Verdammte Unschuld - Sarah Engell - E-Book

Verdammte Unschuld E-Book

Sarah Engell

2,0

Beschreibung

Maria und Christina sind seit Ewigkeiten beste Freundinnen und haben voreinander keine Geheimnisse. Aber als Christina einen neuen Freund hat, bewegt sie sich schnell in eine Welt hinein, in die Maria ihr nicht folgen kann. Noch nicht. Weil – was soll werden, wenn Maria nicht mit ihrem zwei Jahre älteren Freund schläft? Macht er dann mit ihr Schluss? Christina ist fest davon überzeugt, und so ist es weniger wichtig, ob Maria überhaupt schon dazu bereit ist. Alle anderen machen es ja auch. Es hätte ein Sommer mit Freundschaft, Verliebtheit und Partys werden sollen, aber im Verlauf der sonnenreichen Tage und warmen Nächte zerbröckelt Marias Welt und viele ihrer Grenzen... ÜBER DIE AUTORIN Sarah Engell ist eine spannende, neue Stimme in der dänischen Jugendliteratur. In einer leicht zugänglichen und direkten Sprache schreibt sie über die Dinge, die das Leben eines jeden Teenagers bewegen – Familie, Freundschaft, Liebe und nicht zuletzt Sex und Sexualität, und wie man in der Flutwelle von Einflüssen, von allen Seiten aus strömen, zu sich selbst findet. Verdammte Unschuld ist der zweite Roman von Sarah Engell und ihr erster Roman auf Deutsch. REZENSIONEN "Wenn man Verdammte Unschuld zu lesen anfängt, dann wird man kaum enttäuscht, weil man schon nach dem Erscheinen des Erstlingswerks Wenn nur ... erfahren hat, dass Sarah Engell gekommen ist, um zu bleiben." - Kultur für Jugendliche "Der schwierige, zweite Roman war offenbar für Sarah Engell kein Problem ... die Boxhandschuhe auf der Titelseite versprechen Kampf bis zum letzten Rundengong." - Politiken "Engells Buch ist ein bodenständiger, nüchtern realistischer Roman, mit detaillierter Sorgfalt geschildert." - Berlingske "Zwei gut geschriebene und zeitaktuelle Bücher für die Jugendlichen beiden Geschlechts in der schwierigen Zeit, in der die Hormone es noch schwieriger machen, sich zurechtzufinden." - Weekendavisen (zusammen mit Palle Petersens Liebe auf dem Festival rezensiert) "Die Autorin schreibt megacool und hat eine coole Art die Sachen zu beschreiben, die im Buch geschehen. Ich kann dieses Buch wärmstens empfehlen, weil es wirklich Wert ist, es zu lesen." - Grey Lipstick (Blog für 13-Jährige)

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Sarah Engell

Verdammte Unschuld

 

 

 

Lindhardt & Ringhof

Kapitel 1

Ich ziehe meine Boxhandschuhe an und halte sie prüfend vor das Gesicht. Das schwere Gefühl gibt meinem Körper Ruhe. Ich atme den Geruch von Leder ein, während ich mich im großen Spiegel an der hintersten Wand der Sporthalle betrachte.

Aus den Lautsprechern an der Decke schlägt der Bass wie ein Puls. Das Vibrieren klettert durch die Gummisohlen meiner Schuhe bis in meine in den Handschuhen leicht gebeugten Finger hinein. Ich bounce von Seite zu Seite, wärme die Beine auf, während ich immer noch die Deckung halte.

An der Decke über der hintersten Wand hängen sechs Sandsäcke an Eisenketten. Ihre schwarzen Lederkörper bilden ein schweigsames Glied, abwartend.

Jannick steht bei der Musikanlage und stellt gerade das Headset ein. Er nimmt das kleine Mikrofon und hält es vor den Mund, dreht prüfend an der Lautstärke. Das schwarze Shirt sitzt eng am Oberkörper.

Ich mache einige prüfende Schläge in die Luft. Jab, cross, jab.

