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Die Swenson-Schwestern sind sich so nah, wie Schwestern nur sein können, und doch so gegensätzlich wie Tag und Nacht: die zielstrebige Bankerin Asia und die weichere, unbeschwerte Lucy. Bei einem Familienessen verkündet Lucy fröhlich, dass sie ihre große Liebe heiraten wird und dass ihre Schwester die Brautjungfer sein soll. Asia gibt sich alle Mühe sich zu freuen und ihrer Schwester den Abend der Verlobung bei ihrem Lieblingsitaliener nicht zu verderben. Aber Asia kann Lucy einfach nichts vormachen und als Lucy nicht locker lässt lässt, muss Asia mit der schweren Wahrheit herausrücken: Der Krebs, der geheilt schien, ist zurückgekehrt. Die Heilungschancen sind gering. Aber Asia hat nicht vor, dem Tod kampflos gegenüberzutreten und sie hat nur ein Ziel: Am Hochzeitstag noch am Leben zu sein, wenn Lucys Zukunft erst beginnt ...
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Seitenzahl: 412
Veröffentlichungsjahr: 2020
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Die Swenson-Schwestern sind sich so nah, wie Schwestern nur sein können, und doch so gegensätzlich wie Tag und Nacht: die zielstrebige Bankerin Asia und die weichere, unbeschwerte Lucy.
Bei einem Familienessen verkündet Lucy fröhlich, dass sie ihre große Liebe heiraten wird und dass ihre Schwester die Brautjungfer sein soll. Asia gibt sich alle Mühe sich zu freuen und ihrer Schwester den Abend der Verlobung bei ihrem Lieblingsitaliener nicht zu verderben. Aber Asia kann Lucy einfach nichts vormachen und als Lucy nicht locker lässt lässt, muss Asia mit der schweren Wahrheit herausrücken: Der Krebs, der geheilt schien, ist zurückgekehrt. Die Heilungschancen sind gering.
Aber Asia hat nicht vor, dem Tod kampflos gegenüberzutreten und sie hat nur ein Ziel: Am Hochzeitstag noch am Leben zu sein, wenn Lucys Zukunft erst beginnt …
Über Tanya Michna
Tanya Michna hat seit ihrem Studium an der University of Houston, Victoria, geschrieben. »Vergiss mich nicht« war ihr Romandebut. Sie lebt mit ihrem Ehemann und zwei Kindern in der Nähe von Atlanta, wo sie an weiteren Romanen arbeitet.
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Tanya Michna
Vergiss mich nicht
Roman
Aus dem Englischen von Carola Kasperek
Inhaltsübersicht
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Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Danksagung
Impressum
Jill und Melissa, ihr bleibt in liebevoller Erinnerung.
Eigentlich war Asia Swenson immer ein braves Kind gewesen. Nur einmal, in der dritten Klasse, hatte eine Lehrerin mit ihr geschimpft, weil sie einen frechen Jungen auf dem Spielplatz Furzgesicht genannt hatte. »Es gibt sehr hässliche Wörter, die wir niemals in den Mund nehmen sollten«, hatte Mrs. Larkin sie ermahnt.
Heute, mit vierunddreißig, an diesem Nachmittag im September, wurde Asia mit dem hässlichsten Wort ihres Lebens ein heftiger Schlag versetzt.
Metastase.
Wenn bloß Mrs. Larkin hier wäre. Sie würde dem Doktor den Mund mit Seife auswaschen.
Bei dieser absurden Vorstellung musste Asia beinahe lächeln. Beinahe. Wie konnte man lachen, wenn man soeben erfahren hatte, dass der Krebs nicht nur erneut ausgebrochen war, sondern sich sogar ausgebreitet hatte? Die Gefahr war ihr, wie jedem Krebspatienten, zwar bewusst gewesen, doch wenn es dann tatsächlich geschah …
Sie rutschte auf ihrem Stuhl herum und strich sich mit den Fingern über die Wangen, während ihre Gedanken geschwind wie Kolibris durcheinanderschwirrten. Wenn sie sich doch nur konzentrieren könnte! Ihre Mutter hatte immer damit geprahlt, wie zielstrebig Asia von Geburt an gewesen sei. Sie war eine Woche zu früh auf die Welt gekommen und hatte mit acht Monaten laufen gelernt. Wo war ihre Energie nur geblieben? Sie musste dieses Gefühl, als liefe sie unter Wasser gegen einen starken Widerstand an, unbedingt loswerden und sich erneut dem Kampf gegen den Krebs stellen. Einem Kampf, der zwei Jahre zuvor begonnen hatte und eine Zeit lang beinahe gewonnen schien. Ihr war, als habe sie mit letzter Kraft einen Berggipfel erklommen, nur um gleich wieder von einer Windböe hinuntergeweht zu werden. Jetzt musste sie den Aufstieg von Neuem in Angriff nehmen, obwohl sie von den überstandenen Strapazen bereits erschöpft war.
»Sie können es sich im Augenblick vielleicht nicht vorstellen«, sagte Dr. Klamm, und seine Stimme schien von viel weiter her zu kommen als nur von der anderen Seite des Mahagonischreibtisches, »aber wir haben noch nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft. Es gibt noch andere Therapien.«
Im Vergleich zu den hell erleuchteten, kühlen Untersuchungszimmern wirkte dieser kleine Raum mit den dunklen Möbeln so gemütlich, dass es Asia mitunter schon guttat, nur hier zu sein. Die männliche Ausstattung des Zimmers gab ihr ein seltsames Gefühl von Sicherheit, nachdem sie so viel Zeit mit anderen kranken Frauen verbracht hatte, umgeben von fröhlich bunten Kampf-dem-Krebs-Mitbringseln. Dabei war das einfach dumm. Auch Männer bekamen Krebs, sogar Brustkrebs. Vielleicht hatte sie sich hier nur deswegen immer so wohlgefühlt, weil sie Vertrauen zu dem Onkologen hatte.
Allerdings musste er ihr Vertrauen nun wohl oder übel enttäuschen und ihre in acht Monaten aufgebaute Zuversicht erschüttern.
Nachdem er ihr zum ersten Mal die Diagnose gestellt hatte, hatte Asia zu ihrer Mutter und Schwester gesagt: »Mein Leben liegt nun also in den Händen von Dr. Klamm, das klingt wie clam – die Muschel. Ob das wohl ein schlechtes Zeichen ist? Schließlich haben diese Lebewesen ja nicht einmal Hände.«
Lucy hatte gelacht, doch Mrs. Swenson hatte ihr nur einen gequälten Blick zugeworfen. Früher, wenn Lucy und Asia über irgendein sonderbares Wortspiel lachten oder über einen Witz, den nur sie beide verstanden, dann hatte ihre Mutter oft gesagt: »Mit euch Mädchen stimmt irgendwas nicht.«
Mit mir stimmt etwas ganz und gar nicht. Diese verdammten entarteten Zellen.
»Asia?« Besorgt blickte der Arzt sie durch seine Nickelbrille an.
»Tut mir leid. Ich war … woanders.«
»Ist schon gut.« Als er sich seufzend in seinem Ledersessel zurücklehnte, kam ihr der Gedanke, wie schwer der Arztberuf zuweilen sein musste. Weder die Ruhe, die dieser Raum ausstrahlte, noch die gerahmten Mutmachsprüche an den Wänden des Korridors oder die frischen Blumen am Empfang konnten darüber hinwegtäuschen, dass an diesem Ort Krankheit und schlechte Nachrichten allgegenwärtig waren. Aber angesichts ihrer eigenen Sorgen hielt sich Asias Mitleid mit Dr. Klamm dann doch in Grenzen.
Mit Mühe sammelte sie ihre Gedanken. »Es ist also eine andere Stelle, aber immer noch der gleiche Krebs?« Brustkrebs. Wie widersinnig bei einer Frau, die schon seit über einem Jahr gar keine Brüste mehr hatte. Den Termin für den operativen Brustaufbau im Dezember sollte ich wohl besser verschieben.
