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Markus, ein Malocher unterm Herrn, dem es schwerfällt, seiner Gattin Simone, die erfolgreich ein Schuhgeschäft führt, wenigstens ab und zu die ach so gern gehörten drei Worte zu sagen. Ehrlicherweise hat er das schon seit Jahren nicht mehr getan und sie hört eh kaum hin, sollte er mal etwas von sich geben. Sie geht eher mit ihrer Freundin shoppen, wenn er müde nachhause kommt, und am Wochenende ist für ihn Fußball wichtiger als alles andere. Was sie jedoch gemeinsam haben, ist ihr Sohn Matthias, den sie abgöttisch lieben und ihre westfälische Dickköpfigkeit. Haben Sie zufällig Bekannte und Nachbarn wie diese beiden? Dann sollten Sie das Buch lesen, denn ausgerechnet bei ihnen passiert das, wovor sich jeder insgeheim fürchtet. Ein Arbeitsunfall bringt Markus ins Krankenhaus, wo seine Frau Simone dem zwielichtigen Arzt Dr. Brinkmann nicht widerstehen kann. Da trösten ihn auch nicht die Worte seines neuen Freundes Alfonso, den er Rocker nennt: "Vergiss die Olle" Einfacher gesagt als getan.
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Seitenzahl: 357
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Roman von Werner Pfeil
Alle Rechte insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Autors reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
An die Leser und Leserinnen dieses Buches.
Dass die Liebe nicht immer einfach ist und manchmal seltsame Wege geht, wissen Sie mit größter Wahrscheinlichkeit. In jedem Märchen oder in den bekannten romantischen Kinofilmen aber wird uns gezeigt, dass sich zwei Menschen suchen – finden und alles ist gut. Leider wird selten darüber gesprochen, was danach kommt.
Der Roman, den Sie vor sich haben, schreibt die Geschichte eines Paares weiter und beginnt, nachdem Jahre ins Land gegangen sind und die Welt für die beiden nicht mehr ganz so rosa-rot war.
Er ist ein mögliches, repräsentatives Beispiel, das weder auf realen Begebenheiten beruht noch auf lebende Personen hinweist, die es je erlebt haben. Außerdem soll es keinesfalls einen offenkundigen Versuch darstellen, mich über Freunde, Feinde oder gar Ex-Partner lustig zu machen, auch wenn es dazu anregt, dem Glauben zu schenken.
In der Ehe bekommt man Probleme, die man als Single nie gehabt hätte, und es ist und bleibt ein Versuch, zu zweit wenigstens halb so glücklich zu werden, wie man allein gewesen ist.
(Frei nach Oscar Wilde † 30. November 1900)
»Markus!«, schallte es laut durch den Garten der Familie Bracht: »Schon mal auf die Uhr geschaut? Mach hinne. Heute Abend muss hier draußen alles picobello sein. Habe morgen früh weder Bock noch Zeit, mir eure kreative Gartengestaltung anzuschauen. Kümmere dich bitte«, flötete Simone ihrem Mann über die Schulter ins Ohr, nachdem sie den Rasenschnitt begutachtet hatte und kopfschüttelnd vor der Abschussrampe eines Feuerwerks stehengeblieben war.
Eine Sekunde nur dauerte es, dann antworten gleich ein halbes Dutzend Stimmen synchron, so laut, dass es in der Nachbarschaft zu hören war.
»Ja, Boss, wir kümmern uns«, begleitet von einem Lachen, dass Simone mit einem Kopfschütteln quittierte.
»Und denkt daran. Es muss perfekt sein. Der Garten soll etwas Besonderes ausstrahlen, wie gemacht für eine Party, die in die Geschichtsbücher dieses Dörfchens eingeht! Wehe, ich sehe morgen Abend missgelaunte Gäste an undekorierten und wackligen Stehtischen, die ihr aufgesetztes, gezwungenes Grinsen zur Schau stellen. Ich will niemanden, der nur simuliertes Interesse an Spaß, Tanz und Musik hat und stattdessen säuft und Geschäftliches bequatscht. Ist das klar?!«
Drohend hatte sie ihren Zeigefinger gehoben und schulmeisterlich in Markus Richtung gelächelt, so, wie nur sie lächeln konnte. Er war jedes Mal hin und weg. Er hustete, um einen seiner gefürchteten Lachanfälle zu unterdrücken, denn im Rücken seiner Frau, machte Matthias, ihr Sohn, Sperenzchen.
»Ist ja schon gut. Kriegen wir alles hin … nicht wahr?«, er blickte über die Schulter zu den eifrig arbeitenden Freunden im Garten, die ambitioniert nickten.
»Mach dir keine Sorgen, sieh lieber zu, dass es im Haus läuft, und lass deine Mädels nicht warten.« Er küsste sie flüchtig auf die Wange, bevor sie den Rückzug antrat ihm aber im Weggehen zurief: »Du weißt ja. Es ist keineswegs eine Halloweenparty. Leg dir was Vernünftiges zum Anziehen raus.«
Sie hörte nicht, wie er die Hacken zusammenknallte und grinsend salutierte. Genau genommen war es nicht ihre Art, mit harter Hand zu delegieren, doch wusste sie, sobald sie ihrem Markus und den Helfern im Garten den Rücken zudrehte, würden diese wie Sprungfedern reagieren. Leider nicht in die gewünschte, sondern in die entgegengesetzte Richtung schnellen ... von den aufzuhängenden Girlanden zur Kiste Bier und zum Radio, wo eine Fußballübertragung lief. Dafür war heute keine Zeit. Sie bereiteten ja letztlich nicht irgendeine Party vor. Nein, weiß Gott nicht! Von dieser sollten die Leute bis in alle Ewigkeit reden, weil sie etwas Besonderes werden würde. Es erschien ihr unerlässlich, dass sie die Zügel in der Hand behielt und nicht schleifen ließ und sich jeder ins Zeug legte ... auch sie.
»Läuft doch«, ertönte eine Bassstimme hinter dem Rhododendronbusch. Sie gehörte einem Mann, der im Rollstuhl sitzend, mit einer langen Stange versuchte, den Winkel der Raketenabschussrampe so auszuloten und zu fixieren, dass eine abgeschossene Rakete den Weg definitiv in den Himmel fand und nicht am Giebel des Nachbarhauses zerschellte.
»Fall aber nicht von der Leiter, denn bis ich meinen bockigen Rolli gewendet habe, zappelst du wie`n Maikäfer auf dem Rücken. Weißt doch am besten, wie das mit runterfallen geht.«
Die letzten Worte wären fast im brüllenden Lachen untergegangen.
