Vergeltung im Münzhaus - Petra Schier - E-Book + Hörbuch

Vergeltung im Münzhaus Hörbuch

Petra Schier

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Beschreibung

Köln 1408: Im Haus des Münzwechslers Henns Birboim wird ein Toter aufgefunden - brutal erstochen. Ein Knecht beschuldigt die junge Hebamme Clara des Mordes an ihrem Vater. Offenbar ein Racheakt: Der Tote hatte das Mädchen einst an ein Hurenhaus verpfändet, um seine Schulden zu begleichen. Im Kerkerturm wird Clara bald ein zweiter Mord zur Last gelegt. Apothekerin Adelina setzt mit ihrer Tochter Griet alles daran, dem unglücklichen Mädchen zu helfen. Unterstützung erhalten sie dabei aus einer Richtung, aus der sie es nie für möglich gehalten hätten ... «Gefühlvoll und mit leichter Sprache schafft Petra Schier eine vertraute Atmosphäre, in die sich auch Leser hineinfinden, die keine früheren Adelina-Romane kennen.» (Frankfurter Neue Presse)

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Zeit:15 Std. 51 min

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Petra Schier

Vergeltung im Münzhaus

Apothekerin Adelina

Historischer Roman

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Köln 1408: Im Haus des Münzwechslers Henns Birboim wird ein Toter aufgefunden – brutal erstochen. Ein Knecht beschuldigt die junge Hebamme Clara des Mordes an ihrem Vater. Offenbar ein Racheakt: Der Tote hatte das Mädchen einst an ein Hurenhaus verpfändet, um seine Schulden zu begleichen.

Im Kerkerturm wird Clara bald ein zweiter Mord zur Last gelegt. Apothekerin Adelina setzt mit ihrer Tochter Griet alles daran, dem unglücklichen Mädchen zu helfen. Unterstützung erhalten sie dabei aus einer Richtung, aus der sie es nie für möglich gehalten hätten ...

 

Über Petra Schier

«Lasst euch durch den Zorn nicht zur Sünde hinreißen!

Die Sonne soll über eurem Zorn nicht untergehen.»

Epheser, 4,26

 

«Alles, was aufgedeckt ist, wird vom Licht erleuchtet.»

Epheser, 5,13

1. Kapitel

«Mutter?» Griet streckte den Kopf durch die Tür des Hinterzimmers, die zur Apotheke führte. «Der Haferbrei ist fertig, und Vater sagt, er muss sich mit der Frühmahlzeit beeilen, weil er heute so viele Patientenbesuche machen muss.»

«Ich komme gleich.» Adelina gab gerade vorsichtig ein Quantum Auripigment in die Waagschale und legte ein winziges Gewicht in die andere. Das Abwiegen oder Mischen der Malerfarben überließ sie inzwischen meistens ihrer Nichte Lucardis, die seit vier Jahren bei ihr in die Lehre ging. Doch das Mädchen war übers Wochenende bei ihrem Vater, Adelinas Bruder Tilmann, und dessen Familie zu Besuch gewesen und würde wohl erst im Lauf des Vormittags wieder da sein. Meister Grunert hatte aber schon am Freitag eine Bestellung über diverse Farben aufgegeben und darum gebeten, sie so rasch wie möglich zu erhalten. Also übernahm Adelina diesmal selbst diese Arbeit.

Erst als die Menge in der Schale ganz genau stimmte, füllte sie das Auripigment in ein Säckchen und verschloss dieses mit einem gelb gefärbten Stück Garn. Sie richtete sich auf und rieb sich den schmerzenden Nacken. Ihre Muskeln hatten sich verkrampft. Das Frühstück war eine willkommene Unterbrechung, denn sie war schon seit Sonnenaufgang in der Apotheke beschäftigt. So hatte sie bereits die Destille im Hinterzimmer in Gang gesetzt, um Weingeist herzustellen, den sie diversen Arzneien zusetzte. Auch die Zutaten für ihr weit über die Kölner Grenzen hinaus bekanntes und sündhaft teures Konfekt hatte sie gesichtet und festgestellt, dass sie größere Bestellungen über den seltenen weißen Zucker sowie über bittere Mandeln aufgeben musste. Mira, ihre Schwägerin und ehemalige Gesellin, würde sich der Bestellung sicherlich anschließen, denn Mandeln und Bittermandeln gehörten ebenso wie Zucker und noch einige weitere Ingredienzien zu den Bestandteilen des Marzipans, das sie seit Jahren in größeren Mengen herstellte.

Während Adelina rasch die Waagschalen reinigte und die Waage zurück an ihren Platz stellte, dachte sie lächelnd an das freche, widerspenstige Mädchen, als das Mira vor vielen Jahren zu ihr in die Lehre gekommen war. Als jüngste Tochter einer jüngeren Linie der adeligen Familie von Raderberg hatte sie die Lehrstelle zunächst als unter ihrer Würde angesehen. Vorlaut und streitbar war Mira zwar nach wie vor, doch sie hatten sich zusammengerauft, und inzwischen war Mira nicht nur mit Adelinas Bruder Tilmann Greverode verheiratet, sondern hatte selbst die Meisterwürde erlangt und stellte derzeit als einzige Apothekerin Kölns das wertvolle Marzipan her. Vermutlich würde sie ihre Stieftochter Lucardis nachher begleiten, denn sie teilte sich die Räumlichkeiten der Apotheke mit Adelina.

Tilmann hatte Mira zwar angeboten, in seinem Haus am Heumarkt eine eigene Apotheke einzurichten, doch Mira war der Ansicht gewesen, dass diejenige am Alter Markt auch für zwei Meisterinnen ausreichte. Da sie überdies nur an einigen Tagen in der Woche hier arbeitete, waren sie übereingekommen, es vorerst bei diesem Arrangement zu belassen.

Adelina strich die Leinenschürze über ihrem dunkelgrünen Surcot glatt und ging durch das Hinterzimmer in Richtung Küche. Schon von dem schmalen Korridor aus hörte sie das Lachen ihres jüngeren Bruders Vitus und ihrer achtjährigen Tochter Katharina sowie die leisen Stimmen des Gesindes. Als sie die Küche betrat, stand die Magd Franziska an dem großen Topf, der über dem Dreibein hing und in dem sie gerade die Gemüsesuppe aufsetzte, die es zum Mittag geben würde. Ludowig, der hünenhafte Knecht, stapelte Holzscheite neben dem Ofen auf und erzählte dabei eine Schauergeschichte, die er irgendwo aufgeschnappt hatte.

Schnuppernd hob Adelina die Nase. «Hm, das riecht aber gut. Wer hat denn heute den Brei gekocht?»

«Ich, Mama. Mit Franzis Hilfe.» Katharina stand neben der Magd, um ihr zuzusehen, wie sie frische Petersilie in die Suppe gab. «Pastinaken schneiden durfte ich auch.»

«Sehr schön.» Lächelnd sah Adelina ihrer Tochter zu, wie sie der Magd zur Hand ging. Griet hatte den Tisch bereits gedeckt, sodass Adelina sich gleich auf ihrem angestammten Platz niederließ. Im gleichen Moment öffnete sich die Küchentür erneut, und Neklas betrat den Raum. Er trug seinen dunkelgrauen Arztmantel über dem Arm und hängte ihn an einen Haken, bevor er sich setzte. «Hier riecht es ja geradezu göttlich! Wer hat gekocht?» Sein amüsierter Blick wanderte von Griet zu Adelina und dann zu Franziska und Katharina.

«Trinchen, wer sonst? Und Ziska.» Vitus, der bis jetzt Ludowigs Geschichte gelauscht hatte, nahm seinen Teller und hielt ihn der Magd hin, als diese mit dem Kochtopf voller Haferbrei an den Tisch trat. Dabei hätte er beinahe den Krug mit dem Most aus Sommeräpfeln umgestoßen, den Griet bereitgestellt hatte.

Franziska warf ihm einen strafenden Blick zu, schalt ihn jedoch nicht, denn Vitus war nun einmal tollpatschig. Obwohl er mittlerweile ein Mann von siebenundzwanzig Jahren war, hatte er immer noch den Verstand eines kleinen Kindes.

Vitus ließ seine Schale wieder sinken, zog den Kopf ein wenig ein, grinste dabei aber bubenhaft, was sein leicht schiefes Gesicht mit den schwarzen Haaren und blauen Augen durchaus ansehnlich machte. «Ist schon besser, wenn Ziska und Trinchen kochen. Wenn Griet das macht, schmeckt alles wie eingeschlafene Füße. He, aua!»

Griet hatte ihm einen Stoß mit dem Ellenbogen verpasst, lachte aber. «Oder angebrannt, ich weiß. Was kann ich dafür, wenn das Essen immer viel schneller fertig ist, als ich denke? Und wenn ich zu viel Gewürz nehme, meckert ihr auch.»

Milde schüttelte Adelina den Kopf. «Du könntest zumindest für die Zeit, die du am Kochtopf verbringst, deine Aufmerksamkeit darauf lenken und nicht ständig an die Versuche unten im Laboratorium denken.»

«Ich denke nicht immerzu an die Versuche!»

«Ach nein?»

«Nein, überhaupt nicht.» Griet lachte noch immer. «Aber es gibt einfach so viel anderes, was meiner Aufmerksamkeit bedarf. Die Haushaltsführung beispielsweise. Nicht wahr, Mutter, du weißt zu schätzen, dass ich mich um die Einkäufe kümmere und die Kleider, die die Waschfrauen mitnehmen sollen, und den Garten. Ich muss übrigens unbedingt noch alle Schuhe zusammensuchen, die vor dem Herbst zum Flickschuster gebracht werden sollen. Vitus benötigt außerdem neue Unterwäsche und Hosen, Trinchen ist auch schon wieder aus ihrem Kleid herausgewachsen … Und ich will unbedingt zum Glasbläser, weil mir vorgestern das letzte Philosophische Ei zersprungen ist.»

