Verdunstung in der Randzone - Ilija Matusko - E-Book

Verdunstung in der Randzone E-Book

Ilija Matusko

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Beschreibung

»Kein Ruhetag« – so steht es auf der Tafel am Eingang. Ilijas Eltern betreiben eine Gastwirtschaft in Bayern. Er hilft schon als Kind in der Küche, wächst mit Pommes und Fritteusen auf. Wenn das Restaurant nicht mehr läuft, eröffnen die Eltern woanders ein neues.

Weil sein Vater gerne Tennis spielt, ermöglicht er seinem Sohn Tennisstunden. Im Verein findet Ilija neue Freunde und will wie sie aufs Gymnasium. Sein Leben entkoppelt sich zunehmend von dem seiner Eltern, besonders als sein Vater nach Kroatien zurückgeht. Doch etwas begleitet ihn durch die Jahre: »Es riecht nach Pommes, Ilija kommt!« Der Satz eines Mitschülers, der ihn bis heute nicht mehr loslässt, wird zum Ausgangspunkt einer Selbstbefragung: Verrät der Geruch die eigene soziale Herkunft?

Ilija Matusko verknüpft in seinem Debüt persönliche Erinnerungen mit soziologischen Beobachtungen. In zehn essayistischen Kapiteln erzählt er die Geschichte eines Bildungsaufsteigers – mit wachem Blick für die feinen Unterschiede, mit Witz und literarischer Schlagkraft.

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Seitenzahl: 240

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Cover

Titel

3Ilija Matusko

Verdunstung in der Randzone

Suhrkamp

Impressum

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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2023

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe der edition suhrkamp 2810.

Erste Auflage 2023edition suhrkamp 2810Originalausgabe© Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2023Alle Rechte vorbehalten.Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Textund Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlag gestaltet nach einem Konzept von Willy Fleckhaus: Rolf Staudt

Umschlagabbildung: Julia Molin, Berlin

eISBN 978-3-518-77694-0

www.suhrkamp.de

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

Cover

Titel

Impressum

Verdunstung in der Randzone

Der bewohnte Kreis der Erde

Ein Muster sich kreuzender Saiten

Für alle, die gern zu McDonald's gehen

Arbeit

Ein Denkmal für Mercedes

Im Hof der Literatur

Restaurant Dubrovnik

Dinge meiner Familie

Tageeinbruch

Quellen-Katalog

Informationen zum Buch

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Verdunstung in der Randzone

7Verdunstung in der Randzone

Eintauchen, herausnehmen, eintauchen.

Immer wieder habe ich diesen Geruch in der Nase.

Auf meinem Laptop eine Dokumentation über eine Gaststätte im Schwarzwald, Titel: Feuer und Flamme. Harald Wohlfahrt, der Küchenchef, sitzt zurückgelehnt im leeren Gastraum und erzählt von seinem Beruf. Schnitt auf Auszubildende, die durchs Bild huschen, sie rühren, schlagen, wenden, schneiden. Es herrscht Unordnung, auf eine geordnete Art. Das Bild, das ich suche, das Gold, ist in den Aufnahmen nicht zu finden.

Dunstschwaden, die sich unter der Abzugshaube sammeln, bevor sie sich auflösen.

Ein Geruch, der an meinen Haaren, Kleidern, meinen Möbeln und an den Wänden meines Zimmers haftet, beißend und schwer hat er sich schon vor Jahren in allen Winkeln meines Lebens festgesetzt.

Ich liege im Bett, die Vorhänge sind zugezogen, durch einen Spalt kann ich nach draußen sehen. Tagsüber fällt kaum Licht in meine Wohnung. Die Wände im Haus sind dünn, die Nachbarsfamilie ist zu hören. Neben meinem Bett steht ein kleines Gläschen mit einem dicklichen braungelben Sirup.

8Wenn ich den Geruch genauer beschreiben müsste, dann wäre ich schnell auf verlorenem Terrain. Ich habe keine feine Nase, auf meinen Riecher ist kein Verlass. Dabei geht es nicht um den Geruch an sich, um seine chemische oder molekulare Zusammensetzung, eher um die Zusammensetzung einer Person durch einen solchen.

