieser Schriftenreihe werden feststellen, dass der letzte, 2016 erschienene Tagungsband zum Verantwortlichkeitsrecht die Nummer VIII trägt. Die Referate der IX. Tagung sind in der ZSR 2/2018 abgedruckt.

Unser Dank gebührt unseren Referenten, die sich neben ihrem grossen Einsatz an der Tagung der Mühe unterzogen haben, ihr Referat schriftlich niederzulegen. Ausserdem danken wir dem be­währ­ten Team des Europa Instituts, insbesondere Frau Irina Ruf und Frau Sue Osterwalder, für die Durchführung der Veranstaltung und für die Erstellung und Gestaltung dieses Bandes.

Zürich, im Oktober 2020

Inhalt

VorwortErfahrungen aus den Swissair-VerantwortlichkeitsprozessenDr. Peter R. Isler, Rechtsanwalt, LL.M., Lehrbeauftragter an der Universität Zürich, Partner bei Niederer Kraft Frey AG, ZürichDr. Ernst F. Schmid, Rechtsanwalt, LL.M., Lehrbeauftragter an der Universität Zürich, Partner bei Niederer Kraft Frey AG, ZürichPeter R. Isler und Ernst. F. SchmidDie Aufbereitung komplexer und weit zurückliegender Sachverhalte bei VerantwortlichkeitsprozessenDr. Martin Waldburger, Rechtsanwalt, LL.M., Partner bei Lehmann & Waldburger, ZürichMartin WaldburgerDer Schaden im Verantwortlichkeitsprozess, insbesondere bei KonkursverschleppungDr. Stephan Mazan, Oberrichter am Handelsgericht ZürichStephan MazanDie Kausalität, ein neues Hindernis im Verantwortlichkeitsprozess? – Zur neueren Praxis des BundesgerichtsDr. Peter Reichart, Rechtsanwalt, LL.M., Partner bei Wartmann Merker, ZürichPeter ReichartVerantwortlichkeitsrisiken des Verwaltungsrates bei der Abwehr von AktionärsklagenProf. em. Dr. Peter Forstmoser, Rechtsanwalt, LL.M. (Harvard), Partner bei Niederer Kraft Frey AG, ZürichLic. iur. Marcel Küchler, Rechtsanwalt, wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Niederer Kraft Frey AG, ZürichPeter Forstmoser und Marcel KüchlerNeuerungen im VerantwortlichkeitsrechtProf. Dr. Rolf Sethe, Rechtsanwalt, LL.M., Ordinarius für Privat-, Handels- und Wirtschaftsrecht an der Universität ZürichDr. Lukas Fahrländer, Rechtsanwalt, Habilitand an der Universität ZürichRolf Sethe und Lukas FahrländerPublikationsliste

Erfahrungen aus den Swissair-Verantwortlichkeitsprozessen

Dr. Peter R. Isler, Rechtsanwalt, LL.M., Lehrbeauftragter an der Universität Zürich, Partner bei Niederer Kraft Frey AG, ZürichDr. Ernst F. Schmid, Rechtsanwalt, LL.M., Lehrbeauftragter an der Universität Zürich, Partner bei Niederer Kraft Frey AG, Zürich

Peter R. Isler und Ernst. F. Schmid

Die Autoren haben einen Verwaltungsrat der SAirGroup AG beraten und in einzelnen Verfahren vertreten. Sie danken Rechtsanwältin lic. iur. Mirjam Vögeli LL.M. herzlich für ihre Mitwirkung an diesem Beitrag.

Inhalt

EinleitungZur Konzernstruktur der Swissair-GruppeDie sechs VerantwortlichkeitsprozesseDer Fall RoscorDer Fall SabenaDer Fall FlightleaseDer Fall GläubigerschädigungDer Fall Air LittoralDer Fall Swissair Cash-PoolEinige wesentliche Erkenntnisse für VerantwortlichkeitsprozesseDie Bedeutung des Strafurteils des Bezirksgerichts Bülach vom 4. Juni 2007Zur Passivlegitimation der Organpersonen in KonzernverhältnissenDie Business Judgment Rule in der Beurteilung der PflichtwidrigkeitGesellschaftsinteresse und KonzerninteresseDas Cash-Pooling im KonzernDie Schwierigkeiten des SchadennachweisesDer Kausalzusammenhang als weitere HürdeSchlussbemerkungenLiteraturverzeichnis

Einleitung

Mit dem Bundesgerichtsurteil vom 18. November 2019 wurde der sechste und letzte Verantwortlichkeitsprozess von in der Nachlassliquidation befindenden ehemaligen Gesellschaften der Swissair-Gruppe gegen ihre damaligen Organe abgeschlossen und bis im Juni 2020 ist kein neuer Prozess rechtshängig geworden. Dies ist deshalb ein geeigneter Zeitpunkt, um die Geschichte von 15 Jahren Swissair-Verantwortlichkeitsprozesse Revue passieren zu lassen. Nach einem Überblick mit kurzer Zusammenfassung der einzelnen Prozessverfahren sind dann einige wesentliche Erkenntnisse näher zu beleuchten, insbesondere für die Rechtsprechung zur aktienrechtlichen Verantwortlichkeit in Konzernverhältnissen.[1]

Ursache dieser Prozesse war das Grounding der Swissair am 2. Oktober 2001, als wegen Mangel an finanziellen Mitteln der Flugbetrieb eingestellt werden musste und zentrale Gesellschaften des Konzerns um Nachlassstundung ersuchen und schliesslich in einem konkursrechtlichen Nachlassverfahren mit Vermögensabtretung (Art. 317 ff. SchKG) liquidiert werden mussten. Auf die Vorgeschichte, die Vermeidbarkeit und die Schuldzuweisungen für den Eintritt des Grounding ist hier nicht einzugehen.[2] Es ist nur festzustellen, dass der vermögens- und reputationsmässige Schaden enorm war und bis heute die Medien beschäftigt.[3] Und für die Beschäftigung von Anwälten und Gerichte sah schon damals der Tages Anzeiger klar in die Zukunft: „Jahrelange Streitereien sind zu erwarten“.[4]

Zur Konzernstruktur der Swissair-Gruppe

Zum besseren Verständnis der nachfolgend skizzierten Prozess-Sachverhalte ist die Konzernstruktur der Swissair Gruppe in Erinnerung zu rufen, welche in der für die Verantwortlichkeitsansprüche relevanten Zeitperiode bestand:

Vor dieser Zeitperiode, nämlich Mitte der 90er Jahre, strukturierte sich die damalige Swissair Schweizerische Luftverkehr-Aktiengesellschaft um, indem aus der börsenkotierten Obergesellschaft mit dem Flugbetrieb als Stammhaus und diversen Beteiligungsgesellschaften im flugnahen Bereich eine reine Holdinggesellschaft mit dem Namen SAirGroup wurde. Diese hatte diverse Sub-Holdinggesellschaften sowie einzelne direkt gehaltene Beteiligungen. Für die hier behandelten Verantwortlichkeitsprozesse ist nur die Sub-Holding SAirLines relevant, welche die für das schweizerische Fluggeschäft zentralen 100%igen Tochtergesellschaften Swissair und Flightlease (welche der Swissair eine Anzahl Flugzeuge auf Leasingbasis zur Verfügung stellte) sowie überdies Minderheitsbeteiligungen an weiteren ausländischen Fluggesellschaften wie Sabena, Air Littoral, AOM, Air Liberté, Volare, Air Europe, SAA, LOT und TAP/Portugalia hielt.

Die weiteren Subholdings der SAirGroup mit ihren Tochtergesellschaften im flugnahen Bereich (z.B. Catering, technischer Unterhalt, Duty-free-Geschäft, Gepäckabfertigung, Immobilien) spielen hier keine Rolle. Sie waren zum grossen Teil überlebensfähig und konnten von den Sachwaltern an Investoren verkauft werden. In den Konkurs- und Nachlassverfahren von Tochtergesellschaften im flugnahen Bereich wurden vereinzelt Verantwortlichkeitsprozesse geführt und erledigt, auf welche hier nicht eingegangen wird.[5]

Die sechs Verantwortlichkeitsprozesse

Der Fall Roscor

Als erster Verantwortlichkeitsprozess wurde im September 2005 von der SAirGroup in Nachlassliquidation gegen zwölf Verwaltungsräte und Geschäftsleitungsmitglieder Klage über rund CHF 280 Mio. vor Bezirksgericht Zürich erhoben. Als Sachverhalt wurde geltend gemacht, dass im Dezember 2000 die SAirLines überschuldet gewesen sei und im Hinblick auf den Jahresabschluss rekapitalisiert werden musste. Zu diesem Zweck habe die SAirGroup ihre wertvolle Tochtergesellschaft Roscor AG, über welche die Swissair am elektronischen Reservationssystem Galileo beteiligt war, entschädigungslos in die SAirLines integriert. Damit sei allerdings die Überschuldung der SAirLines in keiner Weise beseitigt worden. Die beklagten Organpersonen hätten ohne klaren Durchblick über die finanziellen Verhältnisse von SAirGroup und SAirLines und ohne Sanierungskonzept die Roscor-Transaktion zum Schaden der SAirGroup in pflichtwidriger Weise durchgeführt.

