Vergeltung im Baltikum - Reinhard Rösner - E-Book

Vergeltung im Baltikum E-Book

Reinhard Rösner

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Beschreibung

Tobias Braun, ein suspendierter BKA-Mitarbeiter, begibt sich mit seinem alten Camper auf eine geführte Wohnmobiltour durchs Baltikum. Er versucht, seinen privaten und beruflichen Problemen zu entfliehen und will sich von einer diagnostizierten Burnout-Erkrankung erholen. Allerdings merkt er schnell, dass dies keine normale Fahrt werden wird. Bereits während der Anreise zum vereinbarten Treffpunkt kommt ein Tourteilnehmer auf mysteriöse Weise zu Tode und der beurlaubte Polizist beginnt, Nachforschungen anzustellen. Dabei lernt er seine Mitreisenden und den Wohnmobilalltag in all seinen Facetten kennen. Mit Hilfe eines Computer-Hackers kommt er einer unglaublichen Geschichte auf die Spur, die ihren Ursprung in der ehemaligen DDR hat.

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Inhalt

Tobias Braun, ein suspendierter BKA Mitarbeiter, begibt sich mit seinem alten Camper auf eine geführte Wohnmobiltour durchs Baltikum. Er versucht seinen privaten und beruflichen Problemen zu entfliehen und will sich von einer diagnostizierten Burnout Erkrankung erholen.

Allerdings merkt er schnell, dass dies keine normale Fahrt werden wird. Bereits während der Anreise zum vereinbarten Treffpunkt kommt ein Tour Teilnehmer auf mysteriöse Weise zu Tode und der beurlaubte Polizist beginnt Nachforschungen anzustellen. Dabei lernt er seine Mitreisenden und den Wohnmobilalltag in all seinen Facetten kennen. Mit Hilfe eines Computer Hackers kommt er einer unglaublichen Geschichte auf die Spur, die ihren Ursprung in der ehemaligen DDR hat.

Anmerkung des Autors

Bei diesem Buch handelt es sich um einen Kriminalroman. Alle Personen und Geschehnisse sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Einige Handlungsorte (Campingplätze, Stellplätze, Höhlen usw.) sind ebenfalls nicht real.

Nun eine kleine Anmerkung in eigener Sache. Da ich dieses Buch als Self-Publisher realisiert habe und nicht die Infrastruktur eines großen Verlages nutzen konnte, bitte ich mögliche Inkorrektheiten (Format, Tippfehler usw.) zu entschuldigen.

Ich hoffe, ich kann sie mit auf eine spannungs- und erlebnisreiche Tour durchs Baltikum mitnehmen.

Für meine Frau, ohne deren Unterstützung und Geduld dieser Roman niemals zustande gekommen wäre.

Personenverzeichnis

Es folgt eine Übersicht der wichtigsten Personen:

Klara und Timo Axter, Heimkinder zu DDR Zeiten.

Tobias Bär, beurlaubter BKA Beamter.

Petra Braun, Ärztin, unterwegs mit ihrer Tochter.

Franziska Braun, Osteopathin, reist mit ihrer Mutter.

Herbert Buschmann, Organisator und Firmeninhaber von Buschmanns Womo-Tours.

Karin und Roman Britz unterwegs mit ihrer Zwillingsschwester und ihrem Schwager.

Andrea und Paul Friedrich, Zwillingsschwester von Karin. Sie reisen zusammen mit den Britzes in zwei gemieteten Kastenwagen.

Gudrun und Richard Imker, unterwegs in einem Luxus-Wohnmobil.

Sabine und Oswald Jäger, Rentner, begeisterte Wohnwagenfahrer.

Pedro und Maria Krahmer, unterwegs mit einem selbstausgebauten Kastenwagen.

Walter Nagel, Rentner, reist mit seinem Hund.

Sven und Svenja Olsen, erste Wohnmobiltour in einem gebrauchten Fahrzeug.

Georg und Ulrike Schmidt, Rentner, touren mit Wohnmobil und Motorradanhänger.

Maren Schimanski, angestellte Mitorganisatorin der Reise. Reist alleine in einem Minicamper.

Sepp und Traudel Sommer, Rentner, fahren einen alten ausgebauten Reisebus.

Kai Rhode, Torsten Viereck und Franz Dickelgrün, BKA Mitarbeiter aus Wiesbaden.

Matteo Thalmann, Schweizer Lebenskünstler. Durchstreift die Welt mit einem umgebauten LKW zusammen mit seinen Hunden.

Zlatan Tarassow, Chef einer Rockerbande.

Reiseroute

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Anreise

Vorstellungsrunde

Wroclaw

Warschau I

Warschau II

In einem Restaurant

Karczemka I

Am Waldrand

Karczemka II

Oblast Kaliningrad

Masuren

In einem Café in den Masuren

Oberlandkanal

Trakai

Aglona

Übereilte Abreise

Vöru

In einem Café in Vöru

Mustvee

In einer Pension

Puschkin

Abendliches Briefing

In einem Hotel in Puschkin

Flucht

Abrechnung

Rettung

Tallinn

Absturz

Helsinki

Vier Wochen später

Reiseroute II

Preikestolen (Norwegen)

1. Prolog

An einem grauen Sonntagmorgen im November fuhr ein schwarzer Wartburg auf einer einsamen Landstraße durch die Oberlausitzer Heide in Richtung Hohenbocka. Ein stürmischer Wind trieb dunkle Wolken über den Himmel, aus denen es unaufhörlich regnete.

In dem PKW befanden sich drei Personen. Auf der Rücksitzbank saßen, händchenhaltend, zwei verängstige Kinder im Alter von neun und zwölf Jahren. Das Mädchen weinte lautlos und hielt eine abgenutzte Puppe fest an sich gedrückt. Der Junge sah tief traurig aus dem Fenster und beobachtete gedankenverloren den Herbststurm. Gesteuert wurde das Auto von einer jungen Frau mit strengen Gesichtszügen. Im Hintergrund lief ein Radiobericht über den anstehenden Parteitag der SED. Ansonsten herrschte betretenes Schweigen.

Nach einer Weile durchbrach die Fahrerin die Stille: »Wir werden gleich am Friedhof ankommen«, dabei sah sie durch den Rückspiegel die Kinder an, »wir gehen dann gemeinsam zur Grabstätte eurer Eltern. Nehmt bitte den Regenschirm mit, der im Fußraum liegt, sonst werdet ihr pitschnass bei diesem Mistwetter. «

Einige Minuten später kam der Wagen vor einem kleinen Waldfriedhof zum Stehen. Die junge Frau brachte die Geschwister zu einem frischen Grab am Ende des Friedhofs. Mit belegter Stimme sagte sie: »Hier haben euer Vater und eure Mutter ihre letzte Ruhestätte gefunden.« Nach kurzem Zögern fuhr sie fort: »Ich lasse euch jetzt alleine, damit ihr Abschied nehmen könnt. Wenn ihr fertig seid, kommt bitte wieder zum Auto. Ich warte dort. Danach fahren wir ins Kinderheim zurück.«

Das Geschwisterpaar stand Hand in Hand vor der schmucklosen Begräbnisstätte ihrer Eltern und weinte bitterlich. Die Kinder verstanden die Welt nicht mehr. Vor nicht allzu langer Zeit waren sie noch eine glückliche Familie gewesen. Sie wohnten in einem großen Haus mit einem wundervollen Garten. Nachmittags spielten sie mit ihren Kameraden in den umliegenden Wäldern. Ihnen fehlte es an nichts.

Nun lag das Liebste, was sie hatten, in diesem Grab und sie lebten in einem Kinderheim, fernab von ihren Verwandten und Freunden. Sie hatten keine Ahnung, wie ihr Leben weitergehen sollte.

Nach einiger Zeit schluchzte der Junge hasserfüllt: »Ich werde euren Tod und all das Unrecht, dass uns widerfahren ist, rächen.« Er nahm seine Schwester in den Arm und flüsterte: »Eines Tages werde ich für Gerechtigkeit sorgen.«

2. Anreise

Tag 1, Anreise nach Görlitz

An einem sonnigen Sonntagmorgen im Mai 2017 fuhr ein alter VW T3 Camper auf die A5 Richtung Kassel. In dem Auto saß ein etwa vierzigjähriger Mann. Er war ein Meter achtzig groß, athletisch gebaut, hatte dunkelblondes Haar und einen kurzgeschnittenen Vollbart.

Tobias Bär hatte eine geführte, dreieinhalbwöchige Wohnmobil-Rundreise durch Polen, Litauen, Estland und Russland nach Finnland gebucht. Anschließend wollte er ans Nordkap und über Norwegen zurück ins heimische Mainz. Er hatte vor, mindestens acht Wochen unterwegs zu sein.

Eigentlich konnte er sich diesen Trip nicht leisten. Im Moment lief es für ihn, beruflich wie privat, katastrophal. Seine Frau Heidrun hatte beschlossen, eigene Wege zu gehen. In der anstehenden Scheidung zog sie alle Register. Kein Wunder, ihre gemeinsame Anwältin war die beste Freundin seiner Gemahlin. Neutralität interpretierte sie auf eine eigentümliche Art.