Erinnerung an einen Galeriebesuch in Berlin-Wedding: Die Räume sind bis auf eine Mitarbeiterin menschenleer. Ventilatoren – es sind genau 22 – zeigen in verschiedene Richtungen. In kurzen Texten wird die Geschichte der Gegend (Arbeiter- und Industriebezirk) anhand des Geruchs nachgezeichnet. Die Ventilatoren verteilen Gerüche im Raum und sind interaktiv mit Sensoren an Standorten im Freien verbunden. Bei Wind draußen werden die Maschinen aktiviert und Duftstoffe freigesetzt. Die Künstlerin, Sissel Tolaas, ist studierte Chemikerin und hat die Gerüche – zuvor im Feld aufgespürt und lokalisiert – synthetisch nachgebaut. Ich halte meine Nase in die Luftströme. Stadt, Abgase, Geruch nach »Draußen«. Mein erster Gedanke: stinknormale Luft.

Beim Lesen des Ausstellungstextes bleibe ich an einem Wort hängen: Geruchszeugen.

Ich komme ins Gespräch mit einem anderen Besucher, der nach mir die Galerie betreten hat. Er kommt aus dem Wedding, ist Turbinenhersteller bei Siemens und hat die Ausstellung zufällig entdeckt. Ich frage ihn, wie er die Gerüche des Ortes wahrnimmt, an dem er aufgewachsen ist. »Gar nicht. Mein Tom-Ford-Parfüm legt sich über alles«, sagt er und lacht.

Die Künstlerin hat auch ein sogenanntes »Smell Me9mory Kit« erfunden, mit dem man Erlebnisse mit Gerüchen verknüpfen und im Gedächtnis behalten kann. Man trägt eine kleine Ampulle bei sich, öffnet sie und riecht daran, wenn man einen besonderen Moment erlebt. So wird die Erinnerung an den Augenblick mit dem Geruch verbunden.

Im Gewirr der Zeichen und Erinnerungen leuchten wiederkehrend einzelne Dinge auf, Gegenstände und Szenen, die zusammengehören, die sich verknüpfen lassen, ohne in einer direkten Verbindung zu stehen.

Mein Notizbuch (Moleskine-Fake), kein fester Einband, kein elfenbeinweißes Papier.

Mein Duschvorhang von POCO Domäne, mit den Ringen aus Plastik, die sich ständig lösen.

Meine guten Wanderschuhe, die ich besitze, seitdem ich 17 bin. Und der über Jahre bestehende und erst kürzlich aufgedeckte Irrglaube, sie seien hochwertig und daher besonders sorgsam zu pflegen.

Die Sachbearbeiterin im Jobcenter, die mich maßregelt, weil ich zehn Minuten zu spät komme (»Wenn Sie nicht einmal pünktlich sein können, wie wollen Sie dann ein normales Leben führen?«).

Das Haus eines Freundes, sein Vater war Manager in einem Pharmaunternehmen. Warme Fliesenböden, Kunst an den Wänden, ein Esszimmer, viel Platz, viel Licht, ein fußballfeldgroßer Garten.

Meine Mutter, die über mein Soziologie-Studium wissen wollte, ob ich später »mit Behinderten« arbeiten würde.

Das Wohnzimmerregal bei uns zu Hause, in dem kei10ne Bücher standen, sondern Straßenkarten und Gläser mit Münzen.

Mein Schock, als dem Hund eines anderen Freundes (sein Vater war Arzt) mittags Reis zum frischen Fleisch gekocht wurde.

Meine Scham, wenn mich meine Mutter im alten Opel Kadett bis vor die Schule kutschierte.

»Es riecht nach Pommes …«

Ich durchforste Vergangenes, suche Erlebnisse noch einmal auf, taste sie ab, schnüffle daran herum. Die Auswirkungen meiner Erkundung sind deutlich zu spüren, ich traue meiner eigenen Wahrnehmung und Erinnerung nicht mehr. Wenn ich mich zu verlieren drohe, immer wieder ein Fund, mehr zufällig als geplant, eine Stimme im Radio, mit der ich zurück auf festen Boden gelange. »Kochgerüche, die sich in den beengten Wohnverhältnissen in der Kleidung festsetzen, gelten als typisch für Unterschichten.« (Deutschlandfunk)

Fettgeruch.docx

Herkunft_Aufstieg_Entfremdung.docx

Meine-Eltern-und-ihre-Arbeit.docx

Pommes.docx

Der Name der Datei, in der meine Textfragmente abgelegt sind, ändert sich von Woche zu Woche.