Jannick blickt mich an und lächelt. Ich mache die Schläge härter, kann den Puls schon steigen spüren.

Jannick betritt die Halle und stemmt die Hände in die Hüften. Er ist der einzige, der in den Sommerferien so viele an die Freizeitschule ziehen kann. „Und jetzt“, ruft er. „Seid ihr fresh?“

Es wird applaudiert. Jannick blickt sich in der Halle um, während er das Zirkeltraining einleitet. Ich betrachte seine Lippen, die Haare, die seit dem letzten Mal länger geworden sind, die Hände, die mit kraftvollen Bewegungen jede einzelne Übung vorführen. Er zwinkert mir zu, als er mich zur Basis schickt. Ich fange bei Nummer acht an, das ist Schattenboxen. Die Musik wird lauter gedreht, und ich konzentriere mich darauf, meine Schläge zu optimieren. Mein Spiegelbild und ich tanzen einander gegenüber. Ich ziele auf die Nase, treffe sie mit harten, exakten Schlägen. Jab, cross, jab.

Jannick streift den äußersten Sandsack mit der Hand, als er zu mir kommt. Er duftet nach Pfefferminz und Sonnenschein. Seine Haut ist nach drei Wochen in Thailand goldbraun, und seine Augen sind noch blauer, als ich sie in Erinnerung habe.

„Zweieinhalb Minuten!“ ruft er in das Headset. „Gebt alles, was ihr habt“.

Er legt eine Hand über das Mikrofon und stellt sich ganz dicht an mich. „Maria! Wie habe ich dich vermisst.“

Ich lächele ihn an. Mein Herz schlägt im Takt mit der Musik. „Ich gratuliere dir zum Geburtstag“, flüstere ich.

Sein Zeigefinger gleitet über mein Gesicht und streift meine Lippen. „Weiter!“ ruft er in das Mikrofon.

Der Lärm von hämmernden Bassrhythmen, stöhnenden Atemzügen und Schlägen gegen die Sandsäcke hängt schwer im Raum.

Weiter.

Jannick stellt das Mikrofon ab und streicht eine Strähne aus meinem Gesicht. „Hattet ihr eine schöne Zeit im Ferienhaus?“

„Wir sind gar nicht hingefahren.“ Ich schwinge meine Arme, spüre das schwere Gefühl der Handschuhe. „Papa klopfte einfach an die Tür und sagte, dass wir zu Hause bleiben. Ich und Christina waren die meisten Tage am Strand. Siehst du, dass ich braun geworden bin?“ Ich halte meinen Arm neben seinen.

Er streichelt mich über die Wange. Er blickt mein Gesicht sehr lange an. „Jetzt bin ich wieder da, um auf dich aufzupassen“, sagt er.

Ich blicke in seine blaue Augen und weiß nicht, was sagen, außer danke.

Er berührt meine Schulter und lehnt sich gegen mich. Für einige selige Augenblicke spüre ich seine warmen Lippen im Nacken.

„Wir sehen uns heute Abend“, flüstert er. Dann schaltet er das Mikrofon wieder ein und setzt seinen Rundgang zu den anderen Schülern fort. Im Spiegel habe ich ein Auge auf ihn, während ich weiter gegen mich selbst boxe.

Jab, cross, jab.

Mir tritt der Schweiß auf die Stirn und läuft die Schläfe runter. Jannick fängt meinen Blick im Spiegel. Wir lächeln einander zu.

Uppercut, hook.

Kapitel 2

Christina steht nackt vor dem Spiegel im leeren Umkleideraum. Sie streckt ihren kleinen Finger aus, als sie die Wimperntusche aus der Hülle nimmt und eine dicke Schicht Schwarz auf die Wimpern aufträgt. Sie fängt meinen Blick im Spiegel. „Du siehst aus wie ein Weihnachtsbaum“, sagt sie. „Oder wie ein Weihnachtsmann. Wie sagt man?“

„Hast du auch eine in braun?“ frage ich und werfe einen Blick auf die Wimperntusche.

