Verfassungsfragmente - Gunther Teubner - E-Book

Verfassungsfragmente E-Book

Gunther Teubner

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Beschreibung

Nicht zuletzt durch eine Reihe von öffentlichen Skandalen wurde in den letzten Jahren die »Neue Verfassungsfrage« aufgeworfen. Menschenrechtsverletzungen durch multinationale Unternehmen, Korruption im Medizin- und Wissenschaftsbetrieb, Bedrohung der Meinungsfreiheit durch private Intermediäre im Internet, massive Eingriffe in die Privatsphäre durch Datensammlung privater Organisationen und mit besonderer Wucht die Entfesselung katastrophaler Risiken auf den weltweiten Kapitalmärkten – sie alle werfen Verfassungsprobleme im strengen Sinne auf. Ging es früher um die Freisetzung der politischen Machtenergien des Nationalstaats und zugleich um ihre wirksame rechtsstaatliche Begrenzung, so geht es nun darum, ganz andere gesellschaftliche Energien zu diskutieren und in ihren destruktiven Konsequenzen wirksam zu beschränken. Konstitutionalismus jenseits des Nationalstaats – das heißt zweierlei: Die Verfassungsprobleme stellen sich außerhalb der Grenzen des Nationalstaats in transnationalen Politikprozessen und zugleich außerhalb des institutionalisierten Politiksektors in den »privaten« Sektoren der Weltgesellschaft.

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Nicht zuletzt durch eine Reihe von öffentlichen Skandalen wurde in den letzten Jahren die »Neue Verfassungsfrage« aufgeworfen. Menschenrechtsverletzungen durch multinationale Unternehmen, Korruption im Medizin- und Wissenschaftsbetrieb, Bedrohung der Meinungsfreiheit durch private Intermediäre im Internet, massive Eingriffe in die Privatsphäre durch Datensammlung privater Organisationen und mit besonderer Wucht die Entfesselung katastrophaler Risiken auf den weltweiten Kapitalmärkten – sie alle werfen Verfassungsprobleme im strengen Sinne auf. Ging es früher um die Freisetzung der politischen Machtenergien des Nationalstaats und zugleich um ihre wirksame rechtsstaatliche Begrenzung, so geht es nun darum, ganz andere gesellschaftliche Energien in ihren destruktiven Konsequenzen wirksam zu beschränken. Konstitutionalismus jenseits des Nationalstaats – das heißt zweierlei: Die Verfassungsprobleme stellen sich außerhalb der Grenzen des Nationalstaats in transnationalen Politikprozessen und zugleich außerhalb des institutionalisierten Politiksektors in den »privaten« Sektoren der Weltgesellschaft.

Gunther Teubner ist Professor für Privatrecht und Rechtssoziologie, Principal Investigator des Exzellenzclusters »Die Herausbildung normativer Ordnungen« an der Goethe-Universität Frankfurt am Main sowie Professor am International University College in Turin.

Im Suhrkamp Verlag ist zuletzt erschienen: Regime-Kollisionen. Zur Fragmentierung des globalen Rechts (stw 1803, zusammen mit Andreas Fischer-Lescano).

Gunther Teubner

Verfassungsfragmente

Gesellschaftlicher Konstitutionalismus in der Globalisierung

Suhrkamp

Zur Gewährleistung der Zitierbarkeit zeigen die grau hinterlegten Ziffern die jeweiligen Seitenanfänge der Printausgabe an.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2012

© dieser Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin 2012

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

eISBN 978-3-518-77280-5

www.suhrkamp.de

5Inhalt

Vorwort

Erstes Kapitel: Die Neue Verfassungsfrage

I. Krise des neuzeitlichen Konstitutionalismus?

1. Nationalstaatsverfassung versus Globalverfassung

2. Verfassungssoziologische Impulse

II. Fragwürdige Prämissen

1. Gesellschaftlicher Konstitutionalismus als genuines Problem der Globalisierung?

2. Die konstitutionelle Leere des Transnationalen?

3. Begrenzung transnationaler Governance auf Politikprozesse?

4. Reduktion grundrechtlicher Drittwirkung auf staatliche Schutzpflichten?

5. Einheit einer kosmopolitischen Weltverfassung?

Zweites Kapitel: Gesellschaftliche Teilverfassungen im Nationalstaat

I. Gesellschaftliche Institutionen im liberalen Konstitutionalismus

1. Verfassungsfreie Räume individueller Freiheit

2. Autonome gesellschaftliche Ordnungen

II.  Totalitäre Gesellschaftsverfassungen

III. Teilbereichsverfassungen im Sozialstaat

1. Historische Lektionen

2. Etatistischer Gesellschaftskonstitutionalismus

3. Politisierung gesellschaftlicher Teilbereiche

IV. Wirtschaftsverfassung als Gesellschaftsverfassung

1. Ordoliberale Wirtschaftsverfassung

2. Constitutional Economics

V. Konstitutioneller Pluralismus

1. Neokorporatistische Arrangements

2. Societal Constitutionalism

Drittes Kapitel: Transnationale Verfassungssubjekte – Regimes, Organisationen, Netzwerke

I. Eigenstrukturen des Globalen

6II. Gesellschaftliche Konstitutionalisierung durch die Staatenwelt?

1. UN-Charta

2. Soft Law der Staatenwelt

3. Konstitutionalisierung durch Völkerrecht und Global Administrative Law

III. Eigenverfassungen globaler Institutionen

1. Konstitutionelle Fragmentierung

2. Verfassungen internationaler Organisationen

3. Regime-Verfassungen

IV. Transnationale Regimes als Verfassungssubjekte?

1. Pouvoir constituant/constitué

2. Kollektive Identität

Viertes Kapitel: Transnationale Verfassungsnormen – Funktionen, Regelungsbereiche, Prozesse, Strukturen

I. Verfassungsfunktionen: konstitutiv/limitativ

1. Selbstkonstitution sozialer Systeme

2. Konstitutionalisierung im dynamischen Ungleichgewicht

3. Selbstbegrenzung von Wachstumszwängen

4. »Kapillare Verfassungen«

5. Teufel und Beelzebub

II. Verfassungsbereiche: Binnendifferenzierung in Sozialsystemen

1. Spontanbereich

2. Organisiert-professioneller Bereich

3. Selbststeuerungsbereich des Kommunikationsmediums

III. Verfassungsprozesse: Doppelte Reflexivität

1. Reflexivität des Sozialsystems

2. Reflexivität des Rechtssystems

IV. Verfassungsstrukturen: Hybride Meta-Codes

1. Codierung und Meta-Codierung

2. Hybridität

V.  Politik der Eigenverfassungen

1. La politique versus le politique

2. Im Schatten der Politik

3. Innere Politisierung gesellschaftlicher Teilsysteme

7Fünftes Kapitel: Transnationale Grundrechte – Horizontalwirkung

I. Grundrechte jenseits des Nationalstaats

1. Extraterritoriale Wirkung nationalstaatlicher Grundrechte?

2. Globaler colère publique

3. Regimespezifische Grundrechtsstandards

II. Grundrechtsbindung privater transnationaler Akteure

1. Beyond State Action

2. Generalisierungsrichtung: Kommunikative Medien statt Wertordnung

3. Respezifizierung in unterschiedlichen Sozialkontexten

III. Inklusionäre Grundrechtswirkung: Zugangsrechte

IV. Exklusionäre Grundrechtswirkung

V.  Die anonyme Matrix

VI. Justizialisierung?

Sechstes Kapitel: Kollision und Vernetzung transnationaler Verfassungen

I. Das Fehlen einer Drittinstanz

II. Inter-Regime-Kollisionen

1. Modifikationen des traditionellen Kollisionsrechts

2. Normative Vernetzungen

III. Interkulturelle Kollisionen

1. Kultureller Polyzentrismus

2. Re-entry des Fremden im Eigenen

3. Interkulturelle Kollisionsnormen

IV. Leitprinzipien unterschiedlicher Verfassungskollisionen

Bibliographie

9Vorwort

Die Idee zu diesem Buch entstand vor drei Jahren in den lebhaften Debatten der »Constitutionalists«, einer Diskussionsgruppe am Wissenschaftskolleg Berlin. Gegen die Möglichkeit eines Konstitutionalismus jenseits des Nationalstaates erhoben Petra Dobner, Dieter Grimm, Martin Loughlin, Fritz Scharpf und Alexander Somek so viele und so schlagkräftige Argumente, dass mir klar wurde, es bedürfe einer Monographie, um nicht-staatliche Verfassungen in transnationalen Räumen aus sozial- und rechtswissenschaftlicher Perspektive einer genaueren Prüfung zu unterziehen. Das Buch versucht, die juristische Debatte zu transnationalen Teilbereichsverfassungen systematisch mit sozialwissenschaftlichen Theorien der Globalisierung und des gesellschaftlichen Konstitutionalismus zu verbinden. Bei aller Interdisziplinarität aber ist das Buch primär aus der Sicht des Rechtssystems geschrieben: Welcher Verfassungsbegriff ist der neuen transnationalen Lage angemessen? Wie müssen verfassungsrechtliche Elemente, will man sie von der nationalen Politik auf globale Gesellschaftssektoren »übertragen«, generalisiert und respezifiziert werden? Ist das Koordinationsproblem, das ein konstitutioneller Pluralismus stellt, zu bewältigen?

Dies bedarf komplementärer Analysen aus der Sicht der jeweiligen gesellschaftlichen Teilsysteme, um deren Verfassung es geht. An dieser Stelle setzen die Arbeiten von Poul F. Kjaer ein, die anhand ausgewählter Fallkonstellationen die sozialen und institutionellen Bedingungen gesellschaftlicher Teilverfassungen in transnationalen Zusammenhängen untersuchen. Seine Monographie The Structural Transformation of Democracy: Elements of a Theory of Transnational Constitutionalism ist ebenso wie mein Buch in enger Zusammenarbeit vorbereitet und in je eigener Verantwortung, innerhalb eines der Forschungsprojekte des Frankfurter Exzellenzclusters »Die Herausbildung normativer Ordnungen«, verfasst worden. Beide Monographien verweisen aufeinander und verstehen sich als ein gemeinsamer Versuch, aus unterschiedlichen, aber komplementären Perspektiven zum Verständnis der Wechselbezüge zwischen Recht und sozialen Teilsystemen in der Weltgesellschaft beizutragen.

Institutionelle Unterstützung erhielt ich vom Wissenschaftskol10leg Berlin, vom Exzellenzcluster »Normative Ordnungen«, Universität Frankfurt/M., vom Hague Institute for the Internationalisation of Law und vom International University College Turin.