Ein Fernsehinterview mit Pierre Bourdieu. Er sitzt auf einem Sessel, vorn am Rand der Sitzfläche, so als rechnete er jeden Moment damit, flüchten zu müssen, und beantwortet die Fragen eines Journalisten. Der Soziolo11ge spricht über kulturelles Kapital und Habitus. »Aufsteigern sieht man das Klettern an«, sagt er und macht eine Geste, bei der sich seine Hände verkrampfen.

Der Soziologe, »selbst aus einfachen Verhältnissen kommend und zum Wissenschaftsstar geworden«, so die Erzählstimme im Interview, sieht dem Fragensteller kaum in die Augen. Er wirkt fahrig und nervös. Manchmal kommt sein Blick zur Ruhe, fokussiert auf einen Punkt jenseits des Bildausschnitts, als würde dort eine Person sitzen, der er voll und ganz vertraut.

Auf einem Foto, das zwischendurch eingeblendet wird, um verschiedene Arbeitsmilieus zu illustrieren, sieht man die Rücken einiger Kellnerinnen mit weißen Schleifen über den schwarzen Röcken.

Ich sitze am Küchentisch und lese eine Geschichte des Geruchs des französischen Historikers Alain Corbin: »Der Gestank des Armen [ist] in erster Linie eine Folge der Imprägnation […].« Und: »[…] sie verströmen einen unverkennbaren Gestank, der ihre wahre Herkunft verrät.«

Daneben liegt eine Broschüre aus dem Internet, die ich mir in Farbe ausgedruckt habe: »Frittierte Speisen sind wegen ihres hohen Genusswertes, der Knusprigkeit und der goldgelben Färbung bei gleichzeitiger Saftigkeit des Frittiergutinneren beliebt.« (Optimal Frittieren: Auswahl der Frittieröle und -fette, Deutsche Gesellschaft für Fettwissenschaft)

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12Es gab zwei Schilder im Fenster unserer Wirtschaft. »Kein Ruhetag« und »Durchgehend geöffnet«. Mein Vater in Arbeitskleidung, eine weiße Kochjacke und schwarz-weiß karierte Hose. Immer ein flatterndes Küchentuch auf der Schulter, als hätte er es darauf dressiert. Seine Schnelligkeit beim Schneiden der Zwiebeln, sein konzentriertes Gesicht, rot und glühend von der Hitze, mit leicht geöffnetem Mund, als bekäme er zu wenig Luft. Die Küche ein einziges Zischen und Rauschen. Manchmal stiegen Stichflammen in die Höhe.

Ich lernte sehr früh, den Grad seiner Anstrengung zu deuten, bevor ich meinen Vater ansprach, in seinem Gesicht, in seinem Blick, in den Mundwinkeln. Wie ein Raum im Raum, den ich nicht betreten durfte.

Die Oberflächen aus Edelstahl, das kleine Fenster der Durchreiche, die Industriespülmaschine, die doppelte Fritteuse. Das Abzugssystem, dessen Schacht wie eine riesige Raupe aus Stahl unter der Decke hing. Die genoppten Fliesen auf dem Boden, auf die sich im Laufe des Tages ein Film aus Fett legte, sodass man beim Umrunden der Kochinsel ins Rutschen geriet.

Mein Vater kam spätnachts in die Wohnung, ich konnte ihn durch die dünnen Wände hören. Er duschte lange und ausgiebig, um den Fettgeruch aus den Haaren zu bekommen.

Meine Mutter mit schwarzem Rock, Kellnerinnenschuhen und einer weißen, steif gebügelten Schleife am Rücken. Drei oder vier Teller an einer Hand, ein Fächer aus Porzellan. Immer ein Lächeln auf den Lippen, das ihr hinter der Schwingtür zur Küche sofort aus dem Gesicht fiel. Wenn es am Nachmittag leerer wurde, saß sie 13an Tisch 1, vollkommen geschafft, legte den Kopf auf ihre verschränkten Arme und schlief ein.

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Mit jedem Text, der sich meinen Eltern nähert, den ich über sie schreibe, wird der Abstand zwischen ihnen und mir größer. Wie bei einem travelling zoom, bei dem sich die Kamera vom Objekt wegbewegt und gleichzeitig hineinzoomt. Bei der betrachtenden Person entsteht so der ›Eindruck eines Schwindelgefühls‹ (James Monaco).