»Kümmer dich lieber um das Brennholz, anstatt Sprüche zu klopfen. Die Scheite müssen an die Feuerstellen gebracht und gestapelt werden oder willst du dir morgen den Arsch abfrieren?«
»Du bist ja sowas von witzig. Ehrlich. Ist längst erledigt. Dein Sohnemann persönlich hat geholfen. Und, nebenbei bemerkt Schlauauge, haben wir die Gasheizstrahler ebenfalls verteilt und die Gaskartuschen angeschlossen. Was ist los alter Sack. Überblick verloren?«
»Rocker, du redest wie immer nur verwirrtes Zeug. Hab alles im Griff, komm bitte her und halt die Leiter.«
Er kannte den Mann erst seit ein paar Monaten und wusste, dass er sich auf seine Art ausdrückte. Sie hatten nicht durch viele Worte Freundschaft geschlossen. Sie verband etwas, wofür es keine gab und andererseits, was konnte man von einem im Rollstuhl sitzenden, langhaarigen Bombenleger verlangen. Er wankte auf der obersten Sprosse, hatte nicht den idealen Stand, trotz alledem konnte er nur so an den Zweig gelangen, an der er die letzte Girlande befestigen wollte. Von oben betrachtetdachte er, sieht es gut aus. Sollte reichen und grinste wie ein Honigkuchenpferd.
Draußen, in seinem Territorium, herrschte angespannte Erwartung darüber, was noch zu tun sein würde. Wie es dagegen im Haus aussah? Keine Ahnung, aber hundertpro würde drinnen der absolute Punk abgehen. Vieles deutete darauf hin, dass die Damen aus dem Freundeskreis und der Nachbarschaft im Schlafzimmer auf die Frau einredeten, die er liebte.
Jeder würde versuchen, an ihrem Kleid zu zerren. An dem Fummel, den er nicht einmal sehen durfte und für das er ein mittleres Vermögen locker gemacht hatte. Letztlich war es ihm egal, denn er wusste, sie würde darin umwerfend aussehen.
»Sei vorsichtig, hier steht überall was rum«, rief er seiner Nachbarin Hilde zu, die über den frisch gemähten Rasen tänzelte wie auf einem Catwalk und dabei ein Tablett mit winzigen Einmachgläsern und Teelichtern balancierte, um sie auf den Stehtischen mit den weißen Hussen zu platzieren. Sie war keine kleine, unscheinbare Person, schon gar nicht zart oder leise, sondern ebenso mollig wie laut und energisch mit nicht unbedenklichen Haaren, die sie momentan durch Strähnchen aufzuwerten suchte.
»Pass du lieber auf, dass du nicht ein weiteres Mal auf deinem knackigen Arsch landest«, grinste sie unverschämt. Ihre Tochter, die, nachdem sie von ihrem Lover rausgeschmissen wurde, wieder zuhause wohnte, schaute Kaugummi kauend über den Zaun.
»Kommst du rüber. Ich glaube, im Haus wird jede helfende Hand benötigt«, rief ihre Mutter, aber sie verdrehte nur die Augen und widmete sich erneut einem grässlichen Hula-Hopp Reifen, den sie gekonnt um ihre dürren Hüften kreisen ließ.
»Bei der Auferstehung des Fleisches bleibt die doch liegen und die gehört eindeutig zu denen, die auf der Feier morgen nur eine kurze Rede auf die Reihe kriegt, weil sie Angst hat, das Essen könnte verwelken. Was meinst du?« Mittlerweile war der Mann im Rollstuhl bedrohlich nahe an die Leiter, auf der Markus stand, gefahren.
»Oh Menno, dein Sprachgebrauch würde jeder Feministin den Boden unter den Füßen weghauen.«
»Kommt die Morgen zur Party?« Mit dem Kopf deutete er auf das Nachbargrundstück.
»Eingeladen ist sie, warum?«
»Nur so. Denke, dass du die Brocken, die sie vom Buffet nimmt, ausgekotzt auf dem Kompost finden wirst. Ist doch so bei den jungen Dingern, die sich nicht zwischen Bulimie, Karriere als Model, Studium und Versenkung im Ehedilemma entscheiden können«, stellt er nüchtern fest und entsprach damit keinesfalls die Meinung des Mannes, der versuchte, die Leiter herunter zu steigen. Als er es stöhnend geschafft hatte, blieb er stehen und betrachtete sein Meisterwerk.
»Gar nicht so übel!«
»Meinst du. Komm, lass uns eine quarzen.«
»Du rauchst wieder?«
»Jap. Seit eben.«
Fest legte er seine Hände, die zuzupacken gewohnt waren, auf die Griffstücke des Rollstuhls und schon ging es los. Eine Runde durch den wunderschönen Garten, der am Folgetag die große Bühne für einen Polterabend sein sollte. »Ludos potest incipere«, brabbelte er sich in den Dreitagebart.
»Was sülzt du da für`n geistigen Dünnschiss. Hab mich hilfreich höher geschult. Außer Deutsch und Spanisch, kann ich nix.«
»Und das leider nur auf deine Art du alter Kulturbanause. War Latein und bedeutet im übertragenen Sinne, dass die Spiele beginnen können.«
»Ach so, dachte schon, du sagst was Versautes«, grinste er schelmisch: »Aber mal was anderes, etwas, was mir seit Tagen auf dem Stumpf, der einmal ein Bein war, brennt und was ich dich die ganze Zeit fragen wollte.«
»Ja los ... raus damit!«
»Wer ist morgen überhaupt Herr der Ringe? Seh zwar nicht aus wie Frodo Beutlin, zumindest unten rum … du weißt schon, haarige Füße und so, allerdings denke ich, das wär ein Job für mich. Einen, sie zu knechten, ins Dunkel zu treiben.«
»Du überrascht deine Mitmenschen in einer Tour. Alter Schlawiner, hast du Tolkien gelesen?«
»Ne, den Film hundert Mal gesehen.«
»Ich hab’s durchgelesen und gebannt im Kino gehangen und mir eine andere, wichtigere Zeile gemerkt.«
»Die da lautet?«
»Sie ewig zu binden«, sagte Markus und dachte wehmütig an die letzten Monate.
»Klappt selten. Hast du doch selbst erlebt.«
»Die Hoffnung, mein Freund.«
»Die stirbt, wenn auch zuletzt und sofern es ginge, würd ich auf die Knie fallen und das Haupt senken. So krieg ich`s nur im Sitzen hin.«
Er ruckelte sich in eine aufrechte Position, blickte ihn ernst an und sprach: »Du bestimmst ihr Schicksal, alter Mann. Und sollte dies dein Wille sein, so wird Alfonso den Ring an sich nehmen und ihn auf den Schicksalsberg zum Tempel tragen. So solls sein edler Herr.«
Er antwortete ihm nicht, sondern drückte ihn spontan.
»Gute Idee, du rollst in der Kirche neben das Brautpaar, sobald ich dir ein Zeichen gebe.«
»Krieg ich hin«, grinste er stolz.
