Verborgene Harmonien - Paul McAuley - E-Book

Verborgene Harmonien E-Book

Paul McAuley

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Beschreibung

Rebellion im Paradies

Der Planet Elysium ist ein Paradies – oder war es zumindest, ehe die ersten menschlichen Siedler kamen. Er ist fruchtbar, reich an Ressourcen und bewohnt von fremdartigen, aber friedlichen Eingeborenen. Die ersten Kolonisten haben sich die Waffen der Siedlerschiffe gesichert und regieren den Planeten nach ihrem Gutdünken mit eiserner Hand. Menschen wie Eingeborene haben sich ihrem Willen zu fügen, den durchzusetzen die Machthaber nicht zimperlich sind. Richard Florey und Miguel Lucas, zwei Menschen von der Erde, widersetzen sich den Herrschern und werden rasch zu verfolgten Außenseitern. Sie stehen vor der Entscheidung, die Herausforderung anzunehmen und sich an die Spitze einer Revolution zu stellen, aber sie wissen beide, dass dann unweigerlich ein Aufstand der bis dahin friedlichen, aber absolut unberechenbaren Eingeborenen losbrechen würde. Mit dem Paradies wäre es dann für immer vorbei. Elysium wäre eine andere Welt.

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Seitenzahl: 599

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PAUL J. MCAULEY

VERBORGENE HARMONIEN

Roman

Das Buch

Der Planet Elysium ist ein Paradies – oder war es zumindest, ehe die ersten menschlichen Siedler kamen. Er ist fruchtbar, reich an Ressourcen und bewohnt von fremdartigen, aber friedlichen Eingeborenen. Die ersten Kolonisten haben sich die Waffen der Siedlerschiffe gesichert und regieren den Planeten nach ihrem Gutdünken mit eiserner Hand. Menschen wie Eingeborene haben sich ihrem Willen zu fügen, den durchzusetzen die Machthaber nicht zimperlich sind. Richard Florey und Miguel Lucas, zwei Menschen von der Erde, widersetzen sich den Herrschern und werden rasch zu verfolgten Außenseitern. Sie stehen vor der Entscheidung, die Herausforderung anzunehmen und sich an die Spitze einer Revolution zu stellen, aber sie wissen beide, dass dann unweigerlich ein Aufstand der bis dahin friedlichen, aber absolut unberechenbaren Eingeborenen losbrechen würde. Mit dem Paradies wäre es dann für immer vorbei. Elysium wäre eine andere Welt.

Der Autor

Paul McAuley, 1955 im englischen Stroud geboren, arbeitete mehrere Jahre als Dozent für Botanik an der St. Andrews University, bevor er beschloss, sich ganz dem Schreiben zu widmen. 1988 veröffentlichte er seinen ersten Roman, Vierhundert Milliarden Sterne

Titel der Originalausgabe

SECRET HARMONIES

Aus dem Englischen von Peter Pape

Überarbeitete Neuausgabe

Copyright © 1989 by Paul J. McAuley

Copyright © 2016 der deutschsprachigen Ausgabe by

Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Covergestaltung: Das Illustrat

Aber dann in der Tiefe der Nacht

wenn Schläfrigkeit den sterblichen Geist

umfängt, lausche ich den Klängen

der himmlischen Sirenen …

Solch süßer Zwang liegt in den Tönen,

dass er die Töchter der Armut einlullt,

und die unstete Natur

an ihre Gesetzmäßigkeit bindet.

Würdig folgt die niedere Welt

ihrer Kreisbahn nach dem göttlichen Klang,

den niemand aus menschlichem Fleisch

und Blut mit bloßem Ohr vernehmen kann.

JOHN MILTON, Arkaden

Inhalt

PROLOG

Die Aliens verstehen

ERSTER TEIL

1 – Der Leichnam am Strand

2 – Der Dingo

3 – Im System

4 – Die ewigen Rebellen

5 – Landungstag

6 – Der Aufgang des Skorpions

7 – Der Schäfer

8 – Herbst

9 – Der Blaue Bruder

10 – Ganz nett wild

ZWEITER TEIL

11 – In der Vorhölle

12 – Wander-Melodie

13 – Der Wall

14 – Bei den Rebellen

15 – Unwägbare Gesetzmäßigkeiten

16 – Prosperos Insel

17 – Die Schleusen des Zorns

18 – Neuordnung von Hierarchien

19 – Gefangene

20 – Die Ursprungshöhle

21 – Geister in der Maschine

DRITTER TEIL

22 – Sklaven

23 – Gegen die Entropie

24 – Der Hinterhalt

25 – Die Kammer

26 – Rendezvous

27 – In der Unterwelt

28 – Die Toten

29 – Das Ende

DIE BOTSCHAFT

Ein Kranz aus Sternen

PROLOG

Die Aliens verstehen

Der Rücken des letzten Talhanges befreite sich allmählich von seinem Waldbestand, und vor den drei Reitern dehnte sich die Hochebene. Rotes Gras, so weit das Auge reichte, nur da und dort unterbrochen von windzerzausten, verkrüppelten Dornenbüschen. Im Osten erhoben die Trackless Mountains ihre schneebedeckten Gipfel aus dem farblosen Dunst und reflektierten das gleißende Sonnenlicht.

David de Ramaira zügelte sein Pferd und streckte sich im Sattel. Trotz der Therapie hatte er seine normale Muskulatur noch nicht wiedererlangt, die sich während der Jahre im Kühlschlaf zurückgebildet hatte. Der große, schlanke Mann mit der gebräunten Haut schaute sich mit erfreutem Lächeln um. Sein Herz schlug schneller – wie damals, als er im Aufnahmezentrum erwacht war und sich bewusst wurde, dass er es geschafft hatte.

Eine andere Welt.

»Großartig«, rief er. »Ein herrliches Land!«

Vor seinen Augen erstreckte sich rote Grasebene und leuchtete mit surrealistischer Intensität unter dem wolkenlosen indigoblauen Himmel, der seine Färbung möglicherweise dem Spektrum von Tau Ceti verdankte, einer sanften, orangefarbenen Sonne, in keiner Weise vergleichbar mit dem Gestirn der Erde.

Jonthan Say, der Führer aus Broken Hill, zuckte die Achseln. »Die Scholle ist zu dünn, um daraus brauchbares Ackerland zu machen«, meinte er.

»Wie weit ist es noch bis zum Dorf?«, fragte de Ramaira.

Jonthan zeigte auf eine schimmernde Linie, die im Hitzeglast zwischen der roten Grasfläche und dem dunklen Himmel zu schweben schien. »Das da drüben ist der See. Das Abo-Dorf liegt ein Stück weiter oberhalb am Seeufer.« Sein Haar, ein Kranz gesponnenen Messings, war schweißnass. Schweiß schimmerte auch auf seiner nackten Brust und hatte seine abgewetzten Jeans an den Schenkeln durchnässt, wo sie den Sattel seiner braunen Stute, berührten. Er war fünfzehn oder sechzehn Jahre alt (hier berechneten sie das Alter noch nach Erdjahren), und besaß noch die graziöse Anmut eines heranwachsenden Jugendlichen. Als hätte er de Ramairas Blick bemerkt, ritt er wieder an, um zu Lieutenant McAnders aufzuschließen, die wie üblich nicht auf die anderen wartete. Der Hund des Jungen streifte in weitem Bogen durch das trockene rote Gras.

Nach einem weiteren Augenblick des Sinnens gab de Ramaira seinem Pferd, einem gutmütigen Wallach, die Zügel frei und folgte den anderen zum See hinüber.

Während Jonthan Say das Camp aufschlug, ging de Ramaira am schilfbestandenen Seeufer entlang auf das Dorf zu. Er konnte es kaum erwarten, zum ersten Mal einen Blick auf die Aborigines, die Ureinwohner von Elysium, zu werfen. Lieutenant McAnders bestand darauf, ihn zu begleiten, und obwohl de Ramaira diese erste Begegnung gern allein erlebt hätte, gab er nach. Er wollte keinen Unfrieden. Immerhin stand sie dem Büro für Eingeborenen-Angelegenheiten vor und war damit gleichzeitig auch die Leiterin dieser Expedition. Während sie nun gemeinsam durch das raschelnde Gras stapften, deutete sie auf den Koffer, den er trug, und meinte verärgert: »Sie werden nichts Neues erfahren – selbst mit diesen Dingern da nicht.«

»Warten wir’s ab«, antwortete de Ramaira gleichmütig.

»Zur Hölle mit Ihnen!«, fauchte der Lieutenant. »Sie wissen doch schon alles, oder nicht?« Sie war eine stämmige Frau, wie de Ramaira mit dem weißen Polizeioverall der Hafenbehörden gekleidet, hatte aber zusätzlich eine Pistole im Holster an der Hüfte. Ihr Haar, von undefinierbarer Farbe, war militärisch kurz geschnitten. Meist kaute sie auf einem kalten Zigarrenstummel herum. Ganz allmählich begann de Ramaira diese Frau zu hassen.

Sie arbeiteten sich durch das hohe Gras eines sumpfigen Seearms und umgingen ein dichtes Gestrüpp von Dornenbüschen.

Und dann lag das Dorf plötzlich vor ihnen. Die runden Hütten wuchsen aus einem sanften Hang wie das zufällige Arrangement von mehreren Felsbuckeln. Als sie näher herangingen, vernahm de Ramaira schwach ein hohes, wütendes Sirren – wie das Summen von Wespen, die unter einem Glas gefangen waren. Er blieb stehen, setzte seinen Koffer ab und sah zu den Hütten mit den Kuppeldächern hinüber. Das aufgeregte Summen der Aborigines drang durch die heiße Stille zu ihm. De Ramaira hätte gern hier und dort ein paar Sonden installiert, aber der Lieutenant hatte anderes im Sinn.