Das Bezirksgericht Zürich wies die Klage mit Urteil vom 8. Januar 2009 vollumfänglich ab.[6] Auf Berufung der Klägerin hin wies das Obergericht des Kantons Zürich die Klage ebenfalls vollumfänglich ab[7] und folgte dabei den bereits vom Bezirksgericht angestellten Überlegungen. Danach war massgebender Ausgangspunkt, dass nach Überzeugung des Obergerichts die SAirGroup im Zeitpunkt der Roscor Transaktion am 18. Dezember 2000 sicher nicht überschuldet war, weil in ihren Beteiligungen grosse stille Reserven von mehr als CHF 2 Milliarden enthalten waren. Gestützt darauf wurde die Berufung mit drei separaten Begründungen abgewiesen:

In der Hauptbegründung wurde festgehalten, dass auch die SAirLines unter Berücksichtigung ihrer eigenen stillen Reserven insbesondere aufgrund des ihr zustehenden Wertes der Marke „Swissair“ weder vor noch nach der Roscor-Transaktion überschuldet gewesen sei. Es lag in diesem Fall eine konzerninterne Vermögensverschiebung vor. Die SAirGroup erhielt in dieser Konstellation durch die Transaktion einen entsprechenden Gegenwert und insofern veränderte sich ihre Vermögenslage nicht.[8]In der ersten Eventualbegründung nahm das Obergericht an, dass bei einer allfälligen Überschuldung der SAirLines vor der Roscor-Transaktion diese durch die Einbringung der Roscor behoben worden sei. Damit habe für die SAirGroup ein Gegenwert im Umfang des die Überschuldung übersteigenden Betrages resultiert und vor allem habe die Verbesserung der Eigenkapitalbasis der SAirLines deren Überleben kurzfristig gesichert, was durchaus Teil eines Sanierungskonzeptes habe sein können und somit einen geschäftsmässig vertretbaren Entscheid dargestellt habe.[9]Aber auch im schlechtesten Fall, dass eine Überschuldung der SAirLines durch die Roscor-Transaktion im relevanten Zeitpunkt nicht gänzlich behoben worden wäre, sondern nur erheblich verringert wurde und die SAirGroup nicht sogleich einen entsprechenden Gegenwert erhalten hätte, lag nach Auffassung des Obergerichts keine pflichtwidrige Handlung vor. Für den Konzern war die SAirLines das Herzstück, an dessen Weiterexistenz ein eminentes eigenes Interesse bestand. Durch die Verstärkung ihres Eigenkapitals konnte ein Konkurs abgewendet werden. Dies war ein wesentlicher mittelbarer Vorteil der Roscor-Transaktion für die SAirGroup, denn ein Konkurs der SAirLines hätte für den ganzen Konzern weitreichende Folgen gehabt. Auf diese Weise entstand ein gewisser Zeitgewinn für die Ergreifung weiterer finanzieller Massnahmen zur Verbesserung der finanziellen Situation der SAirLines. Es lag daher auch hier ein rechtmässiger vertretbarer Geschäftsentscheid vor.[10]

Die Klägerin zog das Urteil des Obergerichts mit Beschwerde in Zivilsachen ans Bundesgericht weiter. Jenes Verfahren war bemerkenswert kurz, und bereits ein Jahr später wies das Bundesgericht mit Urteil vom 11. Juli 2012 die Beschwerde ab, soweit darauf einzutreten war.[11] Dieses Urteil ist nicht in materiell-rechtlicher Hinsicht besonders erwähnenswert – der bundesgerichtlichen Überprüfung hielt bereits die Hauptbegründung der Vorinstanz stand[12] –, sondern aus einem anderen Grund: Alle sechs Swissair Verantwortlichkeitsprozesse umfassten zwar sehr umfangreiche Rechtsschriften von stets mehr als 100 Seiten und tausende von Seiten an Beilagen. Aber in allen Verfahren wurde von jeder Instanz ohne ein Beweisverfahren entschieden. Das Roscor-Urteil des Bundesgerichts behandelt geradezu lehrbuchhaft die zahlreichen Rügen der Beschwerdeführerin bezüglich der Verletzung ihres Anspruches auf rechtliches Gehör (Urteil E. 4), bezüglich offensichtlich unrichtigen Sachverhaltsfeststellungen durch die Vorinstanz (Urteil E. 5), gestützt auf eine Verletzung von Art. 8 ZGB (Urteil E. 6) sowie hinsichtlich einer Verletzung von Bundesrecht (Urteil E. 7-10). Alle Rügen wurden mit detaillierter Begründung abgewiesen.

Der Fall Sabena

Als nach dem EWR-Nein des Schweizervolkes im Jahr 1992 feststand, dass die Swissair nicht gleichberechtigt am stark liberalisierten europäischen Fluggeschäft teilnehmen konnte, erwarb sie im Jahr 1995 eine Minderheitsbeteiligung von 49.5% an der belgischen Fluggesellschaft Sabena. Die Kapitalmehrheit wurde weiterhin von belgischen Aktionären, insbesondere staatlichen Beteiligungsgesellschaften gehalten. Im Rahmen der Umstrukturierung der Swissair übertrug die SAirGroup die Sabena-Beteiligung an die SAirLines.

Im Jahre 2000 verhandelte die SAirGroup mit den belgischen Aktionären über eine Rekapitalisierung der Sabena, welche in finanziellen Schwierigkeiten war. Im Januar 2001 unterzeichnete die SAirGroup eine Rekapitalisierungsvereinbarung, in welcher sie sich gegenüber den belgischen Aktionären verpflichtete, an die Sabena eine Zahlung von EUR 150 Mio. zu leisten gegen Zeichnung von Partizipationsscheinen durch die SAirLines. Im Februar 2001 leistete die SAirGroup die Zahlung und SAirLines erhielt die Sabena-Partizipationsscheine.

Im Februar 2006 klagte die SAirGroup in Nachlassliquidation gegen zehn ehemalige Mitglieder des Verwaltungsrates der Gesellschaft auf Zahlung in solidarischer Haftung von EUR 150 Mio., eventualiter CHF 231’267’000 vor Bezirksgericht Zürich. Als Begründung machte sie geltend, durch den Abschluss und Vollzug der Rekapitalisierungsvereinbarung sei das Vermögen der Klägerin mit einem neuen Passivum von EUR 150 Mio. belastet worden, für welches sie keinen Gegenwert erhalten habe. Dass die der SAirLines zugeteilten Partizipationsscheine werthaltig gewesen seien, werde bestritten, sei aber letztlich nicht relevant. Die beklagten Verwaltungsräte hätten ohne sorgfältige Prüfung diese verlustbringende Transaktion genehmigt, was eine Pflichtverletzung darstelle.

Das Bezirksgericht Zürich wies die Klage mit Urteil vom 23. Juni 2009 ab.[13] Auf Berufung hin wies auch das Obergericht des Kantons Zürich die Klage ab.[14]

Die Begründung beider Gerichte für die Klageabweisung war übereinstimmend im Wesentlichen folgende:

Die Klägerin habe den Schaden bei der SAirGroup nicht rechtsgenügend nachgewiesen. Die SAirGroup habe sehr wohl einen Gegenwert für ihre Zahlung von EUR 150 Mio. an die Sabena erhalten, nämlich eine Darlehensforderung gegenüber der SAirLines gemäss einem am 23. Februar 2001 mit der SAirLines abgeschlossenen Darlehensvertrag über CHF 229,92 Mio. Die Klägerin habe nicht substantiiert dargelegt, dass diese Darlehensforderung nicht werthaltig gewesen sei und im Übrigen sei die Darlehensschuld durch Verrechnung am 30. März 2001 getilgt worden.[15]Aber auch eine Pflichtverletzung der Beklagten erachteten die beiden Gerichte als nicht gegeben. Der Entscheid zur Rekapitalisierung der Sabena müsse im Zusammenhang der damaligen Umstände gesehen werden. Es bestand ein grosser Zeitdruck wegen der Generalversammlung der Sabena, an welcher ohne Zustandekommen der Rekapitalisierung deren Liquidation hätte beschlossen werden müssen. Ein Konkurs der Sabena hätte für die SAirGroup und ihren Konzern nicht nur negative Geschäftsfolgen, sondern auch Schadenersatzforderungen und Reputationsverluste in erheblichem Ausmass ausgelöst und hätte vor allem auch die Chance verunmöglicht, im Rahmen der begonnenen Strategiediskussion einen geordneten Ausstieg aus der Sabena-Beteiligung zu ermöglichen. Im damaligen Zeitpunkt lag daher ein vertretbarer Geschäftsentscheid vor.[16]

Auf eine Beschwerde in Zivilsachen ans Bundesgericht verzichtete die Klägerin in der Folge.