Er nickte. »Ich weiß, wie schwer das alles für Sie ist. Gehen Sie jetzt am besten heim und ruhen Sie sich aus. Wir sehen uns dann in ein paar Tagen wieder, wenn Sie Zeit hatten, sich ein paar Fragen zu notieren. Vielleicht könnte dann jemand von Ihrer Familie mitkommen.«
Als ob sie das einem geliebten Menschen zumuten wollte. Nichts konnte einem so sehr den Tag verderben, wie in das Klinikzentrum nördlich von Atlanta geschleppt zu werden, um sich wieder einmal etwas über Krebs anzuhören. Das wusste sie aus Erfahrung.
Mein Gott, sie werden so enttäuscht sein.
Die Familie Swenson hielt eng zusammen. Asias Schwester und ihre Eltern hatten ihr beigestanden, als sie die zwei Runden Chemotherapie und die beiden Operationen über sich ergehen lassen musste. Als es letzten Herbst so ausgesehen hatte, als sei die beidseitige Mastektomie erfolgreich gewesen, und ihre Blutproben ohne Befund waren, als die ewige Müdigkeit endlich ein wenig nachließ, ihre Haare wieder wuchsen und der Portkatheter aus ihrer Brust entfernt wurde, da hatten sie alle mit großer Erleichterung ein Licht am Ende des Tunnels gesehen.
Sie schluckte und blinzelte, um das Bild der auf sie zurasenden Lokomotive aus ihrem Kopf zu verbannen. »Ich mache einen neuen Termin an der Aufnahme«, sagte sie.
»Sie sind jung und kräftig, Asia. Und Sie waren immer eine Kämpfernatur. Wenn Sie wollen, nennen wir Ihnen ein paar Selbsthilfegruppen, die sich besonders um Patienten mit Rezidiven kümmern.«
Genau wie beim letzten Mal, dachte sie ärgerlich. Der Vorschlag, sich einer Gruppe anzuschließen. Die freundliche Ermahnung, den Kopf nicht hängen zu lassen. Damals, beim ersten Mal, hatte sie versucht, sich so munter zu geben wie ein Anti-Krebs-Cheerleader, nur ohne Pompons. Und dennoch war die Krankheit zurückgekehrt wie ein entfernter Verwandter, der sich dauernd Geld borgt, schmutzige Witze reißt und immer im falschen Augenblick auftaucht. Zu dumm, dass sie nicht einfach das Licht ausmachen, die Vorhänge zuziehen und so tun konnte, als sei sie nicht zu Hause. Das wäre ihr auf jeden Fall lieber gewesen als noch eine Chemo.
Doch noch schlimmer als der Gedanke an die Behandlung war die Aussicht, es den anderen beibringen zu müssen. Sie erinnerte sich noch lebhaft daran, wie entsetzt und traurig sie beim letzten Mal gewesen waren und wie tapfer sie sich bemüht hatten, es sie nicht merken zu lassen. Asia selbst hatte jedes Untersuchungsergebnis so positiv wie möglich dargestellt, ganz gleich, wie frustriert und verängstigt sie war. Ihre Lieben hatten im Gegenzug so getan, als glaubten sie keinen Augenblick daran, dass Asia sterben könnte. Sie alle hatten einen bizarren Tanz vollführt und ihre Füße zu dem ungewohnten Rhythmus so behutsam wie möglich gesetzt, um bloß keinem auf die Zehen zu treten.
In der Hoffnung, dies alles nicht erneut durchmachen zu müssen, hatte Asia keinem etwas von den Schmerzen und Beschwerden erzählt, die sie seit einiger Zeit plagten. Schließlich musste es nicht unbedingt etwas mit dem Krebs zu tun haben. Doch nun, da das Knochenszintigramm und die Ergebnisse der Biopsie ihre Befürchtungen bestätigt hatten, musste sie es ihnen sagen. Morgen. Wenn sie bis morgen nach dem Abendessen wartete, hätte sie genügend Zeit, sich ihre Worte zurechtzulegen.
Sie würden bestürzt sein, weil Asia doch so viele Monate gesund gewesen war. Ihre Mutter würde die Tränen nicht zurückhalten können und ihr Vater harte Fakten fordern, an die er sich klammern konnte. Die Gespräche mit den Kollegen würden ins Stocken geraten, und die Freunde im Fitnessstudio würden sie, um Worte verlegen, verstohlen von der Seite mustern.
Vielleicht wäre es das Beste, wenn sie sich morgen freinähme, um zu meditieren und sich vorzubereiten. Als Anlageberaterin war sie für das Geld anderer Leute verantwortlich, und im Augenblick wäre sie bestimmt nicht in der Lage, ihren Kunden die nötige Aufmerksamkeit zu widmen. Mein Gott, wie sehnte sie sich nach den Zeiten zurück, als sie sich nur um das Wirtschaftswachstum und nicht um das Wachstum von Tumoren Gedanken machen musste.
Ich werde mich krankmelden. Sie ballte die Hände zu Fäusten. Krank. Sie hatte so sehr gehofft, dass dieses Wort nie wieder auf sie zutreffen würde.
In ihrem Häuschen, das an einer Straße in Atlanta mit Namen Peachtree lag, hatte sich Lucy Swenson im Bett zusammengerollt. Ihr war, als würde sie schweben, leicht wie die samtigen Rosenblätter, die noch vereinzelt am Fußende lagen.
Der zehnte September war ihr offizieller Glückstag. Vor genau einem Jahr hatte sie an einer Veranstaltung zur Förderung ortsansässiger Künstler teilgenommen, weil der Mann ihrer Freundin Cam sich erkältet hatte und nicht mitgehen konnte. Daher hatte er Lucy seine Eintrittskarte überlassen, und in der Galerie war sie dann – im wahrsten Sinne des Wortes – auf Michael O’Malley gestoßen. Er arbeitete als Anwalt bei einer Kanzlei in der Innenstadt, die sich auf Arbeitsrecht spezialisiert hatte, und engagierte sich nebenher in mehreren gemeinnützigen Gruppen. Noch stärker als Michaels Beruf und sein umwerfend gutes Aussehen hatte es sie beeindruckt, wie gelassen er reagierte, als sie ihm Rotwein über sein Hemd kippte. Es war ihr entsetzlich peinlich gewesen, doch er hatte nur auf ein Gemälde mit knallbunten Farbklecksen gezeigt.
»Ich behaupte einfach, mein Hemd wäre auch moderne Kunst«, sagte er lächelnd. »Darf ich Ihnen einen neuen Drink holen?«
»Aber nur, wenn er keine Flecken macht«, erwiderte sie, während ihre Freundin in einem Seitengang verschwand, damit sich Lucy und Michael in Ruhe unterhalten konnten.
Einen Jahrestag im eigentlichen Sinne gab es nicht zu feiern, denn ihre Beziehung hatte sich ganz allmählich und fast unmerklich entwickelt. Sie begegneten einander ein paarmal zufällig, entdeckten gemeinsame Bekannte, trafen sich ganz zwanglos zum Abendessen, bis schließlich eine enge, vertraute Verbindung entstanden war. Aus diesem Grund hatte Michael den Jahrestag ihrer ersten Begegnung – also heute – gewählt, um ihr einen Heiratsantrag zu machen.
Lucy kuschelte sich tiefer unter die Bettdecke, die noch den warmen Sandelholzduft von Michaels Eau de Cologne verströmte. Dabei streckte sie einen Arm in die Höhe und bewunderte ihren Diamantring, der im Licht der Kerze, die nach Freesien duftete, funkelte. Sie hatte Michael die Duftkerzen aus einer Laune heraus gekauft, damit es in seiner Wohnung immer nach Frühling roch. Erst als sie ihm das Geschenk überreichte, war ihr aufgefallen, wie wenig es zu diesem breitschultrigen irischen Herzensbrecher passte. Doch er hatte sich mit einem Kuss bedankt, und seither hatten sie sich schon oft beim sanften Kerzenschimmer geliebt.