»Die sollten Sie sich mal aus der Nähe ansehen. Vielleicht würden Sie dann begreifen, dass sie den ganzen Aufwand kaum wert sind. Der Herrgott weiß, wie oft ich Ihnen das schon gesagt habe.« Damit ließ sie ihn stehen und stapfte mürrisch durch das Gras auf das Dorf zu. Seufzend nahm de Ramaira seinen Koffer wieder auf und folgte ihr.

Die Hütten waren von einem breiten Streifen Brachland umgeben. Das Summen verstummte schlagartig, als die beiden Menschen ihren Fuß auf diese Begrenzungslinie setzten. Als habe jemand einen Schalter umgelegt, dachte de Ramaira. In der freudigen Erwartung seiner ersten Begegnung mit den Eingeborenen bemerkte er erst ziemlich spät, dass er dem ersten Eingeborenen schon seit einigen Sekunden gegenüberstand. Er hielt sich etwas abseits der ersten Hütte, war ein ganzes Stück größer als der Zweimeter-Mann Ramaira und schrecklich mager. Die Haut, braun und schwarz gesprenkelt, schien seine langen Glieder zusammenzuhalten, modellierte deutlich die gewölbten Doppelgelenke und konturierte die pfeilspitzenförmigen Rippen, die vom schmalen Becken bis zum Hals hinaufreichten, der übergangslos in einen schmalen Schädel auslief. De Ramaira umkreiste vorsichtig die Kreatur. Abgesehen von einem ruhelosen Zittern der farnwedelartig gegliederten Schnurrbarthaare, die unter den Nasenhöhlen hervorsprossen, verharrte das Wesen regungslos, durch die Anwesenheit der Menschen wie paralysiert – wie Webster es vorausgesagt hatte. Seine Augen waren kugelrund und völlig schwarz, der Mund wie bei einem Frosch breit und lippenlos. Das Wesen verströmte einen schwachen, fischigen Geruch.

»Bleiben Sie lange genug so vor ihm stehen, und es wird tot umfallen!«, bemerkte der Lieutenant zynisch.

»Ist das wirklich so?«

Die Frau spuckte verächtlich den Zigarrenstummel aus. »Sicher. Sie halten das höchstens zwei Stunden aus, dann bricht ihr Nervensystem zusammen.« Sie ging zu dem Alien und tippte gegen seine niedrige Stirn. De Ramaira zuckte erschrocken zusammen, obwohl das Wesen sich nicht von der Stelle rührte.

»Wissen Sie, was da drin ist? Fast nichts – so ist das. Ich werde Ihnen mal die ›Ursprungshöhle‹ zeigen, wenn Sie wollen, aber da gibt es eigentlich auch nichts zu sehen. Im Moment ist keine Paarungszeit. Außerdem ist es nicht ungefährlich, in dieser Periode hineinzugehen. Die Brüter stürzen sich auf alles, was sich bewegt. Diese leidvolle Erfahrung musste auch schon Webster machen. Wenn Sie die Wahrheit hören wollen: Mein Vater hielt Webster für einen hoffnungslosen Romantiker.«

»Seine Arbeiten sind auf Erde hochangesehen.« Indem er Webster verteidigte, einen Wissenschaftler, den man mit dem Auftrag nach Elysium geschickt hatte, das Leben der Eingeborenen zu studieren, verteidigte de Ramaira auch sich selbst. Er war Phylogenist, ein Wissenschaftler, der die Stammesgeschichte von Lebewesen erforschte. Er war mit dem Auftrag hierhergekommen, Elysiums Fauna und Flora zu erfassen und zu klassifizieren.

Der Lieutenant zuckte die Achseln und zündete sich wieder eine ihrer übelriechenden Zigarren an.

Verärgert fügte de Ramaira hinzu: »Wenn Webster stärker unterstützt worden wäre, hätte er wahrscheinlich eine definitive Antwort auf die Frage nach der Intelligenz der Abos geben können.« Er sah in die rätselhaften Augen des Eingeborenen, pupillenlose schwarze Löcher, die tief in das starre Gesicht eingebettet waren. Er fragte sich, ob diese Regungslosigkeit daher rührte, dass diese Wesen aus Furcht die Existenz der Menschen einfach verleugneten, weil die Eindringlinge von Erde völlig außerhalb ihres Weltbildes standen, oder ob es dafür eine tiefer reichende Ursache gab. Vielleicht war sie auch nur Ausdruck einer unversöhnlichen Abneigung. De Ramaira war eitel genug, um sich innerlich die schwache Hoffnung zu erhalten, dass er diese Mauer irgendwie durchbrechen, die Hand ausstrecken und einen Kontakt zu diesen Wesen herstellen konnte.

Der Lieutenant führte de Ramaira um ein Dutzend Hütten, die in größeren Abständen voneinander errichtet waren, herum und zeigte ihm Schüsseln aus Grashalmen, die so dicht geflochten waren, dass sie das Wasser hielten, grobgeschnitzte Speere mit Spitzen aus Stein und die Knochenmesser, die neben dem abgehäuteten Leib eines Sumpfschweins lagen. Die Hütten waren alle identisch, hatten einen Durchmesser von vier oder fünf Metern und waren im höchsten Punkt ihrer kuppelförmigen Dächer etwa halb so hoch. Errichtet waren sie aus geflochtenen Grasmatten und Schilfwedeln, die man mit Lehm abgedichtet hatte.

Hier und da standen oder hockten die Dorfbewohner regungslos herum wie verknöcherte Statuen. Der Lieutenant ignorierte sie völlig. Als de Ramaira fragte, ob es im Dorf keine Kinder oder Jungen gebe, antwortete sie geringschätzig: »Die kleinen Scheißer haben sich alle ins Grasland verzogen. Es lohnt sich nicht, nach ihnen zu suchen.«

»Es bleibt noch ein paar Stunden lang hell. Ich möchte sehen, ob die Kinder zurückkommen, möchte einen Eindruck davon bekommen, wie sich diese Kreaturen bewegen. Werden sie wieder zu ihrem Normalverhalten zurückkehren, sobald wir verschwunden sind?«

Der Lieutenant versicherte ihm, er werde schon sehr bald das Normalverhalten der Aborigines kennenlernen, und ließ ihn allein, damit er, wie sie sich ausdrückte, mit seinen Sonden spielen konnte. De Ramaira machte es sich bis Sonnenuntergang außerhalb des Dorfes im hohen Gras bequem und stülpte sich die Maske seiner Computersimulation über, mit deren Hilfe er jederzeit nach Belieben eine der kleinen Sonden über die Hütten lenken konnte. Bild um Bild blühten die Aufnahmen der Eingeborenen vor seinen inneren Augenlidern auf – wie schwindelerregende Verzerrungen eines schlechten Trips.

Wie der Lieutenant versprochen hatte, erwachten die Abos, kaum dass sie allein waren, aus ihrer Erstarrung und nahmen gleichzeitig das gemeinsame Summkonzert wieder auf. Sie bewegten sich in merkwürdig gebückter Haltung, wobei sie ihre langen Arme locker baumeln ließen und den schmalen Kopf weit zurücklehnten. Dieser Gang erinnerte de Ramaira an etwas, doch es dauerte eine geraume Zeit, bis er darauf kam. In ihrer steifen Körperhaltung ähnelten die Aborigines den Gestalten altägyptischer Wandmalereien. Tatsächlich – sie sahen fast so aus, ab habe man sie aus einem sandigen Grab ausgebuddelt, Gestalten, die schon lange tot und vertrocknet waren – und völlig verzerrt.

De Ramaira verfolgte gespannt, wie zwei Abos mit beinahe ritueller Sorgfalt den Körper des toten Sumpfschweines zerlegten. Dabei hockten sie so dicht über dem Tier, dass die Doppelgelenke der Knie über ihre Köpfe hinausragten. Vor den Hütten spielten Kinder, genaue Miniaturen der noch nicht reifen Erwachsenen, mit Steinen und Knochen oder jagten einander um die Hütten herum. Der einzige Abo, der durch einige große Narben im Schritt leicht von seinen Artgenossen zu unterscheiden war, saß mit gekreuzten Beinen mitten im Dorf. Wie eine ausgetrocknete Spinne, dachte de Ramaira. Webster, der von der Anwesenheit eines derart verstümmelten Abos in jedem Dorf berichtete, hatte sie die Schamanen genannt. Tatsächlich war er bei vielen seiner Interpretationen nicht sonderlich objektiv gewesen.

Die orangefarbene Sonne sank tiefer und verlängerte die Schatten, die die Hütten warfen. De Ramaira rief die Sonde zurück und begab sich ins Lager. Inmitten einer Umrandung aus Steinen hatte man ein Feuer entzündet. Dicht daneben lag der Lieutenant lang ausgestreckt im Gras und las in einem Buch. De Ramaira hatte es mitgebracht. Es war ein ledergebundener Schinken mit dem Titel in Goldbuchstaben: Bericht über die Erkundung der Trackless Mountains 2057.

Gedruckte Bücher wie auch das Rauchen von Tabak und Marihuana hatten in den ersten Jahren der Kolonisation eine Wiedergeburt gefeiert, waren aber, vom Rauchen einmal abgesehen, inzwischen erneut zu einer Kuriosität geworden.

Sie hatte also seine Sachen durchwühlt! Völlig unbeeindruckt von der Tatsache, dass sie den Beweis für ihre Unverfrorenheit noch in den Händen hielt, meinte der Lieutenant: »Ziemlich komisches Zeug, was hier drin steht.«

»Für Sie sicher komischer als für mich.« De Ramaira setzte den Koffer mit den Sonden ab. »Wo ist Jonthan?«

»Er jagt seinem Hund etwas fürs Abendessen.«

»Und Sie jagen nicht mit ihm?« Zweimal hatte der Lieutenant auf dem Ritt von Broken Hill hierher vergeblich ein wildes Tier oder eine andere Beute durch die dichten Wälder gejagt.