»Dann wäre das geklärt.«
In Markus Kopf stellte sich indes die Frage, was die Braut dazu sagen wird, denn die hatte jemand anderes als Favoriten für diesen Job auserkoren. Andererseits hatte sie die Brautjungfern ausgesucht, die mit Sicherheit den Beweis nicht mehr erbringen konnten, und den Bräutigam nicht in ihre Überlegungen einbezogen.
»Bringst du dir morgen eine deiner Ladys mit, oder wirst du allein anrollen?«
»Nö, nehme doch kein Bier mit inne Kneipe und hab aktuell eh nichts am Laufen. Feste Beziehungen werden ohne jeden Zweifel völlig überbewertet.«
»Wie kommst du darauf?«
»Schau dich an«, schulmeisterlich sah er ihn an: »Eine Frau hängt sogar nach Jahren noch an dir dran. Wie eine Klette oder die blöden Security-Kofferaufkleber vom Flughafen. Die reisen überall mit hin und wenn du versuchst, sie abzuziehen, geht das nur bröckchenweise.«
Markus schüttelte lediglich den Kopf. Was sollte er auch darauf antworten?
Irgendwann waren die Vorbereitungen abgeschlossen. Selbst Simone hatte nichts mehr an der Gartengestaltung zu meckern gehabt. Die Nachbarn und Nachbarinnen sowie Freunde und Bekannte hatten sich verabschiedet und über dem Areal lag ein Hauch von Ruhe vor dem Sturm. Die kommenden Tage würden es in sich haben. Neben den vielen Terminen standen etliche Fragen im Raum.
Hatten sie an alles gedacht? Würde es den Gästen gefallen und wie würde sich das Wetter entwickeln? Rocker hatte seinen Stumpf befühlt und nach einigen Augenblicken, wissend genickt … was immer das bedeuten sollte, denn eine Antwort hatte er nicht geliefert.
Zu später Stunde krabbelte Markus todmüde unter die Decke. Er hatte dem gleichmäßigen Atmen Simones, das sich wie das Schnurren einer jungen Katze anhörte, gelauscht. Er hasste seine spätabendliche Neugier, die ihn fast zwanghaft verleitet hatte, eine Talk- und Nachrichtensendung anzusehen, anstatt sich ins Bett zu begeben, um in Ruhe und Würde ein Buch zu lesen.
Er blickte zum tausendsten Mal zum Wecker, der hämisch die Zeit verstreichen ließ. Stunden waren vergangen, in denen er vergeblich den Weg in die Traumwelt gesucht hat. Zugegeben, er hatte nie Träume, zumindest keine, an die er sich erinnern konnte und jetzt gelangte er nicht einmal annähernd in den Zustand, wo sie hätten möglich sein können.
Wütend drehte er sich zum x-ten Male auf seinem Kissen. Es war für ihn schon immer wie eine weiße Dunstwolke gewesen, weich und fest zugleich. Heute schob er es hin und her, knautschte es zusammen, dann zog er es wieder glatt. Es war und blieb unbequem. Was war anders als in den Nächten zuvor?
Er stieg mit der müden Besonnenheit eines Invaliden aus dem Bett. Auf Zehenspitzen schlich er durch die Wohnung und zog an der Tür zur Terrasse, die sich schnarrend öffnete. Mit schwerfälligen Schritten stapfte er über den Rasen, den seichten Hang hinab zur Bank. Die dunklen Schatten des Gartens wirkten meist unheimlich. Nicht aber heute.
Als er vor der Holzbank angekommen war, blieb er stehen. Das erste, dezente Morgenlicht sickerte durch die Äste und sprenkelte die Bäume mit blassem Gold, und die Pollen tanzten wie angetrunken in den Sonnenstrahlen. Nicht gut für Allergiker, dachte er.
Ein neuer Tag zog auf. Mattes Licht, das auf sein Gesicht fiel und klare Luft, so frisch, als hätte sie niemand zuvor geatmet. Er fühlte sich so frei und leicht, als wäre seine lebende Seele das Einzige, was Gewicht hatte und ihn daran hinderte, wie ein Luftballon davon zu schweben. Er sog sie ein und kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Es war einer jener Nächte, an dem der Mond groß am Firmament stand und heller schien als in anderen. Der Himmel zeigte sich beinahe wolkenlos. Er erlaubt es nur einem einzelnen kleinen Wölkchen, über ihn wie ein Schiffchen zu ziehen. Ein Lufthauch kratzte an ihr und schob sie sachte in Richtung Horizont.
Es war angenehm warm, und es würde in den folgenden Tagen so bleiben, so zumindest die Vorhersage. Die Blumen hatten ihre Blüten auf dem mit Rindenmulch bedeckten Beeten am Nachmittag nach oben gestreckt, nun waren sie in sich zusammengesunken, als wenn sie schliefen. Der Apfelbaum warf einen langen Schatten und es wehte eine leichte Brise, vor der Dutzende Blätter, dahinsegelten.
Ächzend fiel er auf die Bank. Mittlerweile graute der Morgen und in der Luft lag bereits diese fröstelige Kühle, die die nahende Winterzeit erahnen ließ. Über ihm wölbte sich der Nachthimmel mit seinen unzähligen Sternen, die wie silberne Lichttupfer auf einer dunkelgrauen Leinwand aussahen und ohne Chance gegen den Feind aus dem Osten kämpften, der im Begriff stand, als rötliche Scheibe ihren Platz einzunehmen.
Dieser Anblick sollte ihn inspirieren, schließlich blicke er nicht nur zu diesem Schauspiel empor, sondern gleichzeitig weit zurück in die Vergangenheit, in der zwei Stimmen versuchten, sich Gehör zu verschaffen. Manchmal, in besonderen Augenblicken wie dieser einer war, wünschte er sich, er könne die Zeit zurückdrehen ... doch nein, er durfte heute Nacht nicht daran denken, was in den letzten Monaten passiert war.
Dennoch lauschte er ihnen. Sie schienen einen stillen Kampf auszutragen. Eine, die am liebsten den Kummer verbergen und eine andere, lautere, die alles ans Licht holen wollte, um zu enthüllen. Kaum vorstellbar, dass er sich noch vor Kurzem, mit finsteren Gedanken herumgeschlagen hatte, aber es hatte sich vieles positiver entwickelt, als er es sich in den kühnsten Träumen vorgestellt hatte. Zum Glück.
Monate zuvor.
Markus war einer der echten Malocher unter dem Herrn, wenn es darum ging, in schwindelerregenden Höhen, lange Nägel in Firstfetten zu versenken. Nie war ein Dach zu hoch, Dachpfannen zu rutschig und selbst steil angestellte Leitern bedeuteten kein Problem für ihn. Am Turm des Domes in der nahe gelegenen Stadt hatte er erst kürzlich, Schieferplatten angenagelt. Schwindel, außer es handelte sich um die Ausdehnung seiner gelandeten Fische beim Angeln, war ihm fremd.