Wenn sie nicht sofort dieses alberne Grinsen abstellte, würde sie noch einen Krampf in den Lippen bekommen, doch es ging einfach nicht. Ihr war schwindelig vor Glück, und sie hätte die ganze Welt umarmen können. So etwas Schönes wünschte sie jedem Menschen!
Ihre Gedanken wanderten zu Asia, ihrer älteren Schwester und zugleich besten Freundin. Mehr als jeder andere hatte sie es verdient, glücklich zu sein. Erst vergangene Woche hatte ihre Mutter sich darüber ereifert, dass Asia sich nicht genügend Zeit nahm, um das wahre Glück zu finden, was für Mrs. Swenson gleichbedeutend mit einem Ehemann und Kindern war. »Sie arbeitet zu viel«, hatte sie sich beklagt, wobei jedoch auch Stolz in ihrer Stimme mitschwang.
»Sie will eben die verlorene Zeit aufholen«, hatte Lucy erwidert. Asia glaubte, ihren Kollegen und Kunden etwas beweisen zu müssen. Was auch immer das sein sollte, nach allem, was sie durchgemacht hatte …
Zu gegebener Zeit würde auch Asia ihren Märchenprinzen finden. Vorerst jedoch konnte Lucy es kaum erwarten, ihr die freudige Nachricht mitzuteilen. Da die Schwestern sich gänzlich unähnlich waren und ein Altersunterschied von sechs Jahren zwischen ihnen lag, konnten sich manche Leute nicht vorstellen, wie nahe sich die beiden standen. Als Erste Brautjungfer an ihrem großen Tag kam für Lucy nur ihre Schwester infrage.
Lucy warf einen verstohlenen Blick auf das Telefon auf Michaels Nachttisch. Am liebsten hätte sie Asia angerufen und ihr die tolle Neuigkeit berichtet, solange Michael noch unter der Dusche war. Nein, wir sagen es der Familie persönlich, morgen Abend beim Essen. Den Patzer hätte sich nicht einmal Lucy geleistet, ihre erste Abmachung als Verlobte, kurz nachdem sie es gemeinsam beschlossen hatten, wieder über den Haufen zu werfen.
Das Wasserrauschen hatte aufgehört. Sie rutschte noch weiter unter die Daunendecke und wackelte vor lauter Vorfreude mit den Füßen. Michael hatte die Tür zum Badezimmer nur angelehnt; jetzt kam er heraus, sein muskulöser, eins achtzig großer Körper war nur mit einem um die Hüften geschlungenen Badetuch bedeckt.
Er schaute sofort zu ihr herüber. »Ich habe dich vermisst und gehofft, du würdest mir doch noch unter der Dusche Gesellschaft leisten.«
Auf die Ellbogen gestützt ließ sie den Blick genüsslich über sein feuchtes schwarzes Haar und den schlanken, von Squashpartien und regelmäßigem Jogging gestählten Körper wandern. Alles meins, dachte sie und: Einfach lecker! »Ich hatte Angst, wenn ich jetzt aufstehe, würde sich herausstellen, dass der ganze Abend nur ein Traum war.«
Er blickte belustigt auf die nachlässig hingeworfenen Kleidungsstücke auf dem Boden, die sie einander ausgezogen hatten. »Hast du immer so liederliche Träume?«
Erst seit sie einen Mann getroffen hatte, bei dem sie sich derart begehrenswert fühlte. Sie schenkte ihm ein kokettes Lächeln: »Ich habe das Recht, die Aussage zu verweigern, Herr Anwalt.«
»Du weißt ja, dass ich deine Rechte unbedingt respektiere«, erwiderte er, während er auf sie zukam.
»Wenn du das nicht tätest, wärst du auch ein lausiger Anwalt.«
»Jetzt mal unter uns.« Er ließ das Badetuch fallen. »Was würdest du davon halten, wenn ich versuchen würde, dir doch noch eine Antwort zu entlocken?«
Ja, bitte. »Von mir aus gerne, aber ich fürchte, das kann eine ganze Weile dauern.« Sie zog eine Augenbraue hoch. »Falls du dich dem gewachsen fühlst.«
Er rollte sich auf sie und streifte mit den Lippen leicht ihr Schlüsselbein, bevor er sie auf den Mund küsste. »Du Schlaumeier.«
»Das ist doch eines von den Dingen, die du so an mir liebst, stimmt’s?«
»Eines von vielen.« Er zog die Bettdecke zwischen ihnen weg. »Wenn du die ganze Nacht Zeit hast, zähle ich die ganze Liste auf.«
Sie nahm sein Gesicht in ihre Hände und zog ihn näher zu sich heran. »Ich habe mein ganzes Leben lang Zeit.«
Das italienische Restaurant Alimento con Amore in Roswell war schon seit Langem ein Lieblingslokal der Swensons. Ihnen gefielen die ungezwungene und dennoch dezent festliche Atmosphäre und die gutbürgerliche Küche. Der massive Holzboden, die roten Tischplatten und die Lichterketten mit den kleinen Lämpchen an der Decke waren Asia normalerweise so vertraut wie die Küche ihrer Mutter. Doch heute Abend erschien ihr alles merkwürdig fremd.
Nicht der Ort hat sich verändert, sondern du selbst, dachte Asia, während sie auf die Treppe aus Teakholz zuging.
Sie musste an die vielen Abende mit der Familie denken, an denen sie lächelnd und hungrig das Lokal betreten hatte. Doch heute Abend empfand sie keine freudige Erwartung, und sie verspürte auch keinen Appetit. Sie erinnerte sich vage, dass sie zum Frühstück ein paar Haferflocken hinuntergewürgt hatte. War das alles gewesen, seit sie gestern am späten Nachmittag Dr. Klamms Sprechzimmer verlassen hatte?
Mit einem Blick in den Spiegel, der hinter der Empfangsdame an der Wand hing, stellte Asia zu ihrer Erleichterung fest, dass sie normaler aussah, als sie sich fühlte. Ihre Familie ging davon aus, dass sie von der Arbeit kam, und da die Monroe Capital Group, die nur zögernd den Casual Friday eingeführt hatte, an einem Mittwoch erst recht keine legere Kleidung dulden würde, hatte Asia das Sweatshirt, das sie den ganzen Tag über getragen hatte, mit einer schwarzen Hose und einer passenden Jacke über einem hellrosa Top vertauscht.
Obwohl sie ihr glattes dunkles Haar fast immer lang getragen hatte, stand ihr auch die kurze Lockenfrisur, die ihr der Spiegel zeigte. Als feststand, dass sie durch die Chemotherapie die Haare verlieren würde, hatte sie sich eine hochwertige Perücke aus einer Mischung von natürlichen und synthetischen Haaren gekauft, die ihrer normalen Frisur ähnelte. Doch nicht einmal die Eitelkeit konnte Asia dazu bewegen, die Perücke in der glühenden Sommerhitze von Georgia zu tragen. Kaum war die Behandlung beendet, hatte sie daher das kaum getragene Ding mit Freuden verschenkt und die Tage gezählt, bis ihr eigenes Haar nachgewachsen war.
Merkwürdig, aber in gewisser Weise war es schlimmer für sie gewesen, ihre Haare zu verlieren als die Brüste. Vielleicht lag es daran, dass sie immer ziemlich flachbrüstig gewesen war und damals keinen Liebhaber hatte. Zu der Zeit, als sie die Diagnose erhielt, ging sie ab und zu mit einem geschiedenen Bankmanager aus. Sie ermöglichte ihm einen leichten Abgang, indem sie behauptete, sie müsse sich erst einmal aufs Gesundwerden konzentrieren. Vielleicht hatte sie sich mit ihrem kahlen Kopf jedoch auch so verletzlich gefühlt, weil er ein deutlich sichtbares Zeichen ihrer Erkrankung war.