Mittlerweile hatte er einhunderttausend Euro Schulden und musste aus dem gemeinschaftlichen Haus ausziehen. Den geliebten BMW fuhr jetzt Heidrun. Zum Glück hatte er noch Martin, seinen Bruder. Er hatte ihn vorübergehend bei sich aufgenommen. Nun hauste er in einer zehn Quadratmeter kleinen Wohnung über Martins Kfz-Werkstatt. Ihm war bewusst, dass dies keine dauerhafte Lösung sein konnte.

Patrick, ihr gemeinsamer Sohn, studierte in Dresden Informatik. Er verfolgte den Rosenkrieg seiner Eltern mit Skepsis und versuchte beiden Parteien gerecht zu werden.

Beruflich sah es nicht viel besser aus. Tobias Bär arbeitete seit zwei Jahrzehnten als Polizist. Er liebte diesen Job. Besonders die Ermittlungen im Außendienst hatten es ihm angetan. Nach einigen Jahren im Streifendienst machte er eine Zwischenstation im SEK in Frankfurt bis er beim Bundeskriminalamt in Wiesbaden landete. Mit den Kollegen kam er gut zurecht. Die Arbeit forderte ihn und die Bezahlung war für einen Polizeibeamten überdurchschnittlich. Vor vier Monaten änderte sich dann seine berufliche Situation dramatisch.

Tobias Bär wurde bei einer Razzia im Drogenmilieu schwer verletzt. Obwohl die Verletzungen problemlos verheilten, war er noch immer krankgeschrieben. Der Scheidungskrieg und der tragisch verlaufende letzte Einsatz hatten ein Burnout-Syndrom ausgelöst. Die Amtsärzte meinten, dass er für den Außendienst nicht mehr geeignet sei. Sie empfahlen eine Versetzung in den Innendienst. Dies wollte Tobias Bär auf keinen Fall akzeptieren.

Den Ärger in der Ehe, die Verwundung und der Stress mit den Ärzten raubten ihm jegliche Lebensenergie. Sein Leben befand sich in einer Abwärtsspirale aus finanziellem Druck, beruflichem Frust und Scheidungskrieg. Zwischenzeitlich begann er selbst an die Burnout-Diagnose zu glauben, da er keine Perspektive mehr sah.

Ihm war bewusst, dass es so nicht weitergehen konnte, da er sonst daran zerbrechen würde. Seit Kindheitstagen neigte Tobias Bär dazu, Probleme zu verdrängen, wenn sie überhandnahmen. So auch diesmal.

Er beschloss, seinen langersehnten Traum zu realisieren. Er begann, den alten Camper, den er vor zwanzig Jahren von Martin geschenkt bekommen hatte, wieder flott zu machen. Anschließend plante er, auf eine lange Tour zu gehen. Nach der Reise wollte er eine Entscheidung treffen, wie es mit seinem Privatleben und dem Job weitergehen sollte. Er war überzeugt, dass dies die einzig sinnvolle Therapie für ihn war.

Also kratze er seine letzte Kohle zusammen, lieh sich von Martin fünftausend Euro und werkelte rund um die Uhr an dem VW Camper. Zwischenzeitlich buchte er die geführte Baltikum-Tour. Die Arbeit machte ihm Spaß und er merkte, wie es ihm besserging und seine Lebensenergie zurückkam.

Sein Bruderherz half, wo er nur konnte. Zum Schluss spendierte er ihm noch eine Lackierung in froschgrün. Nach acht Wochen war das Werk vollendet. Der VW T3 erstrahlte wie vor dreißig Jahren.

Tobias Bär fuhr dem Sonnenaufgang entgegen und freute sich auf die folgenden zwei Monate. Er war gespannt auf seine Mitreisenden und welche Abenteuer ihn erwarteten.

Das heutige Tagesziel hieß Görlitz, der Treffpunkt der geführten Wohnmobil-Tour.

Etwa eine Stunde zuvor startete ein zwölf Jahre altes Reisemobil in Rheinfelden ebenfalls mit dem Ziel Görlitz.

In dem Fahrzeug saßen Sven und Svenja Olsen. Zumindest nannten sie sich zu dieser Zeit so. Sie reisten als Ehepaar, obwohl sie bisher nur eine Liebesbeziehung hatten.

Svenja sah ihren Freund mit Tränen in den Augen an. »Ist dir bewusst, dass wir wahrscheinlich unsere Heimatstadt nie wiedersehen werden?« Sven blickte konzentriert auf die Straße. »Darüber haben wir mehr als einmal gesprochen Schatz. Wenn wir zusammen und am Leben bleiben wollen, müssen wir von hier fort.«

Sven Olsen war Anfang dreißig, knappe zwei Meter groß, hatte leicht gelockte, hellblonde Haare und die Statur eines Marathonläufers. Nach seinem Informatik-Studium fing er vor fünf Jahren bei einer Schweizer Bank in der IT an.

Svenja war etwa im selben Alter, einsfünfundsechzig, hatte schwarze, lange Haare und eine weibliche Figur. Sie arbeitete in einer Anwaltskanzlei als Rechtsanwältin.

»Musstest du unbedingt eine Pistole und zweihundertfünfzigtausend in bar mitnehmen? Stell dir vor, das entdeckt jemand an der Grenze«, sagte seine Freundin verängstigt. »Jetzt bleib mal ganz ruhig. Das Zeug ist hinter der Heizungsanlage in der Isolierung versteckt. Das findet kein Mensch. Jede Wette. Unsere Konten sollten wir aus Sicherheitsgründen erst einmal ruhen lassen. Also, wir brauchen Bargeld und was die Pistole betrifft, ich kann zwar nicht gut mit dem Ding umgehen, fühle mich aber sicherer, wenn wir die Möglichkeit haben uns zu verteidigen.« Er nahm die Hand seiner Freundin und drückte diese liebevoll. »Svenja, das Wichtigste ist, dass wir uns lieben und zusammenbleiben. Glaub mir, wir schaffen das.« Sie küsste die Hand ihres Freundes und sagte in einem versöhnlichen Ton: »Du hast recht. Lass uns nach vorne schauen und ein neues Leben beginnen.«

Am selben Tag gegen elf fuhren Petra Braun und ihre Tochter Franziska in einem Reisemobil auf einer Landstraße Richtung Autobahnkreuz Karlsruhe.

Petra Braun war verwitwet, einundsechzig, untersetzt und hatte graublonde, schulterlange Haare, die sie meist als Zopf trug. Sie war eine resolute und sympathische Frau, die seit fünfundzwanzig Jahren ihre eigene Hausarztpraxis mit vier Angestellten leitete.

Ihre vierunddreißigjährige Tochter Franziska hatte dunkelblonde, kinnlange Haare und eine sportliche Figur. Sie hatte sich vor fünf Monaten von ihrem langjährigen Freund, mit dem sie eine erfolgreiche osteophatische Praxis aufgebaut hatte, getrennt. Als sie herausfand, dass er sie mit einer Sprechstundenhilfe betrog, zog sie aus der gemeinsamen Eigentumswohnung aus. Ihre Mutter nahm sie mit offenen Armen auf. Sie bezog die Anliegerwohnung ihres Elternhauses. Leider hatte die private Trennung auch Auswirkungen auf die gemeinschaftlich geführte Praxis. Sie schafften es nicht ihre persönlichen Differenzen im beruflichen Umfeld auszublenden. Nachdem sich abzeichnete, dass sie im Job ebenfalls keine Zukunft hatten, nahmen beide Parteien juristischen Beistand und es kam zwei Wochen später zu einer außergerichtlichen Einigung. Franziska erhielt eine Abfindung in Höhe von einhunderttausend Euro für ihre Unternehmens- und Immobilienanteile. Danach verließ sie mit sofortiger Wirkung die Praxis.

Ihre Mutter bekam natürlich mit, dass ihre Tochter unter der Trennung und den Streitigkeiten litt. In einer Zeitungsanzeige wurde sie durch Zufall auf die geführte Baltikum-Tour aufmerksam. Sie lud Franziska zu der Reise ein, damit sie Abstand gewann und die Grundlage für einen Neuanfang legen konnte. Außerdem wollte sie selbst schon immer eine Wohnmobilrundfahrt unternehmen. Zu ihrer Überraschung stimmte ihre Tochter dem Vorschlag sofort zu. Die Ärztin hatte Glück und konnte kurzfristig eine Vertretung für ihre Praxis organisieren. Somit stand der gemeinsamen Tour nichts mehr im Wege. Sie mieteten ein Wohnmobil bei einem Händler in der Nähe und starteten ihre Reise.

Nachdem Petra Braun mit etwa dreißig Stundenkilometer auf die A5 auffuhr und von einem LKW Fahrer verärgert per Hupe begrüßt wurde, meinte sie gereizt: »Da fahr halt vorbei du Flachschippe.« Ihre Tochter musste grinsen. »Wenn ich mir deinen Fahrstil so ansehe, war es gut, dass wir die Option Vollkasko mit dreihundert Euro Selbstbeteiligung genommen haben.« »He, he, so schlimm fahre ich jetzt auch nicht. Immerhin bin ich eine blonde Ärztin und kein Trucker. Ok, die Mülltonne, die ich in unserer Straße mit dem Spiegel mitgenommen habe, hätte ich mir sparen können«, grinste sie. »Aber ansonsten finde ich mich gar nicht so schlecht.«

Um circa zwölf Uhr fuhr ein Wohnmobil vor eine Raststätte an der A4 kurz hinter Dresden. Das Fahrzeug wurde von einem älteren Mann gesteuert. Er reiste mit seinem Hund Erich. Walter Nagel hatte mit einem befreundeten Ehepaar ebenfalls die geführte Baltikum-Tour gebucht. Er war auf dem Weg zum vereinbarten Treffpunkt, um sich dort mit seinen Freunden Gudrun und Richard Imker zu treffen. Herr Nagel hatte das Rentenalter bereits seit einigen Jahren erreicht. Er war untersetzt, hatte eine Glatze, einen Stiernacken und einen Bauch wie ein Sumo Ringer.