Sie lächelte wissend und sagte: »Ein guter Griff, der Junge, nicht wahr?«

»Das ist nicht das, was ich meine«, antwortete de Ramaira, von dieser Unterstellung leicht schockiert. Er hatte nichts dagegen, dass der Lieutenant seine Akte gelesen hatte, aber sie musste ihn ja nicht unbedingt mit der Nase darauf stoßen. »Wenn Sie mit meinem Buch fertig sind, würde ich gern ein paar Dinge darin nachschlagen.«

Der Lieutenant klappte den schweren Wälzer zu, machte aber keine Anstalten, ihn de Ramaira zu reichen. »Warum haben Sie die Schwarte mitgebracht, Doktor. Hier sind Sie doch den Trackless Mountains so nah, wie Sie es nur sein können.«

»Tatsächlich? Ich möchte sie eines Tages erkunden und auch sehen, was hinter ihnen liegt. Ich bin ein ehrgeiziger Mann, Lieutenant. Die Pflanzen und Tiere dieser kleinen Halbinsel hier zu beschreiben ist nichts verglichen mit der Möglichkeit, eine ganze Welt zu erkunden.«

»Ehrgeiz ist ja schön und gut, aber auch da gibt’s Grenzen.« Der Lieutenant musterte ihn wie ein seltenes Insekt. »Ich frage mich, warum Sie unbedingt so weit hinaus wollten, wo es doch genug Abo-Dörfer in der Umgebung der Stadt gibt.«

»Ganz einfach. Dies hier ist das erste Dorf, das Webster genau beschrieben hat.«

Dies war aber nur ein Teil der Wahrheit. Während er sich von den Jahren des Kühlschlafes erholte, hatte de Ramaira über Karten der Halbinsel – ungefähr so groß wie Kalifornien und der bisher einzige besiedelte Teil von Elysium – gebrütet und überlegt, wie weit er wohl in unerforschtes Gebiet vordringen konnte, ohne die Verbote von Port of Plenty zu übertreten. Er wollte so schnell und umfassend wie möglich einen Eindruck von dieser Welt bekommen, und die wochenlange Reise hatte ihn nicht enttäuscht. Von Port of Plenty auf einem kleinen Frachtschiff entlang der öden, sandigen Küste nach Freeport, einer Siedlung aus niedrigen weißen Häusern zu beiden Seiten eines breiten Flusses, umgeben von hohen Sandstein-Klippen, die von Höhlen durchlöchert waren. Dann auf einem schwerfälligen Dampflastkahn mit hohem Schornstein den Fluss hinauf nach Broken Hill, von dort mit Pferden tief hinein in die endlosen Grasebenen am Fuß der Trackless Mountains. Jeden Tag hatte er genossen, hatte sich in der einfachen Erkenntnis gesonnt, endlich eine andere Welt zu erleben. Aber diese Begeisterung hatte er nicht mit dem Lieutenant teilen können – oder mögen. Sie hätte sich ohnehin geweigert, es zu verstehen, hätte sich nur über ihn lustig gemacht. Für sie war das Ganze hier nicht mehr als ein neuerlicher unsinniger Ausflug in die Provinz.

»Hören Sie, ich weiß, die Vorschriften von Port of Plenty verbieten, dass man die Grenzen der Halbinsel überschreitet. Aber ich kann nicht einsehen, wieso dieses Verbot auch auf mich zutreffen sollte. Ich habe schließlich nicht vor, eine illegale Siedlung zu errichten.«

»Viele Leute würden Sie sofort einen Separatisten schimpfen, wenn sie Sie so reden hörten. Wenn die Stadt die Siedler nicht in die Schranken weisen würde, hätten sie sich innerhalb eines Jahrhunderts über den gesamten Kontinent verstreut.«

De Ramaira hatte schon früher solche Unterhaltungen geführt und stellte die folgende Frage nur, um den Lieutenant zu ärgern. »Wäre das so schlimm?«

»Meine Leute waren zuerst hier und errichteten Port of Plenty Jahre, bevor die ersten Kolonistenschiffe hier eintrafen. Wir hatten nicht darum gebeten, unsere Stadt mit noch mehr Menschen zu überschwemmen. Es ist unser gutes Recht, darauf zu achten, dass unsere Welt nicht vergewaltigt wird. Sie sollten Ihre Pläne in Port of Plenty schön für sich behalten, sonst gibt man Ihnen nie wieder die Erlaubnis, die Stadt zu verlassen.«

Sie ging zu dem kleinen Nahrungsmittel-Depot, nahm zwei Behälter heraus und warf de Ramaira einen davon zu. »Essen wir was. Wer weiß, wann der Junge zurück sein wird.«

Jonthan Say kehrte erst lange nach Sonnenuntergang zurück. De Ramaira las gerade beim Schein einer elektrischen Laterne in seinem Buch. Auf der anderen Seite des Lagerfeuers hantierte der Lieutenant an ihrem Funkgerät herum. Der Zigarrenstummel in ihrem Mund glühte auf und erlosch wieder wie ein unstet flackernder Stern. Der Junge begrüßte die beiden fröhlich. Der Hund trottete hinter ihm her. Jonthan hatte den Kadaver eines toten Tieres über die Schulter geworfen, das Ähnlichkeit mit einer fetten, flachköpfigen Eidechse hatte. Der lange Schwanz war mit großen Dornen besetzt, aus den ovalen Schuppen, die den Leib bedeckten, wuchsen Büschel leuchtendroter Haare. Jonthan gestattete de Ramaira eine flüchtige Obduktion des Kadavers. Die Kreatur hatte ein Herz mit drei Kammern und eine einzelne Lunge mit vielen Verästelungen; eine Reihe halbausgeformter Eier wand sich wie eine Perlenkette durch den Unterleib. Nach der Obduktion häutete der Junge den Kadaver und warf die Hälfte des Fleischs dem Hund hin. Während er für sich selbst eine Dose öffnete, meinte er: »Ich kann eigentlich nicht verstehen, warum wir nicht modifiziert worden sind, Doktor. Dann könnten auch wir die einheimischen Pflanzen und Tiere verzehren.«

»Auf Erde ist es illegal und gegen die Evolution, menschliches Erbgut zu modifizieren. Außerdem kann man eine Genveränderung an der Eizelle nur durchführen, bevor die erste Zellteilung stattfindet. Bei den Siedlern, die nach Elysium kommen, ist das nicht mehr möglich.«

Auf der anderen Seite des Feuers schaute der Lieutenant von ihrem Funkgerät auf. »Du verbringst viel von deiner Zeit hier draußen, Jonthan, obwohl du, wie es eigentlich richtig wäre, zu Hause sein müsstest.«

Ohne Groll antwortete der Junge: »Das erwartet die Stadt doch nur, damit man uns auch unter Kontrolle hat, wenn wir unsere Farmen bestellen. Auch die Chemikalien, die wir brauchen, damit das Getreide überhaupt gedeiht, gibt es deshalb nur in der Stadt zu kaufen. Ja, wenn wir vom Boden leben könnten … Stimmt es, dass es in der Umgebung der Stadt entlaufene, wild lebende Kaninchen gibt?«

»Sie bevölkern inzwischen den ganzen Outback«, beantwortete de Ramaira seine Frage. »Man muss etwas dagegen tun, ehe sie das hiesige Ökosystem völlig ruinieren.«

»Bringen Sie den Jungen nicht auf dumme Gedanken«, knurrte der Lieutenant und nahm den Ohrhörer ab. »Er weiß genau, was mit Leuten passiert, die beispielsweise auf Dingojagd gehen. Stimmt’s, Jonthan?«

Der Junge zuckte die Achseln und begann sein Stew zu löffeln.

»Erinnerst du dich noch an die Leute, die voriges Jahr von Horizon aufbrachen? Überall erzählt man, dass sie erwischt worden sind. Die Gruppe wird auf ihrem Weg zu den Gefängnisminen in ein paar Tagen bei uns vorbeikommen. Also sieh dir sie genau an und lerne daraus, Junge. Ich gehe jetzt hinein. Bleib nicht mehr zu lange draußen, okay? Ich warte auf dich.«

De Ramaira grub die Fingernägel tief in seine Handflächen und beobachtete mit verkniffenen Augen, wie der Lieutenant auf das Zelt zuging. Er hatte schon gehört, wie Cops über das droit du seigneur, das Recht des Herrn (das Recht der Obrigkeit), ihre Witze rissen, doch bis jetzt hatte er es nicht glauben wollen.

»Man muss hier genau darauf achten, dass man immer auf der richtigen Seite steht«, sagte Jonthan leise zu de Ramaira und hockte sich zu ihm, »oder die Reiseerlaubnis wird bei der Verlängerung einbehalten. Es passiert aber nicht allzu häufig – und bei Frauen eher als bei Männern.«

»Männer haben dich auch schon angefordert?« Die Worte waren heraus, ehe de Ramaira es überhaupt bemerkte.

