Verhandlungen intuitiv und ergebnisorientiert gestalten - Sonja Andjelkovic - E-Book

Verhandlungen intuitiv und ergebnisorientiert gestalten E-Book

Sonja Andjelkovic

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Beschreibung

Vernünftig, sachlich, interessensorientiert - das Harvard-Konzept plädiert für eine rationale Verhandlungsführung. Aber ist ein solches Verhandeln im internationalen und interkulturellen Wirtschaftsgeschehen immer zielführend? Wer Win-Win-Ergebnisse erzielen möchte, muss Gefühl und Intuition als treibende Kraft menschlichen Handelns stärker mit einbeziehen. Die Autorin macht klar, welche wichtige Rolle emotionale Skills spielen und welche Regeln in Verhandlungen gelten, die gleichermaßen ergebnisorientiert und intuitiv geführt werden. Damit weist das Buch den Weg zu einer innovativen und nachhaltigenVerhandlungskultur.

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Inhaltsverzeichnis

Hinweis zum UrheberrechtImpressumWidmungVorwortDanksagung1   Einführung2   Philosophischer Hintergrund2.1   Dialektik des Fortschritts2.2   Bewusstheit erschaffen2.3   Ursache und Wirkung2.4   Vom Haben und Sein3   Verhandlung: Definition und Prozess3.1   Komplexität und Dynamik3.2   Die Bedeutung der Zeit3.3   Fixierung auf Aktuelles3.4   Das Eisberg-Phänomen3.5   Gegenstand einer Verhandlung3.6   Verhandlungspartner: Win-win?3.7   Verhandlungsphasen3.7.1   Vorbereitung3.7.1.1   Die Wichtigkeit von Zielen3.7.1.2   Kennen Sie Ihre Verhandlungspartner?3.7.1.3   Die Wichtigkeit von Vorstellungsvermögen3.7.2   Durchführung3.7.3   Nachbereitung3.7.3.1   Wie fühle ich mich?3.7.3.2   Wie zufrieden bin ich mit dem Ergebnis?4   Verhandeln ist eine Beziehungswissenschaft4.1   Homo Cooperativus4.2   Empathie und Mitgefühl4.2.1   Mitgefühl mit sich selbst4.2.2   Mitgefühl mit anderen4.3   Emotionen und Körperverstand4.4   Spiegelneuronen4.5   Die Macht der Gewohnheit4.6   Die Macht des Wortes4.7   Die Macht des Rollenverhaltens5   Störquellen in Verhandlungen5.1   Archetypen der Verhandlung und ihre typischen Verhinderungsmuster5.1.1   Die Outlaws5.1.2   Die Mimosen5.1.3   Die Weichwürste5.1.4   Die Kleinkarierten5.1.5   Die Sonnenkönige5.2   Interne und externe Störquellen5.2.1   Interne Störquellen5.2.1.1   Starke Emotionen5.2.1.2   Gruppendynamische Prozessschwierigkeiten5.2.1.3   Aushandlung von Hierarchie als Hidden Agenda5.2.1.4   Konfliktiver Verhandlungsgegenstand5.2.1.5   Mangelnde Aufmerksamkeit5.2.2   Externe Störquellen5.2.2.1   Der Raum5.2.2.2   Der Zeitpunkt5.2.3   Umgang mit Störquellen6   Emotionen und Gedankenmuster6.1   Das Innere ist Chaos6.2   Erkennen innerer Dialoge6.3   Kultivieren negativer Gedanken und Gefühle6.4   Die Muster-Falle6.5   Folgen von Mustern6.6   Gelassenheit als Schlüssel6.7   Umgang mit Negativität anderer: Resilienz6.8   Die Phase vor der Muster-Aktivierung7   Achtsamkeit7.1   Was ist Achtsamkeit8   Wer nicht verlieren will, muss fühlen!8.1   Angst8.2   Wut8.3   Intuition9   Geistige Qualitäten9.1   Die Rolle von Disziplin9.2   Disziplin auf sich selbst anwenden9.3   Geduld10   Vertrauen – Grundlage neuer Verhandlungskultur11   Nachwort12   Werkzeugkasten12.1   Zollstock12.2   Imaginationsübung12.3   Werte kennen12.4   Der innere Raum12.5   Selbstmitgefühl12.6   Meditation auf liebende Güte12.7   Störquellen12.8   Zwei Seelen in meiner Brust12.9   Geh-Meditation12.10   Coaching-Fragen12.11   Erkennen störender Einflüsse12.12   Konzentration auf den Atem12.13   Gewohnheits-Check12.14   Aus-Mustern12.15   Quick Bodyscan12.16   VertrauenBibliographieDie Autorin Stichwortverzeichnis
[1]