Für wertvolle Hinweise danke ich Anna Beckers und Soo-Hyun Oh, die das Buchprojekt von Anfang an mit Rat und Tat begleiteten. Philipp Hölzing danke ich für die sorgfältige Lektorierung. Viele Anregungen erhielt ich aus den Diskussionen des Frankfurter privatrechtstheoretischen Seminars, das ich für viele Jahre zusammen mit Rudolf Wiethölter abhielt. Dessen Ideen zum »Rechtsverfassungsrecht« verdankt dies Buch mehr, als der Text ausdrücken kann.

Gunther Teubner

11Erstes Kapitel: Die Neue Verfassungsfrage

I. Krise des neuzeitlichen Konstitutionalismus?

Eine Reihe von öffentlichen Skandalen hat in den letzten Jahren die »Neue Verfassungsfrage« aufgeworfen.[1] Menschenrechtsverletzungen durch multinationale Unternehmen, umstrittene Entscheidungen der Welthandelsorganisation, die im Namen der globalen Handelsfreiheit den Schutz von Umwelt oder Gesundheit gefährdeten, Doping im Sport, Korruption im Medizin- und Wissenschaftsbetrieb, Bedrohung der Meinungsfreiheit durch private Intermediäre im Internet, massive Eingriffe in die Privatsphäre durch Datensammlung privater Organisationen und mit besonderer Wucht die Entfesselung katastrophaler Risiken auf den weltweiten Kapitalmärkten – sie alle werfen nicht nur politische und rechtliche Probleme der Regulierung auf, sondern Verfassungsprobleme im strengen Sinne. Im Hintergrund der Skandale geht es um die grundlegende Konstituierung gesellschaftlicher Dynamiken und nicht bloß um die Durchsetzung von Policies staatlicher Regulierung. Im Vergleich zur Verfassungsfrage des 18. und 19. Jahrhunderts stellen sich heute andersartige, aber nicht minder gravierende Probleme. Ging es damals um die Freisetzung der politischen Machtenergien des Nationalstaats und zugleich um ihre wirksame rechtsstaatliche Begrenzung, so geht es in der Neuen Verfassungsfrage darum, ganz andere gesellschaftliche Energien, besonders sichtbar in der Wirtschaft, aber auch in Wissenschaft und Technologie, in der Medizin und in den neuen Medien, freizusetzen und diese in ihren destruktiven Auswirkungen wirksam zu beschränken.[2] Heute entladen 12sich diese Energien – produktiv und destruktiv – in Sozialräumen jenseits des Nationalstaats. Die oben angesprochenen Skandale überschreiten in doppelter Weise die Grenzen des Nationalstaats. Konstitutionalismus jenseits des Nationalstaats – das heißt zweierlei: Die Verfassungsprobleme stellen sich außerhalb der Grenzen des Nationalstaats in transnationalen Politikprozessen und zugleich außerhalb des institutionalisierten Politiksektors in den »privaten« Sektoren der Weltgesellschaft.

1. Nationalstaatsverfassung versus Globalverfassung

An diesen Skandalen entzündet sich heute eine Debatte, die eine Krise des neuzeitlichen Konstitutionalismus diagnostiziert und dafür die Transnationalisierung und die Privatisierung des Politischen verantwortlich macht. Man streitet um das Für und Wider eines transnationalen Konstitutionalismus, dessen Status – verfassungsrechtliche Doktrin, sozialwissenschaftliche Theorie, politisches Programm oder gesellschaftliche Utopie – ungeklärt ist. In grober Stilisierung verlaufen die Fronten der Debatte nach folgenden Linien. Die eine Seite konstatiert den Niedergang des neuzeitlichen Konstitutionalismus.[3] Seine historisch voll entwickelte Form habe er in den politischen Verfassungen des Nationalstaats gefunden. Gegenwärtig aber erodierten seine Fundamente, verursacht durch die europäische Einigung und die Entstehung transnationaler Regimes einerseits und durch die Verlagerung politischer Machtprozesse hin zu privaten Kollektivakteuren andererseits. Ersatzformen für nationale Verfassungen seien in den transnationalen Räumen nicht ersichtlich. Angesichts der chronischen Defizite transnationaler Politik – angesichts der Nichtexistenz von Demos, kultureller Homogenität, politischen Gründungsmythen, Öffentlichkeit, politischen Parteien – seien sie sogar strukturell ausgeschlossen. Dieser doppelten Krise des Konstitutionalismus lasse sich, wenn 13überhaupt, dann allenfalls über seine Re-Nationalisierung und Re-Politisierung, also dadurch begegnen, dass nationale und staatliche Verfassungsinstitutionen (nationale Verfassungsgerichte, Parlamente, Öffentlichkeit) wieder voll in ihre Rechte eingesetzt werden.

Einer solchen Verfallsgeschichte setzt die Gegenseite die Forderung entgegen, in kompensatorischer Absicht eine Verfassung für die gesamte Weltgesellschaft zu entwerfen.[4] Für die Krise des Nationalstaats werden auch hier Globalisierung und Privatisierung verantwortlich gemacht und auch hier wird eine Schwächung nationaler Verfassungsinstitutionen konstatiert. Kompensatorisch aber könne ein neuer demokratischer Konstitutionalismus dann wirken, wenn er die ungezügelten Dynamiken des globalen Kapitalismus unter die domestizierende Gewalt weltweit verfasster Politikprozesse bringe. Ein anspruchsvoll konstitutionalisiertes Völkerrecht, eine deliberierende Weltöffentlichkeit, eine institutionalisierte Weltinnenpolitik, ein transnationales Verhandlungssystem zwischen globalen Kollektivakteuren, eine konstitutionelle Restriktion gesellschaftlicher Macht in globalen Politikprozessen eröffneten vielversprechende Perspektiven, demokratisch und rechtsstaatlich verfasste Institutionen in neuer Form in der Weltgesellschaft zu verwirklichen.

2. Verfassungssoziologische Impulse

Doch ist die Verfassung zu wichtig, um sie allein Verfassungsrechtlern und politischen Philosophen zu überlassen. Gegenüber beiden soll hier eine dritte Position markiert werden – durchaus keine vermittelnde Position. Sie stellt die Prämissen beider in Frage und 14formuliert die Neue Verfassungsfrage entsprechend anders. Vordringlich dürfte sein, die obstinate Staats- und Politikzentrierung beider Positionen zu überwinden. Dazu kann eine soziologische Theorie des gesellschaftlichen Konstitutionalismus beitragen, die in der Verfassungsdebatte bisher ungehört geblieben ist. Sie stützt sich auf vier verschiedene Varianten soziologischer Theorie. In erster Linie zieht sie allgemeine Theorien der sozialen Differenzierung heran, welche die innere Verfassung gesellschaftlicher Teilsysteme zum zentralen Problem machen.[5] Sie stützt sich weiter auf eine spezielle Soziologie – auf die sich neu etablierende Verfassungssoziologie[6] –, auf die Theorie des Private Government[7] und schließlich auf das Konzept des gesellschaftlichen Konstitutionalismus.[8] Eine soziologische Verfassungstheorie verspricht darüber hinaus, historisch-empirische Analysen des Verfassungsphänomens mit normativen Perspektiven zu verknüpfen.[9] »Mit ihrer Hilfe wird das Recht sensibel für die polyphone Artikulation gesellschaftlicher Autonomie, die es freilich nicht nur freizusetzen, sondern auch zu konstitutionalisieren gilt, indem in den (System-)Autonomien selbst (Umwelt-)Verantwortlichkeiten gestiftet werden.«[10]

Was macht die Verfassungssoziologie anders? Sie wirft die Ver15fassungsfrage nicht nur im Verhältnis von Politik und Recht auf, sondern stellt sie für alle Bereiche der Gesellschaft:

Die These, dass heutige Gesellschaften eine informelle Verfassungsordnung kennen, die weder normativ noch faktisch auf den Staat fixiert ist und die multivalente und hierarchisch gegliederte Rechtsstrukturen aufweist, nimmt eine Schlüsselstellung im Vermächtnis des ursprünglichen soziologischen Projektes ein, nämlich eine komplexe, nicht-naturalistische und postontologische Konzeption der Gesellschaft und ihrer Normen zu entwickeln.[11]

Damit verändert sie die Problemstellung grundlegend. Nicht nur für die Staatenwelt der internationalen Politik und für das Völkerrecht stellt sie die Frage ihrer Konstitutionalisierung, sondern gerade auch für andere autonome Teilsysteme der Weltgesellschaft, allen voran für die globale Wirtschaft, aber auch für Wissenschaft und Technologie, für das Erziehungssystem, die Neuen Medien, das Gesundheitswesen. Besitzt ein gesellschaftlicher Konstitutionalismus das Potenzial, über die Begrenzung der Expansionstendenzen des politischen Systems hinaus die heute nicht minder problematischen Expansionstendenzen zahlreicher gesellschaftlicher Teilsysteme, welche die individuelle und institutionelle Integrität gefährden, einzudämmen? Können Verfassungen zentrifugale Dynamiken der Teilsysteme in der Weltgesellschaft wirksam bekämpfen und dadurch zur gesellschaftlichen Integration – ganz anders als im klassischen Verständnis der Integration durch Verfassung – beitragen? Für diese Fragen, die sich angesichts der Globalisierungs- und Privatisierungstendenzen mit neuer Dringlichkeit stellen, können die genannten soziologischen Theorien Impulse geben.[12] Sie stellen grundlegende Annahmen der bisherigen Debatte 16über transnationale Verfassungen in Frage, ersetzen sie durch andere Annahmen, identifizieren damit neuartige Problemstellungen und legen andersartige praktische Konsequenzen nahe.[13]

17Welche sind die fragwürdigen Prämissen, die den Streit um den transnationalen Konstitutionalismus in eine falsche Richtung treiben? Durch welche Annahmen sind sie zu ersetzen?

18II. Fragwürdige Prämissen

1. Gesellschaftlicher Konstitutionalismus als genuines Problem der Globalisierung?

Die unkontrollierbare Dynamik globaler Kapitalmärkte, die offensichtliche Macht transnationaler Unternehmen und die Dominanz nicht-legitimierter »Experten« in weitgehend rechtsfreien Epistemic Communities verleiten Anhänger wie Gegner eines transnationalen Konstitutionalismus zu der irrigen Annahme, dass das konstitutionelle Defizit transnationaler Institutionen im Wesentlichen auf die Globalisierung zurückzuführen sei.[14] Man macht die typische Schwäche internationaler Politik für die zügellose Chaotik in den globalen Sozialräumen verantwortlich. Drei Phänomene stehen hierbei im Vordergrund: (1) Die De-Konstitutionalisierung des Nationalstaats wird dadurch ausgelöst, dass Regierungsfunktionen auf die transnationale Ebene verlagert werden und zugleich nicht-staatliche Akteure diese Funktionen teilweise übernehmen. (2) Extra-territoriale Effekte nationalstaatlichen Handelns lassen ein Recht ohne demokratische Legitimation entstehen. (3) Es gibt kein demokratisches Mandat für transnationale Governance.[15] Zur Kompensation dieser Defizite werden verfassungspolitische Interventionen der transnationalen Politik diskutiert, deren Chancen dann aber diametral entgegengesetzt eingeschätzt werden.