»Ich habe mich wohl nicht ganz richtig ausgedrückt. Unter den Führern gibt es auch viele Mädchen. Für sie ist es meiner Meinung nach schlimmer. Frauen dagegen suchen sich meist ihre männlichen Führer selbst aus.« Und nach einer Pause fügte er hinzu: »Es lohnt auch beinahe diesen Einsatz – nur um mal wieder eine Weile hier draußen auf dem Land, in der Freiheit, verbringen zu können.«

»Ich wünschte, ich würde die Gegend besser kennen.«

»Das werden Sie, wenn Sie es wirklich wollen. Mein Vater war von Erde, und er kannte sie von allen Leuten in Broken Hill am besten. Wissen Sie, gewöhnlich war er wochenlang hier draußen. Als ich alt genug war, habe ich ihn manchmal begleitet. Er ging aber lieber allein.«

»Ich würde gern mal mit ihm sprechen, wenn das möglich ist.«

»Er ist gestorben«, meinte der Junge schlicht. »Vor zwei Jahren. Sehen Sie, er liebte diese Welt, aber einige Dinge auf ihr machten ihn krank. Jetzt ist Sam meine ganze Familie.«

Ein langes Schweigen, nur unterbrochen durch das Knacken der Äste im Feuer, folgte, in dem de Ramaira verschiedene Möglichkeiten einer höflichen Entschuldigung formulierte und wieder verwarf. Der größere von Elysiums beiden Monden hing tief über den Berggipfeln. Die ersten Sterne kamen hervor und schimmerten in der sanften Nacht.

Schließlich stand Jonthan auf. Sein Hund sah zu ihm hoch und sagte: »Packen wir’s, Jonthan?«

»Bleib hier, Sam, und gib auf Dr. de Ramaira Acht. Mein Gewehr hängt dort am Sattel, Doktor, aber Sie werden es sicher nicht brauchen.« Jonthan mied bewusst de Ramairas Blick. »Also dann – eine gute Nacht.«

»Gute Nacht«, erwiderte de Ramaira und beobachtete nachdenklich, wie der Junge zum Zelt hinüberging und die Eingangsplane hob. Eine Lichtbahn fiel auf das niedergetretene Gras. Der Junge duckte sich ins Innere und ließ die Plane hinter sich zufallen. Das Licht ging aus. Sein sexueller Frondienst begann.

Der Hund, Sam, knurrte: »Nich’ grad lustig, wa’?«

De Ramaira beugte sich vor und nahm Jonthans Jagdgewehr an sich. »Weißt du, wie man damit umgeht?«

»Menschensach! Bin doch nur ’n gewöhnlicher Köter, nich’?«

»Nun, dann gib mal schön auf mich Acht!«

»Richtig, verfickt richtig.« Der Hund bleckte die Zähne. De Ramaira wusste nicht, ob das ein Lächeln oder eine Drohgebärde sein sollte.

In dieser Nacht träumte de Ramaira, er sei wieder an Bord des Kolonistenschiffes. Irgendwie habe sein Kälteschlaf nicht richtig funktioniert, und er sei im Transit wachgeworden. Völlig nackt erhob er sich aus seiner Box und ging Reihe um Reihe die anderen Kälteschläfer ab. In jeder Box lag der verhüllte, skelettartige Körper eines Abos, aber irgendwie erschien ihm das keineswegs ungewöhnlich. Ein Beben ging durch den Bauch des Schiffes, und der Fusionsantrieb erwachte zum Leben. Sie hatten die Hälfte der Reise hinter sich …

Er erwachte im orangefarbenen Neonschein von Tau Cetis Dämmerung. Jonthan Say, der das Lagerfeuer schürte, schaute von seiner Tätigkeit auf. »Da steht Kaffee.«

»Aus hiesigem Anbau«, ergänzte der Lieutenant und legte den Pistolengurt um ihre breiten Hüften.

»Nun, ich werde ihn gern probieren«, meinte de Ramaira und schälte sich aus seiner Thermodecke. Die Luft hatte exakt die Temperatur seines Körpers. Es würde wieder ein heißer Tag werden.

Das Getränk war lohfarben und säuerlich herb, mit Kaffee in keiner Weise vergleichbar.

»Glauben Sie ja nicht, dass ich Sie nach Broken Hill zurückschleppe, wenn Sie sich an dem Zeugs vergiften.« Der Lieutenant stapfte davon, um ihr Pferd zu satteln.

»Sie will jagen gehen. Wenn Sie Hilfe brauchen, Doktor, bleibe ich hier«, murmelte Jonthan.

»Du könntest mit mir die Abos beobachten.«

Der Junge strich sich durch das widerspenstige Haar. »Ich habe sie schon mal gesehen«, meinte er nach einer Weile.

»Selbst die verdammten Siedler wissen, dass das ganze Theater um die Abos kaum die Mühe lohnt«, knurrte der Lieutenant und zurrte keuchend den Bauchgurt des Sattels fest um den Pferdeleib.

»Warum müssen Sie ständig auf den Abos herumhacken, Lieutenant?«, fragte de Ramaira. »Eigentlich wäre es doch Ihre Aufgabe, deren Interessen zu vertreten.«

Verächtlich spuckte der Lieutenant den kalten Zigarrenstummel auf den Boden. »Genau das würde ich ja auch tun, wenn sie mir erklären würden, welche Interessen ich für sie vertreten soll, anstatt zu Salzsäulen zu erstarren, sobald sie meiner oder einer anderen Person ansichtig werden. Hören Sie, der einzige Grund dafür, dass ich diesen Job bekam, war die Tatsache, dass mein Vater ihn vor mir innehatte. Mein jüngerer Bruder dagegen hat von der Pike auf angefangen und ist jetzt schon Adjutant von Senator O’Hara, der bestimmt irgendwann mal Gouverneur wird. Ich dagegen hocke immer noch in meinem schäbigen Büro oder mache Ausflüge in die stinkende Wildnis.« Mit ihren kleinen Augen fixierte sie die Entfernung bis zu de Ramaira, als kalkuliere sie eine Flugbahn. »Sehen Sie sich an, was Sie wollen, Erdenmann. Ich habe was Besseres zu tun.« Sie schwang sich in den Sattel. »Und du gib auf deinen Hintern Acht, während ich weg bin, Jonthan«, fügte sie boshaft hinzu.

De Ramaira verbrachte den ganzen Tag in der Nähe des Dorfes, lag mit geschlossenen Augen im hohen Gras und betrachtete via Computersimulation die Bilder, die die wie lästige Moskitos zwischen den Hütten aus Gras und Lehm herumtanzenden Sonden an sein Nervensystem übermittelten. Soweit er das beurteilen konnte (abgesehen von dem verstümmelten Schamanen, der auf dem Platz mitten im Dorf hockte, waren die Aborigines kaum zu unterscheiden – selbst ihre schwarzen und lohfarbenen Markierungen waren identisch), gab es im Dorf ungefähr drei Dutzend noch nicht Vollreife Ausgewachsene und etwa halb so viele Kinder. Nach Websters Erkenntnissen durchstreiften etwa noch einmal so viele das Land im Umkreis von hundert Kilometern auf Wegen, die sich mit denen von mindestens einem halben Dutzend anderer Dörfer überlappten. Wahrscheinlich verließen die Abos das heimische Dorf im Alter von sechs oder sieben Jahren, sobald sie alt genug waren, um auf sich selbst achtgeben zu können, und blieben in der Ferne, bis sie ihre zwei oder drei aktiven sexuellen Jahre als Männchen durchlebt hatten und zu einem Weibchen gereift waren. Dann kehrten sie zurück, vereinigten sich im Herbst mit allen Männchen, von denen sie nicht abgewiesen wurden, ehe sie sich dorthin zurückzogen, was Webster – wieder so ein romantischer Anthropomorphismus von ihm – die ›Ursprungshöhle‹ genannt hatte. Dort legten sie ihre befruchteten Eier und starben. Ihre Körper dienten der schlüpfenden Brut als Nahrung.

All die Scheinsäugetier-Arten auf Elysium wiesen irgendwelche Varianten in diesem Lebenszyklus auf. Sumpfschweine legten ihre Eier nicht, sondern verfielen in eine Art Winterschlaf und wurden durch ihre Jungen von innen her aufgefressen; Säbelzähne, die größten Landräuber, legten ihre Eier in das Fleisch ihrer paralysierten Beute, und so fort. Webster vertrat die Theorie, dass diese nekrogenetischen Lebenszyklen eine Anpassung an das trockenere, kältere Klima waren, entwickelt von Tieren, die die Evolution für die sumpfige tropische Welt hervorgebracht hatte, die Elysium einmal war und in einiger Zeit wieder sein würde, wenn der instabile Stern Tau Ceti wieder einmal heißer aufflammte. Es war eine Theorie, die de Ramaira zu gegebener Zeit einmal genauer überprüfen wollte. Und Zeit hatte er genug – sein ganzes restliches Leben. Doch zuerst waren die Aborigines an der Reihe, und obwohl er es sich selbst nicht eingestehen wollte, fand er es allmählich langweilig, sie lediglich aus der Ferne zu beobachten. Ihm fehlte einfach die Geduld des Ethnologen. Inzwischen hatte er mehr als ein Dutzend Aktivitäten ausmachen können, die alle den Beschreibungen Websters ziemlich nahekamen. Als seien die Aborigines kaum mehr als programmierte Roboter, als verrichteten und vollendeten sie wie die Ameisen oder Bienen ihre offensichtlich gezielten Tätigkeiten aus einem mehr oder weniger blinden Instinkt heraus. Nur die Jungen zeigten Ansätze eines freien Willens. De Ramaira stellte sich vor, wie es wäre, ein frisch geschlüpftes Junges zu stehlen und es zur Intelligenz zu erziehen. Vielleicht würde es ihn prägen – wie Lorenz’ Graugänse. Nun, wenigstens hatte er die Echtheit von Websters detailgetreuen Aufzeichnungen geprüft, aber nichts Neues entdeckt.

Schließlich beorderte er seine Sonden zurück und begab sich zum Lager. Der Junge hatte sich im Schatten des Zeltes ausgestreckt. Sam richtete sich ein wenig auf und knurrte: »McAn’ers is noch nich’ zurück, un’ wir schlafen ’n bisschen.«

»Sie ist aber jetzt schon lange weg, nicht wahr?«

»Yeah, ’ne ganze Zeit«, grollte Sam und schlief weiter.