Nachdem er sein Wohnmobil geparkt hatte, leinte er den Hund an und verließ das Fahrzeug. »So Erich, lass uns Gassi gehen. Anschließend gönn ich mir eine Bockwurst.« Er blickte zu dem Bullterrier herunter, der ihn schwanzwedelnd anblickte. »Ach was, wir haben Urlaub, du bekommst auch eine.«

Etwa fünf Minuten später betrat er mit seinem Hund das nahegelegene Rasthaus. Die Gaststätte war gut besucht. In dem linken, frisch renovierten Bereich des Speiseraumes schienen nahezu alle Tische belegt. Im rechten Flügel, der noch mit alten Möbel bestückt war, gab es jede Menge freier Plätze. Herr Nagel holte für sich und seinen Hund zwei Bockwürste und ein kleines Bier. Auf dem Weg zur Kasse fiel ihm ein Mann auf. Irgendwo hatte er diese Person schon einmal gesehen. Der Fremde hatte dunkle Haare, die einen deutlichen Grauschimmer aufwiesen. Bekleidet war er mit einem grauen Anzug. Augenscheinlich hatte er eine Verletzung am Knie, die seinen Gang unverwechselbar machte. Er war überzeugt, dass er diesen Menschen kannte. In der Kassenschlange stand der Bursche unmittelbar vor ihm. »Moinsen Kollege, kennen wir uns nicht von irgendwo her?«, sprach Walter Nagel den Fremden freundlich an. Der Angesprochene drehte sich um und sah ihn irritiert von oben bis unten an. Bis auf ein kurzes Zucken des rechten Augenlides zeigte er keine Regung. »Sicher nicht«, erwiderte er kühl. Danach zahlte er sein Essen und ging an einen Tisch, wo bereits eine Frau Platz genommen hatte. Herr Nagel bezahlte ebenso und suchte mit seinem Hund einen Tisch in derselben Reihe, einige Meter hinter dem des Unbekannten. Als er so dasaß, Bier trank und das fremde Pärchen beobachtete, raunte er: »Irgendwoher kenne ich dich Humpelfuß.« Bei diesen Worten kam plötzlich die Erinnerung wieder zurück. »Natürlich, nicht Humpelfuß, sondern Krüppelbein haben wir dich immer genannt.« Die letzte Begegnung war bereits Jahrzehnte her, aber es bestand kein Zweifel. Der Gang war unverwechselbar. »Verdammte Scheiße«, fluchte er. Er musste umgehend seine Freunde warnen. Walter Nagel kramte hektisch sein Handy hervor und begann sofort eine SMS zu tippen. Dies erforderte seine ganze Konzentration, da er Schwierigkeiten hatte, mit seinen wulstigen Fingern die richtigen Buchstaben zu erwischen. Er war völlig vertieft, so dass er die Frau nicht wahrnahm, die zwischenzeitlich dicht an ihm vorbeiging und etwas Winziges in das Bierglas vor ihm fallen ließ.

Nachdem er die Nachricht verschickt hatte, sah er nachdenklich seinen Hund an. »Ist das jetzt Zufall?« Er schüttelte den Kopf. »Nie und nimmer.« Er trank das Bier aus und ließ den Rest der Wurst liegen. Anschließend marschierte er zügig zum Wohnmobil zurück. Dabei blickte er sich misstrauisch um und prüfte, ob ihm jemand folgte. Kurz darauf setzte er die Reise Richtung Görlitz fort. Während der Fahrt dachte er beklommen an die letzte Begegnung mit dem Mann. Nach einiger Zeit fühlte er ein aufsteigendes Unwohlsein. Er rieb sich die Augen und schüttelte seinen Kopf. Mit blassem Gesicht stammelte er benommen: »Erich, du kannst gleich nochmal raus. Ich fahre am nächsten Parkplatz hinaus, um frische Luft zu schnappen. Irgendwie habe ich das Bier nicht vertragen.«

Noch vor der angestrebten Pause passierte das Unglück. Walter Nagel fuhr mit hundertzehn Stundenkilometern ungebremst in das Ende eines Staus auf einen LKW auf.

3. Vorstellungsrunde

Tag 1, Kennenlernen

Herr Buschmann, der Organisator der geführten Wohnmobilreise und seine Mitarbeiterin, Maren Schimanski, trafen gegen elf Uhr am Campingplatz »Grüne Auen« in Görlitz ein. Er reiste von seinem Heimatort Leipzig aus an. Seine Kollegin hatte eine kürzere Anfahrt, da sie in Bautzen wohnte.

Herbert Buschmann war siebenundfünfzig, hatte graue Haare und einen leichten Bauchansatz. Nach dem Tod seiner Ehefrau fiel er in ein tiefes Loch. Er bekam Depressionen, trank zuviel Alkohol und war an der Schwelle, die Kontrolle über sein Leben zu verlieren. Glücklicherweise schaffte er es vor sieben Jahren, das Ruder herumzureißen. Er kündigte seinen Posten als IT Manager bei einer Bank und beschloss sein Hobby, das Reisen mit dem Wohnmobil, zum Beruf zu machen. Mit einem befreundeten Ehepaar, den Bergmanns, gründete er das Unternehmen »Buschmann Womo-Tours«.

Nach einigen Startschwierigkeiten lief das Geschäft mittlerweile so gut, dass sie eine zusätzliche Kraft, Frau Schimanski, einstellten. Mit der neuen Unterstützung konnten die Firmengründer weitere Rundreisen anbieten. Parallel zu der Baltikum-Tour führten die Bergmanns eine Gruppe durch Marokko.

Maren Schimanski war achtundzwanzig, von schmächtiger Gestalt, hatte blonde, lange Haare und eine sportliche Figur. Nach dem Abitur machte sie eine Ausbildung zur Reiseleiterin und arbeitet bereits einige Jahre in dem Beruf. Da sie das Reisen mit dem Wohnmobil schon immer faszinierte, nutzte sie die Gelegenheit und bewarb sich sofort, als sie die Stellenausschreibung der Firma Buschmann Womo-Tours las. Nach einem zweistündigen Gespräch bekam sie den Job. Die anstehende Reise sollte ihre Probezeit werden. Danach wollten beide Parteien weitersehen.

Nachdem Herbert Buschmann seine Reisegruppe an der Rezeption angemeldet hatte, wurde ihnen ein separates Areal zugewiesen.

»So Maren, den formalen Teil haben wir geschafft, lass uns mit den letzten Vorbereitungen beginnen, bevor unsere Gäste eintreffen.« Seine Mitarbeiterin klatschte voller Tatendrang in die Hände und sagte: »Gut, ich hänge die Hinweisschilder auf, damit die Reiseteilnehmer uns finden können. Danach baue ich die Tische mit den Gläsern für den Begrüßungstrunk und das Buffet auf.« »Super. Ich kümmere mich um den Grill und hole die Reiseunterlagen aus meinem Wohnmobil«, entgegnete Herbert.

Gegen fünfzehn Uhr kamen die ersten Gäste, das Ehepaar Schmidt, am Campingplatz Grüne Aue an. Sie folgten den Schildern bis zu dem reservierten Bereich. Dort begrüßte sie der Chef von Buschmann Womo-Tours persönlich. »Willkommen bei der Baltikum-Rundreise. Ich hoffe, ihr hattet eine angenehme Anreise.« Die Gäste stiegen aus dem Fahrzeug und gaben Hebert die Hand. »Hallo, ein wenig Stau in den Kasseler Bergen sonst lief alles glatt« berichtete die Frau. Ihr Mann sah sich um und wollte wissen: »Wo dürfen wir uns hinstellen?« »Ziel ist es, dass alle Fahrzeuge in einem Halbkreis stehen«, entgegnete Herbert und zeigte in Richtung der Wiese. »Da ihr die Ersten seid, habt ihr die Qual der Wahl.« »OK, Danke. Dann schauen wir uns mal um«, sagte Herr Schmidt und begab sich wieder zu seinem Reisemobil. »Ach übrigens, um neunzehn Uhr treffen wir uns zu einem kleinen Umtrunk in der Mitte des Platzes«, rief der Organisator ihnen hinterher.

Nachdem das Ehepaar wieder in ihrem Wohnmobil saß, schlug sie ihm vor: »Schorsch, lass uns dort drüben den Keks unter dem Baum nehmen«, sie zeigte auf eine Stelle neben einer Kiefer. Etwas genervt entgegnete er: »Was faselst du von einem Keks?« »Na das schattige Plätzchen dahinten.« Beide mussten über den Wortwitz lachen. »Also gut, dein Wunsch ist mir Befehl.« Anschließend stellten sie ihr Mobil unter den Baum.