Der Fall Flightlease

Im November 2005 wurde die dritte der hier dargestellten Verantwortlichkeitsklagen beim Bezirksgericht Bülach eingereicht. Klägerin war die Nachlassmasse der Flightlease AG, einer Tochtergesellschaft der Sub-Holding SAirLines. Ihr Geschäftszweck war die Finanzierung, der Erwerb und die Vermietung von Flugzeugen, Triebwerken und Flugzeugkomponenten hauptsächlich an die Swissair. Beklagte waren elf Mitglieder des Verwaltungsrates der SAirGroup sowie sechs Personen, welche formelle oder materielle Organstellung bei der Flightlease hatten und die zum Teil auch Mitglieder der Konzernleitung der Swissair Gruppe waren.

Mit der Klageforderung im Betrag von rund CHF 50 Mio. wurde der Verlust in verschiedenen Währungen geltend gemacht, welchen die Klägerin durch ihre Teilnahme am konzernweiten Cash-Pooling erlitten hatte, als Ende September 2001 der Cash-Pool aufgrund der schwierigen finanziellen Situation der Swissair Gruppe (welche sich durch die Terroranschläge vom 11. September 2001 wesentlich verschärft hatte) von der UBS unerwartet beendet wurde. Die Cash-Pool-Führerin Finance BV konnte die Guthaben der Flightlease – wie auch jene anderer Konzerngesellschaften – nicht zurückzahlen und fiel in Konkurs.

Für diesen Schaden machte die Klägerin die 17 eingeklagten Organpersonen verantwortlich. Sie warf ihnen vor, es sei pflichtwidrig gewesen, eine Tochtergesellschaft zu zwingen, durch die Zentralisierung der konzernweiten Liquidität ihre eigenen liquiden Mittel vollständig an die Poolführerin abzugeben. Die Flightlease habe ein enormes liquiditätsmässiges Klumpenrisiko eingehen müssen, ohne eine Bonitätsprüfung oder Besicherung verlangen zu dürfen, und als das finanzielle Ende des Konzerns absehbar war, sei ihr verwehrt worden, noch rechtzeitig aus dem Cash-Pooling auszusteigen.

Das Bezirksgericht Bülach wies die Klage mit Urteil vom 23. Juni 2011 ab.[17] Auf Berufung hin wies das Obergericht des Kantons Zürich mit Urteil vom 8. September 2014 die Klage ebenfalls ab.[18] Mit Beschwerde in Zivilsachen zog die Klägerin den Prozess ans Bundesgericht weiter, welches mit Urteil vom 11. November 2015 die Beschwerde abwies[19], soweit darauf einzutreten war.

Aus der gerichtlichen Begründung für die Klageabweisung ist folgendes hervorzuheben:

Erstmals in den Swissair-Verantwortlichkeitsprozessen war eine zentrale Frage, ob die Verwaltungsräte der SAirGroup überhaupt passivlegitimiert waren, weil sie keine Organstellung bei der Flightlease hatten. Während das Bezirksgericht Bülach für diese Beklagten die Passivlegitimation bejahte[20], erachtete das Obergericht die Betrachtungsweise der Vorinstanz „prima vista nicht restlos überzeugend[21], liess die Frage aber letztlich offen, genauso wie das Bundesgericht.[22]Die Pflichtverletzung der Beklagten hatte die Klägerin vorwiegend damit begründet, mit der Teilnahme am Cash-Pool bzw. deren Nichtbeendigung seien die Beklagten ein enormes liquiditätsmässiges Klumpenrisiko zum Schaden der Flightlease eingegangen. Obergericht und Bundesgericht folgten aber dem Standpunkt der Beklagten, für diese behauptete Pflichtverletzung fehle es an der Haftungsvoraussetzung des natürlichen und adäquaten Kausalzusammenhanges zwischen der vorgeworfenen Pflichtverletzung und dem eingeklagten Schaden. Da im Aufsatz von Peter Reichart in diesem Tagungsband ausführlich auf diesen Aspekt eingegangen wird, ist auf jene Ausführungen zu verweisen.[23]Als zweite Pflichtverletzung warf die Klägerin den Beklagten vor, mit der Teilnahme am Cash-Pool bzw. mit deren Nichtbeendigung hätten sie die Flightlease einer übermässigen Gefahr eines Wertverlustes durch Ausfall der Darlehensforderung gegenüber der Poolleaderin Finance BV ausgesetzt. Interessanterweise stand hier die Frage, welche sich das Bundesgericht in einem ein Jahr zuvor gefällten Urteil stellte, nämlich ob die Teilnahme an einem Cash-Pool überhaupt einem nach Art. 680 Abs. 2 OR relevanten Drittmannstest standhielte[24], nicht im Mittelpunkt. Das Obergericht befasste sich vielmehr ausführlich mit der Bedeutung, dass die Flightlease eine zu 100% beherrschte Konzerntochtergesellschaft war und in ihrem Zweckartikel festgehalten wurde, dass sie bei der Verfolgung ihres Gesellschaftszweckes angemessen die Interessen der SAirGroup verfolgen solle. Das Gericht gelangte zum Schluss, dass bei der Beurteilung der Pflichten der Organe einer Konzerngesellschaft auch eine Gesamtbetrachtung der Interessen des gesamten Konzerns einbezogen werden könne.[25] Die Verneinung des Vorliegens der zweiten behaupteten Pflichtverletzung wurde insofern noch durch die unbestrittene Tatsache begünstigt, dass die Flightlease bis Anfang August 2001 aufgrund ihrer Teilnahme am Cash-Pool meistens Nettoschuldnerin der Finance BV war und dass auch nachher die Flightlease stets Darlehensschulden bei der SAirGroup hatte, welche höher waren als ihre Cash-Pool Guthaben.[26]

Das Bundesgericht gelangte bei der Beurteilung der zweiten behaupteten Pflichtverletzung zum gleichen Ergebnis wie das Obergericht. Das Gericht ging auch noch auf die Frage ein, ob die Teilnahme am Cash-Pooling ein Geschäftsentscheid sei, bei dessen nachträglicher Beurteilung die Gerichte gemäss den Grundsätzen der Business Judgment Rule sich Zurückhaltung aufzuerlegen hätten. Da die Klägerin den Beklagten in diesem Zusammenhang lediglich Unterlassungen vorwerfen würde, sei diese Regel nicht auf Fälle zugeschnitten, in denen nicht ein Tätigwerden (Geschäftsentscheid), sondern nur ein pflichtwidriges Unterlassen zu beurteilen sei. Diesfalls sei eine freie Prüfung der Pflichtverletzung gegeben, wobei auch bei freier Prüfung keine Pflichtverletzung vorliege.[27]

Die rechtliche Beurteilung der Teilnahme einer Konzerngesellschaft an einem Cash-Pool, bei welcher diese Gesellschaft zu Verlust kommt, ist nochmals im Fall Swissair Cash-Pool das zentrale Thema.[28]

Der Fall Gläubigerschädigung

Dieser Prozess war von grosser Tragweite sowohl für die Klägerin SAirGroup wie auch für deren Organpersonen. Durch den Erwerb von Beteiligungen an ausländischen Fluggesellschaften als Folge der Hunter-Strategie war die Verschuldung des Swissair-Konzerns, v.a. der SAirGroup, stark angestiegen. Als im Frühjahr 2001 bekannt wurde, dass die finanziellen Verhältnisse in der Swissair-Gruppe kritisch waren, wurde es schwierig, die fälligen Bankkredite und Anleihensobligationen zu refinanzieren. Vielmehr musste die SAirGroup durch Verkäufe von nicht betriebsnotwendigen Aktiven die nötige Liquidität generieren. Als sich am 11. September 2001 die Terroranschläge auf das World Trade Center in New York ereigneten, wurde die finanzielle Situation über Nacht noch um einiges kritischer, nicht nur bei der Swissair, sondern praktisch bei allen Fluggesellschaften weltweit. Genau in dieser Zeit musste die SAirGroup eine Optionsanleihe von CHF 100 Mio., einen grossen Bankkredit und diverse namhafte Kreditoren zurückzahlen.