Die Sonne war am westlichen Horizont verblutet, Jonthan hatte das Campfeuer geschürt, und de Ramaira zu Abend gegessen, doch der Lieutenant war noch immer nicht zurück. Jonthan hockte beim Feuer und starrte in die Dunkelheit. Der Flammenschein, der über seinen nackten, schlanken Körper spielte, ließ ihn wie eine Gestalt von Michelangelo erscheinen, dachte de Ramaira, der gelegentlich von seinem Buch aufschaute.

Er arbeitete sich gerade durch eine kurze, knappe Reisebeschreibung: Zwanzig Tage jenseits der ersten Vorberge erreichen wir eine Hochebene. Ein lahmendes Pferd geschlachtet, um Fleisch zu bekommen. Böiger kalter Regen.

De Ramaira fragte den Jungen nicht danach, was er dachte. Er hatte sein Herz verschlossen – sein einziger Schutz in der ganzen Affäre. Er war nur Beobachter, nicht mehr.

Schließlich richtete Jonthan sich auf und nahm das Gewehr. »Ich werde mich mal nach ihr umsehen. Sie kommen besser mit, Doktor.«

Obwohl der große Mond über den Trackless Mountains aufgegangen war, überzog sein kalter Schein das Grasland mit einem Gewirr täuschender Schattenmuster. Ein gleichförmiges Dunkel wäre besser gewesen. De Ramairas Pferd, bei Tag sanft und gleichmütig, scheute ständig aus Gründen, die seinem Reiter verborgen blieben, oder stolperte auf dem unebenen Boden. Etwas weiter voraus zeichnete Jonthans Taschenlampe einen schwankenden gelben Kreis ins Zwielicht und enthüllte gelegentlich den grasüberwucherten Pfad, auf dem der Junge den schwachen Spuren des Lieutenants folgte. Einmal verlor er sie fast zehn Minuten lang, und ihm riss vor Sorge fast die Geduld.

»Besorg dir gefälligs ’n verdammten Bluthund, wenne auf Spurensuche gehs«, knurrte der Hund. Doch schließlich fand Jonthan die Spur wieder, und sie ritten weiter.

Zehn Minuten später stießen sie auf das Pferd des Lieutenants, das mit angelegtem Zaumzeug ruhig im Mondlicht stand. Das Auffinden des Lieutenants dauerte wesentlich länger, selbst mit Sams Hilfe. De Ramaira mutmaßte schon, das Pferd habe seine Reiterin irgendwo abgeworfen und sei davongaloppiert, als Sam Laut gab. Einen Moment später stieß Jonthan einen unartikulierten Schrei aus.

Der Lieutenant lag in einer Art Grasnest. Weißliche Schwellungen bedeckten Gesicht und Arme, die Augenlider waren so aufgedunsen, dass sie sie kaum bewegen konnte. Als der Junge und de Ramaira sich über sie beugten, richtete sie sich etwas auf und erzählte stockend, was ihr widerfahren war. Sie hatte in einem trockenen Hohlweg einen Sumpfeber aufgescheucht und ihn so lange durch ein weitläufiges dichtes Dornengestrüpp verfolgt, bis ihr Pferd nicht mehr weiterkam. Dabei hatte sie sich die Beine übel zerkratzt. Auf dem Rückweg zum Camp wurde sie plötzlich von einer Art Fieber befallen, welches die Muskeln so stark lähmte, dass sie bald nicht mehr weiterreiten konnte.

Jonthan gab ihr einen Schluck Wasser zu trinken und hob sie mit de Ramairas Hilfe in den Sattel. Während sie langsam zurückritten, fragte de Ramaira nach der Ursache ihres Sturzes. »Sind die Dornbüsche etwa giftig?«

Der Junge, der das Pferd des Lieutenants mit einer Hand am Zügel führte und mit der anderen sein eigenes Pferd lenkte, antwortete: »Fast alle wildwachsenden Pflanzen hier sind giftig, wenn man davon isst. Aber ich habe noch nie gehört, dass jemand sich durch die Kratzer eines Dornbusches vergiftet hätte. Vermutlich ist sie nur empfindlicher als die meisten anderen. Wie mein Vater auch.«

»Also hat sie nur eine Allergie, keine Vergiftung. Wir werden ihr Antihistamin geben, wenn wir im Lager sind.«

Aber das Lager war weit entfernt, und sie konnten nur langsam reiten. Immer wieder rutschte die Frau, inzwischen fast im Zustand des Deliriums, aus dem Sattel. Alle zehn Minuten mussten sie anhalten und sie wieder auf den Rücken ihres Pferdes heben. Beim dritten Mal schrie der Junge aufgebracht: »Verdammt, sie könnte uns hier draußen noch draufgehen!«

Der Lieutenant trug selbst die Schuld an ihrer Lage, aber das konnte de Ramaira dem Jungen kaum sagen. Er wollte gerade vorschlagen, sie am Sattel festzubinden, als der Hund plötzlich in seiner mundfaulen Sprechweise sagte: »Da is was – da draußen. – Auch gehört?«

Die beiden Menschen sahen es, ehe sie es hörten. Zuerst war es nicht mehr als ein schwankender Funke, weit draußen unter dem riesigen Sternenhimmel, der sich wenig später in die zwei Lichtbahnen von Zwillingsscheinwerfern teilte. Und dann drang das Geräusch eines Luftkissen-Trucks zu ihnen herüber, dünn und klar. Der Junge packte sein Gewehr, richtete den Lauf zum Himmel und feuerte. Fluchend hantierte er am Verschluss herum, um die leere Hülse aus dem Lauf zu entfernen und eine neue Patrone einzuschieben. Aber er konnte sich den zweiten Schuss sparen. Man hatte das Signal gehört, der Truck schwenkte in ihre Richtung …

Im Licht der Scheinwerfer des Luftkissen-Transporters wischte de Ramaira kurz über den geschwollenen Unterarm des Lieutenants und injizierte ihr eine Ampulle Antihistamin. Jonthan, der sein Tun genau verfolgte, fragte: »Wird das etwas nützen?«

»Ich bin kein Arzt, auch wenn ich Doktor bin. Wir werden es abwarten müssen.«

Der Truppführer der drei Polizisten, die ihnen zu Hilfe geeilt waren, ein schlanker junger Mann namens Sinclair, kratzte sich den Kopf unter dem sonnengebleichten dichten Haar und meinte verächtlich: »Die Wildnis ist eben nichts für Leute, die am liebsten an kleinen Jungs herumspielen. Wer sie nicht kennt, dem kann sie übel eins draufgeben.« Einer seiner Begleiter, eine Frau, sagte bestätigend: »Tatsache!« und lachte.

»Wenn ihr mit ihr fertig seid, legt sie hinten rein«, fuhr Sinclair fort. »Euer Lager ist in der Nähe? Glück für euch, dass wir in eure Richtung fuhren.«

Unter der Zelttuch-Plane auf der Ladefläche des Luftkissen-Trucks war es stockfinster. Als de Ramaira und der Junge den Lieutenant hinaufhoben, bewegte sich etwas in der Dunkelheit. Sinclair ließ kurz seine Handlampe aufflammen und leuchtete hinein. Ein halbes Dutzend Leute drängten sich auf der Sitzbank zusammen. »Ich kann euch nicht mit denen da zusammen fahren lassen. Ihr sitzt vorne bei mir. Müller wird eure Pferde mit denen dieser Scheißefresser nachbringen.«

Hinter ihnen lachte der weibliche Polizist erneut. Es war kein freundliches Lachen.

Als de Ramaira aus dem Zelt am Seeufer trat, stand Sinclair an der Ladefläche des Trucks und überwachte das Absitzen der Gefangenen. De Ramaira hatte dem Lieutenant eine fiebersenkende Tablette verabreicht und es Jonthan überlassen, die trockenen Lippen der Frau fortwährend mit Wasser zu benetzen – eine Intimität, die ihm Unbehagen bereitete. Er beobachtete eine Zeitlang die Gefangenen, deren Gelenke mit kurzen Ketten gefesselt waren, und fragte dann: »Ist das wirklich notwendig?«

»Würden wir sie nicht anketten, wären sie über die Trackless Mountains verschwunden, kaum dass wir ihnen den Rücken zuwenden. Sie wissen, dass sie in die Minen gebracht werden sollen.« Der blonde Cop war sichtlich belustigt. »Hören Sie, wie sind Sie eigentlich in diese Scheiße geraten?«

Müde erzählte de Ramaira, was er über den Unfall des Lieutenants wusste. Der weibliche Cop, Müller, ging von einem Gefangenen zum andern und schloss die Gelenkfesseln zusammen.

Der dritte Polizist der Streife, ein schweigsamer Mann namens Kelly, braute derweil Kaffee.

Nach de Ramairas Schilderung grinste Sinclair und zeigte dabei gelbliche Zähne auf einem spitzen Unterkiefer. »Sie hätte mit uns gehen sollen, wenn sie schon unbedingt jagen wollte«, brummte er und erzählte fröhlich, wie er mit seinen Kumpanen das illegale Anwesen in einem Tal hoch oben in den Bergen aufgespürt hatte, und wie die geflohenen Siedler ihnen in die Falle gegangen waren. Zusätzlich zur ausgesetzten Belohnung durften die Cops den Besitz der Siedler unter sich aufteilen, und das Missgeschick des Lieutenants vergrößerte nur ihre Schadenfreude. Sie blieben lange auf, tranken Kaffee und ließen dicke Marihuana-Zigaretten kreisen, die de Ramaira aber höflich ablehnte. Dabei machten sie lauthals Witze über ihre kleine Säuberungsaktion.