In den nächsten drei Stunden trafen nacheinander die restlichen Teilnehmer am vereinbarten Treffpunkt ein. Nur Walter Nagel erschien nicht.

Die Gäste platzierten ihre Reisemobile an den markierten Stellen und machten es sich bequem. Sie schlossen ihre Fahrzeuge an den Strom an und holten Tische und Sitzgelegenheiten heraus. Einige fuhren ihre Markisen aus, um im Schatten Platz zu nehmen. Es wurden erste Kontakte geknüpft, indem man über die Anfahrt oder die bevorstehende Reise mit den Nachbarn sprach.

Um neunzehn Uhr versammelten sich alle in der Mitte des Geländes und bildeten mit ihren Stühlen einen Kreis. Zuvor überreichte Maren Schimanski jedem Gast ein Glas Sekt oder Saft. Im Mittelpunkt der Gruppe stand der Organisator und begann mit einer Begrüßungsansprache.

»Es fehlt zwar noch ein Teilnehmer, aber ich denke wir fangen trotzdem an. Herzlich willkommen bei der Baltikum- Rundreise 2017 mit Buschmanns Womo-Tours. Ich heiße Herbert. Dies ist meine Mitarbeiterin Maren«, seine Kollegin hob freundlich die Hand und sagte mit einem Lächeln auf den Lippen: »Hallo zusammen!« »Wir sind für die Organisation der Fahrt verantwortlich und stehen ihnen jederzeit für Rückfragen zur Verfügung. Als Erstes sollten wir auf die bevorstehende Reise anstoßen.« Herr Buschmann hob sein Glas und prostete den Leuten zu. »Auf eine wunderbare Tour, mit hoffentlich so tollem Wetter wie wir gerade haben. Zum Wohl!« Nachdem das Zuprosten beendet und die Gläser geleert waren, fuhr der Organisator mit der Ansprache fort. »Bevor wir mit einer kurzen Vorstellungsrunde weitermachen werden, möchte ich das Thema der Anrede ansprechen.« Er blickte gespannt in die Gesichter der Zuhörer. »In der Vergangenheit habe ich gute Erfahrungen gemacht, wenn sich alle Teilnehmer duzen. Sollte jemand dies nicht mögen, ist das OK und wir bleiben beim Sie. Hat irgendwer Probleme damit?« Bis auf eine Ausnahme gab es allgemeine Zustimmung.

Ein elegant gekleideter Mann raunte seiner Frau zu: »Jetzt müssen wir das Proletenpack auch noch mit du anreden.« »Richard, halt bloß deine Klappe, sonst sind wir gleich wieder die Außenseiter. Wir fallen so oder so mit unserem Luxus Womo unter all den Klapperkisten auf«, seufzte Gudrun Imker. »OK, Ok verstanden. Hauptsache Walter taucht bald auf. Dann können wir einen trinken und über alte Zeiten und die merkwürdige SMS quatschen. Jede Wette, der hört wieder die Flöhe husten.«

»Nachdem es keine Einwände gibt, beginnen wir mit der Vorstellungsrunde. Am besten fang ich gleich an. Meinen Namen kennt ihr ja bereits. Ich fahre mittlerweile seit drei Jahrzehnten mit dem Wohnmobil durch die Gegend. Erst mit der Familie in etliche Urlaube und die letzten Jahre als Organisator von Wohnmobilreisen. Begleitet werde ich von Hoss.« Er zeigte auf einen Hund, der vor einem Unimog mit Wohnmobilaufbau lag. »Der schwarze Labrador dahinten passt immer auf mich und unser Häuschen auf. Tja, das war es auch schon von mir. Maren machst du weiter?«

Seine Assistentin trat einen Schritt vor und sagte: «Hallo, ich bin die Maren. Dies ist mein erster Trip mit Buschmann Womo-Tours.« Grinsend ergänzte sie: »Ich bin also noch ein Frischling, was das Thema Wohnmobile angeht. Da ich die letzten Jahre als Reiseleiterin für den Bereich Osteuropa tätig war, kann ich euch bestimmt die ein oder andere interessante Information über Land und Leute geben. Unterwegs bin ich mit dem einfachsten Fahrzeug unserer Gruppe.« Sie drehte sich um und zeigte auf einen älteren VW Caddy mit Faltdach und Camper Ausstattung. »Klein aber fein«, beendete sie ihre Vorstellung. Ihr Chef ergänzte: »Nur so nebenbei, Maren ist zu bescheiden, um das zu erwähnen, sie spricht abgesehen von Englisch, Französisch auch Russisch und Polnisch.« Einige Anwesenden blickten die junge Frau respektvoll an. Danach sah Herr Buschmann seinen Nachbarn auffordernd an.

»Ja, dann machen wir am besten weiter«, meinte ein etwa fünfundsechzig Jahre alter Mann, neben dem seine Frau saß. »Wir sind die Schmidts aus Offenbach. Unterwegs sind wir mit dem großen, integrierten Dethleffsen inklusive Motorroller auf dem Anhänger. Letzten Sommer haben wir die Leitung unseres Elektrogeschäftes an meinen Sohn übergeben. Seitdem konzentrieren wir uns auf das Rentner-Dasein. Das heißt, wir wollen was von der Welt sehen und das Leben genießen.« Er klopfte sich auf seinen immensen Bauch: »Apropos wann gibt es denn etwas zu essen? Dahinten stehen so leckere Salate.« Maren zwinkerte ihm zu. »Wenn wir mit der Vorstellungsrunde fertig sind, wird das Buffet eröffnet.« Der Hesse hob die Hand. »Ach übrigens, wir haben den besten Äppelwoi aus dem Rhein-Main-Gebiet an Bord. Natürlich selbst gekeltert. Wer Interesse hat, das hessische Nationalgetränk zu probieren, ist bei uns immer willkommen.« Danach drehte er sich zu seinem Nachbarn und meinte: »So Kollege, dann mach du mal weiter.«

Der Polizist konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Ja, dann macht mal der Kollege aus Mainz weiter. Ich heiße Tobias und bin weder mit Hund noch mit menschlichem Partner unterwegs. Im Anschluss an diese Reise, auf die ich mich unendlich freue, will ich mir noch das Nordkap ansehen, bevor es gemütlich Richtung Heimat geht.«

Nach den ersten Worten waren alle Augen auf ihn gerichtet. Die tiefe und ruhige Stimme hatte einen besonders warmen Ton, der bei Menschen, insbesondere bei Frauen, gut ankam. »Von Beruf bin ich Polizist, der eine Auszeit nimmt und seinen Akku aufladen möchte. Ich fahre einen VW T3 California. Übrigens, vor einer Woche hatte mein Bussi dreißigjährigen Geburtstag und gilt jetzt offiziell als Oldtimer.«

Svenja Olsen stupste ihren Freund mit dem Ellbogen an und flüsterte: »Verdammt, der ist wegen uns hier.« Sven raunte ihr zu: »Keep cool. Das muss nichts heißen, auch Polizisten fahren mal in die Ferien.« Sie blickte ihn skeptisch an. »Meinst du?« Er zuckte mit den Schultern. »Warten wir es ab.«

Der korpulente Offenbacher neben ihm fragte freundlich aber direkt: »Wie kommt es, dass ein Bullermann so lange auf Reisen gehen kann? Machen die Verbrecher in Mainz gerade Urlaub?« Die Bemerkung rief allgemeines Gelächter hervor. Tobias zog seine linke Augenbraue hoch und überlegte kurz, was er von sich preisgeben sollte. Er entschied, die Katze aus dem Sack zu lassen. Irgendwo hatte er einmal gelesen, wenn man über Probleme sprach, wäre dies gut für die Psyche. Außerdem quatschte ihn hoffentlich danach keiner mehr auf das Thema an. »Ich bin bei einem Einsatz verletzt worden und muss noch die Folgen auskurieren. Zu allem Überfluss will man mich in den Innendienst abschieben. Als I-Tüpfelchen durchlebe ich aktuell einen Rosenkrieg mit meiner Frau, die mir auch noch die letzte Unterhose ausziehen will.« Er blickte seinen Nachbarn direkt in die Augen und ergänzte: »Ich denke, dies sind gute Gründe, der Realität mal zu entfliehen.« Georg Schmidt musste wie immer noch einen draufsetzen und meinte: »Ei, wenn du mal deinen Frust in Äppler ersäufen magst, stehe ich dir gern als Kumpel zur Verfügung.« »Danke, vielleicht komme ich darauf zurück«, entgegnete Tobias mit einem Schmunzeln.

Sven flüsterte seiner Freundin zu: »Klingt doch soweit alles ganz plausibel. Ich werde nachher den Rechner anwerfen und die Geschichte überprüfen. Also, bleib locker.«

»Ja, das war es von mir, dann gebe ich mal weiter.« Der Polizist sah bei diesen Worten seine attraktive Nachbarin an, die ihn freundlich anlächelte.