Die SAirGroup in Nachlassliquidation hatte mit Erfolg gestützt auf den Tatbestand der Absichtspauliana (Art. 288 SchKG) von diversen Gläubigern, an welche die SAirGroup im August und September 2001 erhebliche Summen bei Fälligkeit bezahlte, die Rückzahlung dieser Beträge erreicht.[29] Sie glaubte daher, dass sie dieses Ziel auch über eine Verantwortlichkeitsklage gegen die damals amtierenden Verwaltungsräte erreichen könnte. Grundlage für diese Erwartungshaltung war das Urteil des Bundesgerichts im Fall Raichle, in welchem eine Darlehensrückzahlung der Firma an die Verwaltungsratspräsidentin und Hauptaktionärin unmittelbar vor der Eröffnung des Konkurses gemäss Art. 754 OR als pflichtwidrig und schadenersatzpflichtig erachtet wurde.[30] Entsprechend reichte die SAirGroup in Nachlassliquidation im Juni 2012 Verantwortlichkeitsklage gegen fünf ehemalige Organpersonen der Gesellschaft beim Handelsgericht des Kantons Zürich ein.[31] Die Klageforderung betrug rund CHF 135 Mio.

Das Handelsgericht wies die Klage mit folgenden zwei Begründungen ab:

Zunächst befasste es sich eingehend mit der Frage, ob überhaupt ein Schaden im Sinne des Verantwortlichkeitsrechts vorliege. Die Beklagten hatten in diesem Prozess mit allem Nachdruck betont, dass zwischen der paulianischen Anfechtung und der aktienrechtlichen Verantwortlichkeit ein wesentlicher Unterschied bestehe. In der Verantwortlichkeit gehe es um den von der Gesellschaft erlittenen Schaden, bei der Pauliana dagegen um eine allfällige Bevorzugung oder Benachteiligung von Gläubigern durch Verminderung des Verwertungssubstrates, also der Aktiven der Gesellschaft. Wenn die Gesellschaft aber auch in einer Krisensituation fällige Schulden bezahle, führe das nicht zu einem Gesellschaftsschaden, denn bilanzmässig entsteht keine Verminderung des Netto-Vermögens der Gesellschaft.[32] Das Handelsgericht folgte nach eingehender Prüfung der von den Parteien vorgebrachten Argumenten der Auffassung der Beklagten.[33]Dennoch prüfte das Handelsgericht für den Fall, dass von der Verursachung eines Schadens auszugehen wäre, auch noch ob das den Beklagten zur Last gelegte Verhalten eine Pflichtverletzung darstellen würde. Auch hier gelangte das Handelsgericht nach eingehender Beurteilung der Parteistandpunkte zum Ergebnis, dass die beanstandeten Zahlungen im Rahmen des ordentlichen Geschäftsbetriebes und des Gesellschaftsinteresses erfolgten, dass mangels einer allgemeinen aktienrechtlichen Pflicht zur Gläubigergleichbehandlung die blosse Ungleichbehandlung von Gläubigern keine Verantwortlichkeit begründe und dass unter den gegebenen Umständen keine Pflicht zur vollständigen Einstellung von Zahlungen bestanden habe.[34]

Unter Verzicht auf Einholung einer Stellungnahme der Beklagten wies das Bundesgericht die von der Klägerin erhobene Beschwerde in Zivilsachen ab.[35] Ohne von einer Praxisänderung zum Raichle-Entscheid zu sprechen, erklärte es diesen mit der damaligen restriktiven Praxis zur Aktivlegitimation der direkt in ihrem Vermögen geschädigten Gläubigern zur Erhebung einer Verantwortlichkeitsklage. Seither seien die Gläubiger bei unmittelbarer Schädigung ohne gleichzeitige Schädigung der Gesellschaft nicht mehr Einschränkungen unterworfen.[36] Deswegen rechtfertige es sich nicht mehr, einer Konkursmasse die Aktivlegitimation zur Geltendmachung des ausschliesslich den Gläubigern entstandenen Schadens zuzugestehen. Demzufolge sei die Beschwerdeführerin als Nachlassmasse nicht aktivlegitimiert, den von ihr eingeklagten Schaden, bestehend aus einer blossen Verminderung des Verwertungssubstrates, mit Verantwortlichkeitsklage gegen die Gesellschaftsorgane geltend zu machen, und damit entfalle auch eine Prüfung einer Pflichtverletzung.[37]

Der Fall Air Littoral

Als fünften Prozess klagte die SAirGroup in Nachlassliquidation im Juli 2012 gegen 16 Verwaltungsräte und Geschäftsleitungsmitglieder der Gesellschaft sowie die Kantone Basel-Stadt, Genf, Zürich und die Schweizerische Eidgenossenschaft (welche gestützt auf Art. 762 Abs. 4 OR als entsendende Körperschaften anstelle ihrer Vertreter im Verwaltungsrat ins Recht gefasst wurden) beim Handelsgericht des Kantons Zürich auf Schadenersatz von rund CHF 124 Mio. Die Klage basierte auf folgendem Sachverhalt:

Im Zusammenhang mit der sog. Hunter-Strategie versuchte sich die Swissair in den 90er Jahren als vierte europäische Fluggesellschaftsgruppe – neben Lufthansa, British Airways und Air France – zu etablieren. Zu diesem Zweck erwarb sie an verschiedenen kleineren europäischen Flugunternehmen substantielle Minderheitsbeteiligungen mit dem Ziel, eine Mehrheit zu erwerben, sobald es die anwendbaren Rechtsvorschriften zulassen würden. Nach der Sabena[38] war das nächste Akquisitionsobjekt die französische Regionalfluggesellschaft Air Littoral. An seiner Sitzung vom 11. September 1998 genehmigte der Verwaltungsrat der SAirGroup den Kauf von 49.9% vom Kapital von Air Littoral sowie Darlehen zur Sanierung und für weitere Investitionen dieser Gesellschaft. Die Klägerin warf den Beklagten im Wesentlichen vor, der Verwaltungsrat habe die Akquisition ohne genügende Prüfung, ohne schriftliche Unterlagen und ohne kritische Fragen betreffend Werthaltigkeit, Risiken und Strategiekonformität genehmigt und so pflichtwidrig den eingeklagten Schaden verursacht.

Das Handelsgericht wie die Klage mit Urteil vom 26. Januar 2015 ab[39], im Wesentlichen mit folgender Begründung:

Wie bereits im Entscheid des Obergerichts im Fall Sabena[40] betonte das Handelsgericht, ein Schaden im Rechtssinne könne nur bewirkt werden, wenn das Vermögen der SAirGroup ohne entsprechende Gegenleistung vermindert worden wäre. Dies sei bezüglich des Kaufes der Air Littoral-Aktien nicht der Fall. Die Klägerin anerkenne selbst, dass die erworbenen Aktienpakete (wie im Kaufvertrag vorgesehen) in das Vermögen der SAirLines übertragen worden seien und die SAirGroup im Gegenzug Darlehensforderungen von insgesamt rund CHF 70 Mio. gegenüber der SAirLines eingeräumt erhielt. Diese Darlehensforderungen seien im Zeitpunkt der Gewährung werthaltig gewesen und in der Folge durch zahlreiche Dar­le­hens­ab­lö­sun­gen und Verrechnungen – wie von den Beklagten im Detail dargelegt – getilgt worden, was von der Klägerin nicht substantiiert bestritten wurde. Diesbezüglich fehle es bereits an der Voraussetzung eines Schadens.[41]Da bezüglich der von der SAirGroup an Air Littoral überdies geleisteten und nicht zurückbezahlten Sanierungsdarlehen ein relevanter Schaden bestehen könnte, fokussierte sich das Handelsgericht in diesem Teil auf das Thema Pflichtverletzung. Diesbezüglich ist das Urteil ein sehr instruktives Beispiel einer gerichtlichen Beurteilung einer schlecht ausgegangenen Unternehmensakquisition. Unter Anwendung der Business Judgment Rule, des Grundsatzes der richterlichen Zurückhaltung bei der Beurteilung von Geschäftsentscheiden und des Verbotes einer ex-post-Betrachtung wurden der Akquisitionsprozess und die Entscheidungsfindung durch den Verwaltungsrat eingehend analysiert. Obschon die Verwaltungsratssitzung vom 11. September 1998 nur wenige Tage nach dem Absturz der Swissair 111 bei Halifax ins Meer stattfand und die verantwortlichen geschäftsführenden Personen mit dringenden Aufgaben und Problemen konfrontiert waren, konnte das Gericht feststellen, dass ein geordnetes vorgängiges Due Diligence Verfahren stattfand und eine ausreichende Informationsbasis für den Verwaltungsrat bestand. Der Entscheid wurde ohne Interessenkonflikt gefällt und orientierte sich am Gesellschaftsinteresse. Insgesamt erwies sich der Entscheid unter den dannzumal bekannten Umständen zwar als risikobehaftet, aber doch inhaltblich nachvollziehbar und vertretbar und damit nicht pflichtwidrig.[42]