«O nein.» Adelina ließ ihren Löffel sinken. «Schon wieder ein Glas-Ei? Weißt du, was das kostet?»

Griet verzog den Mund. «Ich bezahle es von meinem Gesellinnenlohn.»

«Selbstverständlich. Du gibst mehr Geld beim Glasbläser aus als andere Frauen für Putz und Tand.» Neklas musterte seine Tochter und rieb sich dabei über den kurzgestutzten Kinnbart, in dem sich, ebenso wie in seinen schwarzen Locken, mittlerweile silberne Strähnen fanden.

«Was soll ich schon mit Putz und Tand?» Achselzuckend widmete Griet sich wieder ihrem Teller.

Darauf sagte niemand etwas. Adelina tat, als habe sie den Kommentar ihrer Stieftochter überhört. «Ein wenig mehr Aufmerksamkeit am Kochtopf würde jedenfalls nicht schaden. Immerhin leidet gleich der gesamte Haushalt, wenn du mit Kochen an der Reihe bist.»

«Ja, Mutter, ich werde mir Mühe geben.»

Das würde sie gewiss, dachte Adelina mit einem innerlichen Seufzen. Während sich das Gespräch allgemeinen Themen des Tages zuwandte, beobachtete sie Griet aus den Augenwinkeln. Ihre Stieftochter war inzwischen zwanzig Jahre alt und auch ohne jeden Tand und Putz eine wunderschöne junge Frau mit ihren tiefbraunen Augen, dem ovalen Gesicht und den stets zu einem kunstvollen Zopf geflochtenen schwarzen Locken, die meist von einem filigranen silbernen Jungfernkranz geschmückt wurden, den Mira ihr vor einigen Jahren geschenkt hatte. Dies war der einzige Schmuck, den Griet trug.

Adelina konnte sich noch genau an den Tag vor gut zwölf Jahren erinnern, an dem Neklas das Mädchen von der Reise in seine Heimatstadt Kortrijk mitgebracht hatte. Sie war seine uneheliche Tochter; ihre Mutter war eine junge Schlupfhure gewesen, die nach Griets Geburt einen Schankwirt geheiratet hatte, jedoch einige Jahre später gestorben war. Wie blass und verängstigt Griet damals gewesen war! Einige Zeit hatten sie nicht gewusst, woher die beständige Furcht des Mädchens vor der Dunkelheit und fremden Männern rührte. Bis in Adelina schließlich der Verdacht aufgekeimt war, dass Griets Stiefvater die Kleine nicht nur widerwillig durchgefüttert, sondern als Kindhure an Freier verkauft hatte. Noch heute mochte Adelina sich äußerst ungern vorstellen, was Griet in jenen Jahren durchgemacht hatte. Die Narben an ihren Handgelenken, dort, wo sie sich selbst in größter Not Bisswunden zugefügt hatte, sprachen eine deutlichere Sprache als alle Worte, die seither über Griets Kindheit gesprochen worden waren. Einiges hatte das Mädchen Adelina über die Jahre anvertraut, doch war dies sicher längst nicht alles. Sie wollte auch nicht zu sehr an der Vergangenheit rühren aus Sorge, Griet würde die Albträume und Schrecken erneut durchleben und vielleicht daran Schaden nehmen.

Aus dem ängstlichen Mädchen war eine kluge, wissbegierige junge Frau geworden, die ihre Aufgaben in Apotheke und Haushalt stets willig und mit Freude erfüllte. Seit im vergangenen Winter die alte Magda gestorben war, hatte sie ohne großes Aufhebens die Aufgaben der Dienstbotin übernommen. Wäre sie eine bessere Köchin gewesen, hätte sie sich ausgesprochen gut als Hauswirtschafterin gemacht.

Ihre wahre Leidenschaft jedoch galt, und da stand sie ihrem Vater in nichts nach, der Alchemie. Stunde um Stunde konnten die beiden im Laboratorium unten im Keller verbringen, immer auf der Suche nach dem Geheimnis der Transmutation, auch Stein der Weisen genannt, mit dessen Hilfe jedweder unedle Stoff in einen edleren Daseinszustand überführt werden konnte. Schon Adelinas Vater war ein Adept der Alchemie gewesen und hatte seiner Tochter damit das Leben nicht eben leichtgemacht. Inzwischen hatte sie sich leidlich damit abgefunden, dass sich sowohl ihr Gemahl als auch ihre Stieftochter dieser Passion hingaben. Glücklicherweise gingen sie weit planvoller vor als dereinst ihr Vater, dem beinahe täglich seine Versuche mit lautem Getöse um die Ohren geflogen waren. Nichtsdestotrotz stiegen die Ausgaben der Familie Burka für Glas-Eier und Phiolen sowie für alchemistische Ingredienzien in letzter Zeit immens. Doch wenn es Griet glücklich machte, hatte Adelina gegen diese Beschäftigung nichts einzuwenden. Immerhin stießen die beiden bei ihren Experimenten hin und wieder auf interessante Substanzen, die sich auch in der Apotheke nutzen ließen.

Schüchtern und – vor allem fremden Männern gegenüber – äußerst vorsichtig und zurückhaltend war Griet allerdings nach wie vor. Bei einer braven Jungfer wurden diese Eigenschaften allgemein als wünschenswert angesehen, doch Adelina, der es an diesen Tugenden von jeher gemangelt hatte, betrachtete Griets fehlende Forschheit ein wenig mit Sorge. Bei jeder anderen Jungfer hätte sie sich wohl kaum etwas dabei gedacht und vielleicht sogar empfohlen, ihr einfach einen starken, geradlinigen und fürsorglichen Ehemann zur Seite zu stellen. Doch daran war bei ihrer Stieftochter überhaupt nicht zu denken. Nicht nur, weil Griets Vergangenheit die meisten heiratswilligen Männer, so sie davon erführen, in die Flucht schlagen und darüber hinaus einen Skandal verursachen würde. Außerhalb der engsten Familie und einiger weniger verschwiegener Freunde wusste niemand über die Wahrheit Bescheid. Selbst Adelinas Bruder Tilmann hatte erst nach seiner Hochzeit mit Mira davon erfahren, und auch das nur, weil Adelina ihm hatte erklären müssen, weshalb sie und Neklas keinerlei Anstalten machten, einen Bräutigam für Griet zu finden.

Griet wollte nicht heiraten. Sie wollte einen Mann nicht einmal auf weniger als Armeslänge an sich heranlassen, wenn es sich vermeiden ließ. Einzige Ausnahme bildeten eben jene engen Freunde und die Familie, und selbst bei ihnen hatte es lange gedauert, bis das Mädchen genügend Vertrauen gefasst hatte, um einfache Umarmungen, etwa zur Begrüßung, zuzulassen. Unter diesen Umständen war an eine Vermählung überhaupt nicht zu denken, und weder Neklas noch Adelina würde Griet jemals dazu drängen.

Sie hatte bereits angedeutet, dass sie, wenn es dereinst vonnöten sein sollte, in einen Beginenhof ziehen würde. Solange es aber Familie gab, die Griet bei sich aufnehmen konnte, brauchte sich die junge Frau darüber keine Sorgen zu machen.

«Herrin, habt Ihr schon gesehen, dass sich drüben auf der anderen Seite des Alter Markts etwas beim Haus des verstorbenen Werner Overstolz tut?» Franziska war aufgestanden und teilte Neklas und Vitus einen Nachschlag vom Haferbrei aus.

Aus ihren Gedanken gerissen, hob Adelina erstaunt den Kopf. «So? Was tut sich denn dort?»

«Da sind gestern Abend Männer gewesen, die Kisten gebracht haben», erklärte Vitus. «Und heute Morgen auch wieder.»

«Dann scheint das Haus nun doch verkauft worden zu sein», schloss Adelina. «Aber warum auch nicht? Overstolzens Witwe wird wohl kaum allein in dem großen Haus wohnen wollen. Ist sie nicht schon vor Wochen zu ihrer ältesten Tochter gezogen?»

«So ist es.» Neklas kratzte den letzten Rest Brei aus seiner Schale und schob diese ein wenig von sich. «Ich traf sie kürzlich auf dem Laurenzplatz. Sie sieht nicht gut aus. Blutarm, würde ich sagen. Doctore Bertini behandelt sie, soweit ich weiß.»

«Das tut mir aber leid», sagte Adelina. «Sie ist so eine nette Person. Der Tod ihres Gemahls hat sie sehr mitgenommen, fürchte ich.»

«Das war aber auch ein furchtbarer Unfall mit dem Holzfuhrwerk, das umgekippt und auf ihn gefallen ist.» Franziska schauderte. «Seitdem passe ich immer doppelt auf, wenn mir so ein Ungetüm von Gefährt begegnet. Auch Ludowig sage ich immer, dass er vorsichtig sein soll, wenn er eine Holzladung abholt.»

«Mach ich schon, keine Sorge.» Ludowig zwinkerte ihr zu.

«Das will ich hoffen. Was soll ich schließlich ohne dich machen?» Franziska errötete leicht und sammelte rasch die leeren Schalen ein. Sie und Ludowig waren seit Jahren ein Paar und teilten sich eine Kammer.

«Schon gut, Plappertrinchen. Ich pass schon auf mich auf.» Der Knecht erhob sich und ging zur Tür. «Werd mich mal um das Dach am Hühnerstall kümmern. Das ist schon wieder undicht wie ein Sieb.» Damit verließ er die Küche.

Franziska sah ihm seufzend nach. «Er meint immer, ich würd Gespenster sehen und soll mir keine Sorgen machen.»