»Hallo, wir sind die Brauns. Petra, meine Mutter, und ich heiße Franziska. Ich bin Osteopathin und meine Mama ist Ärztin. Wir beide haben keinerlei Erfahrungen mit Wohnmobilen und werden garantiert mit der ein oder anderen blöden Frage auf euch zukommen. Dies nur mal als Vorwarnung. Unterwegs sind wir mit einem Gemieteten. Ich glaube, es ist ein Hymer. Tja, ansonsten sind wir gespannt, was wir in den kommenden Wochen sehen werden.«

Als nächstes kam ein älteres Ehepaar an die Reihe. Beide waren vornehm gekleidet. Sie trug ein dunkelblaues Kostüm mit einer weißen Bluse. Um ihren Hals hing eine wertvolle Perlenkette. Ihr Mann neben ihr hatte ein kariertes Sakko an und fingerte an seiner Uhr, einer Rolex, herum. Die Frau hüstelte kurz, bevor sie sich vorstellte. »Wir sind die Imkers. Rechts von mir sitzt mein Gemahl Richard und ich bin die Gudrun. Unsere zwei Rottweiler bewachen gerade unser mobiles Heim.« Sie zeigte mit dem Kopf nach hinten. In einem leicht arroganten Ton fügte ihr Mann hinzu: »Diese Baltikum-Exkursion ist unsere vierte geführte Expedition. Marokko, Türkei und Griechenland haben wir bereits bereist. Wir applizieren einen Concorde Liner Plus, elfeinhalb Meter lang, sechs Zylinder Diesel mit knappen dreihundert PS und einem Smart in der Heckgarage. Mehr haben wir nicht beizutragen. Also, der Nächste bitte.«

Der Offenbacher lehnte sich zu seiner Frau rüber und flüsterte: »Hast du den verstanden? Was schwätzt der denn von Exkursion, Expedition und applizieren. Ist das kein Deutscher?« »Doch ich glaube schon, aber ich habe auch nix kapiert.«

»Ich bin die Traudel Sommer. Neben mir sitzt meine bessere Hälfte, der Sepp. Wir kommen aus Rosenheim und sind mit unserem Schnauzer Hironimo auf Reisen.« Ihr Mann ergänzte: »Vor acht Joarn hob i mei Busunternehmen vakafft und jetz haun mia unsa Erbe auf den Kopf.« Die Anwesenden grinsten aufgrund der starken Mundart. Als Frau Sommer die Reaktion wahrnahm, stieß sie ihren Gemahl an und raunte ihm zu. »Dich versteht keiner, nimm dich mal zusammen.« Mit weniger Dialekt fuhr er fort. »Als Erstes restaurierte ich meinen Reisebus, mit dem wir uns vor vierzig Jahren selbstständig gemacht haben. Ein Setra S6 Kössbohrer Panoramabus Baujahr 1963 mit einem vier Liter Diesel und 90 PS. Der hat Jahrzehnte in einer Halle gestanden und darauf gewartet, dass ich Rentner werde. Anschließend habe ihn zum Wohnmobil mit allem Schnick Schnack ausgebaut.« Seine Frau fügte hinzu: »Seitdem sind wir mindestens sechs Monate im Jahr auf Oldtimer Treffen, besuchen Freunde und Familie oder machen einfach nur Urlaub.« Mit einem schelmischen Lächeln in Richtung der Offenbacher ergänzte Sepp: »Ein bayrisches Bier haben wir natürlich auch immer für jeden Gast im Angebot. Also, wer sich einmal unseren Bus ansehen möchte, der ist herzlich eingeladen. Des wars jetzt von den Bayern.«

»Hallo zusammen, ich bin der Sven und das ist meine Frau Svenja. Gemeinsam sind wir die Olsens. Wie ihr an unseren Namen seht, sind wir füreinander geschaffen«, mit einem Augenzwinkern fuhr er fort. »Wir kommen aus Rheinfelden und sind mit dem Wagen eines Bekannten, einem zwölf Jahre alten Knaus, unterwegs. Dies ist unsere erste Reise mit einem Wohnmobil und wir sind sehr gespannt, was wir in den nächsten Wochen alles erleben werden.« Sven blickte freundlich zu seinem Nachbarn, der es als Aufforderung ansah, die Vorstellungsrunde fortzusetzen.

»Hallo, wir sind die Britzes aus Kiel. Dies ist mein Mann Roman und ich bin die Karin. Wir haben bisher keine Erfahrung mit dem Camper Leben. Dies ist unsere Jungfernfahrt mit einem Wohnmobil. Unterwegs sind wir mit einem gemieteten Kastenwagen.« Sie zeigte nach links auf ein weißes Fahrzeug. »Damit übergebe ich an meine Zwillingsschwester und ihren Ehepartner, mit denen wir diese Tour zusammen gebucht haben.«

»Hallo, ich bin der Paul und neben mir sitzt meine bessere Hälfte, die Andrea. Auch wir kommen aus Kiel. Ansonsten hat meine Schwägerin bereits alles gesagt. Wir fahren den zweiten Campingbus dahinten. Einen Weinsberg Carbus 631.« Paul deutete auf den Bus am Ende des Platzes. »Roman und ich sind begeisterte Angler und hoffen, dass wir die ein oder andere Möglichkeit bekommen, euch mit frischem Fisch zu versorgen.« Er drehte sich zur Seite und schaute seinen Nachbarn an. »Machst du weiter?«

»Ich bin der Pedro und dies ist meine Frau Maria Krahmer. Wir kommen aus Leipzig. Auch wir sind, wie unsere zwei Vorredner, ebenfalls mit einem Kastenwagen, allerdings einem Selbstausbau, unterwegs. Ich war dreißig Jahre lang selbständiger Maler und hatte immer den Traum, mit fünfzig die Arbeit an den Nagel zu hängen und anschließend mit dem Reisemobil durch die Gegend zu fahren. Den Wunsch haben wir uns erfüllt.« Er ergriff die Hand seiner Frau. »Seit dieser Zeit reisen wir in der Weltgeschichte herum. Wir haben zwar keine großen finanziellen Mittel, wie man an unserer Ausrüstung sieht, aber wir genießen trotzdem das Leben. Dies ist unsere erste geführte Wohnmobil-Tour. Bisher haben wir uns alleine noch nicht ins Baltikum und nach Russland getraut. Tja, das war es auch schon von uns.« Kaum hatte Herr Kramer ausgesprochen, wurde sein Nachbar unruhig. Der etwa sechzig jährige, untersetzte Mann, mit grauen Lockenkopf fuhr, in einem selbstbewussten Ton, fort: »Ich heiße Oswald Jäger und dies ist meine Frau Sabine. Karl, unser Wachhund macht gerade Siesta.« Er zeigte auf einen Schäferhund, der vor ihren Füßen lag.

»Wir kommen aus Würzburg und sind, so wie es aussieht, die einzigen Wohnwagenfahrer in der Runde.« Der Hesse schlug die Hände über dem Kopf zusammen und flaxte: »Oh Gott, Holländer.« Allgemeines Lachen bereitete sich bei den restlichen Teilnehmern aus. Nachdem wieder Ruhe einkehrte, fuhr Sabine Jäger schmunzelnd fort. »Wir sind schon immer eingefleischte Caravan-Fans. Früher vielleicht aus finanziellen Gründen, jetzt aus Überzeugung. Wir ziehen hinter unseren Mercedes ML 350 einen acht Meter langen Campingwagen mit Vollausstattung her. Mädels aufgepasst, mit Backofen, Mikrowelle und Spülmaschine.« Ihr Mann fügte mit erhobenen Zeigefinger hinzu: «Und einer GPS-Alarmanlage mit Bewegungssensoren, die mir eine SMS schickt, falls jemand unserem Häuschen zu nahekommt.« Er blickte in Richtung des Offenbachers. »Es gibt auch durchaus Vorteile einen Wohnwagen zu besitzen. Das werdet ihr spätestens sehen, wenn es darum geht einen Abstecher in die Innenstadt zu unternehmen.« Grinsend ergänzte seine Frau: »Nachdem hier schon zur Apfelweinverkostung, Reisebus-Besichtigung mit bayrischem Bier und Fischessen eingeladen wurden, setze ich noch einen drauf und lade alle ein, sich unser Gespann einmal aus der Nähe anzusehen. Da mein Mann bekennender Kuchenholiker ist, kann ich euch jeder Zeit mit selbstgebackenen Kuchen versorgen.«

Danach war die Vorstellungsrunde vorüber und der Organisator übernahm aufs Neue das Wort. »Das war die optimale Überleitung. Da wir uns jetzt besser kennen, eröffne ich hiermit das Buffet. Ich schlage vor, jeder holt sich etwas zu essen und zu trinken. In einer halben Stunde machen wir mit einigen generellen Informationen weiter».

Nachdem alle Teilnehmer mit Speisen und Getränken versorgt waren und erneut auf ihren Plätzen saßen, setzte Herbert Buschmann seine Ansprache fort. »Wie vorhin erwähnt, geht es jetzt mit organisatorischen Themen weiter.« Er hielt einen Ordner in die Höhe. »Ihr bekommt gleich Unterlagen, in denen ihr den genauen Routenplan, eine Telefonnummernliste und Detailinformationen über unsere einzelnen Stationen entnehmen könnt. In der Regel ist es euch überlassen, ob ihr individuell reist oder in der Gruppe. Ausnahme sind einige Abschnitte, beispielsweise in Russland. Dort sollten wir gemeinsam im Konvoi reisen.« An dieser Stelle erklärte seine Mitarbeiterin: »Ihr werde aber rechtzeitig darüber informiert. Wir setzten uns jeden Abend zusammen, um den nächsten Tagesabschnitt im Detail zu bereden.«

In der folgenden Stunde sprachen Maren und Herbert abwechselnd weitere Themen an.