Jonthan blieb im Zelt bei dem Lieutenant. Sam hatte sich wachsam vor dem Eingang ausgestreckt. In dieser Nacht schlief de Ramaira schlecht, wachte auf dem harten Boden neben dem niedergebrannten Feuer des Öfteren auf und sah, dass im Zelt immer noch Licht brannte. Es zeichnete den Umriss des Jungen, der sich in ergebener Haltung über die Frau beugte, auf die Zeltplane.

In der Morgendämmerung schlüpfte de Ramaira aus seinem silberfarbenen Kokon und ging zum Zelt hinüber. Jonthan schlief mit friedlichem Gesicht, die Hände lagen auf den Hüften. Neben ihm, noch immer bewusstlos, atmete der Lieutenant schwer unter den Fieberschüben. Die Flecken und Pusteln auf ihren Armen hatten sich entzündet. De Ramaira injizierte ihr eine weitere Dosis Antihistamin und pfropfte einen Glukose-Tropf in eine Vene in der Armbeuge.

Der Junge wachte auf und fragte sofort: »Geht es ihr besser?«

»Sie kämpft gegen das Fieber. Wie fühlst du dich?«

Der Junge zuckte die Achseln und zog die Lider der Frau hoch. »Sie ist so heiß.«

»Du kannst sie zum Frühstücken ruhig mal allein lassen. Du musst bei Kräften bleiben, wenn du dich weiter um sie kümmern willst.«

»Ich hätte sie nicht allein gehen lassen dürfen«, murmelte Jonthan.

»Iss erst mal was. Danach kannst du dich immer noch mit deinen Schuldgefühlen herumschlagen.«

Ihr Wasserschlauch war leer, und so gingen sie gemeinsam zum See hinunter. Einer der Gefangenen war schon wach, ein stämmiger Mann mit Glatze und dem längsten weißen Bart, den de Ramaira je gesehen hatte. Sein Blick war so wild und grimmig wie der eines Falken.

Überall ringsum wogte das Meer aus rotem Gras sanft im Wind. Jonthan deutete auf die großen schwarzen Wolken über den Bergen, während sie sich einen Weg durch das hohe Schilf am Ufer des Sees bahnten, und erklärte, dass ein Gewitter im Anzug sei.

»Nun, ich denke, wir sind doch rechtzeitig wieder in Broken Hill.«

»Vermutlich.« Der Junge bückte sich und füllte den Wasserschlauch.

Bei ihrer Rückkehr ins Camp waren auch die drei Cops aufgewacht und auf den Beinen. »Wir haben jede Menge Trinkwasser auf dem Truck«, rief Sinclair ihnen entgegen, doch der Junge ignorierte ihn und ging auf die Gefangenen zu.

»Sie kriegen erst was zu trinken, nachdem wir getrunken haben«, sagte Sinclair in scharfem Ton. »Geh und kümmere dich um deine Beschläferin, Junge!«

De Ramaira wollte sich einmischen. »Es ist nicht nötig …«

Mit einer heftigen Bewegung schob Sinclair das Haar aus der Stirn. Sein Blick war hart. »Das sind meine Gefangenen, Freund. Nun geh schon, Junge!«

Auch die Gefangenen waren inzwischen wach – der alte Mann mit dem patriarchalischen weißen Bart, ein weiterer Mann in de Ramairas Alter, zwei Frauen und drei Kinder. Das älteste war ein Mädchen von etwa zwölf Jahren mit einem schmutzigen Verband um den Kopf. Der Patriarch musterte de Ramaira finster, spuckte demonstrativ zwischen seine Stiefel auf den Boden und schaute wieder auf. De Ramaira musste vor seinem festen, offenen Blick die Augen senken und wandte sich beschämt ab.

Die Cops brauchten eine weitere Stunde, um Essen an die Gefangenen zu verteilen und sie danach auf den Truck zu verladen. Bei der Abfahrt hatte ein leichter Nieselregen eingesetzt. De Ramaira, der im Führerhaus des Luftkissen-Trucks hockte, drehte sich um und schaute zum Abo-Dorf zurück, das langsam hinter ihnen kleiner wurde und verschwand. Kelly pfiff lautlos vor sich hin, während er das Gefährt über die enge Piste steuerte. Sinclair und Müller ritten hinterher und führten die anderen Pferde an den Zügeln mit. Jonthan Say begleitete sie auf seinem Pferd. Sinclair hatte ihm nicht gestattet, mit Lieutenant McAnders auf der Ladefläche bei den Gefangenen mitzufahren.

Inzwischen wurde der Regen stärker und fegte in weiten Schleiern über das leere rote Grasland. Blitze zuckten wie Peitschenhiebe am Horizont auf.

Nach einer Weile fragte de Ramaira den Fahrer: »Wird das noch schlimmer?«

»Schon möglich.«

Und wieder etwas später: »Wissen Sie, das alles hier erinnert mich an Kansas. Auf der Erde.«

»Tatsächlich? Wie schön.«

Nach dieser nichtssagenden Antwort verkniff sich de Ramaira jeden weiteren Versuch, mit dem Fahrer ins Gespräch zu kommen, schaute trübsinnig zu, wie draußen Gras und Regen vorbeihuschten und dachte dabei an die Abos und seine misslungenen Versuche, sie zu verstehen. Vielleicht sind sie letztlich doch nur Tiere, dachte er, aber auch dieser Gedanke machte ihn nicht ruhiger. Er bekam eine ungefähre Vorstellung davon, welche Frustration Webster dazu getrieben haben musste, solch abstruse Phantasien über Schamanen, Ursprungshöhlen und geheime unterirdische Rituale zu entwickeln.

Der Konvoi begann den Abstieg in das erste der bewaldeten Täler und folgte dabei einem engen, vom Regen schlüpfrigen Pfad, der schnurgerade zwischen den hoch aufragenden Bäumen verlief. Wenig später schloss Sinclair zu dem Wagen auf und rief durch das geöffnete Seitenfenster: »Fahr schon voraus, Kelly, ehe der Zustand der Piste noch schlechter wird. Der Junge, Müller und ich kommen nach!«

Sofort schob Kelly einen höheren Gang ein, und der Luftkissen-Truck machte einen Satz nach vorn. In hilfloser, von Furcht geprägter Faszination sah de Ramaira die dicken Stämme der Bäume nur Zentimeter entfernt an den Seiten des Wagens vorbeihuschen. Der strömende Regen machte die Windschutzscheibe fast undurchsichtig. Im Talgrund schoss der Truck über einen angeschwollenen Fluss und fuhr den nächsten Hang hinauf. Und dann verschwand die Piste unter einem Gewirr von Felsbrocken, Schlamm und umgestürzten Bäumen. Kelly ließ sofort Luft aus dem Kissen ab, doch es war zu spät, um den Wagen abzubremsen. Er rutschte seitlich weg, rammte einen querliegenden Baum, drehte sich um seine Achse und prallte frontal gegen einen weiteren Stamm. De Ramaira wurde nach vorn geschleudert und schlug mit dem Kopf gegen die Windschutzscheibe. Dann war nur noch das Rauschen des Regens und das Plätschern von Wasser zu hören.

»Scheiße!« Mehr kam Kelly nicht über die Lippen.

Sie waren am Rand eines Sees zum Stehen gekommen, der von Hügeln eingegrenzt wurde. Sein Wasserpegel schwoll zusehends an. De Ramaira und Kelly schauten nach den Gefangenen und dem Lieutenant und besahen sich dann die eingedrückte Seite des Wagens. Inzwischen waren auch Sinclair und die anderen eingetroffen.

Sinclair ging um den Truck herum, schüttelte den Kopf und befahl den Gefangenen abzusitzen. Wind sprang auf, fegte über die Wasseroberfläche und trieb von der Seite Regenschleier heran. Jonthan und de Ramaira hoben den Lieutenant von der Ladefläche und bauten aus einem wasserdichten Poncho einen Regenschutz, während Sinclair den Truck startete und ihn aus dem Fels- und Baumgewirr zurückzusetzen versuchte. Einen Augenblick lang sah es so aus, als ob er damit Erfolg hätte, doch dann platzte das Luftkissen mit lautem Knall und wirbelte eine Fontäne von Dreck und Schlamm hoch in die Luft. Mit abrupter Endgültigkeit setzte der Truck hart auf dem Boden auf.

Während die Gefangenen ihre Besitztümer abluden, die die Cops ihnen weggenommen hatten, sagte Sinclair zu de Ramaira und dem Jungen: »Wir werden zu Fuß weiter am Fluss entlangmarschieren, bis wir eine Stelle finden, wo wir ihn sicher überqueren können.«

»Wir kämen aber schneller voran, wenn wir flussabwärts gingen«, meinte der Junge.

»Damit uns dieser Geröllhang erwischt, wenn er vom Regen heruntergespült wird? Und das wird sicher nicht mehr lange dauern, fürchte ich. Spar dir deine guten Ratschläge für deine Matratze da auf, Freundchen. Ich habe schon hier draußen auf dem Land gearbeitet, da hattest du noch keine Haare an den Eiern.« Sinclair zeigte auf Lieutenant McAnders, die immer noch bewusstlos auf ihrer Bahre unter dem orangefarbenen Poncho lag. »Denk dir besser eine Möglichkeit aus, wie wir sie mitnehmen können«, knurrte er und stapfte davon, um den Gefangenen in seiner typischen Art ein paar freundliche Worte zu sagen.

Jonthan trieb zwei Pferde nebeneinander und verknotete eine Decke, die er mit Streben von der Ladefläche des Trucks verstärkte, an den Sätteln. Nachdem der Lieutenant auf diese provisorische Bahre gehoben worden war, brach die Gruppe trotz des heftigen Unwetters auf.