Griet hatte sich ebenfalls erhoben und trug den leeren Topf zum Ausguss. «Du weißt doch, wie er ist.»

«Ja, weiß ich.» Franziska lächelte leicht. «Trotzdem finde ich, die Leute sollten viel vorsichtiger sein, vor allem mit diesen Riesenfuhrwerken. Schon allein die Gäule, die sie ziehen, können einen zu Mus trampeln, wenn man unter die Hufe gerät.»

«Da hast du allerdings recht», stimmte Neklas ihr zu. Er war inzwischen in seinen Arztmantel geschlüpft. «Wir sehen ja beinahe täglich nebenan bei Meister Jupp, was für Unfälle aus Unachtsamkeit geschehen können.»

Meister Jupp, ein Baderchirurg und Neklas’ guter und langjähriger Freund, unterhielt im Nachbarhaus, das an der Apotheke klebte wie ein siamesischer Zwilling und eigentlich der Familie Burka gehörte, im Erdgeschoss seine Behandlungsräume. Als er vor Jahren nach Köln gekommen war, hatte er erst ein Haus nicht weit vom Alter Markt bezogen, dann hatte es sich aber als praktischer erwiesen, gleich in der Nähe seines Arbeitsplatzes zu wohnen. Mittlerweile lebte er seit einigen Jahren mit seiner Frau Marie, den beiden Töchtern und den zwei Badergesellen sowie einer ältlichen Küchenmagd in den Zimmern hinter den Behandlungsräumen. Vor drei Jahren hatte er noch zwei weitere Räume nach hinten hinaus angebaut, um mehr Platz zu haben, denn das Obergeschoss wurde von Adelina und ihrer Familie genutzt.

«Das erinnert mich daran, dass ich später noch zu Marie hinübermuss, um zu fragen, ob sie noch frische Kräuter benötigt.» Adelina folgte ihrem Gemahl bis zur Haustür. «Hilka und Eva wollen heute Mittag vorbeikommen und die leeren Kräuterkörbe abholen. Meine Vorräte sind arg zur Neige gegangen, aber nach dem Regen der letzten Tage müsste wieder einiges gewachsen sein.» Sie zupfte ein Haar von Neklas’ Mantel. «Wirst du zum Mittagessen hier sein oder erst heute Abend?»

«Vermutlich irgendwann am späten Nachmittag, wenn ich nicht irgendwo aufgehalten werde.» Er fing ihre Hand auf und drückte sie leicht. «Grüß Reese von mir, wenn er nachher vorbeikommt.»

«Reese?» Verblüfft hob sie den Kopf, dann fasste sie sich an die Stirn. «Liebe Zeit, ich hatte vollkommen vergessen, dass er heute Nachmittag zu Besuch kommen wollte. Was er wohl von mir will?»

«Das wirst du wohl bald erfahren. Ich hoffe, es geht ihm wohl. Bis auf seine gelegentlichen Gichtanfälle hat er sich ja stets guter Gesundheit erfreut.»

«Wenn er krank wäre, würde er doch dich aufsuchen und nicht mich.» Adelina lächelte. «Ich richte ihm deine Grüße aus. Und nun solltest du dich eilen, sonst kommst du zu spät zu deinen Patienten.»

«Wie recht du hast.» Ehe er durch die Tür verschwand, küsste Neklas sie kurz.

Sie sah ihm einen Moment nach, wie er mit forschem Schritt über den Alter Markt davoneilte. Dabei fiel ihr Blick auf die gegenüberliegende Seite des Marktes, wo sich um ein schweres Ochsenfuhrwerk mehrere Schaulustige versammelt hatten, die zwei kräftigen Knechten beim Abladen von Truhen und Möbeln zusahen. Seltsam, dass sie bisher noch gar nichts über den Verkauf des Hauses gehört hatte. Lange konnte das Anwesen noch nicht seinen Besitzer gewechselt haben, sonst wäre die Kunde inzwischen bei ihr eingetroffen.

Als sie sich gerade abwenden wollte, bemerkte sie einen dunkelhaarigen Reiter auf einem Rappen, der auf das ehemalige Overstolzen-Haus zusteuerte und direkt vor dem Hoftor abstieg. Ihr Bruder, Tilmann Greverode, seiner Kleidung nach offenbar in seiner Funktion als Hauptmann der Stadtsoldaten unterwegs. Er übergab die Zügel seines Pferdes einem der Knechte, der es zu den Stallungen führte, und schien sogar mit ihm zu scherzen, während er den Innenhof so zielstrebig betrat, als sei es sein eigener. Das konnte nur bedeuten, dass er den neuen Besitzer gut kannte. Vielleicht einer der Ratsherren oder ein Schöffe. Auf jeden Fall musste er zum wohlhabenden Patriziat gehören, denn das Anwesen des verstorbenen Holzhändlers und Ratsherrn Werner Overstolz umfasste neben einem zweistöckigen Wohnhaus auch eine große Remise, Stallungen und einen weitläufigen Garten nach hinten hinaus. Dies und die vorteilhafte zentrale Lage an einem der wichtigsten Marktplätze Kölns rechtfertigten sicherlich einen happigen Kaufpreis.

Adelina blieb allerdings keine Zeit, weiter darüber nachzudenken, denn in diesem Moment steuerte Magister Pierre van Stijn, der sauertöpfische Medicus der Universität, auf die Apotheke zu und winkte schon von weitem. Offenbar hatte er eine wichtige Arzneibestellung für sie. Da sie außerdem noch nicht mit den Malerfarben fertig war, klemmte sie einen Keil unter die Eingangstür, um die angenehm warme Luft des Spätsommermorgens hereinzulassen, und kehrte an den Verkaufstresen zurück.

***

Etwa eine Stunde später traf Lucardis ein, jedoch nicht in Begleitung Miras, sondern einer Magd, die sich gleich wieder auf den Rückweg machte, nachdem sie das Bündel mit Kleidern, das das Mädchen mit sich führte, hineingetragen hatte.

«Nanu, guten Morgen, Lucardis.» Überrascht musterte Adelina ihre Nichte. «Du bist aber spät.»

«Ja, verzeiht, Frau Adelina. Ich wäre schon viel eher hier gewesen, doch Vater hat uns heute ganz früh mit der Ankündigung überrascht, dass bald ein Turnier hier auf dem Alter Markt stattfinden wird, bei dessen Vorbereitungen Frau Mira mitwirken soll. Die Stadtsoldaten treten gegeneinander an, aber auch gegen ein paar eingesessene Ritter. Da gab es einiges zu besprechen, und ich habe versprochen, Frau Mira zu helfen, soweit es mir möglich ist. Ich hoffe, Ihr seid damit einverstanden.»

«Natürlich bin ich das. Na, so etwas! Ein Turnier hatten wir lange nicht mehr. Das letzte fand im April auf dem Neumarkt statt.»

«Ja, das waren aber nur die Bogenschützen.» Während sie sprach, krempelte Lucardis die Ärmel ihres gelben Kleides ein wenig hoch und zog sich eine Schürze über. Ihr kastanienbraunes Haar hatte sie, ganz dem Beispiel ihrer Stiefmutter folgend, die viel Wert auf ihr äußeres Erscheinungsbild legte, kunstvoll hochgesteckt und mit einem Kränzlein aus Gänseblümchen gekrönt. «Diesmal sollen es auch die Berittenen sein mit Lanzen und allem.»

«Das klingt ja aufregend. Ich werde Mira vorschlagen, dass wir ihr alle helfen, wenn es ihr recht ist.»

Lucardis gluckste. «Das wird es bestimmt. Sie war, na ja, ein wenig ungehalten, weil Vater damit erst jetzt kam, obwohl es nur noch knapp zwei Wochen bis zum Turnier sind.»

«Zwei Wochen? Eiwei, das ist aber wirklich kurzfristig.» Adelina schmunzelte. «Bedeutet ungehalten, dass sie meinem Bruder ordentlich den Kopf gewaschen hat?»

«Mhm.» Inzwischen unterdrückte Lucardis ein Kichern. «Sie haben sich angefaucht wie zwei Wildkatzen. Dabei konnte Vater diesmal gar nichts dafür. Der Rat hat ihn selbst erst gestern Abend über das Turnier informiert, sagt er. Und da ist er erst so spät nach Hause gekommen, dass wir alle schon geschlafen haben. Deshalb war er sowieso schon ein bisschen knurrig, denn er hasst diese ewig langen Sitzungen.»

«Verständlich. Dann kann ich also davon ausgehen, dass bei deiner Familie alles in Ordnung ist?»

«Alles in bester Ordnung.» Strahlend nickte Lucardis. «Ich habe fast den gesamten Sonntag mit Mathis gespielt. Für seine drei Jahre ist er ausgesprochen klug und aufgeweckt. Ständig fragt er mir Löcher in den Bauch. Und die kleine Adelina ist so lieb! Ich könnte sie stundenlang im Arm halten und herumtragen. Wir nennen sie inzwischen alle Linchen, weil sie honigsüß aussieht wie ein Bienchen. Dabei ist sie erst ein Jahr alt. Wie soll das erst werden, wenn sie mal größer wird?»

Lachend reichte Adelina ihr einen Stapel Holzkästchen. «Sie wird vermutlich alle Mannsbilder um den Finger wickeln. Hier, sieh diese Schachteln durch, ob noch alle kandierten Kirschen und Konfektstücke ansehnlich sind. Sortiere alle aus, die Dellen oder andere schadhafte Stellen haben. Ich muss gleich eine Lieferung Malerfarben zu Meister Grunert bringen. Griet wird mich begleiten, denn sie hat noch einiges beim Schuster und beim Schneider zu erledigen.» Sie seufzte. «Und beim Glasbläser.»

«Schon wieder?» Lucardis grinste noch immer. «Das wird aber teuer.»

«Wem sagst du das.»