Hinweis zum Urheberrecht

Schäffer-Poeschel Verlag für Wirtschaft · Steuern · Recht GmbH, Stuttgart

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Print:ISBN: 978-3-7910-3470-6Bestell-Nr.: 20150-0001ePDF:ISBN: 978-3-7992-7010-6Bestell-Nr.: 20150-0150ePub:ISBN: 978-3-7910-4049-3Bestell-Nr.: 20150-0100

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

© 2017 Schäffer-Poeschel Verlag für Wirtschaft · Steuern · Recht [email protected]

Umschlagentwurf: Goldener Westen, BerlinUmschlaggestaltung: Kienle gestaltet, StuttgartSatz: kühn & weyh Software GmbH, Satz und Medien, Freiburg

März 2017

Schäffer-Poeschel Verlag StuttgartEin Tochterunternehmen der Haufe Gruppe

Widmung

Ich widme dieses Buch meinem Vater Radovan,der zu arm war, um zu studieren, und meiner Mutter Gordana, die, statt zur Schule zu gehen, auf dem Feld arbeiten musste. Euch verdanke ich alles.

Vorwort

Wer dieses Buch in der Hand hält, wird vielleicht Unerwartetes oder auch Provokantes entdecken. Und das ist gut so. Das Buch soll zum Nachdenken anregen, dazu, die Perspektive auf das Thema Verhandeln[2] zu ändern und es in ein neues und der Dynamik der gegenwärtigen Entwicklungen angemessenes Licht zu rücken.

Viel zu lange käuen Ratgeber über Kommunikation und Verhandlung im Wirtschaftskontext dieselben Phrasen wieder. Wer sich mit dem Thema schon einmal auseinandergesetzt hat, wird das Harvard-Verhandlungs-Modell entdeckt haben. Es versucht, Sachlichkeit bei der Verhandlung in den Vordergrund zu rücken. Es leitet uns an, das Problem oder die Verhandlungssache möglichst rational zu betrachten und von der Person, mit der wir verhandeln, zu trennen. Im besten Fall führt dies zur Vermeidung von Konflikten und trägt zu guten Geschäftsbeziehungen bei. Im schlimmsten Fall führt dies dazu, dass wir unsere Gefühle verdrängen, Beziehung und Persönlichkeit als entscheidendes Zünglein an der Verhandlungswaage vergessen und die Ergebnisse der Verhandlung nur recht kurz Früchte tragen. Ein weiteres wichtiges Prinzip des Modells ist Win-win. Wie oft haben Sie das nun schon gehört? Wir plappern Win-win nach, ohne wirklich verstanden zu haben, was es eigentlich bedeutet. Was darunter in der Regel verstanden wird, ist „gewinnen“, „profitieren“, „wachsen“ – natürlich so, dass die Partner dasselbe Recht darauf haben wie wir. So weit, so gut. Immerhin hat es sich durchgesetzt, dass es nachhaltiger ist, diejenigen, mit denen man Geschäfte machen möchte, nicht über den Tisch zu ziehen und nur nach seinem eigenen Vorteil zu trachten.[3]

Hintergrund ist hier jedoch kein epochaler Paradigmenwechsel hin zum Altruismus. Vielmehr geht es um ein neues Reaktionskonzept, um weiter wie bisher die Maximierung von Profiten zu erreichen. Was dabei leider zu kurz kommt, ist, dass wir in jeder Verhandlung auch die Qualität unserer Beziehungen zu uns selbst und zu anderen beeinflussen. Darüber wird weder gesprochen, noch gibt es dazu im Harvard-Modell einen Hinweis.

Wir erschaffen uns mit der Art, wie wir unsere Interessen durchsetzen, unsere Wirklichkeit. Und mit der erschaffenen Wirklichkeit bauen wir uns die Welt, wie sie uns, aber vielleicht nicht den anderen, gefällt. Wieviel wissen wir von den wirklichen Interessen unserer Gesprächs- oder Verhandlungspartner? Wie interessiert sind wir eigentlich an ihnen? Und sind sie überhaupt in der Lage, ihre Interessen zu äußern? Der Hinweis des Harvard-Modells darauf, dass wir Interessen erfragen und verstehen sollten, ist goldrichtig und wichtig. Leider mangelt es uns hier an authentischer Verbindung zueinander und an Verantwortung füreinander. Die Lage, in der wir uns selbst befinden, in der sich unser Unternehmen befindet, aber auch die Welt an sich, haben wir – jeder einzelne von uns – durch diesen Mangel mit befördert und erschaffen.