Sie mussten Sinclairs Plan, am Flussufer entlangzugehen, bis sie eine geeignete Furt fanden, schon bald aufgeben. Das Hochwasser unterspülte ständig die Talhänge und förderte dabei ein wirres Wurzelnetz zutage, das offenbar alle Bäume untereinander verband. Am Rande der reißenden Flut waren schon Bäume umgestürzt und hatten andere mit sich gerissen. Dickes Wurzelwerk ragte hoch in die Luft. Die Cops hätten sicher für sich einen Weg durch das schlammige Gewirr bahnen können, nicht aber für die aneinandergeketteten Gefangenen oder die Pferde. Also stieg die Gruppe in einer Reihe höher und höher die steilen Talhänge hinauf. Immer wieder rutschten die Menschen aus, strauchelten die Pferde auf dem tiefen Boden, den der strömende Regen in einen Sumpf verwandelte.

Schließlich befahl Sinclair einen Halt. Erschöpft und völlig durchnässt hockten sich die meisten auf den Boden. Ringsum stöhnten die hohen Bäume unter dem Ansturm des Windes, Regenschauer peitschten wie Schrot zwischen ihnen hernieder und verwischten die Konturen der Felsen und Bäume.

De Ramaira lehnte sich an die armdicke Wurzel eines umgestürzten Baumes. Trotz seines Ponchos war er bis auf die Haut durchnässt und fror. Der Schmerz klopfte in der Beule an seinem Kopf, die Stiefel waren voller Schlamm. Er fragte sich, wie es weitergehen sollte, was wohl geschehen würde. Ihm wurde klar, dass sie alle hier draußen umkommen konnten. Er ließ sich den Gedanken im Kopf herumgehen, aber die Sache erschien ihm nicht mehr sonderlich wichtig. Die Erschöpfung beeinträchtigte seine Wahrnehmung des Hier, des Jetzt, der kalte Regen stach wie mit Nadeln in sein Gesicht, die dicke raue Wurzel scheuerte in seinem Rücken.

Jonthan ließ die beiden Pferde, die die Bahre des Lieutenants schleppten, einen Moment allein und kam zu de Ramaira herüber. Sam folgte ihm missmutig. »Sie wird sterben, wenn wir nicht schnellstens hier wegkommen«, brummte Jonthan. »Ich muss etwas unternehmen.«

De Ramaira wischte sich die Nässe aus dem Gesicht, doch im nächsten Moment prasselte ein weiterer Schauer auf ihn herab. Ein Stück weiter saß eines der Kinder der Gefangenen weinend in einer Schlammlache und zerrte an seinen Gelenkfesseln. »Es war schon verrückt von den Cops, mit dem Truck auf dieser Route weiterzufahren, und jetzt marschieren wir auch noch in die falsche Richtung«, knurrte de Ramaira. »Glaubst du denn allen Ernstes, sie würden auf dich hören?«

»Ich kenne einen Platz, wo wir uns unterstellen können.«

»Nich gut!«, grollte Sam.

Jonthan schüttelte den Kopf. Das lockige Haar klebte ihm flach am Kopf. Er sah doppelt, dreifach so alt aus, wie er in Wirklichkeit war. »Es gibt keine andere Möglichkeit.«

»Die Ursprungshöhle?«, fragte de Ramaira.

»Die liegt kilometerweit entfernt im Norden. Dies hier ist ein anderer Platz.«

»Nich gut!«, beharrte Sam, aber Jonthan war schon auf dem Weg zu Sinclair, um sich mit ihm zu besprechen. Sie redeten längere Zeit miteinander. Schließlich stand der Cop auf. Regen rann von seinem weißen Poncho. »Kelly, Müller! Bringt die Arschlöcher auf die Beine. Wir haben vielleicht einen Platz, wo wir vor dem verdammten Wetter Schutz finden können.«

Jonthan übernahm die Führung der Gruppe. Er zerrte die beiden Pferde mit der Trage des Lieutenants an den Zügeln hinter sich her den Hang hinauf. Auf der anderen Seite des Bergrückens stiegen sie ins nächste Tal hinab und folgten dabei dem Verlauf einer niedrigen Felsklippe. Bäume ragten über den oberen Klippenrand hinaus und boten ein wenig Schutz vor dem Regen.

Sie waren noch nicht sehr weit am Fuß der Klippe entlangmarschiert, als de Ramaira bemerkte, dass sie einem richtigen Pfad folgten. Wenig später bog er von der Klippe weg und senkte sich zu einer großen, baumbestandenen Lichtung hinunter.

In ihrer Mitte erhob sich ein symmetrischer, grasbewachsener Erdwall. Ihn begrenzten eine Reihe von Pfählen, auf deren Spitzen mit breiten roten Streifen markierte Schädel in den Regen ragten.

Die Gruppe blieb ruckartig stehen. Die Gefangenen stolperten gegeneinander, und die Cops schauten sich wachsam um, als rechneten sie jeden Moment mit einem Überfall.

De Ramaira ging an ihnen vorbei zu Jonthan hinüber und berührte ihn an der Schulter. »Die Aborigines?«

»Ein Ort, den mein Vater entdeckte.«

»Ich kann mich nicht erinnern, dass Webster in seinen Aufzeichnungen etwas Ähnliches geschildert hätte.« De Ramaira fühlte gleichzeitig Ärger und eine wachsende Erregung in sich aufkeimen. Ärger darüber, dass der Junge niemals etwas von diesem Ort verraten haben würde, wäre das Leben des Lieutenants nicht in Gefahr gewesen. Und Aufregung wegen der Tragweite der Entdeckung und der daraus resultierenden Möglichkeiten …

»Die Abos nutzen diesen Platz nur selten«, sagte der Junge. »Mein Vater …« Er brach ab, als Sinclair auf sie zukam.

»Was soll dieser Scheiß?«, fuhr ihn der Cop an. »Wo ist dieser Unterschlupf, von dem du gesprochen hast?«

»Direkt vor uns.«

Trotz des Schattens, den die Kapuze seines Ponchos über Sinclairs Gesicht warf, war deutlich zu sehen, wie dem Cop das Blut ins Gesicht schoss. Er brachte seinen Mund nahe an Jonthans Gesicht. »Zum Teufel, dann bring uns gefälligst dorthin!«, zischte er mit heiserer Stimme, machte auf dem Absatz kehrt und begann die Gefangenen zu beschimpfen.

»Bös«, knurrte Sam. »Sehr bös!«

Ein enger Pfad führte von der Lichtung weg, zu schmal für die Pferde mit der Bahre des Lieutenants. Die Tiere wurden von ihrer Last befreit. Für sie schleppten nun zwei Gefangene die Trage. Der gewundene Pfad führte steil bergan und erlaubte gelegentlich einen Blick auf den Fluss und das Tal. Schließlich verbreiterte er sich zu einer weiteren Lichtung, die fast ganz von einer steilen Felsklippe begrenzt wurde. Ein enger Höhleneingang unterbrach die graue Oberfläche der Wand, seine Wölbung war rauchgeschwärzt. Und davor standen, ordentlich in Furchen gesetzt, mehrere Reihen von Pflanzen. So unerwartet war ihr vertrauter Anblick, dass de Ramaira mehrere Sekunden brauchte, um sie benennen zu können: Kartoffeln.

Die Höhle war länglich – und trocken. Ein Geröllhang im hinteren Teil führte nach oben und verschwand in der Dunkelheit. Jonthan fasste in eine Felsnische und brachte eine Laterne zum Vorschein. Er zündete sie an und hielt sie über das bleiche Gesicht des Lieutenants, deren Bahre die Gefangenen abgesetzt hatten. De Ramaira schüttelte den Regen aus seinem Poncho und prüfte Puls und Temperatur der Frau.

Müller scheuchte die Gefangenen in den hinteren Teil der Höhle und schloss sie an ein Alarmkabel an. »Fessle auch den Jungen«, befahl Sinclair.

Sam sprang auf, sein nasses Fell sträubte sich. »Langsam«, murmelte Jonthan beruhigend. Sinclair und Kelly hatten beide ihre Pistolen gezogen.

»Es geht halt nicht anders«, sagte der Junge zu dem Hund und schaute zu de Ramaira hinüber. Dann zuckte er resignierend die Schultern und hockte sich auf den sandigen Boden. De Ramaira wollte protestieren, besann sich aber unter Sinclairs drohendem Blick. Der Cop war hier in der stärkeren Position. Die Polizisten nahmen sich selbst erwärmende Essensbehälter aus ihrem Gepäck und reichten sie herum. Sie nahmen ihre Mahlzeit dicht am Höhleneingang zu sich, von einem Felsüberhang vor dem strömenden Regen geschützt, und ließen dazu einen Glasballon mit Wein kreisen, den sie offensichtlich bei den Siedlern erbeutet hatten.

De Ramaira setzte sich zu dem Jungen und den anderen Gefangenen. Er hatte keinen großen Hunger und befragte den Jungen, ohne dabei die Cops aus den Augen zu lassen, nach den Schädeln auf den Pfählen.