Die Künstlerin Hisako Inoue hat in ihrer Ausstellung Marble project 80 ‌000 Schokolinsen auf eine große Bühne geschüttet. Das Publikum zerstampfte die Linsen mit den Füßen, wodurch sie sich in eine süßlich riechende, erdähnliche Masse verwandelten. Danach schuf Hisako Inoue mehrere Ausstellungen zum Thema »Geruch und Erinnerung«.

Ich liege wieder im Bett, längere Zeit, bewegungslos. An einigen Tagen in der Woche arbeite ich nicht. Seit Kurzem nenne ich sie Ruhetage. Ich fahre mit den Händen über das Bett, schnuppere an den Textilien. Das Gläschen mit goldgelber Flüssigkeit, roter Drehkappe und Aufkleber trägt die Handschrift meiner Schwester.

Vom Tellerwäscher zum Autor, der übers Tellerwaschen schreibt.

Habe ich es geschafft, weil ich mir als Textarbeiter weniger körperliche Arbeit leisten kann? Was genau habe 14ich geschafft? Warum fühle ich mich in einer Kunstgalerie genauso unwohl wie an einem Stammtisch? Ich schreibe diese Fragen in mein Notizbuch. Im Liegen, sodass der Kugelschreiber die Tinte verliert und die Schrift langsam ausdünnt.

Ich klappe mein Notizbuch zu, es fühlt sich minderwertig an, die Seiten sind viel zu dick, das Papier ist grell und chlorgebleicht. Es ist nicht das Werkzeug eines Autors, denke ich. Plötzlich tauchen um mich herum billige und wertlose Gegenstände auf, wie durch Ebbe freigelegt. Seit dem Beginn meiner Geruchsuntersuchung haben die Dinge in meinem Umfeld die Angewohnheit, zu Quellen der Scham zu werden.

Ich gebe »Fettgeruch« in die Suchmaske ein und sehe mir die automatische Vervollständigung an, die unter anderem anzeigt, wonach am meisten gesucht wird.

Fettgeruch … in der Küche

Fettgeruch … entfernen

Fettgeruch … vertreiben

Fettgeruch … aus Wohnung bekommen

Das Fett, ein unbestreitbarer Teil meiner Biografie, plagt mich und widersetzt sich allen Versuchen, es aus meinem Leben herauszulösen. Unsauberkeit, die mich umgibt und durchdringt.

»Smells are surer than sounds or sights / To make your heart-strings crack« (Rudyard Kipling)

Fettgeruch … aus Leben bekommen

15Ich verlasse meine Wohnung und gehe an die frische Luft. Während ich durch die Straßen laufe, telefoniere ich mit meiner Schwester. Sie erzählt von ihrer Arbeit, von der Belastung und dem Stress. Ich sehe sie vor mir, sie trägt einen Schutzanzug und blaue Plastikwolken an den Füßen. Als es anfängt zu regnen, klemme ich mich in einen Hauseingang und bleibe dort so lange stehen, bis meine Schwester zu Ende erzählt hat.

Ein Wohnungsloser steigt in die Bahn ein und bietet ein Magazin an. Er läuft von einer Tür zur anderen. In einer Kurve hält er sich an der Stange fest. Ich kaufe ein Exemplar, die Zeitung nennt sich Arts of the Working Class. Der Straßenzeitungsverkäufer bedankt sich für das Geld und wünscht mir einen schönen Tag. Ich sehe mir die Ausgabe näher an. Nummer 16: The Food Issue.

Beim S-Bahnhof kommt mir warmer, stickiger Wind entgegen. Ich halte reflexhaft die Luft an. Der Platz vor dem Schnellrestaurant ist hell erleuchtet, Treffpunkt für Jugendliche. Im McDonald's setze ich mich ans Fenster und sehe einem Jungen dabei zu, wie er Pommes isst. Neben ihm sitzt sein Vater, mit Baseball-Cap, den Blick in sein Smartphone vertieft, und spielt Candy Crush. Kurz habe ich den Impuls, meine Fett-Untersuchung abzubrechen, weil diese Szene schon alles enthält, worüber ich schreiben will.