Diesmal würde es ihr nicht so viel ausmachen, weil sie es schon einmal durchgemacht hatte und die Haare noch kurz waren. Doch als sie sich ihr Spiegelbild wieder mit Glatze vorstellte …
Es geht um Leben und Tod. Da wirst du doch wohl nicht so dumm sein, dir über deine Frisur Gedanken zu machen.
Wenn jemand in ihrer ehemaligen Selbsthilfegruppe so etwas gesagt hätte, hätte Asia wahrscheinlich eingewendet, dass es normal, ja geradezu gesund sei, sich über die Nebenwirkungen zu ärgern. Dafür brauchte man sich nicht zu entschuldigen. Doch an sich selbst stellte sie höhere Ansprüche als an andere.
Also versuch, positiv zu denken.
»Hier entlang, bitte.« Die Empfangsdame, die soeben eine Reservierung notiert hatte, schenkte Asia ein strahlendes Lächeln. »Ich begleite Sie zu Ihrem Tisch.«
Niedergeschlagen folgte Asia der blonden Frau durch den vorderen Teil des Lokals, von dem aus drei Stufen zu einem kleineren Raum hinaufführten. Dort warteten in einer Nische bereits ihre Eltern.
Mit einigen freundlichen Worten verließ die Empfangsdame ihren Gast am Fuß der Treppe. Als Asia einen Schritt auf Marianne und George Swenson zuging, erhoben sich beide gleichzeitig, wie auf ein Kommando. Nach fast vierzigjähriger Ehe waren sie offensichtlich ein eingespieltes Team. Wenn man das Ehepaar betrachtete – George mit seinem stahlgrauen Haar und der vorwiegend in Beige und Dunkelblau gehaltenen Garderobe und die zierliche Marianne in ihrem Seidenkleid und mit den würfelförmigen Zirkonia-Ohrringen –, dann konnte man leicht erraten, wer von den beiden für Asias exotischen Vornamen verantwortlich war. Ihr Vater hatte versucht, den kreativen Impuls seiner Frau dadurch ein wenig abzumildern, dass er als zweiten Vornamen Jane aussuchte, doch durch den Kontrast wirkte der Name nur noch skurriler. Nur einmal, in der Mittelstufe, hatte Asia eine Bemerkung über ihren ungewöhnlichen Namen gemacht, woraufhin Marianne über die mangelnde Begeisterung ihrer Tochter enttäuscht schien.
»Du bist so außerordentlich begabt«, hatte die Mutter ihre Wahl gerechtfertigt. »Ein normaler Name würde gar nicht zu dir passen.« Das war ja gut und schön, doch Gott sei Dank hatten sie für Lucy einen herkömmlichen Namen gewählt. Das sensible Kind war auch so schon genug gehänselt worden.
Marianne, die am Rand der Nische saß, gab Asia einen Kuss auf die Wange. »Wie geht’s dir? Hast du heute ein paar Milliönchen gemacht?«
Ich habe noch nicht mal mein Bett gemacht. Asia umarmte ihre Mutter und beugte sich über den Tisch, um ihrem Vater kurz den Arm um die Schultern zu legen.
Obwohl er nur mittelgroß war, hatte sie ihn als Kind für stattlich gehalten. Sie konnte sich noch entsinnen, wie er einmal, als sie noch sehr klein war, mit seinem schweren Stiefel eine Spinne für sie zertreten hatte. Erleichtert hatte Asia damals gedacht, dass ihr starker Dad jeden Bösewicht besiegen konnte. Er würde sie vor allem beschützen, was im Dunkeln auf sie lauerte. Mittlerweile wirkten ihre Eltern kleiner und zerbrechlicher, wofür nicht zuletzt Asias Erkrankung mit den beiden Operationen und diversen Komplikationen verantwortlich war. Unter ihrem Make-up, ohne das kein Außenstehender sie je zu Gesicht bekam, war Marianne in den letzten zwei Jahren um zehn Jahre gealtert.
Ich kann nicht. Asias mühsam gesammelter Mut schmolz dahin. Ich kann es ihnen nicht sagen.
Sie räusperte sich. »Wo sind denn Lucy und Michael?«
Zu den seltenen Gelegenheiten, bei denen die Familie gemeinsam ausging, erschien Lucy immer öfter in Michaels Begleitung.
Michael hatte ihnen erzählt, dass er erst ein einziges Mal, in dem Sommer nach seinem Highschool-Abschluss, in Irland gewesen sei. Doch sein Vater, der Mitinhaber einer Pferdezucht in Kentucky, war im County Kildare geboren. Bis auf den ältesten Bruder, der das Händchen für Pferde geerbt hatte, waren mittlerweile alle fünf O’Malley-Geschwister über den Südosten der Vereinigten Staaten verstreut und jagten jeder für sich ihren unterschiedlichen Träumen nach. Asia war froh, dass sie und Lucy immer nahe beieinander gelebt hatten.
Auch wenn Asia sich davor fürchtete, ihrer Familie die grauenvolle Nachricht zu überbringen, so wusste sie doch, dass Lucy die Einzige war, die ihr jetzt beistehen konnte. Mit ihrer Lebensfreude und ihrem ansteckenden Lächeln machte sie ihren Mitmenschen ganz nebenbei das Leben leichter.
George Swenson lachte. »Hast du nach all den Jahren wirklich damit gerechnet, dass deine Schwester pünktlich ist? Wenn Lucy sich weniger als eine Viertelstunde verspätet, ist das noch früh.«
Asia lächelte gezwungen, während sie sich setzte. Das war bei Lucy keine böse Absicht, sie war einfach nur völlig unorganisiert. Für sie war es schon mit einem riesigen Aufwand verbunden, bis sie endlich im Wagen saß und losfahren konnte. Erst bemerkte sie, dass sie ihr Portemonnaie vergessen hatte, dann konnte sie ihre Sonnenbrille nicht finden, oder es stellte sich heraus, dass die Autobatterie leer war, weil sie das Licht angelassen hatte. Wenigstens besaß das kleine Haus, das Lucy gemietet hatte, nur einen Carport und keine Garage. Marianne Swensons ehemaliger Ford Kombi hatte nur ein einziges Mal eine Beule abbekommen. Damals wollte Lucy zu einer Probe ihres Chores mit Sängern aus dem gesamten Staatsgebiet fahren. Da sie wie immer spät dran war, legte sie schwungvoll den Rückwärtsgang ein und fuhr los, ohne vorher das automatische Garagentor hochzufahren. Seitdem war es bei Urlaubstreffen und Familienfeiern ein Running Gag, Lucy zu fragen, ob sie nicht mal eben einen Wagen wegsetzen oder rasch noch ein bisschen Eis holen könnte. Doch Lucy nahm es mit Humor. Meist lachte sie am lautesten, wenn sich die anderen über sie lustig machten. Doch heute würde selbst Lucy die Stimmung kaum retten können, wenn Asia erst ihre Bombe platzen ließ.
»Schatz?« Marianne, die ihr gegenübersaß, lächelte nicht mehr. »Ist alles in Ordnung mit dir?«
Um ja zu sagen, hätte Asia lügen müssen. »Ich bin ein bisschen durcheinander. Ich muss mit euch reden und wollte nur warten, bis …«
»Wir sind da!« Lucys fröhliche Stimme schallte durch den hohen Raum und übertönte das Besteckgeklapper an den anderen Tischen. Mit den Worten »Tut mir leid, dass wir zu spät sind« kam sie die Treppe heraufgestürmt.
»Wieso zu spät?« Mit übertriebener Geste schaute ihr Vater auf seine vergoldete Uhr, ein Geschenk zur Pensionierung. »Ich habe euch in frühestens zehn Minuten erwartet. Mir scheint, du hast einen guten Einfluss auf sie, Michael.«
»Nett von dir«, erwiderte Michael höflich. »Ich warte nur darauf, dass alle merken, dass ich diese Frau überhaupt nicht verdient habe.«
Bei jedem anderen hätte das geklungen, als wolle er sich einschmeicheln, doch Michaels indigoblaue Augen blickten offen und ehrlich.