In Wahrheit haben wir es nicht mit einem neuartigen Kompensationsproblem, sondern mit einem Grunddefizit des Konstitutionalismus der Neuzeit zu tun. Schon seit seinen nationalstaatlichen Anfängen steht der Konstitutionalismus vor der ungelösten Frage, ob und wie die Verfassung auch nichtstaatliche Gesellschaftsbereiche ergreifen soll. Sind die wirtschaftlichen, wissenschaftlichen, pädagogischen, medizinischen und sonstigen gesellschaftlichen Aktivitäten den normativen Vorgaben der staatlichen Verfassung zu unterwerfen? Oder sollen gesellschaftliche Institutionen autonom ihre Eigenverfassungen herausbilden? Seit ihrem Beginn oszilliert die moderne Verfassungspraxis zwischen diesen zwei Polen. 19Zugleich stellte sich – in empirischen Analysen und in normativen Programmen – die Frage, worauf gesellschaftliche Teilverfassungen gerichtet sind: staatliche Regulierung gesellschaftlicher Teilbereiche, Sicherung ihrer Autonomie, Angleichung gesellschaftlicher Entscheidungsprozesse an die der Politik oder eigenständige Politisierung gesellschaftlicher Institutionen?

Hier nun setzen die angesprochenen soziologischen Theorien ein und verorten den Ursprung der Verfassungsfrage in Prozessen gesellschaftlicher Differenzierung. Nicht erst die Globalisierung, sondern schon die Fragmentierung des gesellschaftlichen Ganzen und die Autonomisierung der Fragmente in der Hochzeit des Nationalstaats hat die Problematik des gesellschaftlichen Konstitutionalismus erzeugt, die dann in der heutigen Globalisierung noch einmal drastisch verschärft wurde. Warum aber im Nationalstaat die institutionellen Antworten in einem eigentümlichen Latenzzustand blieben, wird deutlich, wenn man unterschiedliche Konzepte des gesellschaftlichen Konstitutionalismus genauer betrachtet.[16] Angesichts der Strahlkraft des Staates und seiner politischen Verfassung erschienen gesellschaftliche Eigenverfassungen stets in einem merkwürdigen Halbdunkel, wenn auch aus je unterschiedlichen Gründen. Staatsverfassungen des Liberalismus konnten die Frage noch im Schatten grundrechtlich geschützter Individualfreiheiten verbergen. Im scharfen Gegensatz dazu suchten die totalitären Politiksysteme des 20. Jahrhunderts die Autonomie gesellschaftlicher Teilbereiche gänzlich zu beseitigen und brachten die Frage eigenständiger gesellschaftlicher Verfassungen dadurch zum Verschwinden, dass sie sämtliche Sozialbereiche dem staatlichen Herrschaftsanspruch unterwarfen. Die Sozialstaaten des späten 20. Jahrhunderts wiederum erkannten aufgrund ihres politischen Gestaltungsanspruchs autonome gesellschaftliche Teilverfassungen offiziell nie an. Zugleich aber etablierten sie eine eigenartige Balance zwischen einem staatlichen Konstitutionalismus, der die Vorgaben der politischen Verfassung zunehmend auf gesellschaftliche Bereiche ausdehnte und einem konstitutionellen Pluralismus, in dem der Staat gesellschaftliche Eigenverfassungen faktisch respektierte.

Das Problem eines gesellschaftlichen Konstitutionalismus hat also nicht erst die Globalisierung geschaffen. Doch verändert sie 20es einschneidend. Sie zerstört seine Latenz. Angesichts der im Vergleich zum Nationalstaat sehr viel geringeren Strahlkraft transnationaler Politik erscheinen nun die akuten Verfassungsprobleme der anderen weltgesellschaftlichen Sektoren in einem grellen Licht. Verantwortlich für die neue konstitutionelle Problematik sind die Fragmentierung der Weltgesellschaft und die Deformalisierung ihrer Rechtsstrukturen ebenso wie die neuen Formen weltgesellschaftlicher Steuerung und die fragwürdige Legitimität der neuartigen Global Governance.[17] Auf welcher Legitimationsbasis regulieren transnationale Regimes ganze gesellschaftliche Lebensbereiche bis in die Einzelheiten des täglichen Lebens hinein? Wo liegen die Grenzen der globalen Kapitalmärkte in ihrer Expansion in die Realökonomie und in andere Bereiche der Gesellschaft? Können die Grund- und Menschenrechte auch in staatsfreien Räumen der Weltgesellschaft, und dort besonders gegenüber transnationalen Organisationen, Geltung beanspruchen? Anders als es die aktuelle Debatte voraussetzt, ist es also durchaus nicht so, dass mit dem Entstehen der Weltgesellschaft eine gänzlich neuartige Verfassungsproblematik auftaucht. Vielmehr steht der seit langem in den Nationalstaaten real existierende gesellschaftliche Konstitutionalismus heute vor der Frage, ob und wie er sich unter Bedingungen der Globalität transformieren muss. Die Kontinuität der Problemstellung hängt mit der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft zusammen, die in der Transnationalisierung auf die ganze Welt ausgeweitet wurde. Ihre Diskontinuität dagegen ist darauf zurückzuführen, dass die Weltgesellschaft Eigenstrukturen herausgebildet und Wachstumstendenzen beschleunigt hat, die der Nationalstaat noch nicht kannte.

Die normative Frage heißt dann nicht mehr, wie es einer die Defizienzen nationaler Verfassungen kompensierenden Rechtspolitik erscheint: Sind die verfassungsfreien gesellschaftlichen Sektoren der Weltgesellschaft zu konstitutionalisieren? Sondern: Wie sind die Erfahrungen, die der Nationalstaat mit Institutionen des gesellschaftlichen Konstitutionalismus gemacht hat, unter den andersartigen Bedingungen der Globalität umzusetzen? Insbesondere: Wie ist dann die Rolle der Politik für transnationale Teilverfas21sungen im magischen Dreieck von Politik, Recht und autonomen Sozialbereich zu bestimmen? Abdankung? Steuerung? Supervision? Komplementarität? Ablösung von la politique durch le politique?[18]

2. Die konstitutionelle Leere des Transnationalen?

Auch in anderer Hinsicht wird die heutige Debatte von falschen Tabula-rasa-Vorstellungen geprägt. Nicht nur im Nationalstaat, sondern auch im transnationalen Raum gäbe es keinerlei Verfassungsnormen in gesellschaftlichen Teilbereichen. Während sich der neuzeitliche Konstitutionalismus inzwischen in fast allen Nationalstaaten etablieren konnte, werde er, so wird gesagt, dadurch geschwächt, dass zunehmend Staatsaufgaben vom Nationalstaat auf neue transnationale Organisationen, Regimes und Netzwerke übertragen werde. Dort aber herrsche eine konstitutionelle Leere. Und erst vor diesem Hintergrund eines angeblich verfassungsfreien Raums der Globalität beginnt der Streit, ob der Konstitutionalismus am Ende ist oder eine Renaissance erlebt.

Dass die konstitutionelle Leere des Transnationalen eine Fehlvorstellung ist, lässt sich empirisch erhärten. Sozialwissenschaftliche Analysen eines »Neuen Konstitutionalismus« ebenso wie die von Ökonomen und Wirtschaftsrechtlern schon lange angestellten Untersuchungen von emergierenden Institutionen einer Weltwirtschaftsverfassung, aber auch völkerrechtliche Studien zur wachsenden Bedeutung von verfassungsrechtlichen Normen im transnationalen Raum belegen das genaue Gegenteil einer konstitutionellen Leere. Bereits heute haben sich im transnationalen Raum Verfassungsinstitutionen von einer erstaunlichen Dichte etabliert.[19] Dass die Europäische Union – trotz des gescheiterten Verfassungsreferendums – über eigenständige Verfassungsstrukturen verfügt, wird 22heute nur noch von wenigen geleugnet.[20] Aber auch internationale Organisationen, transnationale Regimes und deren Vernetzungen sind nicht nur inzwischen stark juridifiziert, sondern befinden sich in einem Prozess der Konstitutionalisierung. Sie sind Teile einer weltweiten – wenn auch durchgehend fragmentierten – Verfassungsordnung geworden, wobei ohne weiteres einzuräumen ist, dass diese nicht die Dichte nationaler Verfassungen erreicht. Die globalen Institutionen, die aus den Vertragswerken der vierziger Jahre – Havanna Charta, GATT, Bretton Woods – hervorgegangen sind, die neuen Einrichtungen des Washington Consensus – IMF, Weltbank, WTO – und die neuaufgebrochene öffentliche Debatte über eine »globale Finanzmarktverfassung« sprechen die Sprache einer real existierenden weltweiten Gesellschaftsverfassung im Umbruch.

Damit muss die Neue Verfassungsfrage ein zweites Mal reformuliert werden. Nicht nur haben, wie im nächsten Kapitel näher besprochen wird, gesellschaftliche Teilbereiche bereits in den Nationalstaaten Eigenverfassungen herausgebildet, sondern auch im transnationalen Bereich bestehen, wie das dritte Kapitel erörtern wird, längst genuine konstitutionelle Ordnungen. Damit steht auch in dieser Hinsicht nicht der Aufbau ab ovo einer neuen Verfassung in einer verfassungsfreien Globalität auf dem Spiel, sondern der grundlegende Umbau einer bereits bestehenden transnationalen Verfassungsordnung. Die neue Verfassungswirklichkeit wird nur dadurch verdeckt, dass ein Äquivalent für das Verfassungssubjekt Nationalstaat auf der transnationalen Ebene nicht ohne weiteres erkennbar ist. Ein Weltstaat als neues Verfassungssubjekt ist eine Utopie – und eine schlechte dazu. Das wusste schon Immanuel Kant. Welche sind aber dann die neuen Verfassungssubjekte unter 23den Bedingungen der Globalität?[21] Das System der internationalen Politik? Das Völkerrecht? Internationale Organisationen? Transnationale Regimes? Globale Netzwerke? Neuartige Assemblages, Konfigurationen oder Ensembles? Die verfassungsrechtlich relevante Frage ist, ob solche Konfigurationen überhaupt verfassungsfähig sind. Die Antwort hängt davon ab, ob solche nicht-staatlichen Institutionen tragfähige Analogien zum nationalstaatlichen pouvoir constituant, zur Selbstkonstituierung eines Kollektivs, zur demokratischen Entscheidungsfindung und zum Organisationsteil einer im engeren Sinne politischen Verfassung aufweisen.