Diese Aussage allein bewirkt schon massiven Widerspruch. Sie sagen jetzt vielleicht: Was hat beispielsweise die Armut der anderen mit mir zu tun? Dafür ist jeder selbst verantwortlich. Ich führe diese Haltung darauf zurück, dass wir nicht mehr fühlen wollen, dürfen, sollen. Daher reden wir ununterbrochen, anstatt zuzuhören. Denn das Zuhören ermöglicht, dass unsere Gefühle Raum bekommen. Mit unserer Art zu kommunizieren, mit dem, was wir sagen oder was wir nicht sagen, erschaffen wir uns unsere Realität. Das Nicht-Gesagte hat nämlich häufig etwas mit dem zu tun, was wir fühlen. Und das behalten wir tunlichst für uns. Emotionen gelten als unprofessionell, weil sie nicht messerscharf und wettbewerbsorientiert sind. Und weil sie langsam sind. Zeit haben wir nicht, Zeit zum Fühlen schon gar nicht. Außerdem ist das Fühlen auch nur etwas für Frauen – deshalb sitzen auch nur wenige Frauen in Aufsichtsräten börsennotierter Unternehmen. Zu provokant? Keineswegs. Sprechen Sie einmal von Gefühlen bei einer Verhandlung und sehen Sie zu, wie sich die Gesichter Ihrer Verhandlungspartner von geschockt zu belustigt verwandeln. Wenn eine Frau Gefühle äußert, erntet sie süffisantes Lächeln und möglicherweise wird sie kein zweites Mal zur Sitzung oder zum Gespräch mit ihrem Vorgesetzten eingeladen. Niemand möchte lächerlich gemacht werden. Daher werden Bauchgefühl oder Intuition als Radar für Entscheidungen systematisch abgestellt. Und doch beginnt jede Handlung dort, in unserer eigenen, individuellen Gefühlszentrale. Jede Entscheidung, jede Kommunikationshandlung basiert auf einer ganz eigenen und von Mensch zu Mensch unterschiedlichen emotionalen Ausgangsbasis. Daher müssen wir bei uns als Individuum anfangen, die Dinge zu ändern, die uns stören. Und wir brauchen eine neue Bewertung von Gefühl und Intuition in der Verhandlung, denn sonst verkommt der praktische Hinweis des Harvard-Modells zur zweitbesten Lösung (sollte die Verhandlung scheitern), zu einer grundsätzlichen Exit-Strategie und zu Misstrauen.[4-5]

Während der vielen internationalen Verhandlungen in konfliktreichen und schwierigen Kontexten, an denen ich als Beraterin teilnehmen durfte, habe ich gelernt, wie wichtig es ist, unsere Verhandlungskultur zu überdenken und zu verändern. Ich habe gesehen und miterlebt, welche Konsequenzen aus Verhandlungsergebnissen resultieren, die die Bedürfnisse der Beteiligten nicht oder unzureichend berücksichtigt haben. Ich habe gespürt, wie viele Zerwürfnisse und Konflikte auf Basis von verdrängten oder nicht wahrgenommenen Gefühlen entstanden sind. In vielen Verhandlungen wurden genau die entscheidenden Momente verpasst, in denen Menschlichkeit und Kooperation das Rad der Geschichte in eine für alle positive Richtung hätten drehen können. Sie wurden verpasst, weil die Ressource Gefühl nicht mit einbezogen wurde. Ich habe aber auch herzerwärmende, humor- und hoffnungsvolle Situationen erlebt, in denen Verhandeln eine mit Leichtigkeit und Freude einhergehende Aktivität war, die alle Beteiligten vorangebracht hat und aus der sich viel Kraft, Hoffnung und positive Veränderung entwickelte – und die Bereitschaft zu Gemeinsamkeit. Manche dieser Geschichten möchte ich in diesem Buch mit Ihnen teilen.[6]

Das Buch möchte dazu anregen, Verhandlungen als das wichtigste Instrument der Zukunftsgestaltung des Menschen neu zu bewerten. Es möchte das Harvard-Modell nicht abschaffen, sondern ergänzen und erweitern.

Empathisch und unter Einsatz von Gefühl und Intuition zu verhandeln, ist ein Weg zur Weiterentwicklung unserer Wirtschaft, Politik, ja sogar der menschlichen Zivilisation. Wir brauchen eine (R)Evolution darin, wie wir zu Ergebnissen kommen. Wir brauchen eine neue Verhandlungskultur! Eine neue Verhandlungskultur erschafft eine neue Wirtschaftskultur und eröffnet neue, vielleicht noch nicht gedachte Chancen für Prosperität im qualitativen statt im quantitativen Sinn. Diese neue Qualität entsteht in einem ganzheitlichen Entwicklungs-Prozess, in dem Intuition und Gefühl wieder einen Platz bekommen. Dazu möchte dieses Buch beitragen. Außerdem ist es ein Buch für die Praxis, das Sie zum Anwenden der hier vorgeschlagenen Ansätze und Methoden anregen möchte.