Gut so, dachte Asia mit grimmiger Genugtuung. Ihre Schwester war ein besonderer Mensch, den man einfach lieben musste.
»Ich bin am Verhungern«, erklärte Lucy, als sie sich neben Asia auf die Bank schob. Sie griff nach einer Speisekarte, schlug sie jedoch nicht auf. »Ich bin für Shrimps arrabbiata.«
»Meeresfrüchte wären gut«, pflichtete Marianne ihr bei. »Dein Vater liebt Shrimps.«
Lucy grinste. »Ich auch. Aber vor allem sage ich so gerne ›arrabbiata‹«. Sie rollte die Rs mit Hingabe.
Sie haben dem falschen Kind den ausgefallenen Namen gegeben, dachte Asia plötzlich. Sie selbst trug formelle Kostüme und war mit ihrer Arbeit verheiratet, während Lucy mit ihrem sonnigen Gemüt selbst an die alltäglichsten Aufgaben heranging, als seien sie der reinste Spaß. Asia schossen Tränen in die Augen. Warum konnte sie nicht auch so sein? Etwas mehr als ein halbes Jahr lang hatte sie nur gearbeitet und sich einzureden versucht, sie wäre wieder gesund. Warum hatte sie die Zeit nicht genutzt und aufregende Abenteuer unternommen? Eine Kreuzfahrt, ein Trip als Rucksacktouristin kreuz und quer durch Europa, ein Flug nach New York, nur um sich ein Stück am Broadway anzusehen.
Sie war mit Lucy in einem Musical im Fox Theatre in Atlanta gewesen, falls das überhaupt zählte. Im Übrigen liebte Asia ihren Job. Für sie war es schon schön und aufregend genug gewesen, aus dem Krankenhaus herauszukommen und in ihr tägliches Leben zurückkehren zu dürfen.
»Hey!« Lucy stupste unter dem Tisch gegen Asias Knie. »Alles in Ordnung?«
»Sie wollte uns gerade etwas mitteilen«, sagte Marianne im gleichen Augenblick, als der Kellner kam. Er war noch ziemlich neu, hatte sie jedoch schon einmal bedient. Roberto, oder war es Romero?
Michael, der zu Lucys anderer Seite saß, räusperte sich. So nervös hatte Asia ihn noch nie gesehen. »Wir haben euch auch etwas zu sagen. Lucy war schon so kribbelig, dass ich dachte, sie würde euch von unterwegs anrufen. Roberto, welchen Champagner können Sie uns empfehlen?«
George betrachtete seine jüngere Tochter aufmerksam und erkundigte sich nach ihrer Arbeit. Zur freudigen Überraschung ihrer Eltern war Lucys befristete Stelle letztes Jahr in eine feste Anstellung auf der unteren Führungsebene umgewandelt worden.
Dad muss verrückt sein. Aufmerksam musterte Asia ihre Schwester. Weder eine Gehaltserhöhung noch eine Beförderung waren der Grund, dass Lucys hübsches rundes Gesicht so rosig glühte, sondern ganz allein die Liebe. Doch das war ja nichts Neues, es sei denn …
Um Himmels willen! »Er hat ihr einen Antrag gemacht«, flüsterte Asia tonlos. Nicht ausgerechnet heute. Das konnten die beiden doch nicht machen.
Nur Lucy hörte die geflüsterten Worte ihrer Schwester. Sie nickte bestätigend und lächelte, während in ihren grünen Augen Tränen glitzerten. Mit feierlicher Stimme verkündete sie in die Runde: »Mom, Dad. Roberto. Michael und ich werden heiraten!«
Vermutlich hätte sie es ihrer Familie ein wenig stilvoller mitteilen sollen, dachte Lucy. Immer musste sie mit allem so herausplatzen.
Dennoch war sie froh darüber, dass alle da waren, um sich mit ihr zu freuen. Aufgeregt drückte sie Asias Hand. »Du wirst meine Erste Brautjungfer! Bitte, sag Ja! Du bist die Einzige auf der ganzen Welt, die ich dafür haben möchte.«
Asias Finger waren kalt, und sie wirkte beinahe … bestürzt. So überraschend kam die Neuigkeit doch nun auch wieder nicht, da Michael und sie schon seit dem letzten Sommer miteinander ausgingen. Und im darauffolgenden Frühling war dann etwas Ernstes daraus geworden. Damals schien es, als hätte jemand einen Schalter umgelegt. Asia hatte gerade die letzte vorsorgliche Chemotherapie beendet, als man Lucy die feste Stelle anbot und sie Michael kennenlernte. Von da an war es stetig aufwärtsgegangen, aus der dunklen Verzweiflung heraus zum Gipfel des Glücks. Lucy musste innerlich über den Vergleich grinsen. Hatten sie sich nicht immer gegenseitig versichert, dass die Swenson-Schwestern selbst den Mount Everest bezwingen könnten, wenn sie es sich in den Kopf setzten? Dennoch war Lucy insgeheim immer der Meinung gewesen, dass ihre Schwester viel eher einen Berg erklimmen – ja sogar Berge versetzen – könnte. Erst nach einigen Monaten hatte Lucy zu hoffen gewagt, dass ihr Glückstreffer mit Michael nicht nur ein vorübergehender Irrtum des Schicksals war. Asia war diejenige, die schon die Hochzeitsglocken läuten hörte, als Lucy sich noch fragte, ob dieser gut aussehende Anwalt nicht doch beizeiten zu saftigeren – und schlankeren – Weiden abwandern würde.
Warum wirkte Asia jetzt nicht glücklicher?
Lucy blickte ihrer Schwester in die Augen. Asia hatte Michael doch immer gemocht. Und außerdem war sie sehr selbstbewusst und keine von diesen Frauen, die ihrer kleinen Schwester das Glück nicht gönnten, nur weil sie selbst mit über dreißig noch keinen Mann gefunden hatten. Nachdem Asia nach einigen Sekunden noch immer schwieg, verstummten die freudigen Glückwünsche ihrer Eltern. Sie schauten ihre Tochter fragend an.
»Schwesterchen?« Lucys Stimme klang schrill und gepresst.
»Alles in Ordnung«, brachte Asia heraus, wobei ihr Blick fahrig von einem zum anderen huschte. »Ich freue mich so riesig für euch beide, dass es mir einfach die Sprache verschlagen hat.«
Die gewollt fröhlichen Worte hatten einen hysterischen Unterton. Selbst Roberto, der soeben mit einer Flasche und Champagnergläsern zurückkam, schaute sie besorgt an.
Entweder war Mrs. Swenson eine schlechtere Beobachterin als der Kellner mit der olivfarbenen Haut, oder sie wollte es einfach nicht wahrhaben. »Das ist wirklich eine nette Überraschung, nicht wahr?«, rief sie. »Allerdings hätten wir wohl …«
»Asia.« In der tiefen Stimme ihres Vaters lagen Zuneigung und Sorge. »Du hast vorhin gesagt, du wolltest uns etwas mitteilen.«
»Ein andermal.« Asia griff nach ihrem Glas. »Dieser Abend gehört Lucy und Michael. Meine Neuigkeit kann warten.«
Wirklich? Lucy spürte, wie sie anfing zu zittern, als ihr Unterbewusstsein die Wahrheit erahnte, die ihr Verstand zu verdrängen versuchte. Bruchstückhafte Erinnerungen an Vorfälle während der vergangenen Wochen fügten sich auf einmal zu einem vollständigen Bild zusammen.