«Mutter?» Griet kam mit einem großen Weidenkorb am Arm in die Apotheke. «Ich bin jetzt so weit. Oh, Lucardis, du bist zurück!» Rasch stellte sie den Korb ab und umarmte das Mädchen. «Wie war es denn bei Mira und Onkel Tilmann? Du musst mir nachher jede Kleinigkeit erzählen. Geht es allen gut?»

«Aber ja, so gut wie nur möglich. Frau Mira lässt dich ganz besonders grüßen. Sie möchte, dass du sie unbedingt bald besuchst. Sie kann wohl in nächster Zeit nicht so oft hierherkommen, weil sie ja mit dem Turnier zu tun haben wird.»

«Was für ein Turnier?» Neugierig hob Griet den Kopf.

«Na, das Turnier, das in zwei Wochen hier auf dem Alter Markt stattfinden wird. Ich erzähle dir nachher alles ganz genau, wenn du magst.»

«Ja, tu das», mischte Adelina sich ein und griff nach ihrem Zunftmantel. «Jetzt ist dazu keine Zeit. Meister Grunert wartet auf seine Farben, und ich möchte auch noch bei Meister Lehbert am Waidmarkt vorbeischauen und hören, wie es Colin geht und ob er irgendetwas braucht. Er wächst in letzter Zeit schneller aus seinen Kleidern heraus, als man schauen kann. Erst neulich sprach sein Lehrmeister mich bei einer Zunftsitzung darauf an. Vor dem Mittagsläuten sollten wir aber zurück sein, damit ich da bin, wenn Hilka und Eva hier auftauchen. Am Nachmittag will außerdem Georg Reese zu Besuch kommen; wir haben also heute eine Menge zu tun. Lucardis, wenn etwas Wichtiges sein sollte, sag den Leuten, dass ich später am Tag wieder hier sein werde.»

«Ja, Frau Adelina, selbstverständlich.»

«Und kümmere dich um Katharina. Sie soll ruhig dabei helfen, die Glasphiolen für das Aqua Ardens zu säubern und die Destille zu reinigen. Aber gebt acht, dass nichts zu Bruch geht.»

«Ich passe schon auf. Sonst müssen wir am Ende noch öfter zum Glasbläser.» Sie warf Griet einen Blick zu, woraufhin sie einen Ellenbogenhieb einstecken musste. «Was denn?» Sie kicherte. «Der ist deinetwegen sowieso schon einer der reichsten Männer Kölns.»

«Halt die Klappe.» Griet versuchte, eine strenge Miene aufzusetzen, konnte sich ein schuldbewusstes Grinsen jedoch nicht verkneifen. «Lass uns gehen, Mutter.»

***

Sie wandten sich in Richtung Judengasse, kamen jedoch nicht weit, denn zwei hoch mit Kisten und Regalen beladene Fuhrwerke kreuzten ihren Weg. Da selbst am Rand des Alter Markts noch jede Menge Verkaufsschragen aufgebaut waren, zwischen denen sich Kauflustige tummelten, mussten Adelina und Griet warten, bis die beiden Gefährte an ihnen vorübergerollt waren.

Griet blickte ihnen neugierig hinterher. «Die wollen offenbar auch zum ehemaligen Overstolzen-Haus. Wer dort wohl einzieht?»

Die Frage wurde im nächsten Moment beantwortet, denn durch das Hoftor des Anwesens trat ein großer, breitschultriger Mann mit schulterlangem braunem Haar. Er trug Hosen und Wams in Dunkelrot und Braun, den Farben der Kölner Stadtsoldaten, und darüber eine dunkelbraune Heuke aus leichtem, gleichwohl edel wirkendem Wollstoff. Sein Gesicht war etwas kantig mit ausgeprägten Wangenknochen und einem energischen Kinn.

«Cristan Reese.» Griet schluckte unbehaglich.

«Was meinst du?» Adelina, die gerade die Auslage einer Hökerin betrachtet hatte und dabei ein wenig ungeduldig von einem Fuß auf den anderen getreten war, drehte sich um und folgte Griets Blick. «Oh, tatsächlich. Sag bloß, er hat das Haus gekauft. Das ist allerdings eine Überraschung.»

Und was für eine! Griet war alles andere als begeistert, als sie beobachtete, wie er den Fuhrknechten mit ausholenden Gesten Anweisungen gab und dann mit einer geschmeidigen Bewegung sein Pferd bestieg, das ein weiterer Knecht soeben aus dem Hof geführt hatte. Der fuchsrote Hengst tänzelte ein wenig zur Seite, als noch ein Reiter hoch zu Ross den Hof verließ. Bei ihm handelte es sich um ihren Onkel Tilmann, der zwar sieben oder acht Jahre älter sein mochte als Cristan Reese, jedoch mit seiner kräftigen, hochgewachsenen Gestalt und dem langen, zum Zopf gebundenen schwarzen Haar ein ähnlich imposantes und vor Selbstsicherheit strotzendes Bild abgab.

«Was für ein Anblick», murmelte Adelina. «Die beiden Hauptmänner der Kölner Stadtsoldaten können sich sehenlassen.» Sie winkte, als Tilmann in ihre Richtung sah, woraufhin er ebenfalls die Hand zum Gruß hob, jedoch keine Anstalten machte, zu ihnen zu kommen. Offenbar hatten die beiden es eilig.

Griet wollte schon erleichtert aufatmen und sich abwenden, als der Blick des zweiten Hauptmanns den ihren unvermittelt traf. Sie erschrak. Er musterte sie eindringlich, verzog dabei aber keine Miene. Dann neigte er den Kopf leicht zum Gruß.

Hektisch schluckte sie an dem Kloß, der sich in ihrer Kehle gebildet hatte, und wandte sich ab. «Komm, Mutter, lass uns weitergehen. Der Weg ist jetzt wieder frei.»

Adelina nickte zustimmend. «Wird auch Zeit. Ich weiß gar nicht, was heute los ist. Schau nur, da sind noch mehr Fuhrwerke auf dem Weg. Und wo kommen nur all die Leute her? Man könnte meinen, es gäbe irgendwas umsonst.» Kopfschüttelnd bahnte sie sich ihren Weg durch das Gewühl von Hausfrauen mit Einkaufskörben, herumstrolchenden Gassenkindern, Mägden mit Eimern, die dem Marktbrunnen zustrebten, angebundenen Ziegen und Schafen und Handwerkern auf dem Weg von oder zu einer Baustelle.

Griet folgte ihr eilig und versuchte das merkwürdige Gefühl zu ignorieren, dass Cristan Reese ihr noch immer nachblickte. Als sie sich kurz umsah, waren er und Tilmann längst verschwunden. Verärgert schalt sie sich eine dumme Gans. Es gab schließlich nicht den geringsten Grund zur Furcht vor dem zweiten Hauptmann der Stadtsoldaten, der erst vor etwa einem Jahr in diesen Posten erhoben worden war. Tatsächlich war sie ihm noch nie vorgestellt worden, obgleich er ein Neffe des Gewaltrichters Reese und ihr Onkel gut mit ihm befreundet war. Sie ging ihm und Situationen, in denen sie ihm begegnen könnte, tunlichst aus dem Weg, seit sie ihn beim Bogenschützenturnier im Frühjahr auf dem Neumarkt zum ersten Mal gesehen hatte. Damals war er unter den besten Schützen gewesen. Sie konnte sich genau an die Kunstfertigkeit erinnern, mit der er Bogen und Armbrust beherrschte. Sein überlegenes und bestimmtes Auftreten erinnerte sie stark an ihren Onkel Tilmann. Deshalb hatte sie sich lange Zeit auch vor ihm gefürchtet und einen gewissen Respekt bis heute nicht ganz abgelegt, obgleich ihre gute Freundin Mira sie sicherlich dafür ausgelacht hätte. Doch Mira war schließlich auch ganz anders, selbstsicher, stolz und ausgesprochen schlagfertig. Onkel Tilmann schalt sie regelmäßig vorlaut, widerspenstig und scharfzüngig – und schien sie genau dafür ganz besonders zu lieben.

Griet war nichts von alldem und hätte sich nicht einmal im Traum getraut, einem Mann wie Tilmann Greverode so unverfroren die Stirn zu bieten, wie Mira es tagtäglich tat. Sie selbst ging Konfrontationen lieber aus dem Weg. Männern ebenso, schon gar solchen wie Cristan Reese, dessen Anwesenheit in einem Raum allein schon ausreichte, um Respekt einzuflößen, ohne dass er auch nur ein Wort sagte.

Während sie an der Seite ihrer Stiefmutter in Richtung der Gasse Ober Marspforten ging, rieb sie sich unbewusst mit der freien Hand über den Oberarm, denn eine Gänsehaut hatte sich auf ihrem Körper breitgemacht. Energisch schob sie jeden Gedanken an den Hauptmann beiseite, denn das Herzklopfen, das sich ihrer bei seinem eindringlichen Blick bemächtigt hatte, löste Unbehagen in ihr aus.

Sie war erleichtert, als sie wenig später die Werkstatt von Meister Grunert erreichten und die Malerfarben abliefern konnten. Danach machten sie einen Schlenker über den Neumarkt, denn dort ganz in der Nähe hatte ein guter Schuster seine Werkstatt. Schließlich besuchten sie noch Meister Lehbert, den Apotheker am Waidmarkt, bei dem Griets Halbbruder Colin seit zwei Jahren in die Lehre ging. Leider war der Junge gerade mit einem weiteren Lehrling auf einem Botengang, sodass sie nur kurz in der Apotheke blieben.

Sie traten gerade wieder aus der Haustür, als hinter ihnen eine helle Stimme ertönte.