»Während des Frittierprozesses kommt es […] zu erwünschten Veränderungen wie Krustenbildung am Außenbereich, Garvorgängen im Inneren des Frittierguts 16sowie zur Bildung der typischen Aromakomponenten.« (Optimal Frittieren: Theorie des Frittierens)

Der Satz eines Mitschülers in der Schule: »Es riecht nach Pommes, Ilija kommt!«

Nachts kehre ich zurück in meine Wohnung. Meine Jacke hänge ich über den Stuhl auf dem Balkon. Dann dusche ich, lange und ausgiebig, lege mich ins Bett und schlafe sofort ein. Ich träume davon, bei der Deutschen Gesellschaft für Fettwissenschaft zu arbeiten, als »Fettexperte« in der Abteilung »Aromabekämpfung«.

*

Nach der Schule half ich bei der Arbeit, in einem Alter, in dem die Arbeit noch ein Spiel ist. Ich stand an der großen Spülmaschine, schob die Kästen mit schmutzigen Tellern hinein und zog sie auf der anderen Seite wieder heraus. Ich drehte die Temperatur an der Fritteuse nach oben, griff mit den Händen in eine große Plastiktüte und warf die gekühlten Kartoffelstreifen in das Sieb. Mein Vater machte eine Geste (»etwas mehr/weniger«), oder er nickte, erst dann tauchte ich das Sieb in das heiße Fett.

Meine Mutter schrieb jeden Tag in einer schönen, geschwungenen Handschrift die Gerichte des Tages auf eine frisch gewischte Tafel. Ganz oben stand das Menü, mit Suppe oder Dessert. Wenn die Tafel noch nass war, ließ sich nichts erkennen, erst nach einigen Minuten kam die Kreide aus der blinden Tafel hervor. Mein Va17ter nannte die Speise, meine Mutter den Preis. Jeden Morgen gab es eine kleine Gerichtsverhandlung, 12,50 oder 13,50, mit oder ohne Salat. Speise und Preis fanden am Ende immer zusammen.

Alle paar Wochen machten wir einen Familienausflug. Das fand ich immer ungeheuer aufregend. Die Fahrt in die Stadt, die gigantische Halle, meterhohe Regale, Großpackungen mit Süßigkeiten. Ich lief durch die Metro wie durch die Schluchten des Grand Canyon.

Irgendwann lief das Geschäft nicht mehr: Der Blick meines Vaters, der nicht in der Küche, sondern vorne in der Gaststube steht, um nach Gästen Ausschau zu halten. Ich, stundenlang am Fenster sitzend, damit ich für die Menschen auf der Straße wie ein Gast aussehe. Ein Vierzehnjähriger, der eine kleine Cola nach der anderen bestellt, als hätte er zu viel Taschengeld. Meine Mutter im Büro, einem fensterlosen Raum neben der Küche, wo auch Eimer und Konserven lagern. Sie sitzt vor einem Stapel Rechnungen und Papiere, mit verkniffenem Gesicht und Lesebrille.

Als auch die letzte Wirtschaft geschlossen, meine Eltern geschieden und mein Vater zurück in seine Heimat Kroatien gegangen war, arbeitete meine Mutter weiter als Bedienung, irgendwann bei McDonald's.

*

»Pommes sind wie beste Kumpels – einfach immer dabei. Ganz selbstverständlich. Und erst wenn sie mal fehlen, merken wir, dass sie Gold wert sind!« (mcdonalds.de)

18Warum kostet es mich auch heute noch Überwindung, davon zu berichten? Als würde es etwas über meine Familie erzählen und nicht viel mehr über die Verhältnisse, in denen wir leben.

Auch meine Mutter konnte nicht besonders gut riechen, ihre Nase war immer zu. Weil sie nicht genügend Luft zum Atmen bekam, ließ sie sich einmal operieren. Bei dem Eingriff wurden Polypen aus ihrer Nase entfernt.

Ich höre mir eine Sprachaufnahme an, die ich vor einigen Monaten beim Joggen gemacht habe. Ich kann mich nicht daran erinnern, und meine Stimme hört sich nicht nach mir an. »Den Geruch nicht mehr loswerden, egal, wie sehr man sich anstrengt«, sagt die Stimme, in vier Sekunden, hechelnd und schnaufend, im Hintergrund mein Laufschritt.