Im ersten Teil des Buches beschreibe ich die Notwendigkeit einer neuen Verhandlungskultur. Danach leite ich über in Grundsätzliches zum Thema Verhandlungsführung. Anschließend gehe ich auf Emotionen und Gefühle, Intuition und persönliche Entwicklung als wichtige Pfeiler einer neuen Verhandlungskultur ein und beschreibe dann die Störquellen und Verhinderungen einer gelungenen Verhandlung und wie damit umgegangen werden könnte. Abschließend gehe ich auf die notwendigen geistigen Qualitäten einer intuitiv und ergebnisorientiert gestalteten Verhandlung ein und schließe mit einem Ausblick ab. Sie finden am Ende des Buches einen Werkzeugkasten mit verschiedenen hilfreichen Übungen.[7]

Lesen Sie es von Anfang bis Ende durch und üben Sie, so oft Sie können. Setzen Sie Stück für Stück die Ansätze und Vorschläge in Verhandlungssituationen um. Üben Sie zu Hause, mit der Familie und mit Freunden und üben Sie mit Kolleginnen und Kollegen. Lassen Sie sich Rückmeldungen geben, wie sich Ihre Art zu verhandeln verändert, und schreiben Sie das auf, was Ihnen während der Auseinandersetzung mit dem Buch durch den Kopf geht. Es wird nicht immer leicht sein, das anzuwenden, was ich hier vorschlage. Es wird auch wehtun und Sie werden Widerständen begegnen, inneren Schweinehunden und längst vergessenen Schlachten, die Sie sieg- oder verlustreich ausgefochten haben. Dennoch lohnt es sich, das zu hinterfragen, was Sie bisher als Verhandlung verstanden haben, und die eigenen Gefühle als Quelle des inneren Wachstums zu ergründen.

Danksagung

Oft vergessen wir, für die einfachen Dinge des Lebens ehrlichen Dank zu empfinden und ihn zum Ausdruck zu bringen. Dies geschieht nicht, weil wir flegelhaft und ignorant sind, sondern weil sie so selbstverständlich erscheinen, dass sie uns im Eifer des täglichen Gefechtes nicht sonderlich auffallen. Wenn sie es dennoch tun, dann überkommt uns eine Ehrfurcht vor dem Leben und die tiefe Dankbarkeit, die wir dann empfinden, ist wie eine sprudelnde Quelle von Kreativität, Kraft und Zuversicht. Daher danke ich all jenen, die mir ihre Geschichten, Gefühle und Gedanken anvertraut und mich zu diesem Buch inspiriert haben. Dazu zählen auch die Menschen, die mich begrenzt, ausgebremst und herausgefordert haben, und auch die, die sich auf mein verwinkeltes Gedankenlabyrinth eingelassen haben und sich nicht von Tendenzen der Selbstsabotage haben ablenken lassen, ergo: meine Freunde! Allen voran danke ich Elmar Eberhardt, der unmittelbar bei der Anfangsidee des Buches dabei war und mit mir die eine oder andere Geschichte im Buch selbst miterlebt hat, Dorothea Reimann, die mich immer daran erinnert hat, gut für mich zu sorgen, und die für die buddhistischen Weisheiten in meinem Leben Mitschuld trägt, sowie Simon Becker und Gidon Windecker für ihren unerschütterlichen Glauben an meine Kompetenz.[8]

Das Schreiben dieses Buches wäre ein nahezu unmögliches Unterfangen gewesen ohne die unzähligen Tassen Kaffee, die mein Mann Thomas mir liebevoll kochte und an den Schreibtisch brachte, zusammen mit Apfelschnitzen, Schokolade, selbst gebackenem Kuchen oder anderen motivierenden Köstlichkeiten. Ich danke ihm für seinen Langmut, mit dem er manches Mal schmunzelnd ausgehalten hat, dass ich über den Computer geschimpft, Zeilen verworfen, köstlich über mich selbst gelacht oder Tränen vergossen habe. Des Weiteren danke ich ihm für die wunderbaren Zeichnungen, die dieses Buch schmücken – übrigens das eigentlich Wertvolle darin. Besonderer Dank gebührt meinen Kindern Saphira, Adrian und Tigran, denen ich Rabenmutter viele Stunden vorenthalten habe, um das Buch zu schreiben, und ich hoffe, dass sie dafür in ihrem späteren Leben nicht unendlich viele Stunden Therapie machen müssen, um mein sträfliches Fehlen in ihrer Erziehung wieder wettzumachen.[9]