Asia hatte in letzter Zeit immer müde gewirkt, und in ihren haselnussbraunen Augen lag der Schatten der Erschöpfung. Hatte sie etwa auch Schmerzen? Asia hatte Lucys Anrufe nicht so prompt wie sonst beantwortet, doch in ihrer Verliebtheit hatte Lucy sich keine Gedanken darüber gemacht. Sie hatte vermutet, dass Asia einfach ihre Freiheit genoss, jetzt, da sie wieder … gesund und nicht ständig von Menschen umgeben war. Aber war Asia ihrer Familie stattdessen aus dem Weg gegangen, um sie nicht zu belasten?
War der Krebs wieder da?
Nein. Das durfte nicht sein! Nach allem, was sie durchgemacht hatte, wäre es einfach zu grausam, wenn …
»Lucy? Schatz!« Michael hielt ihr ein Glas hin.
Sie achtete nicht auf ihn, sondern blickte ihre Schwester eindringlich und fragend an. Einen Augenblick lang schien es, als würde Asia die Augen abwenden, doch dann stieß sie einen leisen Fluch aus und nickte fast unmerklich.
In diesem Moment hatte Lucy das Gefühl, als presste ihr jemand die Luft aus den Lungen und füllte sie mit dem Gift der Angst, bis sie nicht mehr atmen konnte. Heiße Tränen stiegen ihr in die Augen. War sie wirklich ein solcher Schwächling, dass sie sich gehen ließ, während Asia, die schließlich die Leidtragende war, bleich, aber gefasst dasaß?
Sie ist nicht die Einzige, die darunter leiden muss, flüsterte eine selbstsüchtige innere Stimme.
Asia hatte fraglos am meisten gelitten, auf eine Art und Weise, die Lucy sich weder vorstellen konnte noch wollte. Doch der Krebs hatte ihnen allen derart zugesetzt, dass selbst fröhliche Anlässe wie Weihnachten einen bitteren Beigeschmack bekommen hatten. Es fiel schwer, die Zimmer zu schmücken, wenn man fürchten musste, dass einer von ihnen die Weihnachtszeit nicht bis zum Ende durchstehen würde. Nicht dass sie darüber gesprochen hätten. Sie alle hatten sich an Asias Tapferkeit ein Beispiel genommen, brachten jedoch ihre innere Kraft und Stärke nicht auf. Seit Asia krank geworden war, klammerte sich Marianne in fast kindlicher Weise immer stärker an ihre ältere Tochter und suchte in allem ihren Rat, als könne sie Asia auf diese Weise festhalten.
Lucy gab sich einen Ruck, schluckte einmal und blickte verstohlen zu Marianne hinüber. Ihre Mutter wirkte ein wenig verwirrt, aber noch nicht richtig beunruhigt. Ihre arthritischen Finger spielten mit dem schmalen goldenen Kreuz an ihrer Halskette.
George Swenson hingegen schaute seine Töchter an. Er wusste Bescheid. Lucy hatte gesehen, wie ihm plötzlich die Wahrheit dämmerte, worauf er rasch den Blick auf die Speisekarte senkte. Offenbar hatte er nicht die Absicht, das Thema anzuschneiden.
Weil er und Asia mir nicht den Abend verderben wollen. Trotz ihrer Verzweiflung hätte Lucy beinahe laut herausgelacht. Ihr Vater war immer ihr Beschützer gewesen, doch schließlich ging es heute nicht darum, einem Jungen auf den Zahn zu fühlen, der mit Lucy ausgehen wollte, oder sie beim Autokauf zu beraten.
George räusperte sich. »Ich glaube, wir könnten alle ein bisschen was von diesem Prickelwasser vertragen, nicht?«
»Unbedingt«, erwiderte Michael. Außer Lucy hatte wahrscheinlich niemand sein winziges Zögern bemerkt. »Hier bestellt man doch eine oder zwei Vorspeisen für alle gemeinsam, stimmt’s? Was könnt ihr denn empfehlen?«
»Ach, einfach alles!«, rief Marianne, bevor sie ihre Lieblingspastagerichte und die Anlässe, die sie hier schon gefeiert hatten, herunterrasselte: Lucys Highschool-Abschluss, Georges Pensionierung nach einem langen Berufsleben als Flugzeugmechaniker, Asias dreißigsten Geburtstag.
Unter dem Tisch drückten Lucy und ihre Schwester einander so fest die Hand, dass es fast wehtat. Bitte, lieber Gott, lass sie noch Dutzende von Geburtstagen feiern. Lucy konnte nicht länger verhindern, dass ihr die Tränen über die Wangen liefen.
»Nun aber raus mit der Sprache. Was ist eigentlich los?« Ihre Mutter hörte auf, in Erinnerungen zu schwelgen, und blickte sie finster an.
Lucy wischte sich mit einem Finger die Tränen weg und schniefte. »Ihr kennt mich doch. Schon beim kleinsten Anlass fange ich an zu flennen wie ein Baby. Ich glaube, ich entschuldige mich mal kurz und …«
»Ist schon gut.« Asia drückte die Hand ihrer Schwester noch einmal, dann ließ sie sie los. »Mom, Dad, ich fürchte, ich muss euch etwas sagen. Ich wünschte, ich hätte eine ebenso gute Nachricht wie Lucy. Ich wünschte auch, ich könnte es euch ein andermal erzählen, und am liebsten wäre mir, es gäbe überhaupt nichts zu erzählen.«
George legte den Arm um seine Frau und zog sie an sich, als wolle er sie vor dem drohenden Schlag schützen. Mariannes Atem ging ganz flach, ihr verzweifelter Blick verriet, wie sehr sie sich gegen das Bevorstehende wappnete.
»Der Krebs ist wieder da und hat metastasiert«, erklärte Asia kurz und bündig.
Ein schriller Klagelaut entfuhr Marianne, bevor sie die Hände auf den Mund presste.
Michael sprach als Erster. »Es tut mir so leid. Wir alle möchten dir helfen. Sag uns einfach, was wir tun können.«
Ich liebe diesen Mann so sehr, dachte Lucy. Sein ruhiger, entschlossener Ton war wie Balsam für ihre wunde Seele.
Asia nickte. »Danke. Ich werde dich beim Wort nehmen.«
Die Tränen strömten über Mariannes runzlige Wangen, doch ihre Stimme klang erstaunlich gefasst. »Erklär mir noch mal, was ›metastasieren‹ genau bedeutet.«
»Es heißt, der Krebs hat sich über die ursprüngliche Stelle hinaus ausgebreitet. In meinem Fall in die Knochen. Aber Dr. Klamm sagt, wir haben verschiedene Möglichkeiten. Eine gezielte Therapie, ganzheitliche Behandlung, vielleicht eine Hormontherapie …«
»Und andere Leute haben es doch schließlich auch geschafft, nicht?« George Swenson hörte sich an wie ein Footballtrainer, der seinem Team beim Stand von null zu zwanzig einreden will, dass das Match noch zu gewinnen sei. »Welche Statistiken hat der Doktor dir genannt?«
»Über Zahlen reden Dr. Klamm und ich nicht«, erwiderte Asia. »Wenn jemand statistisch gesehen schlechte Chancen hat und trotzdem ein Jahr überlebt, ist die Statistik für ihn ohne Bedeutung. Wenn dagegen nur einer von einer Million stirbt, dann ist das für diesen einen auch kein Trost.«
Lucy wusste, dass ihre Schwester recht hatte, doch sie selbst würde an Asias Stelle der Versuchung nicht widerstehen können, das Internet zu durchforsten. Sie würde wissen wollen, wie ihre Chancen stünden, und Trost und Gewissheit in den magischen Zahlen suchen. Vergiss den ganzen Statistikkram. Asia hat den Krebs einmal besiegt und sie wird es wieder schaffen.
Andererseits … Sie hatte ihn ja nie wirklich besiegt.
Genau in diesem Augenblick erschien Roberto mit gezücktem Block und Stift, um ihre Bestellungen aufzunehmen. Fünf Augenpaare starrten ihn ausdruckslos an.