3. Begrenzung transnationaler Governance auf Politikprozesse?

Zusätzlich zu diesen zwei verbreiteten Irrtümern – dass die Nationalstaaten keine zivilgesellschaftlichen Teilverfassungen kannten und dass in transnationalen Räumen eine konstitutionelle Leere herrscht – gibt es eine weitere Fehlvorstellung, mit der die derzeitige Debatte die Radikalität einer gesellschaftlichen Konstitutionalisierung unterschätzt. Ein Verfassungsbedarf wird im Prinzip nur darauf zurückgeführt, dass sich in der Weltgesellschaft eigentümliche Formen von politischer »governance« herausgebildet haben, die sich von »government«, also von traditionellen nationalstaatlichen Regierungspraktiken, unterscheiden. »Governance« wird als das Resultat von sozial-politisch-administrativen Interventionen angesehen, in denen öffentliche und private Akteure gesellschaftliche Probleme lösen.[22] Die Vernetzung spezialisierter Bürokratien verschiedener Nationalstaaten mit weltgesellschaftlichen Akteuren, transnationalen Unternehmen, Wirtschaftsverbänden, Nicht-Regierungsorganisationen und hybriden Regimes wird als die neuartige Problematik globaler Governance wahrgenommen, die nun von Verfassungsinstitutionen bewältigt werden müsste.[23] Im 24Vordergrund steht damit die konstitutionelle Begrenzung von politischer Macht, deren Besonderheit darin besteht, dass sie partiell vergesellschaftet ist.

Zweifellos trifft diese Vergesellschaftung politischer Herrschaft eines der zentralen Elemente globaler Governance, aber dennoch greift die Analyse zu kurz. Man verharmlost das Problem, wenn man nur daran denkt, die neuartigen, private Akteure einbeziehenden Machtkonstellationen globaler Governance mit Verfassungsnormen zu begrenzen. Hier macht sich wieder die Blickverengung politisch-rechtlicher Verfassungstheorien bemerkbar, die auch in transnationalen Verhältnissen nur Phänomene der Politik (im engeren Sinne einer institutionalisierten Politik) fokussieren. In soziologischer Sicht wird dagegen deutlich, dass die Konstituierung eigenständiger weltgesellschaftlicher Handlungsräume – gerade außerhalb der internationalen Politik – das eigentliche Problem ist und die Rolle von verfassungsrechtlichen Normen in diesem Prozess thematisiert werden muss.[24] Erst wenn man über transnationale Politikprozesse im engeren Sinne hinausgeht und deutlich macht, dass gesellschaftliche Akteure nicht nur an politischen Machtprozessen der globalen Governance teilnehmen, sondern dass sie selbst eigenständige globale Regimes außerhalb der institutionalisierten Politik etablieren (die dann freilich ihrerseits zu politischen Akteuren werden können und auf die Politik zurückwirken), werden die Probleme eines im strengen Sinne gesellschaftlichen Konstitutionalismus in der Weltgesellschaft sichtbar.

Damit treten die Unterschiede zwischen gesellschaftlichen 25Bereichsverfassungen und der politischen Verfassung in den Vordergrund. Denn Konstitutionalisierung von Global Governance versteht sich immer noch als die Verfassung transnationaler Politikprozesse im engeren Sinne. Demgegenüber steht die soziologische Analyse der globalen Teilsysteme Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur und Massenmedien vor viel schwierigeren Fragen: Entfalten die globalen Teilsysteme heute eine Dynamik unkontrollierten Wachstums, die konstitutionellen Beschränkungen unterworfen werden muss? Gibt es in diesen Sektoren Analogien zur Selbstbeschränkung expansiver Dynamiken, insbesondere zur politischen Gewaltenteilung? Grundsätzlicher noch heißt die Frage: Wie weit muss man die Prinzipien politischer Verfassungen generalisieren, um den Fallstricken des methodologischen Nationalismus zu entgehen? Und wie muss man sie für die Besonderheiten einer gesellschaftlichen Institution in der Globalität respezifizieren?[25]

Eine solche soziologische Methode der Generalisierung und Respezifizierung wird der Frage nachgehen müssen: Lässt sich in transnationalen Teilbereichen ein Äquivalent zu den Nationalstaatsverfassungen in Bezug auf deren Funktionen, Arenen, Prozesse und Strukturen identifizieren?[26]

Transnationale Teilbereichsverfassungen streben nicht nach einem stabilen Gleichgewicht, sondern folgen eher dem chaotischen Muster eines »dynamischen Ungleichgewichts« zwischen gegenläufigen Entwicklungen – zwischen Autonomisierung und Limitierung der Funktionslogik von Teilsystemen.[27] Die neuen globalen 26Verfassungsordnungen haben bisher im Wesentlichen nur die konstitutiven Regeln etabliert, welche die Freisetzung unterschiedlicher Systemrationalitäten im globalen Rahmen normativ abstützten. Heute aber wird die Notwendigkeit einer Umorientierung deutlich. Nach längeren historischen Erfahrungen mit den Expansionstendenzen globalisierter funktionaler Teilsysteme und nach den Schocks endogener Krisen setzen Gegenbewegungen ein, die – nach heftigen Sozialkonflikten – limitative Regeln formulieren, um selbstdestruktiven Tendenzen entgegenzuarbeiten und Schädigungen ihrer gesellschaftlichen, menschlichen und natürlichen Umwelten einzudämmen. Zwar war schon von Anfang der Globalisierung an das »vertikale« Verfassungsproblem, wie im Verhältnis zu den Nationalstaaten den neuen globalen Regimes Grenzen auferlegt werden müssen, politisch umkämpft. Aber das gravierendere »horizontale« Verfassungsproblem ist damit noch gar nicht in den Blick geraten: »ob nicht die Autonomie der Funktionssysteme zu wechselseitigen Belastungen führen können bis hin zu Grenzen der strukturellen Anpassungsfähigkeit der Funktionssysteme an ihre Differenzierung selbst.«[28]

Diese Blindheit gegenüber den negativen Externalitäten expandierender Systeme wie gegenüber ihren selbstdestruktiven Potenzialen zeigte sich in der Kapitalmarktkrise. Die zuvor geltende globale Kapitalmarktverfassung war nicht einfach das Ergebnis eines blinden evolutionären Prozesses, in dem sich Märkte selbsttätig globalisierten. Vielmehr geschah dies mit aktiver Beteiligung der Politik und des Rechts. Über den Abbau von nationalen Schranken, über eine explizite Politik der De-Regulierung wurde eine politisch gewollte und rechtlich stabilisierte globale Finanzmarktverfassung etabliert, die unkontrollierte Dynamiken freisetzte. Aber als Ersatz für nationale Regulierungen zugleich limitative Regeln zu normieren, stand nicht auf der politischen Agenda, ja wurde 27jahrelang als kontraproduktiv bekämpft. Erst heute aufgrund der Erfahrung mit der Beinahe-Katastrophe scheinen kollektive Lernprozesse anzulaufen, die für die Zukunft auf der globalen Ebene finanzverfassungsrechtliche Limitierungen suchen.

Wolfgang Streeck argumentiert, das sei ohne jede Chance, da staatliche oder internationale Regeln immer wieder effektiv umgangen werden und angesichts der Umgehungsenergien keine ex-ante-Regulierungen möglich seien.[29] Doch ist solch zwanghafter Pessimismus nicht viel besser als sein Gegenstück, ein zwanghafter Optimismus. Eher sollte man versuchen, der hier wirkenden evolutionären Dynamik der Beinahe-Katastrophen auf die Spur zu kommen. Politisch-rechtliche Regulierung evolviert in der Tat nach dem Muster: »fatta la legge, trovato l’inganno«, aber ebenso gilt: »fatto l’inganno, trovata la legge«. Das Gesetz produziert seine Umgehung, ebenso wie die Gesetzesumgehung neue Gesetze produziert. Hier wirkt ein evolutionärer Lernprozess, der in beide Richtungen arbeitet, der aber stets nur post factum wirkt. Dabei scheinen sich die wechselseitigen Anpassungen weniger nach dem Modell eines vernunftgeleiteten Lernprozesses zu vollziehen als nach dem aus der Drogenszene bekannten Muster »hitting the bottom«.[30]

Damit verändert sich auch in diesem Zusammenhang die Agenda eines transnationalen Konstitutionalismus: Es geht nicht um Neuaufbau, sondern um den grundlegenden Umbau einer bereits bestehenden konstitutionellen Ordnung. Besonders dringlich ist, die (auch) durch politisch-rechtliche Verfassungsregeln entfesselten gesellschaftlichen Dynamiken in ihren negativen Externalitäten zu beschränken. Und hier geraten besonders die globale Finanzverfassung und die Verfassungen transnationaler Unternehmen in das Zentrum konstitutioneller Aufmerksamkeit.

4. Reduktion grundrechtlicher Drittwirkung auf staatliche Schutzpflichten?

Nicht nur die Debatte über Global Governance, auch die über die Wirkung von Grundrechten innerhalb gesellschaftlicher Räume der Globalität leidet darunter, dass sie zwar schon Vergesellschaf28tungstendenzen thematisiert, dennoch aber staatsfixiert bleibt. Die eingangs geschilderten Skandale von Menschenrechtsverletzungen durch transnationale Unternehmen werden üblicherweise als ein Problem der »Drittwirkung« staatlicher Grundrechte diskutiert. Ursprünglich gegen den Staat gerichtete Grundrechtsgarantien werden auch bei Grundrechtsverletzungen durch »Dritte« – durch private transnationale Akteure – in der Weise wirksam, dass, so die heute herrschende Lehre, der internationalen Staatengemeinschaft Schutzpflichten auferlegt werden.[31]

Diese Denkweise verfehlt in mehrfacher Weise die Grundrechtsproblematik in gesellschaftlichen Kontexten. In ihrer Staatsfixierung zäumt sie sozusagen das Pferd vom Schwanze auf. Nicht den transnationalen privaten Akteuren, die Grundrechte verletzen, legt sie Pflichten auf, sondern verpflichtet allein die Staatengemeinschaft dazu, vor den Grundrechtsverletzungen dieser Akteure zu schützen. Damit wird die heikle Frage, ob die privaten Akteure selbst an Grundrechte gebunden sind, bewusst ausgeblendet. Und es wird so getan, als ob es eine Frage der politischen Definitionsgewalt der Staaten sei, ob überhaupt Grundrechte im gesellschaftlichen Raume gelten und wie sie zu schützen sind. Die folgenreichste Fehlvorstellung der Staatszentrierung besteht jedoch darin, dass man die horizontale Grundrechtswirkung ausschließlich als ein Problem gesellschaftlicher Macht ansieht und damit ihre eigentliche Aufgabe verfehlt: die nicht nur über das Machtmedium laufenden Expansionstendenzen gesellschaftlicher Teilsysteme mit Mitteln des Rechts zu begrenzen.