Anschließend fragte Herr Buschmann: »Bevor wir kurz den morgigen Routenabschnitt ansprechen, habt ihr zwischenzeitlich Fragen?« Richard Imker, der Besitzer des Luxus-Wohnmobiles, meldete sich in einem gereizten Ton zu Wort. »Wie gehen wir damit um, wenn einer dieser älteren Vehikel«, er deutete auf den Reisebus und den VW Camper, »nicht mehr funktionsfähig sind?« Er strich sein feines Sakko glatt. »Ich akzeptiere keine Verzögerungen, wir haben für die Reise eine Menge Geld gezahlt.« Bei den Fahrern der genannten Fahrzeuge gruben sich schlagartig Falten in die Gesichter. Herbert Buschmann versuchte die Situation zu entschärfen. »Ich denke, da brauchen wir nichts befürchten. Beide Oldtimer sind super restauriert und technisch in einem Top-Zustand. Im Übrigen können neuere Gefährte ebenfalls Probleme bekommen.« Er ging einen Schritt auf die Imkers zu. »Du hast natürlich recht, ihr alle habt für bestimmte Leistungen, wie Übernachtungen, Stadtführungen und so weiter bezahlt, die wir erbringen müssen. Sollte dies, warum auch immer, nicht erfolgen, werden wir darüber reden und eine Lösung finden.« Herr Imker blickte weiterhin angespannt und sagte: »Meine Irritation ist persistent.«

Sepp Sommer, der Fahrer des alten Reisebusses, wurde unruhig und fragte seine Nachbarin. »Hod da mi jetz beleidigt.« »Nein, ihm ist nur nicht ganz klar, was Herbert gemeint hat«, besänftigte die Ärztin den Bayern. »Ei warum redet der den da so geschwollen daher?« »Das ist eine berechtigte Frage.«

Herbert Buschmann blieb ruhig und präzisierte seine Aussage von zuvor: »Ich meine damit, alle versprochenen Leistungen werden von uns erbracht, ansonsten habt ihr Anspruch auf eine Ermäßigung.« Richard Imker schien beruhigt. »Ok, danke für die Antwort.« Seine Frau meldete sich zu Wort: »Ich habe eine weitere Anfrage. Hast du etwas von dem fehlenden Teilnehmer gehört? Er ist ein Bekannter von uns. Wir können ihn telefonisch nicht erreichen. So langsam machen wir uns Sorgen.« Der Organisator schüttelte den Kopf. »Nein, wir haben auch keine Informationen. Wahrscheinlich hatte er eine Panne und reist später an. Ich werde es im Laufe des Abends nochmals auf seinem Handy probieren.«

Im weiteren Verlauf des Treffens beantworteten die beiden Veranstalter noch weitere Fragen. Im Anschluss informierten sie über die bevorstehende erste Etappe. Diese ging von Görlitz nach Polen, ins hundertachtzig Kilometer entfernte Wroclaw, ehemals Breslau. Treffpunkt war ein Campingplatz in Nähe der Altstadt. Um fünfzehn Uhr sollte eine von Buschmann Womo-Tours organisierte Stadtführung stattfinden. Gegen Abend wollte man sich erneut zum Briefing für den darauffolgenden Tagesabschnitt treffen.

Abschließend sagte Herbert. »Damit ist der offizielle Part beendet.« Er klatschte in die Hände. »Jetzt können wir zum geselligen Teil übergehen«, er zeigte auf das Buffet, «greift zu und lasst es euch weiterhin schmecken.« Die Teilnehmer nahmen das Angebot gerne an und genossen das Essen und die Getränke. Dabei kamen sie zunehmend miteinander ins Gespräch. Im Laufe des Abends bildeten sich mehrere Grüppchen, die den Tag in fröhlicher Runde ausklingen ließen.

Die Ehepaare Schmidt aus Offenbach, die Jägers und die Sommers feierten vor deren Reisebus mit bayrischem Bier den ersten gemeinsamen Urlaubstag.

Die befreundeten Kieler Paare Britz und Friedrich studierten zusammen die Reiseunterlagen von Wroclaw.

Die Ärztin, Petra Braun und die beiden Organisatoren hatten sich vor dem Unimog von Herbert zusammengefunden. Sie saßen unter der Markise des Reisemobiles mit einem Glas Rotwein in der Hand und unterhielten sich über die bevorstehende Reise.

Im Laufe der Unterhaltung gestand Petra: »Meine Tochter und ich haben nicht die geringste Ahnung vom Camping. Ich hoffe, wir kriegen das alles hin.« Maren lächelte sie an. »Mach dir darüber keine Gedanken. Um die Organisation müsst ihr euch nicht kümmern, das übernehmen wir.« Dabei sah sie ihren Chef an. »Wenn ihr Fragen habt, helfen wir gerne.« Prostete er der Ärztin zu.

»Fangen wir doch gleich mit Lektion eins an. Der Unterschied zwischen Camping und Reisen mit dem Wohnmobil.« »Ähm, gib es da einen Unterschied?« »Für die Hardcore- Wohnmobilisten schon. Camping bedeutet in einem umschlossenen Bereich, einen Campingplatz, für eine längere Zeit seinen Urlaub zu verbringen. Man steht dort sicher und kann die entsprechende Infrastruktur, wie Duschen, Toiletten, Waschmaschinen, Gaststätte und so weiter nutzen. In so einer Anlage ist immer etwas los. Kinder flitzen durch die Gegend, es gibt organisierte Veranstaltungen und so weiter. Wohnmobilreisen heißt dagegen, nur kurz an einem Ort zu verweilen. Möglichst auf ruhigen Wohnmobilstellplätzen oder sogar freistehen. Nach ein oder zwei Tagen, geht es dann weiter zum nächsten Ziel.« »Was sind denn Wohnmobilstellplätze?«, hakte Petra nach. »Das sind Areale, die speziell für Reisemobile zum Übernachten vorgesehen sind. Diese sind deutlich schlichter ausgestattet, da die Fahrzeuge heutzutage alles an Bord haben. Dafür sind sie teilweise gebührenfrei oder entschieden günstiger als Campingplätze. Außerdem soll das Klientel ein anderes sein.« Die Ärztin schüttelte den Kopf. »Das ist mir zu kompliziert. Für mich machen wir Camping.« Herbert hob lachend sein Glas. »Du hast ja Recht. Wir werden in den folgenden drei Wochen auf Campingplätzen und Stellplätzen übernachten. Also, auf eine schöne Campingtour durch das Baltikum.«

Das Ehepaar Imker schaute in ihrem Luxusheim den neuesten Tatort und gönnte sich dazu einen Champagner.

Vor dem Wohnmobil der Brauns saßen Tobias Bär, die Olsens und Franziska in lustiger Runde zusammen. Sie diskutierten über die bevorstehende Reiseroute. Nach dem dritten gemeinsamen Bier fragte Sven den Polizisten. »Jetzt mal raus mit der Sprache, was ist genau bei dem Einsatz passiert, bei dem du dich verletzt hast?«, dabei schaute er seine Freundin an. Diese verstand den Wink und lauschte gespannt. Tobias Gesichtszüge verhärteten sich. Er antwortete bedächtig: »Bei einer Razzia in Wiesbaden gab es eine Schießerei. Mich hatte es am Arm erwischt«, er hielt kurz inne bevor er weitersprach. »Danach habe ich das Bewusstsein verloren und bin eine Treppe heruntergefallen. Dabei ging mein rechter Oberschenkel zu Bruch.« Er klopfte sich auf sein Bein und fuhr mit belegter Stimme fort. »Das eigentliche Tragische ist, dass zwei Kollegen bei dem Einsatz ums Leben gekommen sind.« Nach einigen Sekunden des Schweigens ergänzte er: »Die beide waren Freunde von mir.« Im Anschluss herrschte betretene Stille. Peinlich berührt sagte Sven: »Tut mir leid!« Franziska verspürte ein tiefes Mitgefühl für Tobias. Sie legte ihre Hand auf seinem Unterarm. »Wenn du Probleme mit deinem Arm oder Bein haben solltest, kann ich mir dies gerne anschauen. Du weißt, ich bin Osteopathin.« Der Polizist nickte ihr zu und erwiderte mit einem Lächeln. »Das ist lieb von dir Franziska. Vielleicht komme ich darauf zurück. Danke!«

Einige Minuten später gesellten sich Herbert Buschmann und Petra Braun zu der Gruppe. »Tobias, kann ich dich einmal kurz unter vier Augen sprechen?«, fragte der Veranstalter. »Klar, kein Problem.« Der Polizist stand auf und ging mit einem Bier in der Hand, zu dem Chef der Tour, der abseits auf ihn wartete. »Was gibt es denn? Gab es wieder Beschwerden über meine Schrottkiste?«, fragte er lächelnd. »Nein, nein um Gotteswillen. Es geht um den fehlenden Teilnehmer Walter Nagel. Ich kann ihn telefonisch nicht erreichen. So langsam befürchte ich, dass etwas passiert sein muss. Unfall, Panne oder was weiß ich. Du bist doch Polizist, wäre es möglich, dass du bei deinen Kollegen einmal nachfragst?« »Natürlich, versprechen kann ich aber nichts«, er sah auf die Uhr und ergänzte, »Nach zehn, heute wird dies allerdings nichts mehr, vielleicht kann ich morgen etwas in Erfahrung bringen.« »Danke, dass du dich der Sache annehmen willst.« »Da nicht für. Schicke mir bitte eine SMS mit Namen, Handynummer und KFZ - Kennzeichen.« »Klar, bekommst du gleich.«

Gegen halb elf wurde es langsam ruhiger auf dem Campingplatz. Die Teilnehmer suchten ihre mobilen Heime auf. Dort ließen sie die Eindrücke des Tages sacken und bereiteten sich auf die morgige Weiterfahrt vor.