«Griet! Meisterin Adelina! Huhu, so wartet doch!» Eine dralle junge Frau mit zu Schnecken geflochtenen Haaren unter einer weißen Haube kam winkend herbeigelaufen. Am Arm trug sie einen Korb, der mit einem Leinentuch abgedeckt war. Ihr braunes Kleid war bereits ein wenig verblichen, jedoch sauber und nur an wenigen Stellen sehr unauffällig geflickt. «So etwas!» Sie lachte und blieb ein wenig außer Atem neben ihnen stehen. Ihr herzförmiges Gesicht war leidlich hübsch, ihr Lächeln ansteckend. «Euch habe ich ja schon eine Ewigkeit nicht mehr gesehen. Ich hoffe, es geht euch wohl?»

«Clara, guten Tag.» Adelina lächelte ihr zu. «Gut siehst du aus.»

«Danke, Meisterin Adelina.» Clara wandte sich Griet zu und zog sie umstandslos in eine kurze Umarmung. «Wie ich mich freue!»

Griet erwiderte die Umarmung und ließ es zu, dass die junge Frau sie unterhakte.

«Geht ihr in Richtung Heumarkt? Darf ich mich euch anschließen? Da muss ich nämlich hin, zu einer Schwangeren.»

«Natürlich, Clara.» Griet lächelte ihr zu. «Du siehst wirklich gut aus. Wie man hört, hast du jetzt eine Hebammenlizenz vom Stadtrat?»

«Ja, seit ein paar Monaten ist es offiziell.» Clara nickte stolz. «Ich wollte schon dauernd bei euch vorbeikommen und euch davon berichten, aber es kam immer wieder etwas dazwischen. Meistens Kinder, die zu jeder Zeit oder Unzeit zur Welt gebracht werden wollen.» Sie lachte. «Manchmal weiß ich gar nicht, wo mir der Kopf steht.»

«Du hast also gedeihliche Zeiten?» Adelina musterte die junge Hebamme anerkennend. «Das freut mich für dich.»

«O ja, ich kann mich nicht beschweren. Allerdings wohne ich jetzt nicht mehr bei Ludmilla. Sie meinte, es sei besser, wenn ich mir eine Behausung innerhalb der Stadtmauern suche. Seit März habe ich deshalb eine Kammer im Beginenhof beim Mühlbach bezogen. Ludmilla besucht mich aber regelmäßig, und ich schaue ebenfalls ein- oder zweimal in der Woche nach ihr.»

«Du lebst jetzt bei den Beginen?» Verblüfft sah Griet die Freundin von der Seite an. «Aber du trägst nicht ihre Tracht.»

«Weil ich keine Begine bin. Na ja, bisher nicht. Ich weiß noch nicht, ob ich das möchte oder wie es genau mit mir weitergehen soll. Erst einmal möchte ich ein wenig Geld sparen und mir als Hebamme einen guten Namen machen. Die Beginenmeisterin ist glücklicherweise sehr verständnisvoll und hat mir das Kämmerchen auf unbestimmte Zeit vermietet.»

«Da hast du großes Glück gehabt», stellte Adelina fest. «Alleinstehende Frauen finden nicht immer so leicht irgendwo Unterschlupf.»

Clara nickte. «Da habt Ihr recht, ich hatte riesiges Glück. Und nicht zum ersten Mal. Ihr wisst, wie dankbar ich Euch und Griet für alles bin, was Ihr für mich getan habt.»

«Schon gut, das sind alte Geschichten.» Adelina winkte ab. «Seien wir froh, dass sich alles so gut für dich gefügt hat.»

Griet stimmte ihr zu. Sie erinnerte sich noch gut daran, wie sie Clara vor gut vier Jahren zum ersten Mal begegnet war. Damals hatte die junge Frau sie um Essen angebettelt, war hochschwanger und vollkommen verzweifelt gewesen. Griet hatte ihr zu essen gegeben und sie versteckt, als sie erfuhr, dass Clara auf der Flucht vor dem Aachener Hurenwirt war, dem sie entflohen war und an den ihr eigener Vater sie wegen seiner Schulden auf drei Jahre verpfändet hatte.

Das Kindlein war damals tot geboren worden. Die alte Ludmilla, eine weise Frau, Hebamme und Kräuterheilerin, die vor den Toren der Stadt in einer Waldhütte lebte, hatte sich der jungen Frau angenommen und sie ausgebildet. Nun sah es so aus, als habe Clara ihr Leben wieder vollauf im Griff und die Vergangenheit gänzlich hinter sich gelassen. Griet freute sich aufrichtig für sie. Traulich legte sie ihr den Arm um die Schultern. «Du musst uns wirklich einmal besuchen und uns berichten, was du in letzter Zeit alles erlebt hast.»

«Ludmilla geht es hoffentlich gut? Auch sie haben wir schon eine ganze Weile nicht mehr zu Gesicht bekommen», fügte Adelina neugierig an.

Griet wusste, dass ihre Stiefmutter ein ganz besonderes Freundschaftsverhältnis zu der alten Frau pflegte, denn diese hatte Adelina in der Vergangenheit mehr als einmal in schlimmer Not beigestanden – und umgekehrt. Auch sie selbst mochte Ludmilla sehr.

«Sie ist wohlauf, meckert nur hin und wieder über ihre morschen Knochen und dass sie nicht mehr so flink ist wie früher. Für eine Frau ihres Alters ist sie aber erstaunlich gesund und munter.»

Erleichtert lächelte Adelina. «Sie muss schon fast siebzig Jahre alt sein. Vielleicht sollte ich auch mal wieder nach ihr sehen.»

«Sie sagt, Ihr würdet ihr alle paar Monate Vorräte und Kleidung schicken. Darüber freut sie sich immer sehr.»

«Das ist wohl das Mindeste, was ich für eine gute alte Freundin tun kann.»

Clara nickte. «Sie ist wirklich dankbar dafür, auch wenn sie stets darauf besteht, sich nach wie vor selbst versorgen zu können. Sie will niemandem zur Last fallen.»

«Ludmilla hatte schon immer ihren eigenen Kopf.»

«Ihr Bruder, dieser seltsame, miesepetrige Mönch Thomasius, besucht sie auch regelmäßig.»

«Thomasius ist wieder in Köln?» Griet machte große Augen.

Auch Adelina stutzte. «Er besucht Ludmilla?»

«Aber ja. Und auch er bringt ihr immer etwas aus der Küche des Dominikanerkonvents mit. Brot, Suppe, Gemüsefladen … Was sie halt so übrig haben.»

«Reden wir hier wirklich von Bruder Thomasius?» Vollkommen verblüfft starrte Griet die Freundin an.

«Ist er auf seine alten Tage womöglich weich geworden?», vermutete Adelina kopfschüttelnd. «Ich dachte, er reise noch immer im Gefolge des Erzbischofs. In der Stadt habe ich ihn schon seit Jahren nicht mehr gesehen.»

Clara zuckte die Achseln. «Ludmilla hat mir erzählt, dass er sich wohl fast nur noch im Kloster aufhält, alte Schriften studiert und sich der Kontemplation widmet.»

«Und für seine Schwester sorgt, die ihm doch immer so verhasst war», fügte Griet verwundert hinzu.

Adelina tippte sich nachdenklich gegen die Unterlippe. «Er hat nicht Ludmilla gehasst, sondern ihren Lebenswandel. Mag sein, er hat sich auf seine alten Tage besonnen und ihr verziehen.»

«Verziehen? Thomasius?» Griet konnte es sich kaum vorstellen.

«Wer weiß? Ich wundere mich ebenso wie du, Griet.» Adelina blieb kurz stehen, um eine schnatternde Schar Gänse vorbeizulassen, die von einem halbwüchsigen Jungen in verschlissenen Kleidern mit einer Gerte über die Gasse getrieben wurde. Als das Federvieh vorübergezogen war, ging sie weiter. «Die Wege des Herrn sind unergründlich.»

«Ich möchte ihm trotzdem nicht noch einmal begegnen.» Griet schauderte beim Gedanken an die Gemeinheiten des Dominikaners, unter denen sie alle jahrelang gelitten hatten.

Inzwischen hatten sie bereits die Sandkaul erreicht und bogen kurz darauf nach rechts in die Gasse Ober Marspforten ein, die auf den Heumarkt führte. Auch hier kreuzten noch einmal Gänse ihren Weg. Die unzähligen Fuhrwerke, hauptsächlich mit Heu und Holz beladen, hatten tiefe Furchen in den Boden gerissen. In manchen von ihnen stand noch immer Wasser von den Regenfällen der vergangenen Tage.

«Wir hätten uns Trippen umschnallen sollen.» Missmutig blickte Griet auf ihre schmutzigen Schuhe und den von Lehmspritzern verunzierten Saum ihres Rocks.

«Ach was, ist doch nur das kurze Stück von hier bis zum Heumarkt.» Clara stieß ihr aufmunternd den Ellenbogen in die Seite. «Ober Marspforten ist doch immer mehr eine Ober Matschpforten. Schau, da vorne wird es schon wieder trocken. Ich habe übrigens gestern bei einer …»

«Clara? Bist du das?»

Die junge Hebamme blieb beim Klang der männlichen Stimme stocksteif stehen. Griet und Adelina hielten ebenfalls in ihrem Schritt inne. Langsam drehte Clara sich zu dem korpulenten Mann um, der soeben aus einem Hauseingang getreten war. Sein Gesicht war rund und aufgeschwemmt, wie es oft bei Leuten der Fall war, die Bier und Wein unmäßig zusprachen. Sein Haar war hellbraun und schütter; oberhalb der Stirn wurde er kahl. Seine Miene war vor Überraschung und Entsetzen verzerrt. Er starrte Clara an, machte zwei Schritte auf sie zu. «Du bist es wirklich, bei allen Heiligen!»

«Vater.» Clara wich vor ihm zurück, als er nach ihrem Arm greifen wollte. «Rühr mich nicht an.»