1   Einführung: Eine neue Verhandlungskultur?

Verhandeln gehört zu den wichtigen Fähigkeiten und Fertigkeiten im privaten und beruflichen Leben. Wir verstehen ergebnisorientiertes Verhandeln so, dass wir andere von unserer Idee, unserem Produkt oder Projekt überzeugen können. Das Ergebnis, das wir anstreben ist, dass wir uns durchsetzen, erfolgreich sind und das bekommen, was wir uns wünschen. Da wir alle gleichermaßen danach trachten, kann es leicht zu Konflikten kommen, die unangenehme Konsequenzen nach sich ziehen. Wie könnte man dies vermeiden? Die beiden amerikanischen Wissenschaftler Roger Fisher und William Ury entwickelten in den Achtzigerjahren an der Harvard-Universität ein sinnvolles und zielführendes Konzept für Verhandlungen, das diese Konflikte möglichst in der Entstehung ausräumt. Dabei soll das Gesicht gewahrt und eine für alle Seiten befriedigende Lösung gefunden werden.

INFO

Das Harvard-Verhandlungs-Modell beinhaltet fünf Prinzipien:

Behandeln Sie das Verhandlungsproblem/die Verhandlungssache getrennt vom Menschen (sachlich bleiben).

Fokussieren Sie die Interessen der Beteiligten statt deren geäußerte Positionen.

Entwickeln Sie Optionen für Win-win.

Nutzen Sie objektivierbare Kriterien wie Gesetze, vereinbarte Regeln, Studien etc.[10]

Entwickeln Sie eine Alternative und Exit-Strategie: BATNA – Best Alternative to a Negotiated Agreement. (Vgl. Fisher/Ury 1982: 5 ff.)

Prominent angewandt wurden diese Prinzipien im Nahost-Konflikt. Das Ergebnis war das Camp-David-Abkommen, das die Normalisierung der Beziehungen zwischen Ägypten und Israel zur Folge hatte. Die Harvard-Universität hat basierend auf den Prinzipien ein Fortbildungsprogramm entwickelt (vgl. Program On Negotiation-PON, www.pon-harvard-edu.com). Schaut man sich den Wortlaut genauer an, ist offensichtlich, dass es sich hier weitestgehend um den Umgang mit Konflikten handelt. Das könnte mit der Entstehungsgeschichte des Modells zu tun haben und mit der Zeit, in der es entwickelt wurde. Die Bindung von Verhandlung an das Thema Konflikt kann zwar relevant und für manche Kontexte wichtig sein. Die negative Konnotation, die dem Begriff Konflikt anhaftet, behindert allerdings die Sicht darauf, dass Menschen zu kollaborativen Zwecken und nicht nur zur Konfliktvermeidung oder Konfliktlösung verhandeln.

Daher wäre es wichtig, zu ergründen, wie wahrhaftige Kollaboration in das Zentrum eines neuen oder erweiterten Verhandlungsmodells gerückt werden kann. Wo müssten wir anfangen zu forschen?

Meine Überlegungen basieren auf der Idee, dass eine neue Verhandlungskultur beim Individuum und seiner Fähigkeit zur Reflexion und Introspektion ansetzen sollte, um in Systeme wie beispielsweise Unternehmen auszustrahlen.[11]

Es ist mittlerweile unbestritten, dass die Fähigkeit, Emotionen wahrzunehmen und verantwortungsbewusst mit ihnen umzugehen, eine der wichtigsten Führungsaufgaben ist, die wir brauchen. Je komplexer die Welt, je schneller die Entscheidungswege, desto mehr Brüche gibt es in unserem bisherigen Denk- und Handlungssystem. Und desto lauter wird der Ruf nach einem ganzheitlichen Handlungsansatz, der sich den rasch wandelnden Situationen anpasst. Dieser Handlungsansatz sollte sich aller Ressourcen bedienen, die Menschen zur Verfügung haben, inklusive ihrer Intuition.

Das hat nichts mit Esoterik zu tun. Intuition haftet oft das Stigma an, sie biete keine Grundlage für objektive Entscheidungen. Natürlich nicht, denn objektive Entscheidungen gibt es nicht. Wir entscheiden, so möchte ich argumentieren, auf Grundlage eigener Erfahrungen, innerer Bilder, unserem Verhältnis zu uns selbst und unter Zuhilfenahme der eigenen, durch anerzogene Werte konstruierten Weltsicht. Dabei tendieren wir dazu, das zu tun, was wir immer getan haben, weil wir nicht wissen, was wir Besseres tun könnten. Oder weil das, was wir tun, uns zumindest kurzfristig Erleichterung und Vorteile verschafft. Nicht selten wundern wir uns dann etwas später über nicht intendierte Konsequenzen.