Lächelnd blickte der Kellner auf die Champagnerflasche und sagte in das drückende Schweigen hinein: »Sie sind ja vor lauter Feiern gar nicht zum Aussuchen gekommen! Das ist heute ein freudiger Anlass, nicht wahr?«
Lucy wurde das Herz schwer. Nein, dachte sie.
Schade, dass es nichts brachte, Flüche in den nächtlichen Himmel hinaufzubrüllen, denn sie hätte da ein paar Prachtexemplare auf Lager gehabt. Großer Gott! Ausgerechnet am Abend der Verlobung ihrer Schwester. Schon die ganze Zeit, seit sie nach Hause gekommen war und sich umgezogen hatte, tigerte Asia in ihrer Wohnung hin und her und quälte sich mit den Gedanken an die verunglückte Feier.
Von Unruhe getrieben war sie auf den Balkon hinausgetreten – mit dem einzigen Ergebnis, dass sie jetzt noch weniger Platz zum Hin- und Herlaufen hatte.
Warum hat sie mich bloß gestern Abend nicht angerufen? Obwohl Asia in der kühlen Brise fröstelte, kochte sie innerlich vor Wut, wenn sie daran dachte, wie Lucys und Michaels aufblühendes Glück nach ihren Worten dahingewelkt war. Lucy konnte sonst nie ein Geheimnis für sich behalten, zumindest nicht ihrer Schwester gegenüber. Warum musste es dann ausgerechnet dieses eine Mal klappen, wenn Asia eine Vorwarnung verdammt gut hätte gebrauchen können? Was zum Teufel machte sie hier eigentlich?
Asia holte tief Luft, während sie mit beiden Händen das Balkongeländer umklammerte und zu den Sternen aufblickte, die hier, mitten in der Stadt, kaum zu sehen waren. Wenn jemand das Recht hatte, sauer zu sein, dann doch wohl Lucy. Schließlich hätte es ein wunderschöner, denkwürdiger Abend für sie werden sollen.
Sie wird wenigstens weiterleben, meldete sich eine zynische innere Stimme. Und du?
Asia ging durch die Glastür zurück in ihr Wohnzimmer, das in warmen Erdfarben gehalten war. Ihre Eltern hatten vorgeschlagen, sie nach Hause zu bringen oder sie in ihrem ehemaligen Zimmer übernachten zu lassen, doch Asia wollte allein sein. Der unverhohlenen Qual ihrer Mutter und den Fragen ihres Vaters fühlte sie sich nicht gewachsen. Doch jetzt war sie einsam – eine Seltenheit für jemanden, der das Alleinsein so genoss wie sie. Wie sehr hatte sie sich vor genau einem Jahr nach ein wenig Einsamkeit gesehnt, auch wenn sie den Ärzten und Schwestern, die ihr das Leben gerettet hatten, ebenso dankbar gewesen war wie ihren Kollegen, die ihre Arbeit mit übernommen und ihr das Gefühl gegeben hatten, noch immer zum Team zu gehören. Ganz zu schweigen von ihrer Familie, die sie am liebsten rund um die Uhr bemuttert hätte.
Andererseits war die Situation jetzt ganz anders als vor einem Jahr. Oder, und das war im Grunde noch viel schlimmer, sie war noch genau dieselbe. Abermals war sie die Krebspatientin, die auf die Hilfe fremder Menschen angewiesen war, damit ihre eigenen Körperzellen sie nicht umbrachten.
Die verbitterte Wut, mit der sie den ganzen Tag lang gerungen hatte, erschien ihr fast wie eine zweite Krankheit, die wuchs und immer weiter um sich griff. Im Restaurant hatte sie weder die Cannelloni noch das Hühnchen-Saltimbocca angerührt. Sie hatte sich zwingen müssen, nicht um sich zu schlagen, doch blinde Wut half auch nicht weiter. Beruhige dich. So viel Kontrolle über ihren Körper besaß sie doch wohl noch.
Wie bei einer Yogaübung atmete sie ein paarmal tief ein und aus, bevor sie sich auf dem weichen Plüsch ihrer kakaobraunen Sitzgarnitur niederließ. Dieses Möbelstück hatte sich als wahrer Glücksgriff erwiesen. Die beiden äußeren Elemente der Garnitur ließen sich zu Ruhesesseln umfunktionieren, in denen man auch recht bequem schlafen konnte. Während der schlimmsten Phasen ihrer Behandlung war es ihr leichter gefallen, in einem dieser Sessel zu liegen, als in das schmale, hohe Doppelbett mit dem pseudoantiken Rahmen zu klettern. Marianne hatte die Couchgarnitur nie gemocht. Sie war ihr zu dunkel und klobig, zu wenig feminin.
»Wie wär’s mit ein paar hübschen Spitzengardinen, Liebes?«, hatte ihre Mutter vorgeschlagen. »Oder wenigstens ein bisschen mehr Farbe.«
Der auffallendste Farbtupfer im Zimmer war der gerahmte Druck von Georgia O’Keeffe, den Lucy ihrer Schwester zum Einzug geschenkt hatte. Red Canna. Nicht unbedingt Asias Geschmack, doch da sie ihre Schwester nicht kränken wollte, bekam das Bild einen Ehrenplatz im Wohnzimmer. Asia musste zugeben, dass es sich neben den dunklen Möbeln, dem cremefarbenen Teppich und den Stoffen in Schokoladen- und Karamelltönen bemerkenswert gut machte. Lucy nannte die Wohnung liebevoll Asias Höhle.
Asia ihrerseits hatte Verständnis für Lucys Bemühungen, mit wenig Geld ihr Haus zu verschönern, indem sie über ihre Secondhandmöbel, die schon bessere Tage gesehen hatten, leuchtend bunte Überwürfe drapierte. Doch wenn Asia dort hätte wohnen müssen, hätte sie wahrscheinlich den ganzen Tag über eine Sonnenbrille getragen. Auch die Rüschengardinen und der allgegenwärtige Nippes, mit denen Marianne ihr Heim ausstaffiert hatte, waren nicht nach Asias Geschmack. Als die Töchter größer wurden und keine Gefahr mehr bestand, dass sie beim Toben die Sammlerstücke aus Kristall herunterrissen, hatte Marianne Eckvitrinen und Regale mit zarten, funkelnden Figürchen vollgestellt. Sie waren wie Mom.
Der Gedanke erschreckte Asia. Er mochte ungehörig sein, traf jedoch die Sache. Marianne war in einer liebevollen Unterschichtfamilie aufgewachsen und hatte immer davon geträumt, sich mit schönen Dingen umgeben zu können. George hingegen war der einzige Sohn einer Familie, die ihre Wurzeln bis zu den Generälen der Konföderierten in ihren Herrenhäusern aus der Zeit vor dem Bürgerkrieg zurückverfolgen konnte. Seine Schwester, Asias Tante Ginny, war noch eine richtige Debütantin gewesen. Aus ihrer eigenen Kindheit konnte sich Asia entsinnen, wie verzweifelt ihre Mutter versucht hatte, Eindruck auf Großmutter Swenson zu machen. Doch Mariannes Freude an bunten, glitzernden Dingen entsprach nun einmal nicht dem Sinn ihrer Schwiegermutter für gediegene Eleganz. Dafür war Marianne, im Gegensatz zur strengen Großmutter Swenson, immer sehr lieb und ausgesprochen hilfsbereit zu ihren Töchtern gewesen.
Plötzlich fiel Asia ein, dass ihre Mutter ihr schon seit Monaten nicht mehr ihre Hilfe angeboten hatte. Sie hat mich mit Samthandschuhen angefasst, obwohl sie glaubte, ich wäre wieder gesund. Auf einmal vermisste Asia Mariannes fürsorgliches Getue darum, dass die Tochter ihrer Meinung nach zu selten einen Rock trug und zu dünn wurde.