Einmal nicht aufgepasst und Schwupps war es passiert. Ihm wurde das klar, als er nach einer mehrstündigen Operation, an einem Montagnachmittag die Augen im Krankenhaus aufschlug. In einem weißgetünchten Zimmer, bekleidet mit einem Hemdchen, das sich nur unwesentlich von der Wandfarbe abhob, wachte er auf, sah sich vorsichtig um und an sich herunter. Was er dort erblickte, ließ ihn heftig zusammenzucken, denn sein Blick blieb an beiden Armen hängen, die bis zu den Ellenbogen in Gips steckten. Verdammte Hacke, was war geschehen?
Mühsam versuchte er, Erinnerungsfetzen zu einem Bild zusammenzufügen. Es war, als wenn wichtige Puzzleteile, fehlten. Nichts schien einen Sinn zu ergeben. Dass er lebte, spürte er, obwohl ihm das Kreuz an der Wand, etwas anders einflüstern wollte. Okay, dachte er, für die Hölle ist es zu Weiß hier und das Kruzifix, würde Luzifer längst entfernt haben, sofern er hier das Sagen hatte. Keine normale Bude, in der er aufgewacht war, das stand außer Frage.
Erst jetzt bemerkte er die Gummischläuche, die ihn mit diversen Apparaturen verbanden. Über ihm baumelte eine Plastikflasche. Er verfolgte einen der durchsichtigen Schläuche bis zum rechten Bein. Dort verschwand er unter einem breiten Pflaster. Links neben ihm erkannte er einen grauen Kasten, der unaufhörlich für ein störendes Piepsen sorgte. Er sah einen grünblauen Zacken, der regelmäßig nach oben schoss, so dass er zunächst annahm, dass es sich um einen Fernseher mit einem beruhigenden Kaminfeuer handelte. Hatte er mal im Haus seines Angestellten gesehen. Beim genauen Betrachten bemerkte er die danebenstehenden, blinkenden Zahlen, die ihn vollends verwirrten. Dunkel erinnerte er sich an eine der Arztserien, die Simone, seine bessere Hälfte, so gern sah und ahnte: Sie bedeuten nichts Gutes.
Ansonsten war er so weit gesund, frisch, schlank und fit. Ein Mann, Anfang fünfzig, in der Blüte seiner Jahre, der trotz harter Arbeit bei Wind und Wetter, eine Menge von seinem jugendlichen Charme und seinen Haaren behalten hatte. Okay. Ein paar vorwitzige graue Strähnchen und einige Fältchen, die es wagten, um seine Augen herum zu posieren. Auffällig war sein markantes Gesicht mit dem ständig sonnengebräunten Teint. Addiert, ließen ihn diese Merkmale jünger aussehen, als er war. Ab und an wurde ihm das sogar bestätigt. Meist von Hausfrauen, für deren Männer er mit seinen Mitarbeitern das Dach reparierte oder neu eindeckte. Das waren spezielle, besonders schöne Arbeitstage.
Ihn quälte die Ungewissheit: »Was war passiert, was der Grund, warum er hier lag?« Zu viele Fragen und schlimmer, keine Antworten. Nachdenken macht müde. Den Rest übernahmen die Medikamente, die in flüssiger Form durch die Schläuche in seinen Körper liefen. Er wehrte sich gegen den drohenden Schlaf wie ein Mann ... und verlor.
Zur gleichen Zeit, im selben Krankenhaus, nur durch eine dünne mobile Trennwand auf der Intensivstation abgetrennt, kam Hennes zu Verstand. Er war wie die meisten Biker nicht mehr einer von den jungen Wilden, sondern ein gestandener, im Beruf erfolgreicher Mann von fünfundvierzig Jahren mit überdurchschnittlichem Einkommen und entsprechenden Ansprüchen. Zudem konnte man ihm ein gutes Aussehen bescheinigen.
Groß, schlank und dunkelhaarig mit widerspenstigen schwarzen Löckchen, die seinem schmalen Gesicht, Ausdruck verliehen, kam er daher. Das letzte, woran er sich erinnerte, war die langgestreckte Kurve im Weserbergland und ...? Bullshit. An die Textilbremse, als er auf dem Rollsplitt ins Schlingern geriet und absteigen musste. Da war der lange Ritt auf dem Asphalt, über den er, nur von der Lederbekleidung getrennt, rutschte. Ach ja, da war dieser Bordstein und dann … dann hatte es bumm gemacht. Mehr gab sein Erinnerungsvermögen nicht her.
Wie an jedem Sonntag war er unterwegs zum Bikertreffen auf dem Köterberg nahe der Weser bei Lügde. Im Gegensatz zu den vielen jüngeren, unerfahrenen Frischlingen, gehörte er zu den Alten, die selbst wenn das Wetter schlechter wurde, dort aufkreuzten. Er war kein Show- oder jemand, der von einem Café zum Nächsten cruiste, um zu protzen. Er fuhr nicht auf den Berg, um seine Reifen im Burn-out auf dem Parkplatz unterhalb des Fernsehturms qualmen zu lassen und sich mit einem Wheelie zu verabschieden, wie es einige Verrückte taten. Ihm ging es mehr darum, unter Gleichgesinnten über Motorräder und insbesondere seine Harley-Davidson zu reden, die eine der Eyecatcher-Maschinen sonntags darstellte. Er hatte Monate investiert, um das Bike zu dem zu machen, was er gern spielerisch auf den Ständer hievte. Am Morgen hatte man ihn von Höxter in ein Paderborner Krankenhaus verlegt. Das hatte er am Rande, vollgedröhnt mit Medikamenten, registriert. Gleichzeitig wusste er, dass nicht nur er, sondern auch der geliebte Chopper Hilfe benötigte, denn irgendetwas schien mit seinen Beinen passiert zu sein.
Ernüchterung setzte ein, und die Gedanken um das Motorrad und die Frage, wer sich um sie kümmerte, verflogen mit einem Schlag, als er die Bettdecke zur Seite schob, an sich herabschaute und nur weißen Gips sah. Vom Schritt, bis an die Zehen nichts anders als Verbände. Was für eine Scheiße war das denn? Die Schwester musste bemerkt haben, dass er aufwachte. Sie huschte elfengleich an sein Bett und spritzte etwas in den Tropf, der über ihm hing.
An mehr würde er sich in den nächsten Stunden nicht erinnern. Schon aber an den irren Traum, in dem er auf seiner Harley sitzend, den warmen Wind auf der Route 66 um die Nase bekam und beim Barbier von Seligmann, eine Rast einlegte, weil er so schrecklich müde wurde.
Das, was Markus als Nächstes wahrnahm, war eine Gardine, die weit in das Zimmer wehte und den Hauch des kalten Herbstwindes hineinließ. Er fröstelte und wollte die Decke, unter der er lag, etwas höher ziehen. Keine Chance, funktionierte nicht, da nur die Kuppen seiner von harter Arbeit gezeichneten Finger, aus dem Gips heraus lugten. Damit ließ sich der blöde Zipfel der Bettdecke, obwohl er sich anstrengte, einfach nicht fassen. Panik in den Augen.