Je radikaler sich unsere Umwelt verändert, desto weniger können wir jedoch auf die alten Handlungsmuster zurückgreifen. Wir müssen lernen, eine neue Wirklichkeit zu erschaffen, die es uns ermöglicht, Altes loszulassen und Neues zu entwickeln. Natürlich ist das nicht einfach. Woher wissen wir, dass das Neue auch gut ist? Und woher wissen wir, dass wir wegen unserer neuen Ideen nicht abgelehnt und ausgegrenzt werden? Wir wissen es nicht. Bei der Erschaffung und Erkundung neuer Ansätze ist eines ganz sicher: Unsicherheit ist unser wichtigster Begleiter. Es braucht Mut, neue Wege zu gehen. Aber es braucht Heldentum, anders zu verhandeln als bisher.[12]

Wie ist der Status quo? Warum braucht es eine neue Verhandlungskultur?

Ein Blick in unser Wirtschaftssystem zeigt, dass wir mit der bisherigen Verhandlungsstrategie Konsequenzen geschaffen haben, mit denen wir jetzt und in Zukunft krisenhafte Entwicklungen werden bearbeiten müssen. Unsere Wirtschaft baut darauf auf, möglichst viele Bedürfnisse zu befriedigen bzw. neue Bedürfnisse zu wecken. Dafür nutzen wir jede Menge Ressourcen, sogar so viele, dass unser Planet sie in der Geschwindigkeit, in der sie verbraucht werden, nicht reproduzieren kann. Wir wissen seit 1972 durch die Publikation „Limits to Growth“ des Club of Rome (vgl. Meadows/Meadows/Behrens 1972), dass wir in den kommenden Jahrzehnten unser Wachstumslimit erreicht haben werden, da wir bis dahin sowohl eine extrem große Bevölkerungszahl und einen hohen Industrialisierungsgrad erreicht sowie unsere natürlichen Ressourcen verbraucht haben werden.

Diese Übernutzung hat langfristige Folgen für Wirtschaft, Ökologie und Gesellschaft. Weltweit steigt sowohl die Armut der vielen als auch der Reichtum der wenigen. Die Kluft zwischen den „haves“ und „have-nots“ führt in manchen Ländern bereits zu sozialen Unruhen, die wiederum zu politischer Instabilität und Flüchtlingsströmen führen. Jedoch ist diese Kluft nicht nur in unserer Umwelt sichtbar, sondern zunehmend auch in uns selbst. Und zwar auf vielen Ebenen. Manche von uns spüren die Kluft zwischen unseren Möglichkeiten, nachhaltiges wirtschaftliches Handeln zu erzeugen, und unserem Verlangen nach schnellen Gewinnen immer deutlicher. Mein 19-jähriger Sohn zum Beispiel gründete ein Modelabel, das nicht nur einen bestimmten Zeitgeist der Jugend treffen, sondern sich auch an Maßstäben wie fair trade orientieren soll. Dabei merkte er, dass ein gerechter Fertigungslohn und ökozertifizierte Baumwolle seinen Profit schmälern, und war unzufrieden mit der bisherigen Kalkulation. Er überlegte daher kurzzeitig (ich bin natürlich korrigierend eingeschritten), in einem Billiglohnland produzieren zu lassen, wo katastrophale Arbeitsbedingungen herrschen.[13]