Sepp und Traudel Sommer saßen in ihrem ausgebauten Reisebus und blätterten den Ordner mit den Reiseunterlagen durch. »Sepp, wie fandest du die Offenbacher und die Holländer?« Ihr Mann konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. »Des san ois nette Leid. Der Schorsch zum Beispui is zwar a bissl gewampert, aber en feiner Bursch.« »Stimmt, ich glaube mit denen werden wir noch eine Menge Spaß haben. Die nächsten Tage probieren auf jeden Fall den Apfelwein von den Hessen aus«, sagte seine Frau.

Tobias Bär lag zu dieser Zeit bereits im Bett und schrieb seinem Freund und Kollegen, Andreas Flamse, eine SMS.

»Hallo Andi,

in unserer Reisegruppe wird ein Teilnehmer vermisst. Kannst du bitte morgen eine Abfrage nach einem Walter Nagel vornehmen? Er fährt ein Wohnmobil mit dem Kennzeichen DO-YX909. Danke!

Gruß an Katrin und die Jungs.

Tobi.«

In dem Hymer Exsis der Brauns gingen Petra und ihre Tochter so langsam ins Bett. Franziska machte es sich in dem Hubbett oberhalb der Fahrerkabine bequem und ihre Mutter schlug im Heck ihr Lager auf. Petra dachte über den ersten Urlaubstag nach. »Dies war ein erfolgreicher Ferienanfang. Wir sind gut angekommen und die Leute sind alle nett. Oder?« Ihre Tochter legte ihr Buch zur Seite. »Bis auf die mit dem Riesenschiff. Das sind so unsensible Neureiche. Ich glaube, die machen noch Ärger.« Ihre Mutter setzte sich im Bett auf. »Stimmt, aber von denen lassen wir uns die Tour nicht verderben. Was hälst du eigentlich von dem Polizisten? Der ist doch knuffig. Wenn er spricht, wird es mir ganz warm ums Herz.« »Seine Stimme hat schon etwas besonderes.« »Also, jetzt sei ehrlich, der gefällt dir doch.« Mit einem leichten Grinsen sagte ihre Tochter: »Mama, halt dich bitte zurück. Im Übrigen können wir auch über Herbert reden. Der ist für sein Alter ziemlich attraktiv. Wenn ich mich recht entsinne, hast du dich mit ihm sehr intensiv unterhalten.« Ihre Mutter drehte sich auf die Seite und meinte. »Sei nicht albern Kind. Lass uns jetzt schlafen, morgen haben wir einen anstrengenden Tag vor uns.«

Sven und Svenja saßen gemeinsam am Esstisch ihres Wohnmobiles. Sven klappte den Outdoor Laptop zu. »Die Geschichte von dem Bullen scheint zu stimmen. So wie es aussieht, gibt man ihm eine Teilschuld an dem schiefgelaufenen Einsatz. Wenn er die Versetzung in den Innendienst verweigert, wird er gefeuert. Er kann einem echt leid tun. Frau weg, keine Kohle und im Job läufts auch bescheiden.« »Du bist dir also sicher, dass er nicht hinter uns her ist.« Sven kratze sich am Kopf und seufzte. »Nein. Das was ich bisher gesehen habe, war unauffällig. Um an seine Personalakte ranzukommen brauche ich mehr Zeit. Wir sollten ihn weiterhin im Auge behalten und von Tag zu Tag entscheiden. Wenn wir die Gelegenheit bekommen, ihn loszuwerden, werden wir diese nutzen.« Svenja entspannte sich ein wenig. Sie legte den Arm um ihren Freund und lächelte. »OK, Mr. Superhacker 007, lass uns ins Bett gehen, deine Miss Moneypenny hat noch was vor mit dir.«

4. Wroclaw

Tag 2, von Görlitz nach Wroclaw (Polen) - 180 km

Wroclaw ehemals Breslau ist die viertgrößte Stadt Polens mit mehr als sechshunderttausend Einwohnern. Sie liegt auf circa einhundert Metern in Niederschlesien zwischen dem Sudeten- und dem Katzengebirge. In den letzten fünfundzwanzig Jahren entwickelte sich die Stadt zu einem überregionalen Wirtschaftszentrum. 2016 war Breslau Europäische Kulturhauptstadt. Durch das Stadtgebiet fließen vier Nebenflüsse der Oder: die Ohle, Lohe, Weide und die Schweidnitzer Weistritz. Breslau wird auch als »Venedig Polens« bezeichnet, da sie inmitten von zahlreichen Kanälen liegt und mit einer Vielzahl von Brücken verbunden ist. Beim Bummeln durch die Straßen lohnt sich ein Blick nach unten. Dort kann man die kleinsten Wahrzeichen Krasnale (Bronze Wichte) sehen. Sie stehen in der ganzen Stadt herum. Die lustigen Zwerge haben einen politischen Ursprung. In den achtziger Jahren hat die Oppositionsbewegung »Orange Alternative« mit Demonstrationen in Zwergenkostümen Kritik am kommunistischen System geübt und den Papa Zwerg aufgestellt. Einundzwanzig Jahre später tauchten weitere Winzlinge, als Projekt von Studenten der Kunsthochschule auf. Mittlerweile gibt es mehr als dreihundert Zwerge. Die dreißig Zentimeter kleinen Wichte sind überall verteilt und eine Touristenattraktion.

Die Altstadt ist nicht nur das historische, sondern auch das soziale und kulturelle Zentrum. Neben wundervoller Architektur kann man eine große Anzahl kleiner Geschäfte, Restaurants und Museen bewundern. Tobias stand gegen sieben auf und aß eine Kleinigkeit. Danach zog er Sportsachen und Laufschuhe an. Anschließend startete er sein morgendliches Fitnessprogramm. Er wollte in den folgenden zwei Monaten seinen alten Fitnessstand wieder erreichen und hatte sich vorgenommen täglich dafür zu trainieren.

Die Sonne strahlte bereits von einem blauen Himmel, als er sich auf den Weg machte den nahegelegenen Badesee zu umrunden. Das Ehepaare Schmidt und die Organisatoren Herbert und Maren saßen bereits vor ihren Wohnmobilen und frühstückten. Bei den restlichen Fahrzeugen rührte sich noch nichts. Am See traf er Oswald Jäger, der seinen Hund ausführte. »Sportlich, sportlich und das um die Uhrzeit. Respekt!« Tobias hob grüßend die Hand und erwiderte mit einem Augenzwinkern im Vorbeilaufen. »Mal schauen, wie lange die Luft reicht.«

Nach dreißig Minuten entdeckte er einen Trimmpfad. Er nutzte die Gelegenheit und machte einige Situps, Barrendips und Klimmzüge. Als er schwitzend und stöhnend an einer Klimmzugstange hing, wurde er von hinten angesprochen. »Ich dachte, ich bin die einzig Verrückte, die um diese Uhrzeit joggen geht.« Tobias beendete seine Übung und drehte sich herum. Er sah Franziska auf sich zu laufen. »Morgen, gut geschlafen in der ersten Nacht im Wohnmobil?« Sie kam vor ihm zum Stehen. »Super und selbst?« »Danke, wie ein Stein. Wenn du auf dem Rückweg bist, würde ich mich dir gerne anschließen, falls du nichts dagegen hast. Ich bin hier soweit fertig.« »Es wäre mir eine Freude.« Durch das eng anliege T-Shirt konnte sie die Konturen seines durchtrainierten Oberkörpers sehen. »Aber nur, wenn du mir nicht davonläufst. Du siehst ziemlich fit aus.« Er klopfte sich auf seinen Oberschenkel und erwiderte mit einem schelmischen Lächeln: »Mit meinem Krüppelbein bin ich froh, wenn ich überhaupt wieder zurückkomme.«

Beide liefen in einem gemäßigten Tempo nebeneinander her, so dass sie sich dabei unterhalten konnten. »Hast du noch Probleme mit deinem Bein?« »So lange ich es nicht übertreibe, geht es wieder. Ich habe mein Mountainbike mitgenommen, um zwischen Laufen und Fahrradfahren wechseln zu können. Beim Radfahren werden die alten Knochen weniger belastet.« Er schaute sie von der Seite an und stellte fest. »Du siehst aber auch nicht gerade unsportlich aus. Gehst du oft joggen?« Sie lachte verlegen. »Früher habe ich viel Sport getrieben.« Ihre Stimme wurde einen Hauch ernster. »In den letzten Jahren eher selten, da ich mir, mit meinem ehemaligen Freund eine osteopathische Praxis aufgebaut habe. Das hat sich jetzt geändert und ich will wieder regelmäßig trainieren gehen.« Er merkte, dass dies ein sensibles Thema für sie war, fragte aber trotzdem vorsichtig weiter. »Wie lange ist die Trennung her?« »Vor einigen Monaten haben wir uns privat getrennt und seit ein paar Wochen sind wir beruflich auch kein Team mehr. Nachdem Lars mir eine faire Abfindung gezahlt hat, habe ich die Praxis für immer verlassen.« In einem bedauernden Tonfall fuhr sie fort. »Dieser Schritt ist mir sehr schwergefallen, da mein ganzes Herzblut in dem Projekt steckte, aber es ging nicht anders.« Mit etwas mehr Kraft in der Stimme ergänzte sie. »Der Urlaub soll ein Neuanfang werden. Ich will wieder Energie tanken und nach der Tour entscheiden, wie es weitergeht. Vielleicht eine eigene Praxis aufmachen oder etwas ganz anderes.« Tobias dachte über seine Lebenssituation nach. »Das hört sich so an, als ob wir Leidensgenossen sind, was unsere Beziehungsleben und die Jobs angehen.« Plötzlich klingelte sein Handy.