Nach der neuesten Diagnose würde ihre Familie nun wahrscheinlich gar nicht mehr wissen, wie sie mit der Kranken umgehen sollte. Und was war mit ihren Freunden und Kollegen? Seit sie am Morgen eine Voicemail-Mitteilung hinterlassen hatte, dass sie an diesem Tag nicht ins Büro kommen würde, hatte Asia jeden Gedanken an die Arbeit verdrängt. Wider besseres Wissen hoffte sie, es ihren Mitarbeitern und Kunden noch eine Weile verheimlichen zu können. Doch die Chemo war nun einmal eine geballte Ladung Gift, das beim zweiten Mal mitunter noch schlimmer wirkte. Außerdem würden die Behandlungen ihren ganzen Terminkalender durcheinanderbringen.
Die Leute würden mitbekommen, dass sie krank war – dieselben Leute, die sie noch bis vor Kurzem angesehen hatten, als wollten sie ihr ein gutes Börsengeschäft vorschlagen, und die später im Fahrstuhl von ihr abgerückt waren, als hätten sie Angst, sich bei ihr anzustecken. Es war erstaunlich, wie dämlich sich gebildete, beruflich erfolgreiche Erwachsene zuweilen benahmen, doch Krebs löste tief sitzende Ängste aus, denen mit Logik nicht beizukommen war.
Das war auch der Grund, warum sich Asia heute noch nicht bei ihrer Internetgruppe gemeldet hatte. Im vergangenen Jahr war sie bei ihren Recherchen über Mastektomie auf den Blog einer Krebspatientin gestoßen. Nun war Asia nicht der Typ, der ein Tagebuch führte – und das auch noch öffentlich –, doch was die unbekannte Frau dort im Web schilderte, war Asia geradezu unheimlich vertraut vorgekommen. Also schrieb sie einen Kommentar, und bald hatten sich fünf Frauen zum Chatten zusammengefunden, die sich alle in vergleichbaren Stadien einer Brustkrebsbehandlung befanden.
Der ungezwungene Austausch mit diesen Menschen, die sie nie persönlich kennengelernt hatte, war für Asia hilfreicher gewesen als eine echte Gesprächsrunde. Alle fünf Frauen hatten ihre Behandlung ungefähr zur gleichen Zeit abgeschlossen und, soweit Asia wusste, die Krankheit bisher erfolgreich in Schach halten können – alle außer ihr. Anfangs hatten sie sich wöchentlich über die aktuelle Entwicklung ausgetauscht, dann nur noch einmal im Monat. Dabei war der Ton zwar immer noch freundlich, doch zunehmend unpersönlich geworden – wie bei Urlaubskarten, die sich die ehemaligen Mitglieder einer nicht übermäßig geschätzten Studentenverbindung schickten.
Je besser die Frauen sich fühlten und je mehr sie wieder am Leben teilnahmen, desto spärlicher flossen die Nachrichten. Nur einmal war die alte Aktivität erneut aufgeflackert, als eine von ihnen wieder geheiratet hatte.
Vielleicht würden sie ja am besten nachempfinden können, wie Asia jetzt zumute war, und sie könnte mit einem Klick die alte Verbundenheit wiederherstellen, die ihr schon einmal so sehr geholfen hatte. Doch möglicherweise würde Asias Mitteilung ihnen nur das Leben schwermachen und ihre Angst vor einem Rückfall schüren. Und nicht zuletzt hatte Asia ganz einfach die Befürchtung, dass die alte Vertrautheit nicht wiederkehren könnte.
Die E-Mails konnten also warten, bis sie selbst besser mit der veränderten Situation zurechtkam. Jetzt musste sie sich erst einmal um ihre Arbeit kümmern. Sie nahm sich vor, morgen früh hoch erhobenen Hauptes ins Büro ihres Chefs zu marschieren, ihm die nackten Tatsachen mitzuteilen und ihm zu versichern, dass sie ihre Arbeit so gut wie immer erledigen würde, solange sie körperlich dazu in der Lage wäre. Wenn sie ihre Angst verbergen konnte, würden die anderen sich vielleicht auch nichts anmerken lassen. Sie kuschelte sich in ihr Sweatshirt und war schon ganz erschöpft bei dem bloßen Gedanken, dass sie wieder einmal die Tapfere spielen musste. Sie hatte einfach keine Lust mehr, immer alle bei Laune halten zu müssen. Sie wünschte sich, dass jemand sie in den Arm nahm und »Alles wird wieder gut« zu ihr sagte.
Die Liebe ihrer Familie und die Anerkennung ihrer Kollegen waren ihr immer sicher gewesen, doch heute Abend sehnte sie sich nach einem großen, starken Mann wie Michael. Oder lieber doch nicht. Vielleicht hätte sie einem Liebhaber gegenüber auch das Gefühl, sich rechtfertigen zu müssen. Und dann würde sie ihn dafür hassen.
Als Lucy im Restaurant die Wahrheit erraten hatte, war Asia zunächst erleichtert gewesen. Sie hatte nämlich nicht gewusst, wie sie es den anderen beibringen sollte. Doch sogleich war die Erleichterung dem Wunsch gewichen, Lucy zu trösten. Sie hätte ihre Schwester gerne in den Arm genommen, ihr einen Kuss auf die Stirn gegeben, wie es ihre Mutter früher immer getan hatte, und ihr gesagt, sie solle nicht weinen. Sie wollte ihr versichern, dass alles in Ordnung sei, und sich dafür entschuldigen, dass sie ihr und Michael den Abend verdorben hatte. Doch gleich darauf stieg wieder der altbekannte Ärger in Asia auf. Schließlich war sie das Opfer. Sie würde sich die Seele aus dem Leib kotzen, während die anderen mit den Hochzeitsvorbereitungen beschäftigt waren.
Du bist nur dann ein Opfer, wenn du es zulässt.
Auf die Krankheit hatte sie keinen Einfluss, doch wie sie die kommenden Monate bewältigte, lag an ihr. Asia Jane Swenson würde ihre kostbare Zeit nicht mit Selbstmitleid vergeuden oder mit unterschwelligem, eigensüchtigem Groll gegen die anderen, die gesund waren. Lucy verdiente es, glücklich zu werden, und sollte eine Bilderbuchhochzeit bekommen. Als große Schwester und Erste Brautjungfer war es Asias Aufgabe, dafür zu sorgen … womit sie sich hoffentlich auch ein wenig von ihren Problemen ablenken konnte.
Morgen wollte sie mit Lucy reden, und – zum Teufel mit dem Krebs! – sie nahm sich vor, die beste Erste Brautjungfer aller Zeiten zu werden.
Du weißt, ich bleibe gerne bei dir, oder ich lasse dich in Ruhe. Ich kann dich auch zu deinen Eltern bringen.« Michael umschlang sie von hinten mit den Armen. »Was immer du heute Abend brauchst.«
Lucy stand in der Küche vor der Arbeitsplatte und starrte auf das Gewürzbord, das ein wenig schief an der Wand hing. Sie wusste beim besten Willen nicht mehr, was sie hier wollte. Vielleicht sich etwas Warmes zu trinken machen? Erst heute Morgen – vor einer Ewigkeit, wie ihr schien – hatte sie gesagt, dass es zu warm für den Frühherbst sei. Doch nun war sie regelrecht durchgefroren.
Sie lehnte sich mit dem Rücken gegen Michael. »Bleib hier. Unbedingt.«
Mit einem Anflug von schlechtem Gewissen dachte sie daran, wie übereilt sie sich verabschiedet hatte und mit Michael gegangen war. Sie wollte ihrer Mutter keine Gelegenheit geben, sie zu bitten, dass sie mit ihnen nach Hause kam. Sie hat schließlich Dad. Und ich wüsste sowieso nicht, was ich ihr sagen sollte. Zu Asia wäre sie bereitwillig mitgegangen, doch ihre Schwester wollte das nicht. Sie musste alleine damit fertig werden, während Lucy Trost bei Michael fand. Es war einfach ungerecht. Alles.
Er streichelte ihr beruhigend den Oberarm. »Ich könnte dir einen Irish Coffee machen.«