Wie sollte er essen, wie trinken und: »Mist« fluchte er laut, wie würde das auf der Toilette funktionieren? Als er seine Beine über die Bettkante hievte, sah er auf ein Bett, welches ebenfalls auf Rollen, neben seinem stand. Da endlich begriff er. Ausrutschen auf dem Dach, abgleiten bis an die Dachrinne. Der Versuch, sich festzuhalten und dann der schmerzhafte Ruck, als er die Regenrinne erfasste und so seinen Sturz mit den Händen abbremste. Alles, was danach passierte war nichts mehr da, ausgelöscht. Vermutlich auf immer und ewig verloren.
Auf wackligen Beinen blickte er sich vorsichtig im Zimmer um. Insgesamt drei Betten zählte er. Wo waren seine Klamotten, wo das Handy? Er musste anrufen. Frau und Kind. Wussten die von dem Unfall? Sein Vorarbeiter - wer hatte sie informiert? Würden sie sich Sorgen machen und welcher Tag ist heute überhaupt?
All diese Dinge durchschossen sein arg gebeuteltes Gehirn gleichzeitig. Fragen, die unbeantwortet blieben und Schwindelanfälle auslösten. Nur mühsam konnte er sich aufrecht halten. Langsam ließ er sich zurück auf die Bettkante sinken.
»Alles in Ordnung bei Ihnen?«, hörte er eine Stimme, die wie aus weiter Ferne durch einen Wattebausch an sein Ohr drang.
»Ja, geht schon wieder«, beantwortete er die Frage brav. Gleichzeitig drehte er sich in die Richtung, aus der sie zu kommen schien.
»Hennes Kraschinski«, stellte sich der Typ vor, der blass, wie auf einem Totenbett, tief in dem Kissen seines halb aufgerichteten Krankenbettes lag.
»Angenehm, Markus Bracht«, antwortete er und blickte den Mann belustigt von unten nach oben an.
»Höher konnten sie den Gips, wie mir scheint, nicht anbringen«, spottete er.
»Na ja, bei ihnen hat man ja ebenfalls einiges lahmgelegt. Wenn die jetzt in das freie Bett einen legen, der sich die Zunge abgebissen hat, dann liegen hier locker flockig dreihundert Prozent Impotenz versammelt«.
Der Bann war gebrochen, was den Anwesenden im Schwesternzimmer, drei Räume weiter, nicht verborgen bleib. So laut hatten erst vor Stunden operierte, in diesem Haus bis dato nie gelacht. So musste es scheinbar sein, sofern zwei knüppelharte Kerle zusammen auf einem Zimmer lagen. Man ließ das Siezen und ging zum Duzen über. So wie Männer das meist machen, zumal, wenn sie Leidensgenossen sind und im Leiden, waren sie absolute Spitze, wie die Schwestern rasch mitbekamen.
Etwas verwundert, dass sie im gleichen Ort wohnten, aber sich ihre Wege dort nie gekreuzt haben, fanden sie, dass ihr beschauliches Städtchen doch groß sein müsse. Nachdem sie in blumiger, spannender, mitreißender Art und Weise den Grund ihres Krankenhausaufenthalts in Form eines abendfüllenden blutigen Tatorts erzählt hatten, waren sie so müde, dass sie es vorzogen, ein Nickerchen einzulegen.
Das karge Mahl zur Mittagszeit, verschliefen beide. Erst zur Besuchszeit, als sich die Tür öffnete und mehrere Personen gleichzeitig in den dafür völlig ungeeigneten Raum hereinströmten, erwachten sie aus ihrem Tiefschlaf. Für Markus war Besuch gekommen. Da er aufstehen konnte, ihm die Bude zu eng wurde, nahm er kurzerhand den rollbaren Ständer mit dem Tropf, um aus dem Zimmer zu kommen. Gestützt durch Gattin Simone an der einen und Sohn Matthias auf der anderen Seite, schlich er auf den Flur und überließen gönnerhaft, dem ans Bett gefesselten Leidensgenossen den Raum, was dieser dankbar lächelnd honorierte.
Wehmütig schaute Hennes ihnen hinterher. Aufstehen war ihm leider nicht vergönnt und Besuch erwartete er keinen. Wer sollte auch kommen? Er war bekennender Single und das schon seit Jahrzehnten. Karin, seine Ex hatte ihm dat Schwatte unter den Nägeln nicht gegönnt, als sie damals mit seinem Arbeitskollegen und besten Kumpel inklusive ihrem Ersparten über alle Berge verschwand. Allein zu Töchterchen Corinna hielt er Kontakt, aber die würde vermutlich nicht einmal wissen, in welchem Krankenhaus er lag.
»Verdammt«, knurrte er bei dem Gedanken und wischte sich eine vorwitzige Träne aus dem Augenwinkel.
»Männer und weinen, was soll der Scheiß«, fluchte er vor sich hin und er war froh, dass niemand aus seinem Bekanntenkreis ihn so sehen konnte und sein Bettnachbar ihn nicht hörte.
Markus empfand den ersten Besuch absolut stressig und nervenaufreibend. Nach der Verabschiedung, als endlich Ruhe in das beschauliche Krankenzimmer eingekehrt war, fielen beide in einen erneuten tiefen Schlummer. Sie hätten bis zum Mittag des Folgetages schlafen können.
Das Erwachen traf sie deshalb abrupt am frühen Mittwochmorgen um 06:00 Uhr. Ausgelöst durch eine Krankenschwester, die man hinter vorgehaltener Hand Schwester Rabiata nannte.
»Hallöchen! Guten Mooorgen! Ich bin die Anne, Zeit zum Fiebermessen«, und schwuppdiwupp war sie durch das Zimmer gehuscht, hatte die Gardinen aufgezogen und die Fenster geöffnet.
»Wollen doch nicht im eigenen Mief ersticken«, sagte sie keck und beide Bettlägerige dachten übereinstimmend, dass sie die Geruchsbildung nach einem undefinierbaren Parfüm selbst mit in den Raum getragen haben musste. Während Hennes später aufgerichtet wurde, um auf der Bettkante sitzend sein Frühstück einzunehmen, durfte sich Markus füttern lassen. Keine leichte Prozedur, weder für ihn noch für die blutjunge Praktikantin mit der üppigen Oberweite, die wiederholt von den Blicken der beiden gestreift wurde. Ohne sexistisch wirken zu wollen gestanden sie sich ein, dass es nicht viele aufregende Momente im Krankenhaus gibt, und das man die dünn gesäten Gelegenheiten auskosten muss.