»Mein Vater hat sie entdeckt und folgte den Pfählen – genau wie Webster, der ihnen zur Ursprungshöhle folgte. Er verriet mir, dass es überall auf dem Territorium der Abos solche Plätze gibt. Wie wir Zimmer in unseren Häusern haben, pflegte er zu sagen. Aber er hat mir nie gesagt, was sie damit vorhaben. Ich glaube, es hat was mit dem Narbigen zu tun.«

»Mit dem Schamanen.«

»Vielleicht führen sie hier den neuen in sein Amt ein, wenn der alte gestorben ist. Die meisten Abos leben nur an die zwölf Jahre oder so. Nur die Narbigen werden viel älter. Die Schädel sind schon hier, solange ich zurückdenken kann. Weiter unten am Hang gibt es sie haufenweise. Ich vermute, die alten werden einfach weggeworfen, wenn der Platz für neue gebraucht wird. Ab und zu kommt ein Abo vorbei, richtet die umgestürzten Pfähle wieder auf und schneidet das Gras zurück. Ich tue das auch immer, so oft ich die Möglichkeit dazu habe.«

»Ein Ritual, eine Zeremonie, zu einem bestimmten Zweck, aus einem besonderen Anlass! Jonthan, begreifst du, was das bedeutet? Es könnte der Beweis dafür sein, dass die Aborigines tatsächlich intelligente Wesen sind. Dein Vater hat niemand davon erzählt?«

»Nur mir, und auch nicht sonderlich viel. Vielleicht hätte er Webster mehr erzählt, wenn er ihm begegnet wäre. Aber Webster starb, bevor Broken Hill gegründet wurde. Manchmal lebte er einige Zeit hier draußen – er liebte diesen Ort, Doktor. Ich habe ihn hier beerdigt und Blumen von der Erde auf sein Grab gepflanzt. Sie brauchen nicht so viel Pflege wie die Kartoffeln, denn der Leichnam in der Erde hält die hiesigen Pflanzen von dem Stückchen Boden fern.«

»Warum erzählst du mir das?«

»Sie können doch jederzeit die Stadt verlassen, nicht wahr? Ich dachte, Sie könnten vielleicht gelegentlich wieder hierherkommen und nach dem Rechten sehen.«

»Nun, ich würde dir gern helfen …«

De Ramaira wurde von dem heiseren Flüstern des weißbärtigen Patriarchen unterbrochen. »Sie würden gern helfen?« Er und alle anderen Gefangenen einschließlich der Kinder starrten de Ramaira an. Der Mann wiederholte seine Frage. »Sie würden gern helfen? Da wüsste ich einen Weg.«

»Ich habe nicht mal ein Messer, von einem Gewehr ganz zu schweigen«, flüsterte de Ramaira zurück. »Sind Sie verrückt geworden?«

»Wer spricht denn von Gewalt?«, antwortete der Bärtige. »Greifen Sie in meine Tasche, in die linke. Nun machen Sie schon, die Cops sehen im Moment nicht her. Tun Sie’s nur ganz beiläufig. Gut so. Haben Sie es?«

Ein Knäuel Papier. De Ramaira entfaltete es und schüttelte einige schwarze, ölige Samenkörner auf seine Handfläche.

»Wir bewahren sie auf für den Fall, dass uns alles danebengeht. Ich möchte, dass Sie ein Korn davon in unseren Wein werfen, den die Cops gerade trinken.«

»Sie sind wirklich verrückt!« De Ramaira drehte die Hand und ließ die Samen auf den Boden rollen. »Ich werde mich doch nicht an einem Mordkomplott beteiligen. Selbst nicht gegen diese miesen Typen da vorn.«

»Von Mord kann keine Rede sein. Nur ein Samenkorn in den Ballon – und sie sind eine Zeitlang außer Gefecht. Das ist alles. Wir werden ihnen nichts antun, sondern nur schauen, dass wir hier wegkommen. Glauben Sie mir, ich habe in meinem ganzen Leben nicht einmal eine Lüge ausgesprochen, und ich werde auch jetzt nicht damit anfangen. Ihnen macht es doch nichts aus, diese Dummköpfe für einige Zeit aus dem Verkehr zu ziehen, stimmt’s? Oder wollen Sie, dass der Junge in den Minen verschwindet? Kein schöner Ort, Erdenmann.«

»’erdammt wahr!«, grollte Sam.

»Willst du, dass wir es versuchen?«, fragte de Ramaira den Jungen.

Jonthan sah zu dem Lieutenant hinüber, dann wieder zu de Ramaira. »Der Mann hat Recht mit dem, was er über die Minen sagt.«

Seufzend begann de Ramaira die Samenkörner vom sandigen Boden aufzulesen. Der Patriarch lächelte.

Als de Ramaira sich neben Sinclair auf den Boden hockte, schlug ihm der Cop gönnerhaft auf die Schulter und brummte: »Wir werden gleich ein gottverdammtes Zielschießen veranstalten. Können Sie schießen?« Er hatte dem Wein fleißig zugesprochen und war offenbar leicht betrunken. Neben ihm schob Müller dicke Patronen in das Magazin eines Jagdgewehrs.

De Ramaira schüttelte Sinclairs Hand ab und antwortete leise: »Das Schießen überlasse ich lieber den Profis.« In seiner geschlossenen Hand fühlte er die Samenkörner.

Der Regen hatte inzwischen deutlich nachgelassen, das Unwetter war fast völlig abgeflaut. Draußen im Kartoffelfeld setzte Kelly gerade ein paar Schädel auf ihre Pfosten. In Reih und Glied aufgereiht, schienen sie in der einsetzenden Dämmerung höhnisch zur Höhle herüberzugrinsen. De Ramaira wollte gegen eine solche Entweihung protestieren, doch Sinclair brummte nur: »Wenn die Abos sie auf die Pfähle gesetzt haben, können sie jederzeit genügend andere finden, um die hier zu ersetzen.« Er schob de Ramaira den Ballon mit Wein zu. »Hier, nehmen Sie ’nen kräftigen Schluck. Keine Sorge, er ist okay. Wir haben ihn mit einer Sterilin-Tablette keimfrei gemacht.«

Der kräftigsüße Wein hatte einen stechenden Chlorbeigeschmack. Sinclair und Müller verfolgten gespannt, wie Kelly seine Tätigkeit beendete. Rasch ließ de Ramaira ein Samenkorn in den Flaschenhals gleiten und reichte dem Cop den Ballon mit der Bemerkung zurück, er müsse nach dem Lieutenant schauen. Ihn plagten Schuldgefühle.

Sinclair hob gleichgültig die Schultern und ließ sich von Müller das Gewehr geben. »Fünf Piepen für dich, wenn ich nicht beim ersten Schuss treffe«, sagte er zu der Frau, um dann gleich laut zu rufen: »Verdammt, Kelly, beweg endlich deinen Arsch aus der Schussbahn!« Fast gleichzeitig feuerte er. Das Echo des Schusses rollte an den Wänden der hohen Klippen entlang. Kelly hatte sich instinktiv zu Boden geworfen. Jetzt erhob er sich lächelnd. Keiner der Schädel war getroffen worden.

Während Müller das Gewehr für ihren Schuss anlegte, ging de Ramaira zu Jonthan zurück und setzte sich neben den Jungen.

Der Patriarch beugte sich zu ihm herüber. »Sie haben es getan?«

»Ja. Sind Sie auch sicher, dass sie nicht davon draufgehen?«

»Das ist unwahrscheinlich. Worauf schießen sie? Auf die Pferde?«

De Ramaira fuhr herum, als Müller in rascher Folge zwei Schüsse abfeuerte. »Sie haben die Schädel, die wir unterwegs gesehen haben, auf Pfähle gesteckt und benutzen sie als Ziele. Irgendeine Art Spiel.«

»Siehst du?«, flüsterte eine der Frauen Jonthan zu. »Siehst du nun, wie das ist?«

Der Lieutenant war immer noch bewusstlos, doch das Fieber war deutlich zurückgegangen. De Ramaira setzte sich neben sie und wartete darauf, dass das Samenkorn seine Wirkung tat. Währenddessen schossen die Cops abwechselnd und ließen den Wein kreisen.

De Ramaira merkte nicht, dass er eingeschlafen war. Er wurde davon wach, dass Sam an seinem Ärmel zerrte. »Komm, sieh«, sagte der Hund, als er merkte, dass de Ramaira aufgewacht war. »Komm, sieh. Schlafen wie Babies.«

Sinclair hatte sich im Höhleninnern neben dem fast leeren Ballon zusammengerollt und schnarchte laut. Kelly und Müller lagen etwas weiter draußen lang ausgestreckt im nassen Gras. Mondlicht flutete auf die Lichtung und ließ die wenigen Schädel, die immer noch auf ihren Pfählen inmitten der Kartoffelpflanzen standen, bleich schimmern.

Das Herz klopfte ihm bis zum Hals, als de Ramaira sich über Müller beugte und den Schlüssel für die Fesseln von ihrem Gürtel löste.

Jonthan kümmerte sich, kaum dass er sich seiner Fesseln entledigt hatte, um den Lieutenant. Der Patriarch ging nach vorn und warf einen Blick auf die schlafenden Cops, während die anderen die Glieder streckten und sich die wundgescheuerten Handgelenke rieben, miteinander flüsterten und de Ramaira mit Seitenblicken bedachten.

Der andere Mann sagte: »Vielen Dank, Erdenmann. Wir werden uns sofort auf den Weg machen.«

»Darf ich fragen, wohin ihr geht?«

Eine der Frauen lachte leise und nahm das kleinste Kind auf ihren Arm. »Nun«, meinte sie, »fragen dürfen Sie!«

Der Patriarch kam von draußen zurück und bückte sich in die niedrige Höhle. »Wir nehmen die Pferde und den Rest unserer Habe. Die Sachen auf dem Truck müssen wir leider zurücklassen. Wir kehren dorthin zurück, wo wir unsere übrigen Sachen versteckt haben. Ich hoffe, es stört Sie nicht, wenn ich Ihnen nicht verrate, wohin wir danach gehen werden. Auf keinen Fall werden wir auf dieser Seite der Berge bleiben. Lass diesen Cop hier, Junge. Sie wird auch ohne dich leben oder sterben. Du kommst mit uns.«

»Ich gehöre nicht zu euch«, erwiderte der Junge trotzig. »Dies hier ist mein Platz.«

»Dein Platz wird die Mine sein, wenn du bleibst.«

»Er hat Recht«, krächzte eine heisere Stimme. Es war die Stimme des Lieutenants.