Löst man sich von der Staatsfixierung, wird die eigentliche Schwierigkeit von Grundrechten im gesellschaftlichen Raum sichtbar. Wenn die Aufgabe heißt, in der Eigenlogik gesellschaftlicher Subsysteme angelegte Expansionstendenzen mit konstitutionellen Mitteln zu begrenzen, dann kann man weder die Staatsgerich29tetheit der Grundrechte, noch ihre Zurechnung auf individuelle Akteure, noch ihre ausschließliche Fokussierung auf gesellschaftliche Machtphänomene, noch ihre Ausformung als durch subjektive Rechte geschützte Autonomieräume aufrechterhalten. Lässt sich hier eine Perspektive entwickeln, wonach Grundrechte gegen die gesellschaftlichen Kommunikationsmedien selbst statt gegen gesellschaftliche Akteure wirken können? Geht es dann um den Schutz nicht nur der Grundrechte von Individuen, sondern der von gesellschaftlichen Institutionen gegenüber expansiven gesellschaftlichen Medien? Muss dann die gesellschaftliche Wirkung der Grundrechte durch Organisation und Verfahren umgesetzt werden statt durch subjektive Rechte?

Doch darf sich auch im transnationalen Raume die Drittwirkungsdebatte nicht auf die Abwehrfunktion der Grundrechte – nun gegenüber gesellschaftlichen Zwängen – beschränken. Sie muss auch die aktivbürgerliche Rolle von Grundrechten bedenken, deren Ausformung sich in den Staatsverfassungen als individuelle Mitwirkungsrechte bei Machtbildungsprozessen niedergeschlagen hat, die aber in gesellschaftlichen Teilbereichen noch mehr oder weniger unbekannt ist. Eine soziologisch orientierte Drittwirkungstheorie kann diesen Fragen nicht ausweichen und muss Grundrechte als strukturelle Komponenten ganz unterschiedlicher gesellschaftlicher Teilsysteme in den Blick nehmen. Sie steht dabei vor der Herausforderung, Aktivbürgerrechte nicht nur im Machtmedium der Politik, sondern in den kommunikativen Medien anderer Sozialsysteme zu konturieren.[32]

5. Einheit einer kosmopolitischen Weltverfassung?

Ein letztes Problem des Verfassungsstreites betrifft den unitaristischen Bias des Verfassungsbegriffs, der auch in seiner Wendung auf die Weltgesellschaft weiterwirkt. Im Völkerrecht wie in der politischen Philosophie pflegt man die fragwürdige Vorstellung, dass die Konstitutionalisierung des Völkerrechts in der Lage sei, eine kosmopolitische Verfassungsordnung, eine einheitliche Verfassung für die ganze Weltgesellschaft herzustellen.[33] Zwar lehnt man einen 30Weltstaat als Substrat einer einheitlichen Verfassung als unrealistisch ab; stattdessen aber wird die »internationale Gemeinschaft« zum Bezugspunkt eines emergierenden Weltverfassungsrechts erhoben, die nicht mehr wie im traditionellen Völkerrecht bloß als Gemeinschaft souveräner Staaten, sondern als Ensemble von politischen und gesellschaftlichen Akteuren und als Rechtsgemeinschaft der Individuen gefasst wird.[34] Die Konstitutionalisierung des Völkerrechts wird so weit wie möglich in Parallele zum nationalstaatlichen Verfassungsrecht gedacht: Hierarchie von Verfassungsnormen gegenüber einfachen Rechtsnormen, der gesamte Erdball als einheitlicher Geltungsbereich, Erstreckung über sämtliche nationalen, kulturellen und sozialen Bereiche.[35]

Demgegenüber betonen soziologische Analysen auch hier wieder die tief greifende Fragmentierung der Weltgesellschaft, die einen solchen unitaristischen Konstitutionalismus in akute Schwierigkeiten bringt. Die Fragmentierung wird aber in der laufenden Debatte, wenn überhaupt, allenfalls als ein zu beseitigendes Defizit gesehen, nicht als Herausforderung, die Verfassungsprobleme der Weltgesellschaft anders zu definieren und neue Lösungswege zu eröffnen. Die Alternative dazu heißt: Wenn die weltgesellschaftliche Fragmentierung prinzipiell nicht zu beseitigen ist, dann kann man nicht an der Vorstellung einer einheitlichen Globalverfassung festhalten. Die Aufmerksamkeit wird sich stattdessen auf fundamentale Konflikte zwischen den Verfassungsfragmenten konzentrieren. Dann aber kann ein übergreifendes Verfassungsrecht, wenn überhaupt, nicht als Einheitsrecht, sondern nur als globales Kollisionsverfassungsrecht fungieren.[36] Die sozialen Voraussetzungen, die es dem Nationalstaat noch ermöglichten, die Einheit seiner Verfassung herzustellen, sind im transnationalen Raum prinzipiell nicht vorhanden.

31Darüber hinaus wird sich ein transnationaler Konstitutionalismus den Bedingungen einer doppelt fragmentierten Weltgesellschaft fügen müssen.[37] Hierbei ist nicht nur entscheidend, dass in der einen Fragmentierung der Welt die autonom agierenden weltgesellschaftlichen Sektoren der Moderne auf ihren Eigenverfassungen, die mit den Verfassungen der Nationalstaaten konkurrieren, hartnäckig insistieren. Vielmehr macht die zweite Fragmentierung der Welt in unterschiedliche Regionalkulturen, die auf prinzipiell unterschiedlichen gesellschaftlichen Organisationsprinzipien beruhen, die einheitlichen Standards einer Weltverfassung gänzlich illusorisch. Wenn man überhaupt an der Vorstellung einer »Weltverfassung« festhalten will, dann kann die Formel nur heißen: Eigenverfassungen der globalen Fragmente – der Nationen, der transnationalen Regimes, der Regionalkulturen – in einem Verfassungskollisionsrecht miteinander zu vernetzen.[38]

32Zweites Kapitel: Gesellschaftliche Teilverfassungen im Nationalstaat

Die Verfassung gesellschaftlicher Teilbereiche ist, wie im vorigen Kapitel angedeutet, eine Problematik, die sich nicht erst mit der Ausweitung der funktionalen Differenzierung auf den gesamten Erdball stellt, sondern die bereits in der Zeit des Nationalstaats virulent wurde. Sie gewinnt allerdings heute unter transnationalen Bedingungen eine neuartige dramatische Aktualität. Wird die Konstitutionalisierung sozial- und umweltschädliche Expansionstendenzen autonom gewordener globaler Teilsysteme wirksam begrenzen können? Damit stellt sich zugleich die Frage, welche Rolle die internationale Politik bei der Konstitutionalisierung weltgesellschaftlicher Institutionen spielen soll: Verfassungsgeber für die anderen Sektoren der Weltgesellschaft oder teilnehmender Beobachter autonomer gesellschaftlicher Konstitutionalisierungsprozesse? Koordinator auseinanderstrebender Systemlogiken? Oder Reparaturbetrieb der funktionalen Differenzierung?

Um hier Klarheit zu gewinnen, sollen im Folgenden die Konzeptionen gesellschaftlicher Teilverfassungen, die im Zeitalter des Nationalstaats einflussreich geworden sind, diskutiert werden. Erst vor dem Hintergrund historischer Optionen lässt sich näher bestimmen, in welcher Weise die Globalisierung die Problemsituation verändert hat und welche neuartige Rolle gesellschaftliche Teilverfassungen in der transnationalen Konstellation von Politik, Recht und sozialem Teilsystem übernehmen. Davon sind Richtungsangaben zu erwarten, wie sich der nationale zu einem globalen gesellschaftlichen Konstitutionalismus transformieren kann.

33I. Gesellschaftliche Institutionen im liberalen Konstitutionalismus

1. Verfassungsfreie Räume individueller Freiheit

»Verfassung« der Zivilgesellschaft durch ihre staatliche Nicht-Verfassung – dieses Paradox kennzeichnet den liberalen Konstitutionalismus.[1] Er konzentriert die Verfassung auf den Staat und erstreckt sie bewusst nicht auf die gesellschaftlichen Teilordnungen. Liberale Verfassungen werden ausdrücklich auf die im engeren Sinne politischen Institutionen begrenzt. Gesellschaftliche Aktivitäten sollen staatsfrei bleiben und nicht den Normen der staatlichen Verfassung unterworfen werden. In dieser Abstinenz verwirklicht sich die konstitutionelle Dimension der Trennung von Staat und Gesellschaft. Dem dient zugleich das Verständnis der Grundrechte als Freiheitsräume der Individuen, die durch Abwehrrechte gegenüber staatlichen Interventionen, auch verfassungsrechtlicher Art, geschützt werden. Gesellschaftliche Aktivitäten werden nicht sozialen Institutionen zugerechnet, sondern den handelnden Individuen selbst, die ihre Freiheitsbereiche ohne die Staatsverfassung ordnen.

In einem einflussreichen Aufsatz hat der Historiker Reinhart Koselleck heftige Kritik daran geübt, dass sich Verfassungstheorie und Verfassungsrecht auch heute noch auf dieses Programm einlassen und ihre Aufmerksamkeit ausschließlich der staatlichen Verfassung widmen.[2] Schon für das Zeitalter des Nationalstaats müsse die historische Realität anerkannt werden, dass nicht bloß eine Staatsverfassung, sondern eine umfassendere Gesellschaftsverfassung existiert hat, die nicht nur die staatlich-politischen Aktivitäten, sondern auch wirtschaftliche, soziale und kulturelle Institutionen verfassungsrechtlichen Anforderungen unterwirft. Fragen der Sozi34al-, Kirchen-, Wirtschafts- oder Finanzordnung dürften nicht mehr bloß als Probleme der einfachen Gesetzgebung behandelt werden, sondern als Probleme einer genuinen »Sozialverfassung«. Koselleck fordert, den Verfassungsbegriff aus seiner Staatsverengung zu lösen und auf alle Institutionen der Gesellschaft auszudehnen. Für ein realistisches Verständnis hält er es für unerlässlich, dass im Verfassungsbegriff »alle rechtlich geregelten Institutionen und ihre Organisationsweisen einbegriffen werden sollen, ohne die eine politische Handlungsgemeinschaft nicht politisch aktionsfähig ist.« Dann müssten die Realprobleme eines gesellschaftlichen Konstitutionalismus verfassungspolitisch als gleichrangig mit den Staatsverfassungsfragen im engeren Sinne behandelt werden.