«Was tust du denn hier? Wie kommst du nach Köln?» Sein Gesichtsausdruck verfinsterte sich. «Man hat dich für tot erklärt!»

Clara schluckte sichtbar und verschränkte die Arme vor dem Leib. «Das ist das Beste, was mir passieren konnte. Wenn ich in Aachen tot bin, habe ich hier wenigstens meine Ruhe.»

«Du bist mir einfach davongelaufen!» Die Stimme des Kürschners war lauter geworden. Zwischen seinen Augen hatte sich eine steile Falte gebildet.

«Nicht dir, Vater. Dem Hurenwirt, an den du mich verschachert hattest. Mich und Mutter.» Sie bekreuzigte sich.

«Verpfändet, Mädchen, und nur auf Zeit. Ich habe stets für dich und deine Mutter gesorgt. Da war es nur recht und billig, dass ihr mir geholfen habt, als wir in einer schwierigen Lage steckten.»

«In einer schwierigen Lage?» Es sah aus, als wolle Clara vor ihm ausspucken. «Wer hat die denn verursacht? Du, Vater, niemand anders. Weißt du eigentlich, wie sehr Mutter gelitten hat? Wie sehr ich gelitten habe?»

«Weißt du, was dein Wegrennen mich gekostet hat? Eigentlich müsstest du noch immer deinen Vertrag erfüllen.»

«Nein, das muss ich nicht, und das werde ich auch nicht.»

Griet sah einen Anflug von Panik in Claras Augen aufflackern, doch der Augenblick ging rasch vorüber. Schon sprach die junge Frau weiter: «Ich habe mir in Köln ein neues Leben aufgebaut. Ich bin lizenzierte Hebamme.»

«Hebamme?» Er starrte sie verblüfft an.

«Ja, Hebamme, Vater. Und du kannst mich nicht zwingen, jemals wieder einen Fuß nach Aachen zu setzen.»

«Ich bin dein Vater und als solcher …»

«Gar nichts bist du, Urs van Oeche.» Diesmal spie sie tatsächlich vor seinen Füßen aus. «Weißt du was? Für mich bist du an dem Tag gestorben, als du mich in das Hurenhaus gebracht hast.» Ihre Augen weiteten sich, als ein weiterer Mann auf die Gasse trat. Er war ein wenig größer als der Kürschner, schlaksig und trug trotz des recht warmen Wetters eine graue Gugel auf dem strohblonden Haar. «Wendel?»

Der junge Mann wurde blass, als er sie sah. «Jung… Jungfer Clara? Ihr hier?»

Claras Blick verfinsterte sich noch mehr, obwohl Griet nicht gedacht hätte, dass dies überhaupt möglich war. «Wendel, du mieser Schweinehund. Wag es ja nicht, mich noch einmal Jungfer Clara zu nennen. Du weißt besser als jeder andere, dass das der blanke Hohn ist.»

«Clara, Kind …» Adelina trat neben sie und legte ihr vorsichtig eine Hand auf den Arm. Die beiden Männer behielt sie dabei wachsam im Auge. «Ich glaube, es wäre besser, wenn wir jetzt weitergehen würden.»

«Ja. Nein.» Sanft schüttelte Clara die Hand ab. «Verzeiht, Meisterin Adelina, aber das hier muss ich erst klären.» Sie trat einen Schritt auf ihren Vater zu und blickte ihm fest in die Augen. «Lass mich in Ruhe.» Sie betonte jedes Wort einzeln. «Wag es niemals wieder, mich anzusprechen, geschweige denn zu irgendetwas zu zwingen.» Sie fasste den jungen Mann ins Auge. «Das gilt auch für dich. Wenn ihr mir nur noch ein einziges Mal zu nahe kommt, wird es euch leidtun, das schwöre ich.» Abrupt wandte sie sich ab. «Kommt, Meisterin, Griet, wir gehen. Mit diesem Abschaum habe ich nichts mehr zu schaffen.» Ohne auf eine Reaktion zu warten, stürmte sie davon. Griet sah ihre Stiefmutter verunsichert an.

«Wir folgen ihr wohl besser.» Adelina nahm sie am Arm und zog sie mit sich. Während sie versuchten, zu Clara aufzuholen, drehte Griet sich immer wieder zu den beiden Männern um, die ihnen erst nachblickten und dann aufgeregt die Köpfe zusammensteckten.

2. Kapitel

Erst auf dem Heumarkt blieb Clara stehen. «Verzeiht, Meisterin Adelina, ich wollte nicht unhöflich sein.»

«Schon gut, Clara.» Adelina legte ihr beruhigend eine Hand auf die Schulter.

«Das war also dein Vater?» Unbehaglich blickte Griet erneut über ihre Schulter, doch von dem Kürschner oder Wendel war nirgends eine Spur zu sehen. «Geht es dir gut? Können wir irgendetwas für dich tun?»

«Nein danke, Griet. Alles in Ordnung.» Clara nahm Griets Hand und drückte sie kurz. «Ich war nur ein wenig erschrocken, sonst nichts.»

«Dafür hast du dich aber ausgesprochen forsch behauptet.» Adelina musterte sie eingehend. «Kann es sein, dass dieses Zusammentreffen nicht ganz so unverhofft kam, wie man nach vier Jahren annehmen müsste?»

«Ich …» Clara biss sich auf die Unterlippe. «Nun ja, ich wusste, dass mein Vater in Köln ist.»

«Das wusstest du?» Ungläubig sah Griet sie an.

«Er lebt seit einem guten halben Jahr hier. Genauer gesagt unten am Filzengraben. Dort hat er eine alte Kürschnerei übernommen.»

«Er lebt hier? Nicht mehr in Aachen?» Auch Adelina war sichtlich entsetzt. «Warum?»

«Wahrscheinlich hat er in Aachen alles verloren. Oder sie haben ihn wegen seiner Schulden und fragwürdigen Geschäfte aus der Stadt gejagt.» Achselzuckend wechselte Clara ihren großen Korb vom rechten Arm auf den linken. «Ehrlich gesagt ist mir das vollkommen gleich. Ich bin ihm immer aus dem Weg gegangen.»

«Mit Erfolg, würde ich sagen. Offensichtlich wusste er nicht, dass du ebenfalls hier lebst.» Besorgt runzelte Adelina die Stirn. «Hoffentlich lässt er dich wirklich in Ruhe. Sollte er versuchen, dich zu zwingen, nach Aachen zurückzukehren, kommst du zu uns. Oder versteck dich bei Ludmilla.»

«Danke, Meisterin Adelina, das ist furchtbar freundlich von Euch. Aber ich möchte mich nicht mehr verstecken. Zwei Jahre lang habe ich mich in Ludmillas Hütte verkrochen. Das ist kein schönes Leben. Er weiß jetzt, dass ich in Köln lebe, aber er wird mich nicht zwingen, nach Aachen und in dieses Hurenhaus zurückzukehren. Ich weiß mich meiner Haut zu wehren.»

«Wer war denn der Kerl, der ihn begleitet hat? Dieser Wendel?», wollte Griet wissen.

«Sein Knecht. Er hat schon bei uns gearbeitet, als ich noch ein ganz kleines Mädchen war.» In Claras Stimme schlich sich ein bitterer Unterton. «Er war einer der ersten Freier, die ich in dem Dirnenhaus bedienen musste.»

«Oh, du liebe Zeit.» Mitfühlend strich Adelina ihr erneut über die Schulter. «Das tut mir sehr leid, Clara.»

Die junge Hebamme schüttelte den Kopf und setzte ein etwas gezwungenes Lächeln auf. «Ach was, das ist lange vorbei. Die beiden können mir nichts mehr anhaben. Eher bringe ich sie um – oder mich selbst, bevor ich in mein altes Leben zurückkehre.»

«Clara!» Erschrocken schlug Griet die Hände vor dem Mund zusammen. «Sag so etwas nicht! Nicht einmal denken darfst du das!»

«Darf ich nicht?» Grimmig schob Clara das Kinn vor. «Du hast leicht reden, Griet. Dich hat auch noch niemals jemand zu einem solch demütigenden und nichtswürdigen Leben gezwungen. Denn sonst würdest du anders darüber denken.»

Griet spürte, wie alles Blut aus ihren Wangen wich. Ihr Magen krampfte sich zusammen. Hilfesuchend blickte sie zu ihrer Stiefmutter, die besorgt die Lippen verzog. Clara wusste nichts von ihrer schlimmen Vergangenheit, und es war gewiss auch besser so. Es gab inzwischen Tage, an denen Griet selbst nicht mehr daran dachte. Heute war jedoch keiner dieser Tage. Ihr Herzschlag hatte sich beschleunigt, aber sie versuchte, das Unbehagen zu ignorieren. «Clara, ganz gleich, wie schlimm es dir ergangen ist, du darfst nicht so schändlich reden. Niemand als der Herrgott allein gibt und nimmt das Leben.» Sie schluckte. Wie oft hatte sie sich als Kind nicht gewünscht, der Allmächtige möge sie rasch und schmerzlos zu sich nehmen, um ihren Qualen ein Ende zu bereiten! Er hatte es nicht getan, aber es hatte viele Jahre gedauert, bis sie dafür dankbar hatte sein können.

«Schon gut, tut mir leid.» Tief atmete Clara ein, dann wieder aus. «Ich will gar nicht weiter darüber reden. Außerdem muss ich jetzt eine Kundin besuchen, die in den nächsten Tagen niederkommen wird. Und ihr habt ganz sicher auch noch Besorgungen zu machen, nicht wahr?»

Das hatten sie allerdings. Der Schneider stand noch auf ihrer Liste und natürlich der Glasbläser. Also verabschiedeten sie sich von der Hebamme und sahen ihr nach, bis sie in einem der Patrizierhäuser verschwand.