Gegen dieses Urteil des Handelsgerichts wurde von der Klägerin kein Rechtsmittel ans Bundesgericht ergriffen. Vielmehr schlossen SAirGroup und SAirLines in Nachlassliquidation mit Zustimmung ihrer jeweiligen Gläubigerausschüsse im Jahre 2017 mit den 20 Beklagten des Air Littoral-Prozesses und zwei weiteren Personen einen Vergleich über sämtliche Ansprüche aus den weiteren Akquisitionen von Beteiligungen an ausländischen Fluggesellschaften in den Jahren 1998 bis 2000.[43]

Der Fall Swissair Cash-Pool

Der letzte hier zu behandelnde Swissair-Verantwortlichkeitsprozess ist im November 2019 beendet und im Gegensatz zu den anderen Verfahren in den Medien etwas ausführlicher kommentiert worden.[44] Es handelte sich um die von der Konzerntochtergesellschaft Swissair in Nachlassliquidation im April 2013 bei Handelsgericht des Kantons Zürich eingereichte Klage, wobei die Klageforderung gegen neun Beklagte rund CHF 179 Mio. und gegen fünf Beklagte rund CHF 282 Mio. betrug. Die Swissair war auch wie die Flightlease Teilnehmerin am konzernweiten Cash-Pooling und kam beim Zusammenbruch des Flugbetriebes der SAirGroup gegenüber der Poolleaderin Finance BV zu einem erheblichen Verlust. Zudem gewährte die Swissair der SAirGroup bis im Oktober 2001 laufend Festgeld-Darlehen aus ihrer überschüssigen Liquidität. Den Ausfall aus dem Cash-Pool und den Festgeld-Darlehen machte sie als Schadenersatz geltend.

Das Handelsgericht wies die Klage mit Urteil vom 16. März 2018 ab[45], und auch das Bundesgericht wies die gegen diesen Entscheid eingereichte Beschwerde in Zivilsachen mit Urteil vom 18. November 2019[46] ab. Da beide Gerichte zu den relevanten Fragen über die Voraussetzungen der aktienrechtlichen Verantwortlichkeit ausführlich und weitestgehend übereinstimmend Stellung nahmen, können die beiden Urteile wie folgt zusammengefasst werden:

Zum ersten Mal wurde die Frage behandelt, ob bei den Verwaltungsräten der SAirGroup, welche keine formelle oder materielle Organstellung bei der Swissair hatten, überhaupt die Passivlegitimation gegeben sei. Handelsgericht wie Bundesgericht haben für diese Beklagten die Passivlegitimation verneint.[47]Breiten Raum in den gerichtlichen Beurteilungen nahm die Frage der Pflichtwidrigkeit ein, welche für die fünf Beklagten zu beurteilen war, bei denen die Passivlegitimation gegeben war. Im Ergebnis gelangten beide Gerichte zur Feststellung, dass keine Pflichtverletzung vorliege. Das Handelsgericht argumentierte, dass ab dem 1. Januar 2001 die Cash-Pool-Einlagen und Festgeld-Darlehen wegen der verschlechterten Bonität der Schuldner nicht mehr marktkonform waren und deshalb gegen die wichtigen Kapitalschutzbestimmungen von Art. 680 Abs. 2 OR und Art. 678 Abs. 2 OR verstiessen, deren Einhaltung zwingend geboten sei und deren Verletzung nicht mit besonderen Umständen und wichtigen Gründen gerechtfertigt werden könne.[48] Da die Klägerin aber ihrer Obliegenheit nicht nachgekommen sei, klar anzugeben, welches die rechtmässigen Handlungspflichten der Beklagten gewesen wären, sei ein pflichtwidriges Verhalten trotzdem nicht dargetan.[49] Das Bundesgericht hielt demgegenüber fest, dass auch ein nicht mehr marktkonformes Darlehen an die Muttergesellschaft bzw. die Teilnahme an einem Cash Pool nicht in jedem Fall eine Pflichtverletzung der für das Geschäft verantwortlichen Organpersonen der Gläubigergesellschaft darstelle. Vielmehr sei es im Interesse des Konzerns wie auch der Swissair gewesen, dass diese Darlehen gewährt wurden und dass es für die Fortführung des Flugbetriebes von eminenter Wichtigkeit gewesen sei, dass die SAirGroup und andere Konzerngesellschaften wie die Flightlease nicht in Konkurs fielen. Unter diesen besonderen Umständen seien die beanstandeten Darlehensgewährungen, auch wenn sie gegen Kapitalschutzvorschriften verstiessen, nicht pflichtwidrig im Sinne von Art. 754 Abs. 1 OR gewesen.[50]Interessant ist auch, dass beide Gerichte im Rahmen der Kausalität dem rechtmässigen Alternativverhalten grosse Bedeutung beimassen. Da es für die Klägerin und die Beklagten unbestritten war, dass der Flugbetrieb der Swissair aufrecht erhalten bleiben musste, hätte dies auch bei einem Ausstieg aus dem Cash-Pool und einer Nichterneuerung der Darlehen an die SAirGroup dazu geführt, dass die Swissair diese liquiden Mittel in den Flugbetrieb hätte investieren müssen, bis diese aufgebraucht worden wären. Deshalb sei ein Schaden nicht hinreichend dargetan, weil es an der Haftungsvoraussetzung der adäquaten Kausalität fehle.[51]

Mit den Entscheiden im Fall Swissair Cash-Pool haben Handelsgericht und Bundesgericht wichtige Leitplanken zur Beurteilung von Verantwortlichkeitsklagen in Konzernverhältnissen gesetzt.

Einige wesentliche Erkenntnisse für Verantwortlichkeitsprozesse

Bevor auf einzelne wichtige Erkenntnisse für zivilrechtliche Verantwortlichkeitsprozesse – nicht nur, aber vor allem – in Konzernverhältnissen einzugehen ist, lohnt es sich, auch noch einen kurzen Blick auf das den sechs genannten Prozessen vorausgegangene Strafverfahren gegen zahlreiche Swissair-Verantwortliche zu werfen, welches mit einem Urteil des Bezirksgerichts Bülach im Wesentlichen zu Ende gegangen ist.

Die Bedeutung des Strafurteils des Bezirksgerichts Bülach vom 4. Juni 2007

Im offenbar grössten Schweizer Wirtschafts-Strafprozess hatte die Staatsanwaltschaft III des Kantons Zürich in einem Rundumschlag 19 Angeklagte, darunter zehn Verwaltungsräte und drei Konzernleitungsmitglieder der Swissair-Gruppe, aber auch noch weitere Personen (Juristen, einen Revisor und einen CEO einer ausländischen Airline) angeklagt.

Die eingeklagten Straftatbestände umfassten ungetreue Geschäftsbesorgung (Art. 158 StGB), Urkundendelikte (Art. 251-257 StGB), Gläubigerschädigung durch Vermögensverminderung (Art. 164 StGB) und weitere Vermögensdelikte. Die zur Anklage gebrachten Sachverhalte betrafen insbesondere die Roscor-Transaktion, die Sabena-Zahlung und eine Konzern-Restrukturierung im Frühjahr 2001.

Nach Einreichung einer verbesserten Anklageschrift[52] und einer Befragung der Angeschuldigten sowie der Plädoyer von Anklägern und Verteidigern im Zeitraum vom 16. Januar bis 9. März 2007 fand am 4. Juni 2007 in der Stadthalle Bülach unter grossem Interesse der Öffentlichkeit und der Medien die Urteilsverkündung statt. Zum grossen Erstaunen vieler Journalisten und der von diesen vorgängig befragten Experten sprach das Bezirksgericht Bülach in einem ausführlichen und abgewogenen Urteil alle 19 Angeklagten frei.[53] Kurz zusammengefasst basierte die Urteilsbegründung auf der Leitlinie, dass sich der Strafrichter bei der nachträglichen Überprüfung von Handlungen und Unterlassungen im Bereich Führung der Geschäfte grosse Zurückhaltung auferlegen sollte. Eine Strafverfolgung und Verurteilung lasse sich nur rechtfertigen, wenn Risiken gewagt würden, welche ein umsichtiger Geschäftsmann in derselben Situation niemals eingehen würde.[54]

Das Urteil des Bezirksgerichts Bülach wurde nur bezüglich eines einzigen Angeklagten durch drei Gläubiger (nicht aber die Staatsanwaltschaft) ans Obergericht weitergezogen. Einziger Grund für die Berufung war eine Verletzung der Bestimmung von Art. 152 StGB (unwahre Angaben über kaufmännische Gewerbe).[55] Aber auch hier erfolgte ein Freispruch durch das Obergericht.[56]

Die Freisprüche für alle Angeklagten durch das Bezirksgericht Bülach und für den einen betroffenen Angeklagten durch das Obergericht waren zunächst einmal von grosser psychologischer Bedeutung. Sie hatten sich nicht strafbar gemacht und die Öffentlichkeit und die Medien mussten sich mit der Erkenntnis der NZZ abfinden: „Eine grosse Firmenpleite ist nicht a priori ein Kriminalfall“[57].