Der innere Widerspruch ist schwer aufzulösen, denn wir lernen seit Jahrzehnten, dass schneller – höher – weiter erstrebenswert ist. Aber intuitiv spüren wir, dass wir so wie bisher nicht zum Wohle unserer selbst und anderer wirtschaften können. Nicht umsonst sind Ausgebrannt-Sein, Demotivation und Depression ernst zu nehmende Bedrohungen unserer Leistungsfähigkeit und unseres Lebens- und Berufsglücks. Häufig empfinden wir das, was wir tun, als sinn- und ziellos, sind unzufrieden und neiden anderen ihren vermeintlichen Erfolg. Und auch bei Erfolgreichen ist lange nicht garantiert, dass sich Sinn einstellt oder Erfüllung empfunden wird. Im Vergleich zu anderen Menschen auf dem Erdball ist das alles Jammern auf hohem Niveau. Und dennoch: Wenn das Fressen gesichert ist, kann man sich ja auch der Moral zuwenden und sie genauer inspizieren. Unsere Unzufriedenheit ist das Ergebnis einer zunehmenden Entkoppelung von Ursachen und Wirkungen unserer Handlungen. Da wir keinen Mechanismus haben, der uns garantiert, dass wir ein sinnvolles und zeitnahes Feedback für unsere Handlungen und Entscheidungen bekommen, verstehen wir nicht, was wir initiieren, und kommunizieren daher auch nicht zielführend. Mit Feedback meine ich nicht nur äußeres Feedback, sondern das innere Feedback. Das innere Feedback kommt von einer Instanz in uns, die uns klare Signale sendet, wenn es eine Schieflage gibt, wenn wir etwas korrigieren, tun oder nicht tun sollten. Ich würde es Intuition nennen. Irrsinnigerweise versuchen wir sehr oft, unsere Intuition zum Schweigen zu bringen, nicht selten im Verhandlungskontext. Daher sagen wir nicht mehr wirklich das, was wir sagen wollen und was wahrhaftig ist. Warum nicht? Entweder weil wir Angst vor den Folgen haben (zum Beispiel könnte sich jemand rächen, wir könnten uns zu sehr exponieren und angreifbar werden etc.) oder wir verschweigen, verschleiern oder verunstalten Informationen, um über den anderen zu triumphieren, um ihn oder sie zu beherrschen. Leider habe ich das Letztere schon vielfach erlebt. Das nennt man dann Manipulation. Unsere Institutionen sind durchzogen davon, und wer sich gegen die Ausgrenzung und Machtdemonstration auflehnt, es anspricht oder Vorschläge zur Veränderung macht, kann seine Karriere gleich an den Nagel hängen. Eine Ausnahme gibt es natürlich: wenn es gelingt, einen Zugang zur Macht zu erlangen. Dann können wir uns leisten, die Dinge beim Namen zu nennen, zumindest für eine kurze Zeit. Den Geschmack der Macht findet unser Ego so lecker, dass wir uns dann irgendwann dem Opportunismus hingeben, um unsere Schäfchen ins Trockene zu bringen. Oder aber es gibt jemanden, der ein altes Foto aus Jugendtagen ausgräbt, wo wir unvorteilhaft dargestellt werden, und das macht uns dann den Garaus, allen unseren Beteuerungen unserer Systemintegrität zum Trotz.[14-15]

Unsere institutionelle Landschaft und der beschriebene hiring & firing-Kreislauf ist das, was unsere gegenwärtige Verhandlungskultur prägt. Mit der damit verbundenen taktischen Unehrlichkeit hat auch der Gesprächs- oder Verhandlungspartner keine Chance zu einer Entscheidung, die der Situation und der Sache angemessen ist, sondern baut häufig nur auf Vermutungen und Interpretationen auf, die womöglich Missverständnisse generieren. Die Ergebnisse hochrangiger Verhandlungen und die daraus resultierenden Konsequenzen bekommen die verhandelnden Entscheidungsträger selbst nicht zu spüren und erhalten auch – wie beschrieben – kein ehrliches Feedback, wie die Verhandlungen bessere Resultate generieren könnten. Und weil die Macht der Gewohnheit und die ungeschriebenen Regeln der Kommunikation ehrliches Feedback verhindern, werden immer wieder dieselben Lösungen für die drängenden Probleme unserer Welt vorgeschlagen, die bisher nicht zum Erfolg geführt haben. Ich bin mit Einstein der Meinung, dass man Probleme nicht mit demselben Ansatz lösen kann, durch den sie entstanden sind. Doch um neue Ansätze auszuprobieren, braucht es Agilität und Flexibilität.[16]

Unsere Gesellschaft und Wirtschaft ist sehr schwerfällig und verändert sich zu langsam und zu spät. Diejenigen mit Zugang zu Ressourcen sind in der Regel nicht bereit, von ihren bisherigen Gewinnen – seien sie materieller oder immaterieller Art, wie höhere Position, Image, Einfluss, Geld und Macht – Abstriche zu machen, auch wenn ihr Verhalten für eine große Gruppe von Menschen negative Folgen hat, und sie finden auch gute Gründe, warum sie das nicht tun müssen. Viele Beispiele für eine solche Haltung lassen sich hier – vor allem bei international agierenden Akteuren – finden: Unternehmen, die auf Kosten der Lebensbedürfnisse der einheimischen Bevölkerung in Afrika Bodenschätze abbauen und die Natur zerstört zurücklassen, Steuerhinterziehung und Korruption, Spekulationen auf dem Finanzmarkt, Betrug bei der Qualität von Gütern etc. Die Liste ließe sich hier noch fortsetzen.