Sie schiebt ihre Toilettentasche in meine Richtung. „Aber klar. Immer super, wenn der Freund nach Hause kommt, wie du weißt. Oder einfach kommt.“ Sie betont das letzte Wort und stupst mich in die Hüfte.

„Verdammt“, sage ich und betrachte mich in dem Spiegel.

Christina reicht mir ein Reinigungstuch. „Okay. Sonst cooles Training heute. Super, wieder in Schwung zu sein, die Oberschenkel zu straffen und so. Findest du nicht auch?“

Ich werfe ihr einen schiefen Blick zu, während ich etwas Braunes von der Wange abwische. „Warum sprichst du wie ein betrunkener Idiot?“

„Ich bin sehr froh, dass du fragst“. Sie spricht jetzt leise und lehnt sich gegen mein Spiegelbild. „Ich habe es getan.“

Ich stehe da mit dem Reinigungstuch in der Hand und zögere.

„Es?“

Sie steckt die Wimperntusche in die Hülle zurück, schiebt sie ein paar Mal schnell rein und raus. Dann lacht sie.

Ich sauge Luft ein. „Das ist nicht wahr“, flüstere ich. „Mit Vojens?“

Christina nimmt einen roten Lippenstift hervor und dreht die Kappe ab. Langsam lässt sie ihn über die Lippen gleiten. Sie drückt sie zusammen, um die Farbe zu verteilen. „Ich habe mit Vojens Schluss gemacht“, sagt sie dann.

„Was? Das wusste ich gar nicht. Wann?“

„Gerade danach.“

„Danach?“

Sie nickt. Mit dem Lippenstift in einer Hand öffnet sie ihr Handy, tippt herum und dreht es zu mir. Es zeigt ein verschwommenes Foto vom besten Freund ihres Bruders.

„Mick?“ Ich reiße die Augen auf. „THE Mick?“

Sie kichert, macht einen Schmollmund und betrachtet ihn im Spiegel.

Ich schüttele den Kopf. „Aber wann? Wie?“

Christina klappt das Handy zusammen und legt es auf die Ablage unter dem Spiegel. Sorgfältig entscheidet sie sich für ein Parfüm und sprüht ein paar Mal auf jede Seite des Halses. „Gestern Abend gab Jeppe eine Party. Er hat Glück, weil er zu Hause den ganzen Keller für sich hat. Aber ich lag oben in meinem Zimmer und konnte die Musik durch den Boden hören. Ich verstehe nicht, dass er so laut spielen darf. Dann plötzlich geht die Tür auf, ich glaube, es war gegen ein Uhr oder so. Erst dachte ich, es sei Jeppe, der sich meine Festplatte mit Musik ausleihen wollte. Er hat die schlechteste Musiksammlung ever.“

Ich mache eine Handbewegung, um zu zeigen, dass sie zur Sache kommen soll.

Christina sprüht Parfüm auf die Handgelenke und reibt sie gegeneinander. Sie blickt mir direkt in die Augen, als sie sagt: „Dann sah ich, dass es Mick war“. Das Strasssteinchen auf ihrem Zahn vorne funkelt wie ein Lächeln. „Erst wusste ich überhaupt nicht, was ich sagen sollte. Aber zum Glück brauchte ich gar nichts zu sagen. Mick setzte sich auf mein Bett und streichelte mir über die Haare. Er sagte, dass die anderen betrunken wären und dummes Zeug redeten. Dass er müde wäre und einfach nur mit einem lieben Menschen reden wollte“.

„Aber du hast doch gar nichts gesagt.“

„Sag mal, hörst du mir überhaupt zu?“ Mick saß in meinem Zimmer auf meinem Bett und nannte mich einen lieben Menschen. Ein lieber Mensch, Maria. Wie viele supercoole Siebzehnjährige haben dir gesagt, dass du ein lieber Mensch bist?“

„Jannick ist aber auch siebzehn“.

„Ja, ja, aber meine Geschichte entwickelt sich doch ein bisschen spannender als eure, die, soweit ich mich erinnere, immer noch im Knutsch-Stadium ist“.

Ich knülle das Reinigungstuch fest in meiner Faust zusammen.