Adelina rieb sich die Stirn. «Das will mir überhaupt nicht gefallen, Griet.»

«Was meinst du?» Während sie auf die Werkstatt des Schneidermeisters zusteuerten, wies Adelina unauffällig mit dem Kinn nach links. «Dieser Wendel ist uns gefolgt. Siehst du, dort drüben.»

Griet wandte beiläufig den Kopf in die Richtung und erkannte den schlaksigen Mann ebenfalls. «Was machen wir denn jetzt?»

Sorgenvoll verzog Adelina das Gesicht. «Ich weiß es nicht. Vermutlich können wir gar nichts tun. Ich hoffe, Clara passt auf sich auf und wird darauf bestehen, sich von einer Magd oder einem Knecht ihrer Kundin heimbegleiten zu lassen.»

«Glaubst du, ihr Vater wird versuchen, sie mit Gewalt nach Aachen zurückzubringen?» Allein bei dem Gedanken drehte sich Griet der Magen um.

«Das will ich nicht hoffen. Sehr mitfühlend oder reuig kam er mir allerdings nicht vor.»

«Schrecklich.» Griet schauderte. «Dabei ist er doch ihr Vater. Wie kann jemand so etwas seinem eigenen Kind antun?»

«Und seiner Gemahlin», fügte Adelina grimmig hinzu. «Das begreife ich auch nicht.»

***

Cristan Reese bemühte sich vergeblich, sich auf die Aufzeichnungen über die städtischen Waffen zu konzentrieren, die der Rentmeister ihm und Tilmann vor einer Stunde im Zeughaus ausgehändigt hatte. Tilmann hatte sie nur überflogen und Cristan dann die Aufgabe überlassen, alles bis ins Detail zu prüfen. Der erste Hauptmann der Stadtsoldaten war seit einiger Zeit auch Stimmeister und in dieser Eigenschaft für die militärische und zivile Disziplin in Köln verantwortlich. Das bedeutete, Tilmann hatte möglichst überall gleichzeitig zu sein, die Büttel und Stadtwachen zu beaufsichtigen, ebenso wie die städtischen Soldaten, die stets in Bereitschaft standen, falls ihr Einsatz innerorts oder außerhalb der Stadtgrenzen vonnöten war. Deshalb übergab er den lästigen Schriftkram, wie er ihn nannte, immer häufiger an Cristan. Dieser riss sich zwar auch nicht darum, doch da er sich um das Amt des Gewaltrichters beworben hatte, das sein Onkel bisher innegehabt hatte und das der nun aus gesundheitlichen Gründen aufgeben wollte, empfand er die Aufgaben, die ihm übertragen worden waren, als gute Vorbereitung.

Jedoch nicht heute. Schon seit dem Morgen grübelte er darüber nach, wo er die hübsche schwarzhaarige Jungfer vom Alter Markt schon einmal getroffen haben mochte. Natürlich wusste er, wer sie war. Griet, die Tochter der Apothekerin Adelina und des städtischen Medicus Neklas Burka. Er war ihr noch nicht vorgestellt worden und lebte auch noch nicht lange genug in der Stadt, um die Familie näher zu kennen. Vor zwei Jahren war er aus dem Dienst der Bonner Stadtsoldaten ausgeschieden und auf Bitten seines Onkels in das Kölner Regiment eingetreten. Doch erst, seit er durch den Zuspruch Tilmann Greverodes, mit dem er schon länger bekannt und mittlerweile gut befreundet war, in den Posten des zweiten Hauptmannes erhoben worden war, wohnte er ständig in der Stadt. Sein Onkel Georg Reese war mit der Familie Burka seit langer Zeit gut befreundet, das wusste er nur zu gut, doch seine vielfältigen Aufgaben und die Eingewöhnung in sein Amt hatten ihm kaum Zeit gelassen, sich viel in Gesellschaft aufzuhalten.

Er hoffte, dass sich dies nun allmählich ändern würde. Der Anfang hierzu war nun gemacht, indem er die günstige Gelegenheit ergriffen und das Anwesen am Alter Markt gekauft hatte. Es war genau richtig in Größe und Lage und kam damit seinen Ambitionen hervorragend entgegen. Er hatte sich zwar in Militärkreisen bereits einen Namen gemacht und bezog einen ansehnlichen Sold, doch ebenso wie Tilmann handelte er darüber hinaus mit Sicherheiten für Kaufleute. Dies war eine einträgliche Einkommensquelle, wenn auch mit finanziellen Risiken behaftet. Doch er wirtschaftete mit Verstand und verausgabte sich niemals so sehr, dass es ihm gefährlich werden konnte. Auf diese Weise hatte er es zu der erforderlichen Gleve mit vier Berittenen und drei Fußsoldaten gebracht, ohne die er den Posten des Hauptmanns nicht hätte ausfüllen dürfen. Er war überzeugt, dass über kurz oder lang eine weitere Gleve hinzukommen würde. Da er mittlerweile auch hin und wieder als Bankier auftrat und sich an städtischen Finanzgeschäften beteiligte, würde er schon in den nächsten Jahren seine militärischen Kräfte aufstocken können.

Das Amt des Gewaltrichters hatte in den vergangenen Jahren deutlich an Ansehen gewonnen, was nicht zuletzt seinem Ziehvater zu verdanken war, der sich stets mit vollem Eifer und viel Klugheit für die städtische Gerichtsbarkeit eingesetzt hatte. Cristan hatte sich vorgenommen, ihm nachzueifern.

Der erste Schritt war also gemacht, er besaß ein präsentables, wenn auch derzeit noch ein wenig unordentliches Haus. Als Nächstes galt es, sich mit den Familien in der Nachbarschaft näher bekannt zu machen, ebenso wie mit den Ratsherren und Schöffen, die er zwar dem Namen nach alle kannte, für die er aber – ebenso wie umgekehrt – noch ein weitgehend unbeschriebenes Blatt war.

Griet Burka. Ihm wollte einfach nicht einfallen, wo er ihr schon einmal über den Weg gelaufen sein könnte. In der Stadt vermutlich, aber das kam ihm immer unwahrscheinlicher vor, je länger er sich den Kopf zerbrach. Wenn er sich in den vergangenen zwei Jahren innerhalb der Stadtmauern aufgehalten hatte, dann selten an Orten, wo ihm brave Jungfern hätten begegnen können. Seine Gesellschaft war monatelang überwiegend männlich gewesen. Wenn es ihn doch einmal nach holder Weiblichkeit gelüstet hatte, war er dazu immer recht weit gereist, denn innerhalb Kölns und auch in der direkten Umgebung der Stadt wollte er nicht das Risiko eingehen, erkannt zu werden. Sein Geheimnis musste um jeden Preis gewahrt werden. Deshalb lebte er lieber fast wie ein Mönch, als dass ein unbedachter Moment ihn womöglich ins Verderben riss.

Da eine junge, unverheiratete Frau eher selten die heimatliche Umgebung verließ, musste es wohl doch so sein, dass er sich irrte. Aber er konnte sich nicht erinnern, jemals eine Maid mit so schönen tiefschwarzen Locken gesehen zu haben. Er hatte ein gutes Gedächtnis. Ein Gesicht, das sich ihm einmal eingeprägt hatte, vergaß er nicht mehr. Womit er wieder am Anfang seiner Überlegungen angelangt war.

«Herr, Ihr habt Besuch. Euer Onkel ist soeben eingetroffen.» Pitter, sein Hausknecht, war in der Tür zu seiner Schreibstube erschienen. Unter dem Arm trug er mehrere Regalbretter, die er wohl zusammen mit den anderen Knechten gerade von einem der Fuhrwerke abgeladen und hereingetragen hatte.

Erleichtert, nun einen wirklich guten Grund zu haben, sich nicht mehr mit den städtischen Waffen auseinandersetzen zu müssen, hob Cristan den Kopf und nickte dem Knecht zu, der bereits seit vielen Jahren in seinen Diensten stand. Früher war Pitter einmal einfacher Fußsoldat gewesen, dann jedoch schwer am linken Bein verletzt worden. Seitdem hinkte er ein wenig. Er mochte um die vierzig oder fünfundvierzig Jahre alt sein; sein Haar war eisgrau, ebenso wie sein Bart und seine Augen, um die sich unzählige winzige Lachfältchen eingegraben hatten, die von seiner Heiterkeit zeugten. «Danke, Pitter. Hast du ihn in die Stube geführt?»

«In die Küche. Die Stube steht noch voll mit Truhen und Gedöns. Wird noch ’ne Weile dauern, bis man da gemütlich sitzen kann.»

«Gut, ich komme sofort.» Cristan beeilte sich, die Aufzeichnungen einzusammeln und in einer großen Lade unter dem Fenster zu verstauen. Seine Schreibstube war neben seiner Schlafkammer derzeit der einzige ordentliche Raum im gesamten Haus. Selbst die Küche war vermutlich noch immer ein einziges Chaos, obwohl seine Köchin sich redlich Mühe gab, alles in Ordnung zu bringen. Doch aus der Einrichtung, die bereits vorhanden gewesen war, als er das Haus gekauft hatte, und den Gebrauchsgegenständen, die aus seinem alten, viel kleineren Haushalt stammten, war dann doch ein ziemliches Durcheinander entstanden. Ganz zu schweigen davon, dass ständig irgendwo leere Kisten aufgestapelt wurden, die später in die Remise wandern sollten. Ein Umzug war eben immer ein Graus, ganz gleich, auf wie viele helfende Hände man sich verlassen konnte.