Die Liste der mir auffallenden Details und Fetzen wird von Tag zu Tag länger:

»Meine Mutter liebte nicht: […] altes Bratfett, McDonald's«. (Daniela Dröscher)

In einer Erzählung von Oskar Panizza über einen Wanderer, der in einer Wirtschaft übernachtet: »Als ich aufstand, sah die Sonne bereits in mein Zimmer, und ein heißer, widerlicher Küchengeruch drang von unten herauf […].«

Der Freund, der sagt: »Ich habe vor zehn Jahren in einem Burger-Laden gearbeitet, nur für ein paar Wochen, aber die Klamotten stinken heute noch nach Fritteuse.«

19Der Parkplatz vor dem Supermarkt. Menschenleer, nur eine Frau mit Rollator kommt mir entgegen. Im Korb vor ihr nichts außer einer Packung gefrorene Pommes.

»Wir suchen Leute, die nur aufs Gelb aus sind.« (Ein Werbeplakat der Berliner Verkehrsbetriebe, mit gelben Zügen, Angestellten in gelben Outfits und einem Foto von Pommes.)

Ein Artikel im Internet: »Wie ist das, wenn die eigene Identität mit einem Geruch verknüpft ist? Wir haben sieben Menschen befragt, die wie beliebte Pflanzenaromen heißen.«

»Ulja« – das kroatische Wort für Öl, das an meinen Vornamen erinnert.

Meine Schwester absolvierte nach der Hauptschule eine Ausbildung in einer Apotheke. Jetzt arbeitet sie für ein Pharmaunternehmen, Abteilung Qualitätssicherung. Ihre Aufgabe besteht darin, die Sauberkeit von Oberflächen zu kontrollieren und Abstriche zu machen. Sie mag Live-Übertragungen im Fernsehen (Tennis, Wintersport) und fährt ein Audi Cabrio, Kennzeichen NM 1975, ihre Initialen und ihr Geburtsjahr. Sie hat viele Jahre für das Cabrio gespart.

Einmal erzählte sie mir von einer Feier, auf der sie mit einer Freundin war. Ein Sommerfest auf einem großen Grundstück mit Pferden am Starnberger See. Weiße Tischdecken, Sektflaschen, elegante Gäste. »Für die war ich Luft.«

20»Als Stallgeruch wird der typische Geruch in einem Stall bezeichnet, der sich durch kombinierte Analyse von Gaschromatographie und Olfaktometrie als ein sehr komplexes Aroma aus mehr als 400 chemischen Verbindungen in relativ zueinander unterschiedlichen Konzentrationen (Geruchsintensitäten) erweist. […] Im übertragenen Sinne wird mit ›Stallgeruch‹ das soziale Milieu eines Individuums bezeichnet, also seine Herkunft oder langfristige Zugehörigkeit zu einer Gruppe […].«

Ich denke bei diesem Eintrag auf Wikipedia jedes Mal an Fett, wenn ich Stall lese.

»Langfristige Zugehörigkeit.«

Der Moment, als mir ein Schulfreund auf dem Nachhauseweg sagt: Man kann es riechen. Die Wirtschaft, den Essensgeruch. Er sagt es wie jemand, der eigentlich nur helfen will. Als wüsste ich es nicht, als könnte ich etwas daran ändern.

Bilder einer Ausstellung tauchen immer wieder in mir auf, so als hätte sie sich tatsächlich ereignet. Das Publikum zertritt 80 ‌000 frittierte Kartoffelstreifen, wodurch sie sich in eine gelbe, nach Fett riechende Masse verwandeln. »Deep frying project.« Immer wieder gerät ein Beinpaar ins Rutschen.

Mit einem Freund gehe ich zu einem Imbiss an der Ecke und esse Pommes. Zum ersten Mal will ich weder Ketchup noch Mayonnaise, nur den reinen Fettgeschmack. Ich sehe dem Mann an der Fritteuse und seinen Hand21bewegungen zu wie dem Verlauf eines eben begonnenen Experiments. Dunstschwaden steigen auf. Zwischendurch hebt er das Sieb, wartet einen Moment, dann taucht er es wieder hinein. Das Geräusch, wenn das tropfende Fett abgeschüttelt und das Sieb entleert wird, die Pommes in die Aluschüssel fallen. Der Mann streut Salz darüber und macht diese typische Schüttelbewegung, um es gleichmäßig zu verteilen.