Kurz vor Mittag öffnete sich die Tür und nach einer Einweisung durch Schwester Anne, hatten sie einen Neuen in ihrem Zimmer. Hubertus von Fahrenhorst, der aus bis dahin unbekannten Gründen nicht in das bestehende Gefüge der Zweckgemeinschaft passen wollte. Aufgrund Überbelegung hatte man ihn, den Privatpatienten, vorübergehend in diesen Raum gelegt. Unverschämt, wie er fand. Einen privaten steckte man nicht zu stinknormalen Kassenpatienten und überhaupt, bei seinem Namen hätte er einen gehobenen Status verdient. Ein hochnäsiger Fatzke, ungehobelter Klotz, aber nach seiner Knie OP würde man ihn los sein und bis dahin müsste man ihn ertragen, darin waren sich Markus und Hennes, ohne sich verständigt zu haben, einig.
Der Vormittag verlief mit der üblichen Routine in einem Krankenhaus. Tabletten reichen, Puls und Blutdruckmessungen, dann kam die Visite, wobei der Unterschied zu Herrn von Fahrenhorst deutlich sichtbar wurde. Sie waren nur Statisten und bekamen nichts anderes als ein aufmunterndes Nicken des Chefarztes, Doktor Brinkmann geschenkt. Arrogant, unnahbar kam er ihnen vor. Ob er so dilettantisch arbeitete, wie man ihm nachsagte, konnten sie bisher nicht beurteilen. Dennoch kein tolles Gefühl, diesem Gott in weiß wehrlos ausgeliefert zu sein. Ob sie an einen Quacksalber oder eine Koryphäe geraten waren, würden sie erst am Tag der Entlassung absehen können. Davon waren sie augenblicklich weit entfernt.
Die Besuchszeit, gleichzusetzen mit dem Highlight des Tages, barg wenig Abwechslung. Markus Sohn Matthias und Corinna, die Tochter von Hennes, erschienen. Beide brachten etwas mit. Gott sei Dank keinen Blumenstrauß. Sie begegneten sich auf dem Flur, sahen sich an, lachten, denn in ihren Händen hielten sie jeweils eine Packung Geleebananen … der Väter Lieblingsleckerei. So kamen sie ins Gespräch, als sie vor der Tür warteten, weil einer der Patienten auf dem Klo saß und Schwester Anne ihm erst den Hintern abputzen musste. Wie peinlich?
Verlegen und holprig begann ihr Geplauder, aber nach einigen Minuten legte sich die Schüchternheit und es entwickelte sich eine nette Plauderei. Wie es junge Menschen heute so machen. In Windeseile tauschten sie Handynummern aus und bevor sie das Zimmer betraten, wussten sie, wie sie den jeweils anderen in Zukunft erreichen konnten. Selbstverständlich freuten sich die Väter, ihre Sprösslinge zu sehen, aber rascher als gedacht ging ihnen, nachdem die Kinder vom nervtötenden Stunden an der Uni berichteten, der Gesprächsstoff aus. Gleichzeitig ist es für Besucher öde, den Tagesablauf im Krankenhaus zum x-ten Mal mit Nörgeleien zum Krankenhausfraß zu hören. Matthias und Corinna hatten sich früh verabschiedet und so holte sie die Langeweile ein, und schneller als erwartet, waren sie wieder allein.
Nicht ganz, denn der feine Herr von Fahrenhorst, lag im Samtbademantel mit eingestickten Wappen zwischen ihnen und las in einem E-Book. Blöd, über einen dritten hinweg eine Unterhaltung zu führen, mussten beide gedacht haben, so dass sie ihren Mittagsschlaf nachholten. Wenn sie geahnt hätten, dass in der Zwischenzeit Matthias und Corinna zusammen im Zug nachhause gefahren waren, und in einem Eiscafé bei einem großen Schokobecher saßen, wären sie unter Umständen nicht bereit gewesen, sich Ruhe anzutun. In letzter Konsequenz siegte die Müdigkeit, denn der Abend würde lang werden.
»Warum?«, fragte der Stationsarzt, als er seinen Dienst an die Nachtschicht übergeben wollte, und kurz reinschaute: »Mensch, Doktor. Champions-League«, schallte es ihm gleich dreistimmig entgegen, so dass er sich entschloss, es bei einem: »Na dann viel Spaß und das ich keinerlei Klagen von den Nachtschwestern höre«, beließ, bevor er hastig die Tür hinter sich zuzog.
Okay, ein Spiel des FC Bayern München, aber besser langweiligen Fußball als keinen, dachten beide unabhängig voneinander. Nur Herr von Fahrenhorst sah das anders. Er hatte eine Stunde vor der Übertragung damit begonnen, sich und den Raum blau-rot auszustaffieren, was bei Markus und Hennes nur Kopfschütteln hervorrief. Der adlige Kerl, saß doch tatsächlich mitten auf dem Bett, trug zu dem Pyjama einen Bayernschal. Er knabberte Chips, die er ab und an aus einer Tüte fingerte. Aus einem Bluetooth-Lautsprecher drangen die Klänge der Hymne ‚Stern des Südens‘ in einer Endlosschleife. Zumindest erweckte das den Eindruck bei den darauf allergisch reagierenden Patienten, die aber einen Streit über die Lautstärke vermeiden wollten.
»Fehlt zur Ausstattung nur die Pappklatsche«, stellte Hennes bissig fest, »und das Gläschen Champagner«, ergänzte Markus, was ihnen einen erbosten Blick des Herrn von und zu einbrachte.
In seiner Art und seinem Gehabe hatten sie einen gemeinsamen Feind ausfindig gemacht. Das Fußballspiel war im Handumdrehen abgehandelt. Bayern gewann in der letzten Minute der Nachspielzeit durch einen geschenkten Elfmeter. Klassische Fehlentscheidung, raunten sich die beiden zu. Die eingespielte Zeitlupe gab ihnen Recht. Dummerweise verwandelt durch keinen geringeren als dem Spieler, der längst wegen einer klaren Tätlichkeit die rote Karte hätte sehen müssen. ‚Bayerndusel‘, ein Ausgang wie bei Bayernspielen üblich, fanden Markus und Hennes, die ihr Gespräch mit Sachverstand und Kompetenz um Viererkette und Details über die taktische Ausrichtung führten. Am Ende hatte der jeweils andere, an Hochachtung gewonnen. Bis … ja, bis die entscheidende Frage kam, die einiges, im Speziellen das Klima zwischen den beiden, verändern sollte.
»Und, zu welchem Verein hältst du am Wochenende, wenn die Bundesliga wieder spielt«?, fragte Markus und Hennes antwortete wie aus der Pistole geschossen.
»Zu meinen Blauweißen. Bin doch echter Schalker Knappe und regelmäßig auf Nord in unserem Tempel.«
Da war die Katze aus dem Sack. Vorbei war der Austausch von Nettigkeiten und der gegenseitigen Hochachtung, was den Fußballverstand anging.