Für die nachfolgenden Zivilprozesse war aber auch relevant, was die Bedeutung eines Strafurteils für das Zivilverfahren über denselben Sachverhalt ist. Diese Frage kam vor allem in den Gerichtsurteilen über die Roscor- und die Sabena-Transaktion zur Sprache. Auszugehen ist von Art. 53 Abs. 2 OR, wonach das Zivilgericht nicht an ein freisprechendes Strafurteil und mit Bezug auf ein verurteilendes Strafurteil nicht an strafgerichtliche Erkenntnisse über Schuld und die Bestimmung des Schadens gebunden ist. Auch die ZPO sieht keine Bindung des Zivilrichters an das Strafurteil in Sachverhaltsfragen und in Bezug auf die Widerrechtlichkeit sowie den adäquaten Kausalzusammenhang vor[58].

Aber es ist auch anerkannte Praxis, dass das Zivilgericht die Beweisergebnisse der Strafuntersuchung abwarten und mitberücksichtigen kann. Aus Gründungen der Zweckmässigkeit (aber nicht aus rechtlichen Gründen) soll der Zivilrichter nicht grundlos von der Auffassung des Strafgerichts abweichen.[59]

Zur Passivlegitimation der Organpersonen in Konzernverhältnissen

In den Prozessen Flightlease und Swissair, bei welchen jeweils eine Tochtergesellschaft des Swissair-Konzerns auch Mitglieder des Verwaltungsrates der SAirGroup, also der Konzernobergesellschaft, einklagte, obschon diese Personen keine formelle oder materielle Organstellung bei der Klägerin hatten, kam daher nur eine faktische Organschaft in Frage. Wie vorstehend erwähnt, bejahte das Bezirksgericht Bülach im Fall Flightlease die Passivlegitimation, das Obergericht bezweifelte sie, liess die Frage aber offen und das Bundesgericht behandelt sie nicht.[60] Demgegenüber haben im Fall Swissair sowohl das Handelsgericht wie das Bundesgericht die Passivlegitimation nach eingehender Prüfung verneint.[61]

Das Handelsgericht erachtete fünf der 14 Beklagten als formelle oder faktische Organe der Swissair und somit als passivlegitimiert. Bei den neun Beklagten, welche nur dem Verwaltungsrat der SAirGroup angehörten und nie der Konzernleitung, verneinte es die Passivlegitimation, weil diese nicht durch Erteilung von Weisungen direkt auf die Willensbildung der Swissair einwirkten und somit auch nicht deren Geschäfte faktisch führten.[62] Für die faktische Organschaft im Konzern sei notwendig, dass Organe oder Mitarbeiter der Konzernobergesellschaft durch Weisungen direkt auf die Willensbildung oder Entscheide einer Untergesellschaft einwirken und faktisch ihre Geschäftsführung besorgen. Die Schwierigkeit liege in der Abgrenzung zwischen Tätigkeit für die Konzernleitung und der direkten Führung der Geschäfte für die Untergesellschaft. Die blosse Einflussnahme der Organe des Konzerns auf die Untergesellschaft reiche für die Annahme einer faktischen Organschaft nicht aus.[63]Das Bundesgericht wiederholte unter Bezugnahme auf zahlreiche vorangegangene Entscheide[64] sein Begriffsverständnis der Organhaftung nach Art. 754 OR. Als mit der Verwaltung oder Geschäftsführung betraut gälten nicht nur Entscheidungsorgane, die ausdrücklich als solche ernannt worden seien, sondern auch Personen, die tatsächlich Entscheide, die Organen vorbehalten seien, träfen oder die eigentliche Geschäftsführung besorgten und so die Willensbildung der Gesellschaft massgebend mitbestimmten. Insbesondere die blosse Einflussnahme von Organen einer Muttergesellschaft auf diejenigen der Tochtergesellschaft begründe dagegen regelmässig keine Organverantwortung gegenüber der Tochter. Ein faktisches Organ müsse vielmehr organtypische Funktionen wahrnehmen, in dem es Kompetenzen eines formellen Organs delegiert erhalte oder usurpiere. Aufgrund der von der Vorinstanz bundesrechtskonform getroffenen tatsächlichen Feststellungen sei die Passivlegitimation dieser neun Verwaltungsräte zu Recht verneint worden.[65]

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass für eine faktische Organschaft eines Verwaltungsrates einer Konzernobergesellschaft bei einer Tochtergesellschaft drei Voraussetzungen gegeben sein müssen:

Erstens: Die organtypische Stellung eines faktischen Organs bedingt eine gewisse organisatorische Eingliederung in den Willensbildungsprozess dieser Gesellschaft in einer Weise, wie sie Mitgliedern des Verwaltungsrates oder der Geschäftsleitung zukommt.[66]

Zweitens: Der Einfluss dieser Person muss eine Intensität erreichen, wie wenn sie tatsächlich Organ wäre, was ein selbständiges und eigenverantwortliches Handeln bedingt.[67]

Drittens: Für eine faktische Organschaft ist überdies notwendig, dass die betreffende Person die Organkompetenzen auf Dauer wahrnimmt.[68]

Die Business Judgment Rule in der Beurteilung der Pflichtwidrigkeit

In allen sechs Swissair-Verantwortlichkeitsprozessen haben sämtliche Gerichtsinstanzen, welche sich mit der Frage befasst haben, ob den Beklagten ein pflichtwidriges Verhalten vorgeworfen werden könne, die Voraussetzung einer Pflichtwidrigkeit verneint, wobei die Begründungen aufgrund der vom jeweiligen Sachverhalt her aufgeworfenen Aspekte zum Teil sich unterschieden. Es darf dazu auf die vorangehenden Ausführungen in Ziff. III. verwiesen werden.[69]

Bei der Prüfung, ob die Voraussetzungen für eine aktienrechtliche Pflichtwidrigkeit gegeben waren, hatten die Gerichte immer Geschäftsentscheide der zuständigen Organpersonen der Swissair-Gruppe zu beurteilen, und zwar stets unter schwierigen wirtschaftlichen Umständen und knappen Zeitverhältnissen. Für die Prüfung von Geschäftsentscheiden bestand in der Zeitperiode der Swissair-Verantwortlichkeitsprozesse bereits die gefestigte Gerichtspraxis, dass bei der Beurteilung von Sorgfaltspflichtverletzungen eine ex ante Betrachtungsweise zur Anwendung gelangen müsse, d.h. es müsse auf die Informationen abgestellt werden, über welche die betreffenden Organpersonen im Zeitpunkt der behaupteten Pflichtverletzung verfügten oder verfügen konnten.[70]

Ebenso entspricht es seit langer Zeit bewährter Lehre und Rechtsprechung, dass sich der Richter in der normativen Überprüfung von Geschäftsentscheiden Zurückhaltung auferlegen soll, insbesondere, wenn sie frei von Interessenkonflikten getroffen wurden. Gerade bei der Beurteilung von Sanierungsmassnahmen, aber auch sonst von Entscheiden mit grosser Tragweite müsse den Organen ein grosser Ermessensspielraum eingeräumt werden, und das nachträglich festgestellte Misslingen dürfe nicht als natürliche Vermutung einer Pflichtwidrigkeit gelten.[71]

Zusätzlich zu diesen beiden etablierten Grundsätzen hat das Bundesgericht im Jahre 2012 eine weitere Regel für die Beurteilung von Geschäftsentscheiden aufgestellt, indem es die aus dem amerikanischen Recht stammende Business Judgment Rule als Grundsatz des schweizerischen Aktienrechts anerkannte. Unter Bezugnahme auf die Ausführungen der Vorinstanz zum Inhalt dieser Business Judgment Rule führte das Bundesgericht aus:

„Das Bundesgericht anerkennt mit der herrschenden Lehre, dass die Gerichte sich bei der nachträglichen Beurteilung von Geschäftsentscheiden Zurückhaltung aufzuerlegen haben, die in einem einwandfreien, auf einer angemessenen Informationsbasis beruhenden und von Interessenkonflikten freien Entscheidprozess zustande gekommen sind (vgl. Urteil 4A_306/2009 vom 8. Februar 2010 E. 7.2.4; Gericke/Waller, in: Basler Kommentar, Obligationenrecht, Bd. II, 4. Aufl. 2012, N. 31 f. zu Art. 754 OR; Watter/Pellanda, in: Basler Kommentar, Obligationenrecht, Bd. II, 4. Aufl. 2012, N. 6 zu Art. 717 OR; Peter Böckli, Schweizer Aktienrecht, 4. Aufl. 2009, § 18 Rz. 401 f.; Forstmoser/Meier-Hayoz/Nobel, Schweizerisches Aktienrecht, 1996, § 28 Rz. 24)“.[72]