Koselleck weist zugleich nachdrücklich auf die neuartige Problematik des transnationalen Konstitutionalismus hin. Die Staatszentrierung des herkömmlichen Verfassungsbegriffes mache es unmöglich, »die nachstaatlichen, in gewisser Weise überstaatlichen Phänomene unserer Gegenwart mit zu thematisieren.« Insbesondere interessiere die Frage nach der Rolle transnationaler Wirtschaftsunternehmen im Rahmen der Gesamtverfassung.

Damit eröffnet Koselleck weitreichende Perspektiven. Er stellt für die nicht-staatlichen Institutionen der Gesellschaft explizit die Verfassungsfrage. Freilich wirft er damit zugleich neue Fragen auf, die er selbst nicht mehr beantwortet: Was unterscheidet denn die Frage einer »Sozialverfassung« von der der »Gesetzgebung«? Oder anders formuliert: Was unterscheidet genuine Konstitutionalisierung gesellschaftlicher Institutionen von ihrer bloßen Juridifizierung? Weitere Frage: Existiert eine einheitliche »Sozialverfassung«, die die Gesamtgesellschaft unter ihre Anforderungen stellt, oder gibt es nur unterschiedliche Teilbereichsverfassungen? Schließlich: Geben sich gesellschaftliche Institutionen ihre Verfassungen autonom, wie es etwa das Vereinsrecht in Form nur minimaler Vorgaben des politischen Gesetzgebers vorsieht oder ist die Politik der legitime Verfassungsgeber? Diese Fragen lassen sich erst in einer breiteren sozialtheoretischen Sicht klären, die in den folgenden Kapiteln im jeweiligen Problemzusammenhang entwickelt wird. Um die eigentümliche Blindheit des liberalen Konstitutionalismus gegenüber gesellschaftlichen Teilbereichsverfassungen verständlich zu machen, soll im jetzigen Zusammenhang nur eine grobe Skizze gegeben werden.

35Staatsverfassungen des Liberalismus reklamieren bekanntlich für sich eine doppelte Funktion: die Konstituierung politischer Macht und ihre rechtsstaatliche Begrenzung. Konstituierung bedeutet nicht nur, dass Organisationsregeln für den Politikbetrieb normiert werden, sondern dass die politische Macht sich gegenüber gesellschaftlichen Machtquellen verselbständigt. Sie beruht nicht mehr unmittelbar auf militärischer Stärke, wirtschaftlichem Reichtum und religiöser Autorität, vielmehr verschafft sie sich selbst ihre autonomen Machtquellen. Aufbau von Macht und Konsens zur Herstellung kollektiver Entscheidungen – das kennzeichnet die Autonomie der Politik der Moderne.[3] Die Eigenständigkeit des politischen Machtbildungsprozesses und seine nur indirekte Abhängigkeit von außerpolitischen Machtquellen wird durch die Reflexivität von Machtprozessen hergestellt, in der im Verhältnis von pouvoir constituant und pouvoir constitué Macht auf Macht angewendet wird und in diesem Prozess sich ein eigenständiges politisches Kollektiv herausbildet. Dies ist »Konstituierung« der politischen Macht im engeren Sinne. Sie benötigt dann aber zu ihrer Stabilisierung das Medium des Rechts, das sie von Machtschwankungen relativ unabhängig macht und die Reflexivität der Macht auf Dauer stellt. Dies notwendige Zusammenspiel macht erst die »Konstitutionalisierung« der Politik (im Unterschied zu ihrer Selbstkonstituierung) im strengen Sinne aus. Begrenzung politischer Macht – damit ist die Herstellung der Grenzen der Politik zu ihren gesellschaftlichen Umwelten gemeint. Im Wesentlichen verläuft dieser Grenzziehungsprozess über die Garantie von politischen Grundrechten, in der die Politik sich gegenüber den Individuen Selbstbeschränkungen auferlegt.[4]

2. Autonome gesellschaftliche Ordnungen

In soziologischer Sicht wird deutlich, dass sich diese Verfassungsfunktionen nicht auf die Politik beschränken lassen.[5] Parallel zur 36Politik konstituieren sich andere autonome gesellschaftliche Ordnungen, die zu ihrer Stabilisierung auf Verfassungsrecht angewiesen sind. Auch ihnen gegenüber gibt es in der funktionalen Differenzierung keine unmittelbar wirksamen gesamtgesellschaftlichen Vorgaben mehr. Dann ergibt sich auch hier die Forderung nach ihrer Konstitutionalisierung.[6] Ob dies die Notwendigkeit gesetzter und geschriebener Verfassungen einschließt, ist eine andere Frage.

Die Wirtschaft verselbständigt sich über das Geldmedium, macht sich von anderen gesellschaftlichen Ordnungen unabhängig und schafft sich über reflexive Prozesse eigenständige wirtschaftliche Institutionen.[7] Diese Selbstkonstituierung wird von fundamentalen Rechtsinstitutionen – Eigentum, Vertrag, Geldwesen – abgestützt. Und es stellt sich die Grenzproblematik: Durch welche grundrechtsäquivalenten Einrichtungen wird sichergestellt, dass nicht das Geldmedium die gesamte Gesellschaft dominiert? Ähnliches gilt für die Wissenschaft und die Autonomisierung des Wahrheitsmediums über die Herausbildung von Epistemologien als den reflexiven Mechanismen der Wissenschaft. Für die Religion stellen sich die entsprechenden Verfassungsfragen. Konstituierung von autonomen Ordnungen und ihre Selbstbegrenzung – dies ist die Doppelfunktion von Verfassungen, die im Modernisierungsprozess für eine Vielheit von Institutionen erfüllt werden muss.[8] Hier wird man die Antwort auf die von Koselleck offengelassene Frage suchen müssen. Im Unterschied zur bloßen Juridifizierung gesellschaftli37cher Teilbereiche darf erst dann von ihrer Konstitutionalisierung gesprochen werden, wenn Rechtsnormen diese Doppelfunktion übernehmen.[9]

Warum aber stellt sich der liberale Konstitutionalismus gegenüber dieser Verfassungsproblematik, die sich nicht nur der Politik, sondern allen gesellschaftlichen Institutionen stellt, blind? Die Antwort liegt in der Selbstbeschreibung der neuen bürgerlichen Gesellschaft begründet.

Die Französische Revolution hatte […] das schon lange brüchige Selbstverständnis einer hierarchischen Gesellschaftsordnung hinweggefegt. Sie hatte jedoch kein Alternativkonzept der modernen Gesellschaft vorgesehen. Ihre Verfassungsvorstellungen beschränkten sich auf das politische System, und im übrigen gab es nur die Freisetzung der Individuen für eine selbstbestimmte Lebensführung – eine Idee, die schnell im Sinne des »enrichissez vous« aufgefasst werden konnte.[10]

Nach ihrem Selbstbild hat die bürgerliche Revolution die feudalen Ordnungen erfolgreich beseitigt, intermediäre Ordnungen endgültig zerstört und zwischen Gemeinwesen und Bürgern ein Immediatverhältnis hergestellt. In ihrer Selbstbeschreibung ist kein Platz für autonome gesellschaftliche Ordnungen neben dem politischen Gemeinwesen.[11] Rousseau sah dies in aller Klarheit: »Il importe donc pour avoir bien l’énoncé de la volonté générale, qu’il n’y ait pas de société partielle dans l’état«.[12] Eigenständige soziale Institutionen würden dieses Selbstbild nur stören. Sie würden die Frage nach Legitimität und Grenzen gesellschaftlicher Macht aufwerfen und damit die Verfassungsfrage für sie selbst stellen. Sie brauchen 38aber nicht thematisiert zu werden, da nach der bürgerlichen Revolution sämtliche intermediären Gewalten – Stände, Kirchen, Korporationen – ignoriert, in den privaten Raum verwiesen oder politisch unterdrückt werden. Das Immediatverhältnis von Bürger und Gemeinwesen ersetzt – oder besser: es verstellt die Sicht auf – die Vielfalt neu entstehender gesellschaftlicher Institutionen, deren eigene Verfassungsproblematik damit still gestellt und in die Latenz verwiesen wird.

Gesellschaftliche Freiheit wird zwar explizit garantiert, aber sie wird ausschließlich als Selbstentfaltung von Individuen verstanden und nicht auf überindividuelle, kollektive und institutionelle Prozesse und Strukturen außerhalb der Politik bezogen. Freilich ist der Aufbau komplexer gesellschaftlicher Ordnungen unübersehbar, aber er wird nur als das Resultat individueller Freiheitsausübung gesehen.[13] Das subjektive Recht wird in dieser Zeit noch nicht als Rechtsmacht im privaten Interesse oder gar als bloße Verleihung des Klagerechts verstanden. Viel grundsätzlicher geht es um den Anspruch des Individuums, Rechtsquelle eigenen Rechts zu sein. Das subjektive Recht wird selbst zur eigenständigen Rechtsquelle, erst zu einer Facultas, später zu einer Freiheit, die den Rechtssubjekten erlaubt, Recht zu setzen und intersubjektive Ordnungen aufzubauen – aber eben nur den Individuen und nicht etwa gesellschaftlichen Institutionen.[14] Das Privatrecht stützt diese individuell-privatautonome Konstituierung gesellschaftlicher Ordnungen über Vertrag und Delikt ab. Auch hier gilt mit Selbstverständlichkeit eine ausschließliche Individualorientierung: »Alles Recht ist vorhanden um der sittlichen, jedem einzelnen Menschen innewohnenden Freiheit willen.«[15] Selbst gesellschaftsrechtliche Normen, 39die in der Sache private Kollektivinstitutionen aufbauen, werden in dieser Zeit als Resultat vertraglicher Aktivitäten von Individuen verstanden.[16] Wie der berühmte Streit um das Wesen der juristischen Person zeigt, werden gesellschaftliche Kollektive entweder zu Fiktionen des Staates degradiert oder in individuelle Vertragsbeziehungen aufgelöst. Eine »Unternehmensverfassung« oder genereller eine »Organisationsverfassung« als Konstituierung und Limitierung von kollektiver Autonomie ist in diesem Schema undenkbar.