Markus war bekennender Pütt Lümmel, stolzer Borusse und das, seitdem ihn sein Vater vor Jahrzehnten mit auf ‚Rote Erde‘ genommen hatte und einen wie den, würde er nicht mehr mit dem Arsch anschauen. Dieses Bürschchen? Was denkt der sich? Einen Tempel, den gab es ja wohl nur in Dortmund, wo Fußball so etwas wie Religion darstellt. Auf Herne West gab es keinen, sondern eine Turnhalle, weil Glücksspiele unter freien Himmel verboten sind. Was bildete sich dieser blöde Assi nur ein? Völlig entgeistert sah ihn Hennes an, nachdem er ihn als Antwort den schwarzgelben Schlüsselanhänger, der in der Schublade seines Nachttischchens gelegen hatte, zeigte. Worte für einen wie den da, hatte Markus nicht mehr übrig und er fand es schäbig, diesen Typen jemals nett eingestuft zu haben.
So drehte er ihm anschließend provokativ den Rücken zu und tat, als schliefe er. Hennes quittierte das nur mit: »Typisch Zecke«. Jegliche Konversation kam zum Erliegen und man schwieg sich an, würdigte sich keines Blickes.
Schwester Anne hatte das Gefühl, dass sie eine Leichenhalle betrat, wenn sie morgens zum Fiebermessen ins Krankenzimmer kam. Gut, dass die elektronischen Geräte immer noch 36,6 Grad anzeigten, da sie Frost in den beiden sturen Kerlen vermutete.
Der zahlreiche Besuch von Kollegen aus der Bank für Hennes, aber auch der von Markus Dachdeckerkollegen bedauerte, den jeweiligen Bettnachbar mit einem.
»Ach der Arme«. Man wusste allerdings nicht, ob es sich auf die Art der Verletzung, oder auf die Zugehörigkeit einer der beiden rivalisierenden Mannschaften bezog.
Kam Simone zu ihm, so war sie auf dem Sprung, denn sie führte ein Schuhgeschäft und wollte nicht die ganze Arbeit auf ihre Angestellte abwälzen. Markus kam das manchmal wie eine Ausrede vor, aber die Zeiten waren vorbei, in denen man ständig aufeinander hockte. Jeder ging schon länger eigene Wege, die in den letzten Monaten nur sporadisch zusammenführten. Meist hatte sie sich vorher beim leitenden Arzt der Abteilung, Doktor Brinkmann erkundigt, der mit dem Verlauf der Genesung zufrieden war und eine Kur empfahl.
Die entsprechenden Anträge hatte Markus unterzeichnet, gab sich indes keinerlei Hoffnung hin, dass er schnell einen positiven Bescheid bekommen würde.
Matthias und Corinna trafen sich, wie sie behaupteten, zufällig, beim Besuch ihrer Väter. Sie bemerkten den Sinneswandel, hatten mit Fußball nichts am Hut und konnten deshalb das Theater nicht verstehen und gänzlich unbefangen darüber reden. Sie waren sich seit der Einweihungsparty eines Freundes näher gekommen und aus sich nett und anziehend finden, erwuchs ein zarter Keim von Liebe. Auf die eine oder andere Weise passten sie gut zueinander. Nach ihrer letzten Stippvisite hatte Matthias seine Corinna in eine gemütliche Bar eingeladen. Sie saßen, Händchen haltend verträumt gegenüber und tüftelten an einem Plan. Er war ihnen eingefallen, als sie ihre Väter, schweigend antrafen. Der Grund dieser plötzlichen Antipathie war eindeutig, allerdings nur aus der Sicht eines Ultrafans begreiflich. In ihren Augen ging es dabei um zwei bockige Männer, älteren Jahrgangs, die sich ursprünglich gut verstanden. Ihre Aufgabe sahen sie ab sofort darin, diesen Riss zu kitten.
Den Rest des Abends verbrachten sie mit Spaß an dem Gedanken, sich wie Romeo und Julia zu fühlen. Sie wissen schon, die Sprösslinge der verfeindeten Familien Montagues und Capulets im einstigen Verona.
Samstag, Fußballbundesliga. Hunderttausende von Menschen bevölkern an Spieltagen die Autobahnen und Züge deutschlandweit. Ein Riesengeschäft für viele. Markus und Hennes schmollten weiterhin und fanden sich damit ab, die Reportage des Spiels ihrer beiden Mannschaften über Kopfhörer im Radio zu hören. Eine vergleichbar schlechte Alternative zu sonstigen Derbys, bei denen sie in ihre Tempel fuhren oder mit Kumpels im Trikot am TV Gerät mit Bier und Chips abhingen. Heute war alles andersartig.
Niedergeschlagenheit verankerte sich auf ihren Gesichtszügen, brachte ihren Allgemeinzustand durcheinander. Da half der Besuch von Markus Frau Simone wenig. Sie fand zwar tröstende Worte … mehr nicht, denn diese blöde Macke mochte sie an ihrem Mann überhaupt nicht … wie so vieles andere.
Sie spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss, als Doktor Brinkmann die Tür öffnete. Sei ganz kühl, dachte sie, doch schon hatte sich ein Lächeln auf ihre Lippen geschlichen. Sie zog die Stirn kraus. Irgendwie musste dieser Gesichtsausdruck verschwinden, aber wie, wenn es sich so gut anfühlte, ihn zu sehen.
Der Arzt blieb vor dem Bett von Markus stehen. Da war er so nah an ihrer Seite und gleichzeitig so weit entfernt. Pass auf dich auf, es macht dumm und leichtsinnig, so verliebt zu sein.
»Was machen Sie für Sachen Herr Bracht. Ihr Allgemeinzustand hat sich permanent verschlechtert und ihre Werte gefallen mir gar nicht. Montag checken wir die Blutwerte. Ich bin mit meinem Latein am Ende, denn mit Ihren Armbrüchen hat das alles herzlich wenig zu tun. Letztlich steht Ihre Kur auf dem Spiel.« Kopfschüttelnd ließ er ihn liegen, stieß wie unbeabsichtigt mit Simone zusammen, entschuldigte sich mit einem Augenaufschlag, den nur sie sehen konnte, und wendete sich dem Bettnachbarn zu, dem er die gleiche Standpauke hielt.
Sie presste die Finger um den Zettel, den er ihr beim Zusammenstoß zugesteckt hatte und auf der die Schrift wie eingestanzt zu sein schien, da sie das Gefühl hatte, seine Handynummer ertasten zu können. Er wollte sie treffen, sofort und nicht erst später.
Sein Duft nach Aftershave, eine Mischung Buchenholz und frischer Luft, hing ihr in der Nase, ließ sie leicht zittern. Sie musste zu ihm, war ihm verfallen. Hastig faltete sie das Blättchen zusammen und schob ihn unauffällig in die Tasche ihrer Jeans. Würde Markus etwas merken?