Der Freund, ich hatte seine Anwesenheit für einen Moment beinahe vergessen, nimmt einen Schluck von seiner Cola und sagt mit Freude in der Stimme: »Das schwarze Gold!«

»Das im Lebensmittel gebundene Wasser wird infolge der Verdunstung in der Randzone nach und nach aus dem Inneren an die Randschicht geführt […]. Die Abnahme der Feuchtigkeit an der Oberfläche führt zu Ausbildung der Kruste.« (Optimal Frittieren: Theorie des Frittierens)

Meine Freundin schickt mir ein Foto. Als ich es öffne, sehe ich einen bunten Haufen in Nahaufnahme, zwischen Straße und Randstein. Jemand hat den Rest eines Imbisses weggeworfen. Saure Pommes, eine leere Pommesschale, Ketchup. Wenn man hineinzoomt, sieht man einen Pommesstreifen mit schwarzen Pigmenten übersät. Ameisen, dicht an dicht, während sie den bunten Zuckerberg links liegen lassen. »Die kleinen Arbeiter wissen, was gut ist«, schreibt meine Freundin unter das Bild. Der Gedanke, dass sich mein Vorhaben schon gelohnt hat.

22In einem Interview mit der Schriftstellerin Joan Didion antwortet sie auf die Frage, ob sie ein Morgenritual habe, sie trinke jeden Morgen eine Coca-Cola.

Roland Barthes schreibt in Mythen des Alltags, ein französischer General habe nach dem Waffenstillstand in Indochina als erste Mahlzeit Pommes frites verlangt, dies sei kein »vulgärer materialistischer Reflex« gewesen. »Pommes frites sind Sehnsuchtsobjekte […].«

Begegnungen und Szenen meiner Kindheit – mit anderen im Auto, bei Freunden auf dem Sofa, mit Lehrerinnen oder Eltern im Gespräch – verändern sich, beginnen zu stechen, sobald ich sie mit der Frage unterlege: Haben sie mich da vielleicht auch gerochen?

Eintauchen, herausnehmen, eintauchen. Als Kind schaue ich oft dabei zu, wie die Fritteuse angeschaltet wird. Bei der Erhitzung wird die feste weißliche Fettmasse langsam flüssig. Zuerst bilden sich kleine glänzende Fettseen auf der trüben Oberfläche, dann bricht der Fettblock in Stücke, und das Sieb, das sich am Grund des Beckens befindet, wird immer mehr freigelegt. In den bienenartigen Waben des Gitters halten sich die letzten Reste, bevor sie sich im heißen Nektar auflösen. Ich dachte damals nicht an Ekel. Sondern an Gold und Honig.

In der Nacht setzt erneut Regen ein. Das Rauschen der Autos in den Straßen. Ich klappe den Laptop auf und sofort wieder zu, fühle mich unwohl. Travelling zoom.

23Am nächsten Morgen telefoniere ich wieder mit meiner Schwester. Der Himmel vor dem Fenster ist klar und trotzdem farblos, wie hinter Dunst, der aus einer großen Anlage aufsteigt, am Rand der Stadt. Als meine Schwester anfängt, von ihrer Arbeit zu erzählen, schweife ich ab. Ich sehe es ganz deutlich: Meine Schwester, im weißen Schutzanzug, in der Küche unserer Wirtschaft. Sie zieht einen kleinen Wagen hinter sich her, streicht über die Stahloberflächen und nimmt Proben. Eine Art zu groß geratenes Wattestäbchen in der Hand. Sie füllt einen kleinen Behälter mit Flüssigkeit aus der Fritteuse. Sie streicht einen Klebezettel fest und beschriftet ihn.

24Der bewohnte Kreis der Erde

Zwei Bilder, die Millionen wert sind.

Ich erinnere mich an die Geschichte.

Sie hingen in unserer Wirtschaft. Ein Stammgast redete so lange auf meine Eltern ein, bis sie nach München fuhren, zur Pinakothek, um die Gemälde begutachten und schätzen zu lassen.

Nach dem Aufstehen öffne ich das Fenster, mache es wenig später wieder zu. Tauben flattern im Innenhof und sammeln sich auf der anderen Seite. Die Frau im fünften Stock stellt immer einen Teller mit Körnern raus. Sie ist gehbehindert und schafft den Aufstieg nur unter größten Anstrengungen. Im zweiten Stock gegenüber sehe ich einen jungen Mann an der Spüle, mit nacktem Oberkörper und Geschirrtuch über der Schulter. Er bekommt einen Hustenanfall, schüttelt sich heftig, was ohne die Geräuschkulisse so aussieht, als würde er eine seltsame Performance aufführen.