Komplementär dazu setzt das staatliche Verfassungsrecht Grundrechte ein – sie garantieren Freiheitsräume von Individuen und nicht etwa von gesellschaftlichen Einrichtungen. Die Verfasstheit gesellschaftlicher Teilbereiche wird also in gewisser Weise thematisiert, aber nur als Produkt privatrechtlich garantierter Individualfreiheit definiert und damit in die Latenz abgeschoben. In der Sache ist dies eine bloße »Übergangssemantik« der Selbstbeschreibung der Gesellschaft. Sie sieht, dass die alten ständischen Strukturen zerstört sind, aber sie erkennt noch nicht die neuen Funktionssysteme, die formalen Organisationen und die Netzwerke in ihrer Eigenständigkeit und schreibt deshalb allein den Individuen den Aufbau gesellschaftlicher Ordnungen zu.[17] Damit ignoriert sie freilich die Dauerproblematik eigenständiger gesellschaftlicher Institutionen und ihrer Verfassungen: wie ihre Autonomie zu garantieren ist, wie ihre expansiven Tendenzen zu beschränken sind und wie entgegen ihren zentrifugalen Tendenzen gesellschaftliche Integration noch möglich ist.

Dass die neue gesellschaftliche Ordnung komplexer ist als das bloße Immediatverhältnis eines Gemeinwesens zu seinen mit subjektiven Rechten ausgestatteten Bürgern, wird seit Hegel explizit registriert. Er nimmt eine Pluralität gesellschaftlicher Ordnungen – Familie, Zivilgesellschaft, Staat – wahr und lässt diese auch in seine Verfassungstheorie eingehen.[18] Hegel befürwortet ein Zweikammersystem, in dem die zweite Kammer sich aus der »beweglichen 40Seite der bürgerlichen Gesellschaft« zusammensetzt, deren Mitglieder Repräsentanten bestimmter »Sphären« der bürgerlichen Gesellschaft sind, die von ihren Korporationen ernannt werden. Eine solche korporatistische politische Verfassung spiegelt im Ansatz die funktionale Differenzierung der Gesellschaft wider. Während die Aufklärung die Gesellschaft immer nur im Gegensatz Bürger-Gemeinwesen fasste und entsprechend für Demokratie und allgemeines Wahlrecht eintrat, erkennt Hegel die bürgerliche Gesellschaft als Zwischensphäre zwischen Familie und Staat an und entwirft ein Gesellschaftskonzept, das sich als funktionale Differenzierung mit hierarchischer Struktur kennzeichnen lässt. Konstitutionelle Konsequenz ist nicht eine »ständische« Verfassung, wie sie irreführend als Rückgriff auf die alte Gesellschaft bezeichnet wird, sondern eine Repräsentation der differenzierten Gesellschaft in der Politik. Die Integration zentrifugaler Tendenzen im System der Bedürfnisse wird jedoch ausschließlich dem Staat zugewiesen.

Später sollen dann institutionalistische Theorien und besonders die neue Disziplin der Soziologie die gesellschaftliche Selbstbeschreibung auf komplexere Grundlagen stellen, die Vielheit außerstaatlicher gesellschaftlicher Ordnungen auch und gerade in der Moderne identifizieren und damit zumindest implizit die Verfassungsfrage für sie aufwerfen.[19] Im Privatrecht und im Verfassungsrecht werden erst sehr viel später Selbstbeschreibungen wirksam, die gesellschaftliche Ordnungen nicht mehr als bloße Produkte privatautonom agierender Individuen sehen, sondern als Institutionen mit unterschiedlichen Eigenlogiken, deren kollektive Selbstkonstituierung, Selbstbegrenzung und Integration in die Gesellschaft auch als Verfassungsprobleme bewusst werden.[20] Da41mit ist die Thematik des gesellschaftlichen Konstitutionalismus im eigentlichen Sinne aufgeworfen. Ob das politische System bei der Konstitutionalisierung gesellschaftlicher Teilbereiche die entscheidende Rolle spielt oder diese sich autonom verfassen, sollte sich zu einer der Schicksalsfragen des 20. Jahrhunderts entwickeln.

II. Totalitäre Gesellschaftsverfassungen

Die radikalste Antwort auf die zentrifugalen Tendenzen moderner Gesellschaft gaben die politischen Totalitarismen des 20. Jahrhunderts. Hatte der liberale Konstitutionalismus die verschiedenen gesellschaftlichen Ordnungen in die verfassungsrechtliche Latenz abgeschoben, so rücken sie in den totalitären Konzepten in das Zentrum des staatlichen Kontrollanspruchs. Der totalitäre Staat zeichnet sich bekanntlich dadurch aus, dass er sämtliche gesellschaftlichen Institutionen seiner politischen Verfassung zu unterwerfen sucht. Und dies geschieht in Form einer durchgängigen Regulierung aller Gesellschaftsbereiche. Nicht etwa werden den Gesellschaftsbereichen nur Vorgaben in Form einer allgemeinen Teilbereichsverfassung oder auch nur in Form allgemeiner Gesetze gemacht, sondern es dominiert der unmittelbare politische Durchgriff. Auch hier verbleibt die Frage eines gesellschaftlichen Konstitutionalismus in der Latenz, nicht aber, weil die gesellschaftlichen Teilbereiche ignoriert werden, sondern weil sie dem staatlich-politischen Totalitätsanspruch unterworfen werden. Dem dient primär die politische Einheitspartei, die sich als Parallelbürokratie über sämtliche gesellschaftlichen Aktivitäten legt und diese politisch kontrolliert.[21]

Bemerkenswert und häufig übersehen ist jedoch sowohl an sozialistischen wie an faschistischen Regimes, dass sie trotz des poli42tischen Totalitätsanspruchs nicht etwa eine durchgängige Entdifferenzierung des gesamten gesellschaftlichen Lebens vollziehen. Vielmehr ist das Programm: die Eigengesetzlichkeit gesellschaftlicher Sektoren aufrechtzuerhalten, sich der Unterstützung ihrer Eliten durch den Einbezug »privater« Institutionen in die Politik zu versichern, diese dann aber politisch zu instrumentalisieren. Totalitäre Regimes konzentrieren geradezu ihre Aufmerksamkeit auf die in der funktionalen Differenzierung entstandenen gesellschaftlichen Autonomiebereiche, um ihnen Unterstützung und Höchstleistungen für Zwecke der Politik abverlangen zu können. Die dafür erforderliche politische »Gleichschaltung« der unterschiedlichen Sektoren suchen sie mit einer raffinierten Doppelstrategie zu erreichen. Die totalitären Gesellschaftsverfassungen werden also missverstanden, wenn man sie als eine regressive Aufhebung der funktionalen Differenzierung zugunsten der Logik des Politischen versteht.[22] Vielmehr trägt der totale Staat der funktionalen Differenzierung der modernen Gesellschaft dadurch Rechnung, dass er nicht die Pluralität von gesellschaftlichen Ordnungen aufgibt, sondern diese Ordnungen beibehält, sich von ihren Institutionen unterstützen lässt, sie aber als formale, hierarchische Organisationen verfasst und damit seiner Kontrolle zu unterwerfen sucht.

Während die erste Strategie auf eine Totalisierung der formalen Organisation hinausläuft, zielt die zweite Strategie auf eine Totalisierung der Politik. Sie sucht die politische Zwangsintegration der weiterbestehenden Pluralität formal organisierter Gesellschaftsbereiche dadurch zu erreichen, dass die Einheitspartei sie in strikte Kopplung mit dem politischen System versetzt (und nicht etwa durchgehend politisiert – der Unterschied ist entscheidend). Das Rätesystem der Sowjets schafft den bürgerlichen Parlamentarismus ab und sucht die gesamte Gesellschaft in der Weise politisch zu 43organisieren, dass die unterschiedlichen Produktionsbereiche (hierarchisch) verfasst werden und die Einheitspartei die politische Kontrolle der unterschiedlichen Gesellschaftsbereiche übernimmt. Die »neue Wirtschafts- und Sozialverfassung« faschistischer Staaten wiederum ist von einer weitgehenden Substitution von Marktrationalität durch Planrationalität bei gleichzeitiger Beibehaltung marktwirtschaftlicher Basisinstitutionen gekennzeichnet.[23] Unter dem eigentlich irreführenden Titel einer ständestaatlichen Restauration werden unterschiedliche Gesellschaftssektoren in ihrer Eigenlogik beibehalten, dann aber formal organisiert und von der Parallelorganisation der faschistischen Partei unter politische Kontrolle gebracht. »Staatskorporatismus« oder autoritärer Korporatismus bezeichnet die Form staatlicher Verfassung gesellschaftlicher Organisationen, in der die zahlenmäßige Begrenzung, das Vertretungsmonopol und der Zwangscharakter gesellschaftlicher Kollektive durch gezielte staatliche Restriktionen, politische Ausschaltung von Pluralismus und durch Regulierung mit rechtlichen Zwangsmitteln erreicht wird.[24] Autoritäre »Organisationsgesellschaften« versuchen also die Integration auseinanderstrebender autonomer Gesellschaftsbereiche dadurch zu erreichen, dass sie sie als formale Organisationen zwangsverfassen, dass sie ihre Unterstützung durch formale Einbeziehung in die Politik sichern und dass sie sie durch dichte politische Kontrolle disziplinieren.[25]

Wegen ihrer Repressivität sind totalitäre Gesellschaftsverfassungen heute endgültig diskreditiert. Für ihren historischen Misserfolg 44sind zwei schwerwiegende Irrtümer verantwortlich, die ihnen in Bezug auf die Strukturen der modernen Gesellschaft unterliefen. Gerade ihre Doppelstrategie, über das Rätesystem beziehungsweise über die berufsständische Organisation der Gesellschaft die Autonomie gesellschaftlicher Teilbereiche aufrechtzuerhalten und zugleich für politische Zwecke auszunutzen, erstickte letztlich die Dynamik der funktionalen Differenzierung.[26]