»Sorry, da muss ich rangehen.« Im Weiterlaufen holte er das Mobiltelefon heraus und meldete sich. »Hi, Andreas. Danke für deinen Rückruf.« »Servus Tobi, pass auf, ich mache es kurz. Ich bin auf dem Weg zum Flughafen. Die nächsten vier Wochen darf ich mir in Lissabon die Polizeiarbeit der portugiesischen Kollegen ansehen. Europäisches Programm zum Austausch von Erfahrungen.« Tobias hörte im Hintergrund Fluglärm. »Also, dieser Walter Nagel ist tot. Er ist mit seinem Wohnmobil in ein Stauende gefahren und dabei verstorben.« Tobias holte tief Luft und seufzte: »Verdammt.« »Es geht noch weiter. Irgendetwas ist faul an der Sache. Es wird eine Obduktion durchgeführt, da Verdachtsmomente aufgetaucht sind, die auf eine nicht natürliche Todesursache hindeuten. Sollte ich weitere Informationen bekommen, melde ich mich.« »Danke Andreas.« »Kein Problem. Die nächste Zeit werde ich nur schwer zu erreichen sein. Falls du noch Fragen haben solltest, schreib eine SMS oder eine Mail. Ich melde mich dann bei dir.« »Mache ich, nochmals danke.« »Tobi und noch eins. Ruf bitte nicht im Präsidium an. Du weißt, im Moment bist du hier ziemlich unbeliebt.« Etwas gereizt erwiderte er: »Du wirst lachen, das ist mir durchaus bewusst.« Anschließend fuhr er in einem versöhnlichen Tonfall fort. »Sorry, ich wünsche dir eine gute Zeit in Portugal. Lass dir die Sonne auf den Pelz brennen.« »Werde ich machen. Dir einen angenehmen Urlaub und sehe zu, dass du wieder fit wirst. Wir brauchen dich.« Danach war das Gespräch beendet.

»Schlechte Nachrichten?«, fragte Franziska, nachdem er sein Handy wieder eingesteckt hatte. »Leider ja. Der fehlende Teilnehmer ist bei einem Verkehrsunfall verstorben.« »Oh Gott, das ist ja fürchterlich«, sagte sie erschüttert. »Da hast du recht. Ich muss sofort Herbert und die Imkers informieren.«

Sie liefen die restliche Strecke mit erhöhtem Tempo zurück, ohne weiter miteinander zu sprechen. Beide waren in Gedanken versunken. Der Polizist überlegte, wie er die Nachricht über den Unfall möglichst schonend formulieren konnte. Franziska dachte darüber nach, wie schnell sich das Leben ändern konnte.

Nachdem die zwei wieder im Camp ankamen, stellten sie fest, dass einige Teilnehmer bereits die Weiterreise angetreten hatten. Die Plätze der Ehepaare Schmidt, Jäger und Olsen waren verwaist. Maren als Mitorganisatorin war ebenfalls frühzeitig abgereist, um die Anmeldung am Campingplatz in Wroclaw vorzunehmen und weitere Vorbereitungen zu treffen. Die Imkers verließen gerade mit ihrem Reisemobil ihren Platz und fuhren zur Entsorgungsstation. »Franziska, es war schön, mit dir zu laufen, aber jetzt muss ich versuchen die Imkers zu erwischen.« »Ich beneide dich nicht um diese Aufgabe.« Tobias drehte ab und lief dem Wohnmobil hinterher. Die Osteopathin rief ihm noch nach. »Wenn du Lust hast, kannst du zu unserer Kaffeerunde dazukommen. Treffpunkt ist bei uns.« Er hob seine rechte Hand als Zeichen, dass er verstanden hatte.

Als er an der Entsorgungsstation ankam, stieg das Ehepaar aus ihrem Fahrzeug aus. »Guten Morgen. Kann ich euch sprechen?« »Ja, um was geht es denn?«, antwortete Richard Imker. »Herbert hat mich gestern gebeten, bei meinen Kollegen nachzufragen, ob sie etwas über den Verbleib eures Freundes herausbekommen können.« Er hielt kurz inne, bevor er weitersprach. »Ich habe leider eine traurige Nachricht für euch. Walter Nagel ist bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen.« Sowohl Gudrun als auch ihr Mann starrten ihn geschockt an. »Das ist ja fürchterlich, was ist denn passiert?«, stammelte Gudrun. »Herr Nagel ist ungebremst in ein Stauende gefahren.«

Nachdem Tobias den Eindruck hatte, dass er die zwei mit ihrer Trauer alleine lassen konnte, ging er zu seiner Frühstückseinladung. Vor dem Wohnmobil der Brauns saßen Herbert, Franziska und ihre Mutter an einem gedeckten Tisch. Als Petra ihn kommen sah, winkte sie ihm zu. »Morgen, wir haben dir noch ein Plätzchen freigehalten«, sie deutete auf einen Stuhl neben ihrer Tochter. »Hallo zusammen«, begrüßte Tobias die Runde. »Das sieht aber lecker aus.«

Während des anschließenden Frühstücks erzählte er die Neuigkeiten über Herrn Nagel. Es bildeten sich Sorgenfalten auf Herberts Stirn. »Das ist ja furchtbar.« Die Ärztin blickte betroffen. »Um Gottes willen, das ist schrecklich.« Nachdem der Organisator den ersten Schreck überwunden hatte, sagte er: »Danke, dass du die Imkers bereits informiert hast.« Nach kurzen Zögern fuhr er fort. »Bitte jetzt nicht falsch verstehen, aber es wäre schön, wenn wir die Information für uns behalten könnten. Ich möchte die restlichen Teilnehmer auf keinen Fall unnötig mit schlechten Nachrichten belasten.« Der Rest der Frühstücksrunde nickte ihm zustimmend zu.

In der darauffolgenden Stunde genossen die vier, trotz des traurigen Ereignisses, das Zusammensein in der Sonne.

»Nachdem wir gut gestärkt sind, sollten wir so langsam aufbrechen. Alle anderen sind bereits abgereist«, läutete Herbert das Ende des Treffens ein.

Die vier packten im Anschluss ihre Sachen zusammen und verstauten diese in ihren Fahrzeugen. Gegen elf Uhr verließen sie nacheinander den Campingplatz mit dem Ziel Breslau. Die Brauns, mit Franziska am Steuer, fuhren als Letzte vom Platz. »Schau mal Kind, die Leute sind aber freundlich. Siehst du wie die uns alle begeistert zum Abschied zuwinken.« Petra und ihre Tochter grüßten höflich zurück. Einige Minuten später fuhr der Hymer mit zügigem Tempo auf die Autobahn in Richtung Polen, als in einer Kurve plötzlich der Kühlschrank aufsprang und sich der komplette Inhalt im Wageninneren verteilte. »Verdammter Mist« schimpfte Petra, als sie die Bescherung sah. »Mensch Franzi, hast du die Tür nicht richtig zugemacht?« »Du warst doch als letzte am Kühlschrank«, entgegnete ihre Tochter gereizt. »Ich fahre die nächste Möglichkeit raus, dann können wir die Sauerei aufräumen.« Einige Kilometer später fuhren sie auf einen Parkplatz. Dort räumten beide den Kühlschrank wieder ein und lachten über ihr Missgeschick. »Wir sind zwei tollpatschige Figuren« stellte Franziska lachend fest. Ihre Mutter musste ihr grinsend zustimmen. »Stimmt, aber wie hat ein Fußballtrainer einmal gesagt: »Lebbe geht weider.«

Wenig später steuerten die Brauns wieder auf die Autobahn Richtung Polen. »Jetzt müssen wir ein bisschen Gas geben, um nicht als Letzte in Breslau anzukommen«, sagte Franziska und beschleunigte das Wohnmobil auf Hundertzwanzig. Unterwegs überholten sie außer ihren Mitreisenden Tobias noch diverse andere Fahrzeuge.

Kurz vor Breslau unterhielten sich die Imkers über den Todesfall ihres Freundes. »Wie hast du die Nachricht von Walters Tod verkraftet? Immerhin kanntest du ihn am besten von uns beiden«, fragte Gudrun. »Das war schon ein Schock, aber ich werde darüber hinwegkommen«, erwiderte er recht kühl. »Wir hatten früher einen guten Draht und wenn wir uns alle paar Jahre einmal gesehen