Sie seufzt und streckt die Handfläche nach vorne. „Sorry, es war nicht so gemeint.“

Ich lasse das Tuch in ihre Hand fallen. Sie wirft es in den Abfalleimer und reicht mir die braune Wimperntusche.

„Aber auf jeden Fall...“ Sie wühlt in ihrer Tasche und holt die Unterwäsche raus. „Danach ging es Schlag auf Schlag.“

„Schlag auf Schlag?“

Weißt du, erst wollte er unter die Bettdecke. Ihm war offenbar kalt. Dann wollte er unter mein Shirt, und es war überhaupt nicht geplant oder so. Er hatte nicht mal ein Kondom dabei, wie die wannabees aus unserer Klasse, die immer mit den Taschen voller Gummis rumlaufen. Als würden sie jemals davon Gebrauch machen können.“

„Dann habt ihr kein Kondom benutzt?“

„Isst du vielleicht ein Karamellbonbon mit dem Papier?“

Ich rümpfe die Nase. „Sagte er das wirklich so? Einmal hab ich gesehen ich, dass das jemand auf der Rödby-Fähre auf die Toilette geschrieben hatte.“

Christina seufzt. „Können wir uns eventuell an meine Geschichte halten?“

Sie schließt ihren BH am Rücken und versucht, die Brüste in den wattierten Schalen zu arrangieren.

Aus irgendeinem Grund zieht sie sich immer den BH vor dem Slip an.

Ich reiße die Augen auf und färbe meine Wimpern braun, erst die oberen, dann die unteren.

„Was ist, wenn du jetzt schwanger geworden bist?“ frage ich.

„Das bin ich nicht. Sieh mein Kinn an. Vier Pickel in Reih und Glied. Ein sicheres Zeichen, dass meine Menstruation unterwegs ist.“

Ich kichere. „Standen wir einfach zuhinterst in der Reihe oder haben alle Mädchen einmal im Monat Pickel am Kinn?“

„Na ja. Soweit ich mich erinnere, waren es nur Männer, die gerade ganz vorne in diesem Stau standen.“

Wir lachen.

„Vielen Dank.“ Ich lege die Wimperntusche in ihre Toilettentasche zurück.

„You´re welcome“, antwortet sie und reißt ein Preisschild vom Slip.

Ihr Handy vibriert auf der Ablage unter dem Spiegel. Sie legt den Slip weg und klappt das Telefon auf. Sehr lange steht sie da und blickt einfach aufs Display.

Sie reicht mir das Telefon. Auf dem Display heißt es:

Ich bin scharf auf dich – schreibe was freches!

Ich starre auf das Ausrufezeichen. Dann auf Christina. „Ist er das?“ frage ich.

Sie blinzelt mehrmals hintereinander, als sie an dem kleinen Gummiband zieht, das am Preisschild fest sitzt. Dann dreht sie das Handy zu sich. Ihre langen, weiß lackierten Nagelspitzen klicken gegen die Tastatur, als sie etwas schreibt, wieder löscht und etwas anderes schreibt. Sie legt den Kopf leicht schief und liest die Nachricht, bevor sie mir den Text zeigt.

Ich bin nackt mit meiner freundin zusammen

Ich kichere. Christina zwinkert mir zu. Und drückt auf Senden.

Ich greife nach dem Telefon, aber sie hält es im gestreckten Arm weg von mir. Auf dem Display dreht sich der Briefumschlag als Zeichen dafür, dass die Mitteilung gesendet wird.

„Das hast du nicht wirklich gemacht?“ sage ich.

Sie lässt den Arm sinken. Sie hält das Handy ganz fest.

Die Sekunden, die folgen, sind sehr lang. Wir vergessen sogar, uns anzuziehen. Stehen einfach da und betrachten das Telefon in Christinas Hand.

Zwei kleine Piepser lassen uns zucken.

Auf dem Display heißt es:

Berührt ihr euch?

Christina schaut nicht mehr auf das Telefon, sondern auf mich.

„Igitt“, sage ich.