Der erste Irrtum steckt in der Organisationsstrategie. Sie muss ihr Ziel verfehlen, weil sie sich von der Leistungsfähigkeit der formalen Großorganisation, in der die Energien der Professionen und die ihrer constituencies gebündelt werden, zu sehr faszinieren lässt. Indem sie jedes der großen Funktionssysteme der Gesellschaft als eine hierarchische formale Organisation verfasst, wird das Wechselspiel von professionell-organisatorischem Kern eines Funktionssystems mit dem ihm zugeordneten Spontanbereich – also das Wechselspiel von Regierungsorganisationen und Öffentlichkeit, von Wirtschaftsunternehmen und Markt, von Gerichten und Rechtsunterworfenen, von Medienunternehmen und Publikum – außer Kraft gesetzt. Die Organisationsstrategie verkennt das Betriebsgeheimnis der funktionalen Differenzierung, das sich gerade den Spontanbereich in seinen kreativen Kräften nutzbar macht.[27] Das gesellschaftliche Reflexionspotenzial ist keinesfalls in den formalen Organisationen, in Wirtschaftsunternehmen, Wissenschaftsorganisationen, Gerichten, Medienunternehmen konzentriert, sondern gleichzeitig in den gesellschaftlichen Spontanbereichen wirksam. Die Strategie, ganze Funktionsbereiche als formale Organisationen zu verfassen, verfehlt die »Einsicht, dass kein einziges Funktionssystem seine eigene Einheit als Organisation gewinnen kann.«[28]

Der zweite Irrtum steckt in der typischen Integrationsstrategie totalitärer Verfassungen mit Hilfe der politischen Einheitspartei. 45Sie verfehlt ihr Ziel, weil sie die Sozialsektoren dermaßen strikt an die Politik koppelt, dass deren Vorgaben und nachträgliche Kontrollen die Eigendynamik der anderen Funktionssysteme zwar nicht aufheben, aber doch in unerträglicher Weise lähmen.[29] Zwar erreichen die angestrebte formale Organisation der Funktionssysteme und ihre durchgängige Politisierung durch die Einheitspartei kurzfristig eine ungeahnte Mobilisierung gesellschaftlicher Kräfte. Langfristig aber wird diese Konzentration sozialer Energien mit zunehmender Rigidität, fehlender Anpassungsfähigkeit und geringerer gesellschaftlicher Kreativität bezahlt.[30]

III. Teilbereichsverfassungen im Sozialstaat

1. Historische Lektionen

Die Sozialstaatskonzepte des späten 20. Jahrhunderts haben diese historischen Erfahrungen gründlich aufgearbeitet, die Erfahrung, wie der liberale Konstitutionalismus gesellschaftliche Ordnungen ignorierte ebenso wie die Erfahrung, wie totalitäre Regimes diese völlig vereinnahmten. Als deren Folge haben sie eine recht ambivalente Einstellung zur Frage gefunden, ob und wie gesellschaftliche Teilbereiche zu verfassen sind. Die Lektion aus den Totalitarismen haben sie gelernt. Die sozialstaatlichen Verfassungen nach 1945 können als Reaktion gegen die »hoch interpenetrativen, quasi-korporatistischen Verfassungsprogramme der Zwanzigerjahre und gegen die Prozesse einer gesellschaftlichen Kolonisierung durch autoritäre Regimes der Dreißigerjahre« gelesen werden.[31] Sie respektieren die Autonomie und Leistungsfähigkeit gesellschaftlicher Subsysteme und hüten sich davor, ihre Grundstrukturen im direk46ten politischen Durchgriff festzulegen. Deshalb ziehen sich die Sozialstaaten darauf zurück, ihnen nur maßvolle verfassungsrechtliche Rahmenvorgaben zu machen. Damit haben sie zugleich die Lektion aus der liberal-konstitutionellen Abstinenz gelernt. Die kollektive Eigendynamik gesellschaftlicher Subsysteme ist, gerade in ihren negativen Externalitäten wie auch in ihren zentrifugalen Tendenzen, so stark ins öffentliche Bewusstsein getreten, dass es nicht mehr plausibel ist, sie in die Latenz individuell-privatautonomer Gestaltung abzuschieben.

Die Reaktion ist zweifach. Zum einen organisiert der Wohlfahrtsstaat viele gesellschaftliche Funktionsregimes in Eigenregie: Bildung, Wissenschaft, Gesundheitswesen, Rundfunk und Fernsehen sind als halbstaatliche Institutionen verfasst, denen der Staat eine begrenzte Autonomie einräumt. Zum anderen belässt der Wohlfahrtsstaat andere Subsysteme, besonders die Wirtschaft, in ihrer gesellschaftlichen Autonomie, übernimmt dann aber selbst die Aufgabe gesamtgesellschaftlicher Koordination.[32] Mit dieser Zielrichtung verfolgt die Politik des Wohlfahrtsstaats den Anspruch, über die bloße Regulierung der Gesellschaft hinaus auch die innere Verfassung der autonomen gesellschaftlichen Teilbereiche zu normieren. Prototyp ist die Unternehmensverfassung, die mittels staatlicher Gesetzgebung Mitbestimmungsrechte gesellschaftlicher Gruppen einführte, dann aber die Resultate der Autonomie der gesellschaftlichen Akteure überlässt.

Das Problem der sozialstaatlichen Gestaltung der Gesellschaft ist: Wie kann man die Autonomie der Teilsysteme fördern und zugleich verhindern, dass sie mit ihren zentrifugalen und expansionistischen Tendenzen gesellschaftlichen Schaden anrichten? Eines der brisantesten Probleme der funktionalen Differenzierung übersetzt sie damit in eine Frage der staatlichen Konstitutionalisierungspolitik: Wie viel »Expansion nach innen« erzeugt die Gesellschaft, wie viel Monetarisierung, Verwissenschaftlichung, Medikalisierung, Massenmedialisierung kann sie verkraften?[33] Entsprechend suchen die unterschiedlichen Gesellschaftsverfassungskonzepte des Sozialstaats eine 47prekäre Balance zwischen staatlicher Verfassungsintervention in die gesellschaftlichen Teilordnungen einerseits und dem Respekt des staatlichen Verfassungsgebers vor ihrer Eigenverfassung andererseits herzustellen.[34] Aber wie kann diese Balance erreicht werden?

2. Etatistischer Gesellschaftskonstitutionalismus

Ein etatistisch ansetzender Gesellschaftskonstitutionalismus, wie er im Verfassungsrecht vertreten wird, wirkt angesichts dieser Problemlage verfehlt.[35] Die staatliche Verfassung sehe nicht nur Organisationsnormen für die drei staatlichen Gewalten vor, sondern zugleich »gesellschaftsverfassungsrechtliche« Normen, also elaborierte Verfassungsnormen für nicht-staatliche gesellschaftliche Institutionen. Im Grundgesetz fänden sich – besonders im Grundrechtsteil und in der Regelung gesetzgeberischer Kompetenzen – zumindest Elemente einer Wirtschaftsverfassung, einer Kulturverfassung, einer Medienverfassung, einer Militärverfassung, einer Umweltverfassung, welche die vorgegebenen Grundstrukturen dieser gesellschaftlichen Teilbereiche staatlich normierten. Als objektiv-rechtliche Rechtsgrundätze »organisierten« die Grundrechte funktionale Subsysteme. Es sei die Aufgabe der Verfassungsrechtswissenschaft und der Verfassungsgerichtsbarkeit, diese Elemente zu einer kohärenten Systematik staatlich organisierter gesellschaftlicher Teilverfassungen auszuarbeiten.

Immerhin muss man dem Konzept zugute halten, dass es sich explizit der Frage stellt, ob und wie auch gesellschaftliche Institutionen zu konstitutionalisieren sind. Sein Problem aber ist die etatistische Antwort. Die Kritik daran greift noch zu kurz, wenn sie hier eine unzulässige Hypostasierung einzelner Grundgesetznormen zu einem Gesamtsystem sieht. Auch das Argument, dass die Wirtschaftsverfassung und die anderen gesellschaftlichen Teilbereiche nicht vom Grundgesetz geregelt sind, sondern gemäß dem 48»Offenheitspostulat« des Grundgesetzes der Gestaltungsfreiheit des demokratisch legitimierten Gesetzgebers überlassen sind, trifft nicht den Kern, da es hier nur ein Problem der Gewaltenteilung zwischen Gesetzgebung und Rechtsprechung sieht.[36] Die eigentliche Problematik liegt darin, wie weit der staatliche Verfassungsanspruch, der sich nicht mehr auf die Politikprozesse im engeren Sinne beschränkt, die Sozial- und Wirtschaftsordnung durchnormieren soll. Die aufschlussreiche Formulierung, dass staatliche Verfassungsnormen »freiheitlich-autonome Handlungs- und Funktionssysteme der Gesellschaft« selbst »organisieren«,[37] ist eine typische Überschätzung staatlicher Regulierungsmacht gegenüber dem evolutionären Eigensinn gesellschaftlicher Differenzierung. Daran wird deutlich, dass der etatistische Gesellschaftskonstitutionalismus gerade in seiner verfassungsrechtsdogmatischen Einkleidung bedenkliche Tendenzen in Richtung Selbstblockierung aufweist. Auch wohlfahrtsstaatlich organisierte Gesellschaften kennen diese »effets pervers«, wenn sie Gesellschaft als quasi-staatliche Veranstaltung verstehen, wenn »ein berufsgruppenspezifischer Korporatismus und staatlicher Dirigismus eine ziemlich starre und sehr stratifizierte Organisationsgesellschaft geschaffen haben«.[38] In der Tendenz führt dies zu einer Selbstüberforderung des Staates, zu einer falschen Etatisierung der Gesellschaft und zu einer verfassungsrechtlichen Festschreibung etablierter Machtpositionen innerhalb gesellschaftlicher Teilbereiche.[39]

493. Politisierung gesellschaftlicher Teilbereiche

Diesen Grundfehler etatistischer Lösungen suchen die im engeren Sinn sozialstaatlichen Varianten eines gesellschaftlichen Konstitutionalismus zu vermeiden. Sie sehen deutlich die totalitären Gefahren, wenn gesellschaftliche Teilbereichsverfassungen unter staatliche Kuratel gestellt werden, und fordern daher bei aller Neigung zur staatlich organisierten Gesellschaftskonstitutionalisierung, dass verfassungspolitische Interventionen immer die Besonderheiten der gesellschaftlichen Beziehungen mitbedenken müssten.[40] Für sie ist die politische Verfassung kein bloßes Staatsinstrument, sondern eine »normative Direktive«, die für die gesamte Gesellschaft demokratische Teilhabe und Grundrechtsschutz einfordert. Die Prinzipien der politischen Verfassung, besonders die Grundrechte, sind nicht nur für die Verfassung des politischen Willensbildungsprozesses formuliert: »sie verkörpern normative Prinzipien, zu denen sich die Gesellschaft selbst verpflichtet und die alle sozialen Beziehungen durchdringen sollen«.[41]