Plötzlich, es war 15:20 Uhr, wurde die Tür aufgerissen. Corinna im BvB Trikot und Matthias mit Schalke Schal behängt, fuhren Händchen haltend, jeder in einem Rollstuhl sitzend, in die Szenerie. Als sie aus den Rollis aufsprangen, fielen sie sich in die Arme und gaben sich einen Kuss. Lachen auf der einen, ratlose Gesichter, weit geöffnete Münder, krause Stirnen auf der anderen.
Was ging da ab? Falsche Trikots, verkehrte Welt. Sind die jetzt vollkommen durchgeknallt … dachte nicht nur Markus, sondern ebenso Hennes. Kurz flammte in ihnen ein Höllenszenario auf … so eins mit Babys mit inkorrekten Trikotfarben und Schnullern im Kinderwagen. Gott sei Dank nur eine Nanosekunde.
Er strich seiner Frau mit dem Handrücken sanft über die Wange. Gegen ihren Willen versteifte sie sich. Einen Moment lang hoffte sie, er würde es nicht merken, doch seine Hand sank langsam nach unten.
»Ach, Simone«, sagte er leise, während ihm andere Gedanken durch den Kopf schossen. Wie konnte das sein? Matthias mit der Tochter dieses Schalkers zusammen? Die beiden waren froh und ausgelassen, machten einen glücklichen Eindruck. Er kannte das an seinem Sohn, sein Verhalten war ihm nicht neu, hatte er schon einmal so an ihm beobachtet. Ging alles rasend schnell bei ihm. Erst große Gefühle, Euphorie und dann, bevor er sich mit dem Gedanken abfinden konnte, dass sein Filius eine Freundin hat, Schicht im Schacht. Ende Gelände wie aus dem Nichts und es hatte ihn eine schlaflose Nacht und einen Vorrat an Bier gekostet, um ihn zu trösten.
Von alledem hatte seine Frau wenig mitbekommen. War so eine Sache zwischen ihnen geworden und er war stolz, dass Matthias zu ihm gekommen war. Himmelhochjauchzend – zu Tode betrübt.
»Kommt, wir haben eine Überraschung für euch«, flöteten die beiden Turteltauben im Duett. Hilflos sah Markus auf Simone, die den Kopf schüttelte und wortlos das Zimmer verließ. Sie durfte den Doktor nicht warten lassen und wollte sich vorher etwas aufhübschen. Nein, er war abgelenkt, fixiert auf seinen blöden Fußball und würde nichts merken.
Markus sah zu Hennes und dessen Tochter, die das Oberbett zurückgeschlagen hatte, und sich anschickte, ihn auf die Bettkante zu hieven. Zum ersten Mal seit Langem kreuzten sich die Blicke der beiden, in denen bei Weitem nicht mehr so eine Verachtung lag, wie in den Tagen zuvor. Jeder erkannte im faltigen Stirndisplay des anderen die gleiche unausgesprochene Frage: Was zum Teufel haben die mit uns vor?
»Sag nichts, steigt ein. Das wirst du ja hinbekommen«, stachelte ihn Matthias an. Mittlerweile hatte Corinna, den wesentlich unbeweglicheren Hennes in den Rollstuhl gewuchtet.
Als die Kontrahenten ihre Plätze eingenommen hatten, entnahm sie ihrer Handtasche zwei Papierfähnchen. Ob es Absicht war, oder eher zufällig geschah, konnte nachher niemand mehr sagen. Auf jeden Fall steckte sie an die Fußablage bei Markus ein blauweißes und bei ihrem Vater ein schwarzgelbes Fähnchen. Für beide aufgrund des Gipses, unerreichbar. Entrüstet sahen sich die Sturköpfe an und schwiegen schmollend. Los ging es, denn Matthias und Corinna schnappten sich die Rollstühle und im Affenzahn fuhren sie damit über den Flur zum Besucherraum. Als sich die Tür öffnete, stockte den Geschobenen der Atem. Aufgeteilt in Nord- und Südkurve waren Stühle aufgestellt und mit Fahnen, Wimpeln und Schals dekoriert. Auf ihnen saßen Schalker und Borussen zwar getrennt aber friedlich nebeneinander und begrüßten sie mit frenetischem Applaus. Sie hatten allesamt auf den Besuch im Stadion verzichtet, um mit ihrem jeweiligen Freund das Derby im Krankenhaus zu schauen. Schwester Anne hatte sich für diese Aktion mächtig weit aus dem Fenster gelehnt, jedoch in Doktor Brinkmann einen echten Befürworter gefunden, dem der Allgemeinzustand der beiden Patienten am Herzen lag, oder hatte es andere Gründe? Auf der Station wurde so einiges getuschelt.
Selbst wenn es keine Stadionwurst zu schnabulieren gab und das lecker Pilsken fehlte, nörgelte niemand. Als dass Spiel angepfiffen wurde, gab es eh wenig Zeit für belanglose Themen. Die Zweikämpfe wurden kommentiert und bei jeder Chance der Mannschaften, gab es einen Riesenapplaus ... oder aus dem gegnerischen Lager ein Pfeifkonzert. Mit Beginn der zweiten Halbzeit wurde die Sitzordnung aufgelöst, denn viele der Anwesenden kannten sich. Freund und ehemals Feind saßen friedlich nebeneinander und man hatte Spaß. Das galt gleichermaßen für Markus und Hennes, die man, ohne zu fragen, inmitten der Blöcke platziert hatte. Die einen waren halt die Knappen, die anderen die Borussen. In den Farben getrennt, in der Sache vereint. Das, was die Mannschaften auf dem Platz boten, war eins der besseren Unentschieden, wie man später fachmännisch feststellte. Am Ende klatschten sich alle ab. Mit dem Ergebnis konnten beide leben. Nachdem sie zurück in ihren gemeinsamen Tempel geschoben wurden, diskutierten sie lange über die eine oder andere strittige Entscheidung des Schiedsrichters.
Ganz so, wie man es unter zivilisierten Menschen machte … der Grundstein für den Beginn einer Männerfreundschaft.
Die Blicke, die Matthias und Corinna verliebt austauschten, entging ihnen derweil. Schlimmer noch. Wenn Markus geahnt hätte, welche Dunkelheit und Trauer auf ihn unaufhaltsam wie eine Lokomotive zugerast kam, würde es ihm vorgekommen, als löste sich die Vergangenheit in lauter Puzzleteile auf, die einfach nicht zusammengehören wollten. Mit dem Wissen, dass sich seine Simone auf dünnem Eis bewegte, wäre Schluss mit lustig gewesen. Aber das ahnte er nicht einmal.
Zu lange hatte er im Krankenhaus gelegen, kannte jeden Zentimeter des Flures und war mit den Pflegekräften per Du. Dann, nach etwas mehr als zwei Wochen sagte ihm die Stationsschwester, dass man seine Entlassungspapiere erstellen würde und er einen Termin beim Chefarzt habe.