Christina schaut mich immer noch an. Etwas in ihrem Blick lässt mich das Handtuch um meinen Körper enger straffen.

Mit zwei harten Klicken schreibt sie eine Antwort.

Ich packe sie am Arm, aber die Nachricht ist schon gesendet.

Ja

Christina atmet schnell und stoßweise. Sie hält das Handy festgeklemmt.

Die Antwort kommt rasch. Vier kurze Wörter, und es wird mir merkwürdig kalt und warm auf einmal:

Ich habe einen steifen

Christina zittert am ganzen Körper.

„Schluss jetzt“, sage ich.

Sie bittet mich, ruhig zu bleiben und schreibt eine neue Nachricht:

Schickst du ein foto von deinem schwanz?

Der Geruch vom Abzug dringt durch Christinas Parfüm und in meine Gedanken hinein. Ich bleibe still auf dem kalten Boden stehen und spüre aus den Duschkabinen einen Dampf, der mich wie eine feuchte Hand umschließt.

Zwei kleine Piepser.

Christina und ich sehen uns an. Dann werfen wir einen Blick auf das Handy.

Das Foto ist verpixelt, aber hinterlässt keinen Zweifel.

Ein seltsames Gefühl breitet sich in meinen Körper aus. Ich ziehe das Handtuch hoch.

„Cool“, sagt Christina.

„Cool“, murmle ich.

Unsere Stimmen hallen gegen die mit Fliesen belegten Wände. Wir bleiben für einen Augenblick stehen und betrachten das verpixelte Bild, ohne etwas zu sagen. Oben auf dem Display leuchtet auf, um welche Zeit die Nachricht empfangen wurde. Die Uhrzeit ist unbeweglich, aber die Zeit läuft weiter.

Wir zucken, als das Handy wieder piept.

Seht ihr etwas schönes?

Als Antwort schickt Christina einen Smiley. Jetzt hat sie Farbe ins Gesicht bekommen.

Kurz danach kommt eine neue Nachricht. Sie liest sie mehrmals hintereinander.

„Er möchte mich sehen“, sagt sie. „Findest du es okay, wenn er heute Abend dabei ist?“

Ich zucke mit den Schultern.

„Was schreibe ich?“

Ich halte die Hände hoch als Zeichen, dass ich mich ab jetzt nicht mehr einmischen möchte.

Christina beißt sich auf die Lippen, sodass die Schneidezähne rot wirken. Sie trippelt von Seite zu Seite, während sie eine Antwort formuliert.

Sie hat ihren Slip immer noch nicht angezogen.

Kapitel 3

Happy Birthday dröhnt aus den großen, weißen B&O-Lautsprechern. Jannick steht auf dem ovalen Wohnzimmertisch. Er trägt einen Zylinder und hat einen Alabama Slammer in der Hand.

„Prost!“ ruft er. „In der Küche ist Selbstbedienung. Nehmt einfach. Und nochmals vielen Dank für alle Geschenke.“

Man hört Beifall und Johlen. Die große Strandvilla ist randvoll mit festlich gekleideten und halb betrunkenen Abgangsschülern der Volksschule. Quer durch das Wohnzimmer hängt ein großes Banner mit dem Text: Glückwunsch zum 17. Geburtstag!

Jannick sieht fröhlich aus. Er steht mit leicht gespreizten Beinen und dem Zylinder schräg auf dem Kopf. Jemand hat mit rotem Lippenstift Flaggen auf sein Gesicht gemalt.

Er dirigiert mit den Fingern, als einige Mädchen aus seiner Klasse das Happy Birthday mitsingen. Überall im Wohnzimmer wird geknutscht, geprostet und High Five gegeben. Die Mischung aus verschiedenen Parfüms macht mich schwindlig. Das letzte Mal, als ich Jannicks Klassenkameraden sah, sprangen sie im Kletterturm herum und warfen Süßigkeiten über den Rand, in engen Kostümen als Prostituierte, Krankenschwestern und Polizistinnen verkleidet. Christina und ich sind die einzigen, die nach den Sommerferien in die 9. Klasse gehen. Wir stehen in der Tür des Wohnzimmers und versuchen, älter auszusehen als wir sind.