Schon als er die Schreibstube verließ, hörte er Pitter und seinen Onkel miteinander sprechen. In das darauffolgende Gelächter mischte sich auch die Stimme seiner Köchin. Apolonia war Pitters Schwester, verwitwet, jedoch um einige Jahre jünger als er und von rundlicher Statur. Auch sie war stets gut gelaunt, glücklicherweise in ihrem Fall gepaart mit einem unnachahmlichen Talent für die Zubereitung erlesener Speisen. Nachdem ihr Gemahl, ebenfalls ein Soldat, vor drei Jahren bei der Abwehr einer Räuberbande ums Leben gekommen war, hatte Pitter Cristan ihre Dienste angeboten, um sie versorgt zu wissen. Cristan fand, er hätte keinen größeren Glücksgriff tun können. Mit Apolonia zusammen hatte er auch ihre älteste Tochter Kätchen als Haus- und Stallmagd in Dienst genommen. Sie war groß und dünn, wohl ein Erbe ihres Vaters, jedoch ein wenig schief gewachsen, und ihr Gesicht wurde von einem hässlichen Wolfsrachen entstellt, der sich bis hinauf zu ihrer linken Nasenhälfte zog. Deshalb konnte sie auch nur undeutlich sprechen. Doch sie war fleißig, zuverlässig und loyal, was konnte man von Gesinde mehr verlangen?

Als er die Küche betrat, huschte Kätchen gerade mit einem leeren Wassereimer an ihm vorbei nach draußen. Die Anwesenden wandten sich ihm zu, das Gelächter verstummte für einen Moment.

«Nanu, habt ihr euch etwa über mich amüsiert, oder weshalb die plötzliche Stille?» Schmunzelnd trat er auf seinen Onkel zu. «Guten Tag, Georg. Gut seht Ihr aus. Kein Gichtanfall heute?»

«Schon seit Wochen nicht mehr, Junge.» Lächelnd klopfte Georg Reese ihm auf die Schulter. «Meine gute Rosa setzt mir ja auch wieder mal nur Hasenfutter und Gerstengrütze vor. Ich lebe karger als jeder Tagelöhner.»

«Aber es scheint Euch gut zu bekommen.»

«Ohne Zweifel.» Georg nickte. «Wir haben übrigens nicht über dich gelacht, sondern über den regelrechten Auflauf von Schaulustigen, die sich vor dem Haus herumtreiben und einen Blick auf den neuen Besitzer erhaschen wollen.»

Überrascht runzelte Cristan die Stirn. «So, wollen sie das? Warum?»

Sein Onkel und Pitter lachten wieder. Apolonia gluckste ebenfalls. «Nun, Herr, ist das so schwer zu erraten? Ein alleinstehender Hauptmann der Stadtsoldaten lässt sich direkt am Alter Markt nieder. Die meisten Gaffer da draußen sind Hausfrauen und Mütter, die anhand der Menge der Möbel und Kisten abzuschätzen versuchen, wie groß die Aussteuer ihrer Töchter wohl sein müsste, um Euren Haushalt gebührend zu ergänzen.»

«Aussteuer?» Cristan runzelte alarmiert die Stirn.

«Na sicher doch, Herr.» Pitter nickte bekräftigend. «Die rechnen sich schon aus, was es kosten wird, Euch zum Schwiegersohn zu machen.»

«Ich werde niemandes Schwiegersohn. Zumindest nicht …» Er brach ab. Dies war ein heikles Thema. Hilfesuchend blickte er zu seinem Onkel, der nur leicht die Schultern hob.

«Junge, es ist doch nur natürlich, dass sie sich für dich interessieren. Ich finde es erheiternd, wie rasch sich die Kunde verbreitet hat. Selbst Krähen kreisen nicht so rasch über einem Kadaver wie die neugierigen Weiber um einen potenziellen Ehegespons für ihre Töchter.»

«Vielleicht ist ja eine dabei, die Euch gefällt.» Apolonia brachte einen Krug Wein und zwei Becher und stellte alles auf den schweren Tisch, der ihr auch als Arbeitsfläche diente, auf dem heute aber Körbe voller Eier, Trockenfleisch und Wurzelgemüse standen. Sie war offenbar gerade dabei gewesen, das neue Küchenregal zu reinigen, bevor sie es mit Geschirr und weiteren Utensilien aus den Kisten bestücken konnte.

«Wahrscheinlich eher nicht.» Cristan goss seinem Onkel und sich selbst Wein ein.

«Das kann man nie wissen.» Lächelnd wandte die Köchin sich wieder ihrer Arbeit zu. «Ihr seid jung, kräftig, seht gut aus. Andere Männer in Eurem Alter und Eurer Position hätten sich längst ein Weib genommen und für Nachwuchs gesorgt. Aber das ist ja Eure Angelegenheit, nicht meine.»

«Allerdings.» Cristan nippte mit leichtem Unbehagen an seinem Becher. Natürlich hatte Apolonia recht. Jeder andere Mann an seiner Stelle hätte längst einen Hausstand gegründet. Doch für ihn kam das nicht in Frage, denn selbst wenn er gewollt hätte … die Gefahr, dass sein Geheimnis ans Licht käme, war zu groß. Es gab nur zwei Menschen, die davon wussten. Sein Onkel Georg und dessen Bruder Heinrich. Beide würden es niemals preisgeben, ebenso wenig wie er selbst. Doch an eine Vermählung mit einer ehrbaren Jungfer aus den Reihen der Patrizier, reicher Kaufleute oder Handwerker Kölns war nicht zu denken.

Selbst im Umland wäre eine Brautschau noch zu gefährlich. Der Skandal bei Entdeckung würde alles zerstören, was er sich erarbeitet hatte, und ihn wahrscheinlich an den Galgen bringen. Vielleicht sogar auf den Scheiterhaufen. Ganz abgesehen davon, dass seine gesamte Familie Schaden nehmen würde. Rasch wechselte er das Thema. «Was führt Euch zu mir, Onkel? Doch hoffentlich nicht eine Nachfrage des Rentmeisters wegen der Waffenlisten? Denn so rasch konnte ich sie noch nicht prüfen.»

«Nein, keine Sorge.» Georg Reese trank ebenfalls einen Schluck Wein. «Ich wollte nur kurz nach dir sehen und mich erkundigen, ob du noch Hilfe brauchst. Eigentlich war ich auf dem Weg zu einer deiner Nachbarinnen. Der Apothekerin Adelina, um genau zu sein. Einerseits, um für Rosa etwas von dem sündhaft teuren Konfekt und den kandierten Kirschen zu erstehen, die sie so liebt, und außerdem, um die Meisterin und ihren Gemahl einmal wieder zu einem gemeinsamen Abendessen einzuladen.»

«Zur Apothekerin wollt Ihr?» Cristan merkte auf.

«Ja, denn ich habe sie schon eine Weile nicht mehr gesehen. Meine Geschäfte haben mich über Gebühr von der Pflege meiner Freundschaften abgehalten. Ich hoffe sehr, dass dieser Zustand sich bessert, wenn du erst einmal meinen Posten als Gewaltrichter übernommen hast. Die Zeichen stehen übrigens gut, wie mir einige Schöffenkollegen kürzlich mitteilten. Du bist auf jeden Fall der vielversprechendste Bewerber. Die Entscheidung dürfte in den nächsten Tagen fallen. Ich hoffe für dich, dass es klappt. Du bist jung und belastbarer als ich. Und du hast vor allen Dingen keinen großen Tuchhandel, der deine volle Aufmerksamkeit verlangt.»

«Das freut mich zu hören.» In Cristan arbeitete es. Die Gelegenheit war allzu günstig, oder nicht? «Wie kommt es eigentlich, dass du mich deiner guten Freundin, der Apothekermeisterin, noch nie vorgestellt hast?»

Überrascht hob sein Onkel den Kopf. «Was für eine Frage! Du bist es doch, der ständig mit anderen Dingen beschäftigt war, Junge. Aber wir können das umgehend ändern, wenn dir daran liegt. Immerhin ist Frau Adelina nun so gut wie deine Nachbarin, wenn auch auf der gegenüberliegenden Seite des Marktplatzes. Wenn du Zeit hast, begleite mich einfach zu ihr. Sie wird sich freuen, dich kennenzulernen. Sieh dich aber vor, sie hat nicht nur einen messerscharfen Verstand, sondern auch eine äußerst spitze Zunge, die sie gezielt einzusetzen weiß.»

«Ich hörte bereits davon.» Cristan grinste. «Schlimmer als Tilmanns Weib Mira wird sie aber wohl nicht sein, oder?»

«Na, na.» Georg Reese hob den Zeigefinger, schmunzelte aber dabei. «Mira Greverode ist bei Frau Adelina in die Lehre gegangen und hat dort sicherlich ihre von Geburt an vorhandene Aufmüpfigkeit noch weiter ausgebildet. Doch Frau Mira hat darüber hinaus auch ein teuflisches Temperament, dessen selbst ihr Gemahl nicht vollständig Herr werden kann. Aber das scheint ihn ja nicht weiter zu stören. Frau Adelina ist von besonnenerem Gemüt, was aber die Attacken ihres Mundwerks, wenn sie denn stattfinden, nicht weniger gefährlich machen. Doch keine Sorge, wenn man sie nicht angreift, ist sie eine ausgesprochen nette und hilfsbereite Person. Ich zähle sie zu meinen besten Freunden, ebenso wie ihren Gemahl.»

«Ihr habt ja auch schon so einiges miteinander erlebt. Wenn ich so darüber nachdenke, was du mir bereits alles über Eure Abenteuer erzählt hast, frage ich mich wirklich, warum ich nicht längst darauf bestanden habe, dass du sie mir einmal vorstellst.» Kurz dachte Cristan an die Arbeiten, die er noch zu erledigen hatte, und an die Listen des Rentmeisters. «Ich begleite dich gerne, wenn du sicher bist, dass es ihr nichts ausmachen wird.»

«Ich bin sicher, sie wird entzückt sein.»

***