Bei dieser erweiterten Betrachtungsweise der vorgenannten beiden Grundsätze legt der Richter das Gewicht auf den Entscheidfindungsprozess und, wenn dieser nicht zu beanstanden ist, prüft er den Entscheid selbst in inhaltlicher Hinsicht lediglich darauf, ob dieser als vertretbar erscheint.[73]

Die bundesgerichtliche Anerkennung der Business Judgment Rule hat sogleich auch Eingang in mehrere Entscheide zu Swissair-Verantwortlichkeitsprozessen gefunden:

Schon im Fall Sabena kann die Business Judgment Rule im Urteil des Zürcher Obergerichts zur Sprache. Thematisiert wurden zunächst die zahlreichen Argumente der Klägerin, weshalb die formellen Vorgaben im Entscheidfindungsprozess durch die Beklagten verletzt worden seien. Das Gericht stellte sich jedoch auf den Standpunkt, dass die abschliessende Prüfung einer Pflichtverletzung im Entscheidfindungsprozess unterbleiben und die Frage letztlich offengelassen werden könne, sofern sich der prozessgegenständliche Entscheid inhaltlich als pflichtgemäss erweise, was das Obergericht in der Folge auch bejahte.[74]Im Fall Flightlease bezog sich das Bundesgericht ausführlich auf diesen neuen Grundsatz, um aber zugleich auch hervorzuheben, dass die Business Judgment Rule nicht auf Fälle zugeschnitten sei, in denen Organen ein pflichtwidriges Unterlassen vorgeworfen werde. Wenn den Organen Untätigkeit trotz bestehender Handlungspflichten vorgeworfen werde, gehe es nicht um Prüfung eines aktiv getroffenen Geschäftsentscheides, bei welchem Zurückhaltung ausgeübt werden könne. Dies wäre höchstens möglich, wenn sich ein Organ bewusst zu einem Untätig-Bleiben entscheiden würde. Dazu müssten aber keine weiteren Abklärungen getroffen werden, weil unter den gegebenen Umständen auch bei freier Prüfung keine Pflichtverletzung erblickt werden könne.[75]Im Fall Air Littoral erwog das Handelsgericht ausführlich die Frage, ob der Entscheid des Verwaltungsrates der SAirGroup nach der (neuen) Regel der Business Judgment Rule zu beurteilen sei. Wie vorn in Ziff. III. 5. lit. b dargelegt, gelangte das Gericht nach gründlicher Prüfung der klägerischen Argumente und der Grundsätze der Business Judgment Rule zum Fazit, dass keine Pflichtverletzung gegeben war.[76]Im Fall Gläubigerschädigung kam die Business Judgment Rule im Urteil des Handelsgerichts nur relativ kurz zur Sprache, nämlich im Zusammenhang mit der Frage, ob es pflichtwidrig war, dass der Verwaltungsrat der SAirGroup nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 weiterhin die Sanierung des Konzerns als Ganzes anstrebte und nicht den Richter gemäss Art. 725 Abs. 2 OR anrief oder zumindest einen generellen Zahlungsstopp anordnete. Unter Betonung, dass gerade bei der Überprüfung von Sanierungsmassnahmen die Gerichte sich Zurückhaltung auferlegen müssen und dass keine Pflicht bestand, die Gläubiger bei Zahlungen gleich zu behandeln, wurde eine Pflichtverletzung verneint.[77]Im Fall Swissair Cash-Pool hatte schliesslich das Bundesgericht Gelegenheit, die Auffassung der Vorinstanz zu korrigieren, dass die Gewährung nicht mehr marktkonformer konzerninterner Darlehen ab dem 1. Januar 2001 wegen Verstosses gegen die Kapitalschutzvorschriften von Art. 678 Abs. 2 OR und Art. 680 Abs. 2 OR in jedem Fall widerrechtlich gewesen seien und nicht durch Berufung auf besondere Umstände hätten gerechtfertigt werden können. Das Bundesgericht erachtete die Gewährung dieser Darlehen unter den besonderen Umständen des konkreten Falles als nicht pflichtwidrig, weil mit der hier gebotenen Zurückhaltung in der Überprüfung von Geschäftsentscheiden die Interessen des Swissair-Konzerns gewahrt wurden, welche nicht im gegengesetzten Interesse zur Swissair standen. Das Bundesgericht verwies hier auf ein kurz vorher gefälltes Urteil[78] über die Gewährung eines ungesicherten Darlehens und betonte, dass in jenem Entscheid das Gericht „mangels Vorliegen der diesbezüglichen Voraussetzungen eine volle und keine zurückhaltende Überprüfung gemäss Business Judgment Rule vornahm…“ und jenen Geschäftsentscheid über die Gewährung des ungesicherten Darlehens nicht als pflichtwidrig erachtete.[79]

Zusammenfassend kann daher festgehalten werden, dass die Swissair-Verantwortlichkeitsprozesse gutes Anschauungsmaterial für die neue gerichtliche Anwendung der Business Judgment Rule bieten.

Gesellschaftsinteresse und Konzerninteresse

Bei der Beurteilung der Pflichtverletzung in den Swissair-Verantwortlichkeitsprozessen spielte auch mehrfach die Frage eine Rolle, ob nur die Interessen der betroffenen Gesellschaft oder auch Konzerninteressen von den Entscheidungsträgern berücksichtigt werden durften.

In BGE 130 III 213 ff. wurde der Geschäftsführer einer schweizerischen Tochtergesellschaft einer Firmengruppe zur Leistung von Schadenersatz an die Gesellschaft verpflichtet, weil dieser zulasten der Gesellschaft eine Zahlung an eine Schwestergesellschaft leistete, um den Verlust auszugleichen, welcher jener Gesellschaft aus einem vom Beklagten vermittelten Geschäft entstanden war. Das Bundesgericht begründete, dass der Beklagte als Organ der Klägerin verpflichtet gewesen wäre, allein deren Interesse und nicht diejenigen einer anderen Konzerngesellschaft zu wahren, und betonte, dass ein strenger Massstab anzulegen sei, wenn ein Verwaltungsrat nicht im Interesse der Gesellschaft, sondern von Aktionären oder Drittpersonen handle.[80] Das wurde als Absage an die Berücksichtigung des Konzerninteresses verstanden.[81]

In den Swissair-Prozessen wurde diese Sichtweise von den Gerichten differenzierter vorgenommen:

Im Strafurteil des Bezirksgerichts Bülach wurde betont, dass es immer auf die konkreten Verhältnisse ankomme und im Konzern müsse dann vom Grundsatz der rechtlichen Selbständigkeit jeder Gesellschaft abgewichen werden, wenn die Muttergesellschaft oder eine andere konzernverbundene Gesellschaft nach Treu und Glauben eine Verantwortung für eine andere Konzerngesellschaft treffe.Dieser Gedanke wurde vom Obergericht Zürich im Flightlease-Prozess ausführlich weiterverfolgt. Es wurde betont, dass die Flightlease in ihrem statutarischen Zweckartikel u.a. die Aufgabe hatte, die Konzerninteressen zu fördern. In einem solchen Fall lasse sich keine klare Abgrenzung der Interessen der Einzelgesellschaft von derjenigen der Obergesellschaft mehr vornehmen. Das Ausrichten des Handelns der Flightlease bzw. ihrer Organe auf die Gesamtinteressen des Konzerns sei daher zulässig gewesen.[82]Im Flightlease-Verfahren hatte das Bundesgericht für die Begründung der Abweisung der Beschwerde keinen Anlass, auf diese Überlegungen der Vorinstanz einzugehen. Im Prozess Swissair-Cash-Pool nahm es jedoch die Gelegenheit wahr, seine Auffassung zum Verhältnis Gesellschaftsinteresse vs. Konzerninteresse wie folgt darzulegen: Dass die Swissair dem Konzern Darlehen zur Verfügung stellte, war zweifellos im Interesse des Konzerns, aber auch der Swissair selbst, denn diese konnte in der kritischen Zeit vom Sommer/Herbst 2001 ihren Flugbetrieb nur weiterführen, wenn die SAirGroup und die für den Flugbetrieb zentralen Konzerngesellschaften nicht in Konkurs fielen.Mit Blick auf die Vorteile einer Konzernzugehörigkeit könne das Gesellschaftsinteresse der Swissair nicht einfach den einzig relevanten Massstab bilden, sondern es müsse in einem gewissen Grad auch das Konzerninteresse berücksichtigt werden.Da die Swissair auch nach Auffassung ihres Sachwalters den Flugbetrieb um jeden Preis aufrecht erhalten sollte und dies bei einem Konkurs der SAirGroup unmöglich gewesen wäre, seien die Darlehensgewährungen in den Dienst dieses prioritären Gesellschaftsinteresses der Swissair gestellt worden und in der Verantwortlichkeitsklage in diesem Kontext zu würdigen.[83]