„Wie spät ist es?“ fragt Christina und richtet sich die Haare.

„Du weißt ja gar nicht, ob er kommt“, sage ich.

Ein rostiges Bellen kommt von der Türklingel. Jannick ruft, dass es die mobile Diskothek ist, und gerade macht jemand die Tür auf. Er wirft sich ein Pfefferminzbonbon in den Mund und springt vom Tisch runter.

„Danke für das Lied“, sagt er und verbeugt sich vor den Mädchen. In einem großen, unordentlichen Haufen umarmen sie ihn. Lachend entkommt er ihren Armen und nimmt Kurs auf mich.

Mein Herz hüpft, als er mich an sich zieht. Ich drücke mein Gesicht gegen seinen Hals, der warm und wohlriechend ist.

„Glückwunsch nochmals“, flüstere ich.

Das ist ebenso für mich gemeint.

Christina zeigt kurz ihr Handy und sagt, dass sie jetzt geht. „Er wartet draußen“.

„Wartet?“

Christina nickt und blinzelt mir zu. Ich halte den Daumen hoch und sehe sie in die Menge verschwinden.

Jannick legt beide Hände auf mein Gesicht. „Mein Gott, du bist eigentlich wunderschön“.

Ich lächle.

Seine Lippen gegen meine fühlen sich weich an. Sie schmecken süßlich nach Orangensaft und Grenadine. Einige pfeifen und rufen, dass das wenigstens ein Geschenk ist, das nicht umgetauscht werden muss. Man hört Gelächter.

Ein DJ ruft mit Akzent: „Let´s get this party started!“ Pink kracht in das Wohnzimmer, und alle fangen an zu tanzen.

Jannick und ich umarmen uns. Seine Augen sehen nur mich. „Ich liebe dich“, flüstert er.

An einem Ort in meinem Kopf bricht etwas zusammen. Ich drücke seine Hände, und flüstere so leise, dass nur ich selbst es hören kann: „Du darfst mich nie verlassen.“

Jannick nimmt mein Gesicht wieder in seine Hände und blickt mich fragend an. „Alles okay?“, fragt er.

Ich nicke und kuschele mich an seine Brust. Sein Herz pocht rhythmisch an meinem Ohr.

Wir stehen dicht aneinander und wiegen im Takt mit der Musik, und ich wünsche mir, dass wir für immer so stehen bleiben können. Mit den Armen umeinander, ohne etwas zu sagen, ohne die Füße mehr als nur einen Millimeter zur Seite zu rücken.

Aber dann wird die Musik ausgeschaltet und von einer laut heulenden Sirene unterbrochen. Der DJ geht auf die Tanzfläche und klatscht in die Hände als Zeichen, dass wir zuhören müssen.

„Jetzt wollen wir die Party durchstarten“, ruft er. „Sind einige mutige, junge Menschen im Raum?“

Jannick wird aus meinen Armen gerissen und zur Tanzfläche gezogen. Zwei Jungen aus seiner Klasse halten seine Hände hoch. Es wird applaudiert. Jannick dreht den Kopf und schickt mir ein Lächeln als Entschuldigung.

Ich lächle zurück.

Der DJ klopft Jannick auf die Schulter und macht ihm Zeichen, dass er sich so hinstellen soll, dass alle ihn sehen können.

„Wir brauchen auch ein Mädchen...“ Der Blick vom DJ gleitet durch den Raum und landet bei einem Mädchen aus Jannicks Klasse.

Man hört Beifall und Pfeifen, als das Mädchen neben Jannick geschoben wird.

Der DJ setzt einen Finger auf Jannicks Brust. „Zieh das Shirt aus“, sagt er.

Jannick zieht das enge schwarze Shirt über den Kopf. Als sein Gesicht zum Vorschein kommt, sehe ich, dass er lächelt.