Das Bild von Gerhard Richter an meiner Wand: das Porträt einer lesenden Frau. Ein welliges, leicht vergilbtes Stück Papier, aus der Zeitung ausgeschnitten.

Daneben das Bild einer Sonne, die in einer Wüste untergeht. Das einzige Gemälde, das ich besitze. Der Horizont wiederholt sich mehrfach, als würde man die Landschaft durch zersplittertes Glas betrachten.

25Die Fragen, die ich mir stelle, haben keine klare Antwort. Sie lassen aber sofort einige Erinnerungen in mir aufleuchten. Szenen und Momente wie die Bilder einer Ausstellung, die ich mit geschlossenen Augen aufsuche.

Ein Sommertag bei meinem Vater. Ich stehe mit ihm im Foyer des Fünf-Sterne-Hotels, wir betrachten ein Kunstwerk: eine riesige Skulptur aus Draht, die sich über mehrere Stockwerke in die Höhe schraubt, so hoch wie ein Kran, ohne erkennbares Konzept, chaotisch verknotet. Meine erste Assoziation: Haarbüschel, die im Ausguss liegen. Mein Vater sagt, das Ding sehe aus wie eine Angelschnur, die sich verknäult habe. Dann verlassen wir das Foyer und gehen zurück zum Parkplatz. Wir sind hier, um seine neue Frau abzuholen, die als Reinigungskraft im Hotel arbeitet.

Mein Vater und sein einmaliges Kino-Erlebnis: Otto – Der Film, zusammen mit meiner Schwester und mir. Irgendwann in den 80er-Jahren, seitdem hat er keinen Kinosaal mehr betreten.

Als mich im Theater eine ältere Frau, ein paar Sitze weiter, laut anmeckert, weil ich auf dem Weg zu meinem Platz »falsch« an ihr vorbeigehe (mit dem Rücken zu ihr).

Die Panik, die uns zu Hause ergreift, wenn im Fernsehen eine Oper läuft und dieser schrille Gesang erklingt: »Schnell, schalt um!«

Ein Museumsbesuch vor einigen Jahren. Ein turnhallengroßer Raum, komplett geflutet mit dichtem Nebel, der allmählich, kaum wahrnehmbar, seine Farbe ändert. Ich irre herum, taste mich durch die fluores26zierend leuchtenden Nebelwolken, finde den Ausgang nicht.

»Habt ihr keine Kultur?«

Wie ich zu dem Sonnenuntergangsgemälde kam: Auf dem Platz am U-Bahn-Eingang sah ich einen Mann, der ein paar Dinge auf der Straße ausgelegt hatte, auf einem blauen Tuch. Eine Fahrradpumpe, einen DVD-Player, Werkzeug, einen ausgestopften Fuchs, alte Handys mit Ladegeräten und das Gemälde einer Sonne in einer Wüstenlandschaft. Ich nahm es in die Hand, es gefiel mir, aber es war keine echte Kunst, sagte ich mir sofort, sonst würde es nicht hier auf der Straße liegen. »Ein Original«, sagte der Mann. Er wiederholte es immer wieder: »Ein Original, ein Original«, und zeigte auf die Signatur. Zuerst wollte er 80, dann nur noch 20 Euro (»Für Zigaretten und Bier«). Ich kaufte ihm das Bild ab und fragte ihn, von wem es sei. Der Mann antwortete: »Von meiner Tochter.«

Ein Buch von Robert Menasse beginnt damit, dass der 52-jährige Kurt Walmen in der Alten Pinakothek in München einen Becher »Universal-Abbeiz-Fluid« über ein bekanntes Gemälde von Rubens schüttet. Diesen Akt begründet er damit, dass er, Walmen, eine weltverändernde philosophische Theorie entwickelt habe und darauf aufmerksam machen wolle. Er habe dieses eine Kunstwerk opfern müssen, um die Menschheit zu retten. (So wie die Letzte Generation jetzt Kunstwerke mit Kartoffelbrei bewirft oder sich an ihnen festklebt, um auf die drohende Klimakatastrophe aufmerksam zu machen.)

27Räume, durch die ich mich bewegt habe, betrete ich noch einmal, um sie abzutasten, die Positionen und Abstände zu bestimmen. Um die Zwänge und Urteile zu erforschen, deren Komplize ich auch immer bin.

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