Zum Schluss wurde die Pflichtverletzung der Beklagten vom Bundesgericht verneint unter Hinweis, dass der vorliegende Fall in verschiedener Hinsicht aussergewöhnlich sei.[84]

Das Cash-Pooling im Konzern

Ausserhalb der Swissair-Verantwortlichkeitsprozesse gab es auch einen Prozess einer weiteren Gesellschaft der Swissair-Gruppe, der Swisscargo AG in Nachlassliquidation, welche ihre Revisionsgesellschaft auf Schadenersatz im Betrag von rund CHF 4.5 Mio. einklagte, weil diese pflichtwidrig die Rechtmässigkeit der um rund CHF 21.7 Mio. zu hohen Dividende bestätigte, welche die Swisscargo im Frühjahr 2001 an ihre einzige Aktionärin SAir Logistics ausschüttete. In diesem Prozess spielte der Cash Pool des Swissair Konzerns eine indirekte Rolle, weil auch hier die Darlehen von Swisscargo an die Poolleaderin Finance BV im Zeitpunkt der Jahresrechnung 2000 als nicht mehr marktkonform erachtet wurden. In seinem Urteil vom 16. Oktober 2014 erwog das Bundesgericht unter Hinweis auf die Kapitalschutzvorschriften von Art. 678 Abs. 2 OR und Art. 680 Abs. 2 OR, es sei „bereits im Ansatz fragwürdig, ob die Teilnahme an einem Cash Pool, bei der die Teilnehmerin über ihre Liquidität verfügt, als solche überhaupt einem Drittmannstest standhält“.[85]

Dieser Entscheid, welcher auch noch weitere interessante aktienrechtliche Fragen behandelte[86], warf die Frage auf, ob nach Ansicht des Bundesgerichts das – weit verbreitete – Cash Pooling im Konzern überhaupt zulässig sei, soweit die gepoolte Liquidität bei den einzelnen Teilnehmern nicht ausschliesslich den freien Reserven zugeordnet werden kann.[87]

Im Fall Flightlease erfolgte keine wesentliche Neubeurteilung bezüglich der allgemeinen Rechtsmässigkeit eines Cash Pooling im Konzern zu nicht marktkonformen Bedingungen (insbesondere ohne Besicherung der Poolgelder). Immerhin wies das Bundesgericht darauf hin, dass aus BGE 140 III 533 E. 4.5 nichts abgeleitet werden dürfe für die Frage „ob die hier streitbetroffene unbesicherte Gewährung von Darlehen durch die Flightlease AG im Rahmen des Cash Pool-Systems einen Verstoss gegen die Sorgfaltspflicht der Gesellschaftsorgane darstellt“.[88]

Im Urteil zum Swissair-Cash Pool präzisierte nun das Bundesgericht sein obiter dictum aus dem Swisscargo Urteil unter dem Aspekt der aktienrechtlichen Pflichtverletzung. Unter Hinweis auf die kritischen Literaturmeinungen zum Swisscargo Urteil kam es zum Schluss, dass auch eine Gewährung von Darlehen an die Muttergesellschaft bzw. eine Teilnahme am Cash Pool, welche nicht marktkonform ist, nicht zwingend eine Pflichtverletzung der verantwortlichen Organe der Gläubigergesellschaft darstelle. Im konkreten Fall lag es nach Ansicht des Gerichts im Interesse der Swissair und nicht nur des Konzerns, dass mit diesem Darlehen der Fortbestand des Flugbetriebes gesichert wurde.[89]

Damit kann heute wohl die Schlussfolgerung gezogen werden, dass der Entscheid, ein Cash Pooling in einem Konzern einzuführen und insbesondere auch in einer Krisensituation beizubehalten, nach schweizerischem Aktienrecht ein Geschäftsentscheid darstellt, welcher mit richterlicher Zurückhaltung zu beurteilen ist. Selbst wenn eine Verletzung von Art. 678 Abs. 2 OR und Art. 680 Abs. 2 OR nachgewiesen werden kann, sind die Umstände des Einzelfalles und die Interessen der betroffenen Gesellschaften allenfalls massgebende Rechtfertigungsgründe dafür, dass trotzdem keine Pflichtverletzung der verantwortlichen Organe gegeben ist.[90]

Die Schwierigkeiten des Schadennachweises

Zum Thema Schaden im Verantwortlichkeitsprozess befasst sich ausführlich der Beitrag von Stephan Mazan in diesem Tagungsband. Insbesondere erläutert er auch ausführlich die schwierigen Anforderungen an einen Nachweis des Fortführungsschadens bei behaupteter Konkursverschleppung (Art. 725 Abs. 2 OR).[91] Dies mag ein Grund dafür gewesen sein, dass in keinem der sechs Swissair-Verantwortlichkeitsklagen die Klägerinnen einen Fortführungsschaden geltend machten, obschon in den Fällen Roscor, Sabena, Gläubigerschädigung und Swissair Cash Pool mit Nachdruck behauptet wurde, die SAirGroup sei im Zeitpunkt der pflichtwidrigen Handlungen überschuldet gewesen.[92]

Interessant ist aber auch, dass nach Ansicht der Gerichte bei einzelnen Prozessen aus den eingeklagten Sachverhalten ganz oder teilweise gar kein Schaden nachgewiesen werden konnte:

In den Fällen Sabena und Air Littoral fehlte es an einem Schaden, weil die SAirGroup der SAirLines für die Sabena-Partizipationsscheine bzw. für den Kauf der Air Littoral-Beteiligung bei genauer Betrachtungsweise jeweils ein Darlehen gewährt hatte, welches im Zeitpunkt der Gewährung werthaltig war und in der Folge durch die SAirLines mittels Verrechnung zurückbezahlt wurde.[93]Im Fall Roscor stellte die Übertragung dieser Beteiligung an die SAirLines eine rein interne Vermögensverschiebung im Konzern dar, bei welcher die SAirLines durch die Transaktion einen entsprechenden Gegenwert in Form einer Wertzunahme der SAirLines erhielt, weil man unter Berücksichtigung der stillen Reserven der SAirLines diese Gesellschaft als nicht überschuldet betrachten durfte.[94]Im Fall Gläubigerschädigung stellte das Bundesgericht wie auch die Vorinstanz fest, dass die Zahlung fälliger Schulden durch die Gesellschaft auch in einer Krisensituation keinen Gesellschaftsschaden bewirkt.[95]Im Fall Swissair Cash-Pool stimmte das Bundesgericht der Auffassung des Handelsgerichts zu, dass die Klägerin keinen Schaden nach der anzuwendenden Differenztheorie dargetan habe. Insbesondere sei die Auffassung des Handelsgerichts nicht zu beanstanden, dass die Klägerin die hypothetische Höhe der Cash Pool und Festgeld-Guthaben bei rechtmässigem Handeln der Beklagten und damit den Nachweis des Schadens nicht hinreichend dargetan habe. Weil nämlich auch die Klägerin der Auffassung war, dass die Swissair im Interesse der Gläubiger den Flugbetrieb aufrecht erhalten musste und sie dafür zusätzliche Liquidität benötigte, hätte die Klägerin auch bei Rückforderung der Cash Pool Guthaben von der Finance BV und Nichterneuerung der Festgelder bei der SAirGroup diese Gelder für die Finanzierung des Flugbetriebes aufgebraucht, bevor sie vom Bund die notwendigen Darlehen erhalten hätte[96].

Damit haben die Gerichte einmal mehr gezeigt, dass die Substantiierung des Schadens nach der Differenztheorie in einem Verantwortlichkeitsprozess hohe Anforderungen stellt und nicht mit dem Argument beiseite gewischt werden kann – wie dies eine der Klägerinnen in einer Rechtsschrift versuchte –, dass wenn ein Dieb einen Griff in die Firmenkasse mache, der Schaden auch nicht nach der Differenztheorie nachgewiesen werden müsse.

Der Kausalzusammenhang als weitere Hürde

Eine weitere von der Klägerschaft zu beweisende Voraussetzung für einen Anspruch aus aktienrechtlicher Verantwortlichkeit ist, dass zwischen dem pflichtwidrigen Verhalten und dem eingetretenen Schaden ein adäquater Kausalzusammenhang bestehen muss. In der älteren Rechtsprechung wurden an diesen Nachweis keine hohen Anforderungen gestellt. Es genügte, dass eine allgemeine Eignung der fraglichen Ursachen bestand, Wirkungen der eingetretenen Art herbeizuführen.[97]