Der DJ schüttelt eine Dose Schlagsahne und zeichnet ein Herz auf Jannicks Brust. Er gibt dem Mädchen Zeichen, es abzulecken. Sie stemmt die Hände in die Hüfte. Erst als die unterstützenden Zurufe der anderen ganz laut werden, gibt sie nach.

Die Zunge ist rosarot und glänzend. Sie gleitet über Jannicks Haut in kleinen katzenartigen Bewegungen. Jannick lacht. Mir wird es übel.

Als die Schlagsahne weg ist, hebt der DJ eine Banane über den Kopf. Der Beifall steigt. Der DJ platziert die Banane zwischen Jannicks Oberschenkel und bittet das Mädchen, sie mit dem Mund zu schälen und dann zu essen. Und wieder stemmt sie die Hände in die Hüfte, pustet Haare aus der Stirn.

Die Jungen johlen und geben Beifall. „Zeig uns, was du kannst!“

Das Mädchen sieht sich im Raum um. Dann breitet sie die Arme aus und hockt sich vor Jannick hin. Der Jubel steigt heftig. Jannick stemmt die Hände in die Hüfte und zwinkert den Gästen zu, als das Mädchen anfängt, die Banane zu schälen.

Der DJ schwingt seine Hände, damit wir noch lauter werden. Angeregt durch die Zurufe packt Jannick das Mädchen an den Haaren und drückt ihr Gesicht gegen die Banane. Das Mädchen isst in großen Bissen weiter.

Ein metallischer Geschmack macht sich in meinem Mund bemerkbar. Ich sehe, ohne etwas zu sehen.

Man pfeift laut und jemand ruft Eisverkäufer.

Endlich steht das Mädchen auf. In einem Mundwinkel hat sie ein wenig Banane. Ich starre auf das kleine Stück Banane, während die Rufe durch den Raum schallen.

Jannick verbeugt sich und das Mädchen knickst. Aber der DJ packt sie an den Schultern. Das Spiel ist noch nicht zu Ende. Jetzt werden die Rollen umgetauscht. Das Mädchen wirft ihren Freundinnen einen schiefen Blick zu, aber als der Beifall fortsetzt, zuckt sie mit den Schultern und bleibt stehen.

Der DJ schüttelt die Dose mit Schlagsahne. Mit langen, spielenden Bewegungen schmiert er Schlagsahne auf ihre nackten Oberschenkel. Ganz oben zwischen den Beinen, platziert er ein Glas Tequila.

Die Zurufe nehmen kein Ende.

Ich versuche, Jannicks Blick zu treffen, aber er hockt schon vor den langen, nackten Mädchenbeinen.

Ich schließe die Augen. Mein Bauch tut mir weh. Um mich herum höre ich jubelnde Zurufe.

„Go Jannick!“

„Lick her, lick her!“

Ich höre das Mädchen hysterisch kichern.

Als ich die Augen öffne, hockt Jannick mit dem Glas Tequila zwischen den Zähnen. Er legt den Kopf zurück und trinkt.

Man trommelt auf die Wände und den Boden. Lange, laute Pfiffe schneiden meinen Schädel in tausende Stücke. Jannick steht auf und wirft das Glas auf den Boden, so dass es zerbricht. Der DJ hebt erst seine Hand und danach die Hand des Mädchens hoch. Der Beifall strömt gegen ihre halbnackten, klebrigen Körper. Ich wende mich plötzlich ab und stürze aus der großen Strandvilla hinaus.

Kapitel 4

Weit weg zwitschert ein Vogel in einer Baumkrone. Sonst ist es vollkommen still in den einsamen Villenstraßen. Ich gehe auf dem Bürgersteig, setze einen Fuß vor den anderen, ein Seiltänzer auf dem Weg durch die Dunkelheit.

Aus beiden Richtungen ziehen mich meine Gedanken. Ich breite die Arme aus und konzentriere mich auf die Schritte. Es ist schwierig, in den hochhackigen Sandalen zu laufen. Ich denke an Jannicks Hände in meinen. Die Wärme seiner Lippen. Die Musik, die meine Stimme übertönte, als ich flüsterte: „Du darfst mich nie verlassen.“