Kurios ist, dass viele dieser Skandale in der Presse bekannt gemacht werden, ohne dass dem geprellten Volk, den Käufern und Kunden, Genugtuung widerfährt und ohne dass diese selbstbewusst ihre eigenen Konsequenzen ziehen. Trotzdem traben die Bürger brav zu genau der Bank, dem Autohersteller, dem Produktehersteller und kaufen weiter dort – auch wenn die Unverschämtheit und Selbstherrlichkeit der Hersteller einem nahezu ins Gesicht springt. „So ist das eben im Kapitalismus“ oder „Andere machen das genauso, die werden bloß nicht erwischt“ lautet dann die Argumentation für business as usual[17]. Diese Stumpfheit und Trägheit sind als Symptome einer gesellschaftlichen Krankheit zu bezeichnen, sie sind jedoch nicht die Ursache. Die Ursache liegt vielmehr in der Art und Weise, wie Menschen ihre Beziehung aushandeln, und in welchem Bewusstsein, in welcher Haltung sie dies tun. Es scheint, dass der Fokus der Verhandelnden zu stark auf den erwarteten materiellen Gewinnen der Verhandlung liegt, sodass die langfristigen Konsequenzen von Verhandlungsprozessen und Entscheidungen zu wenig wahrgenommen werden – und wenn, dann erscheinen sie so fern, dass man denkt, „da kümmere ich mich drum, wenn es so weit ist, falls es so weit kommt“. Dieses Bewusstsein prägt unsere Wirklichkeit im Kleinen wie im Großen. Dies ist nicht weiter verwunderlich, denn wir streben danach, unsere Wirklichkeit berechenbar zu machen, um handlungsfähig zu bleiben. Auch darauf beruht die derzeitige Verhandlungskultur.

Allerdings ist unsere Wirklichkeit alles andere als berechenbar. Sie ist dermaßen komplex, dass sie mit den bisherigen Denkweisen nicht erfasst werden kann. Daher machen wir uns auch nicht die Mühe, immer wieder zu prüfen, was Wirklichkeit ist bzw. wie wir sie konstruieren, damit sie zu uns passt. Wir leben also zwischen der Realität und unserem Bewusstsein über diese Realität und handeln so, als ob wir tatsächlich sinnvolle Entscheidungen treffen und bedeutungsvolle Kommunikation führen würden. Ein ziemlich gefährliches Theater, das da ständig aufgeführt wird. Gefährlich, weil wir uns im Recht wähnen und unsere selektive Wirklichkeit für die Wahrheit halten. Ich erlebe immer wieder, wie erschreckend wenig die Leute über den eigenen Tellerrand schauen können.[18]

BEISPIEL
Gut oder gut gemeint – das ist hier die Frage oder vom Glück, eine Solarlampe zu besitzen

Im Herbst 2016 nahm ich am Vision Summit in Berlin teil. Zur Teilnahme bewog mich, dass dort namhafte Persönlichkeiten zugegen waren, zum Beispiel Mohammed Yunus, der Banker der Armen und Träger des Nobelpreises, und Prof. Faltin, der als Entrepreneur in den Achtzigerjahren die Tee-Kampagne ins Leben gerufen hatte und dessen Darjeeling ich in den langen, mit politischen Diskussionen durchtränkten Nächten in West-Berlin literweise in mich hineingegossen hatte. Es standen auch viele interessante Workshops auf dem Programm, die mit Veränderung zu tun hatten, der Veränderung der Wirtschaft, der Gesellschaft, der Politik. Irgendetwas in mir regte sich wohlig bei der Erinnerung daran, dass ich mich als Jugendliche gesellschaftspolitisch sehr engagiert hatte, und ich erkannte wohlwollend, dass dieses innere Feuer in keiner Weise erloschen war, sondern noch prächtig loderte und Funken schlug. Das Versprechen war, dies sei kein Gesprächszirkel, sondern eine partizipative Veranstaltung, die Ergebnisse bringen sollte.[19]

Ich habe mir also kostbare Zeit aus den Rippen geschnitten und bin hingegangen. Schon Tage vorher habe ich meine Netzwerke darüber informiert, dass ich dort hingehen und Inspiration ernten würde. Meine Erwartungen waren groß. Die Enttäuschung war noch größer. Die meiste Zeit des Tages war es eine Frontalveranstaltung mit gefühlten hundert Keynotes, die viel zu lang waren, Zahlen und Fakten wiederholten und appellierten, statt Impulse zu setzten.

Außerdem gaben Redner und so manch ein Workshop-Teilnehmer die gesamte Palette der Pauschalisierungen unserer engagierten deutschen Mitbürger über andere Regionen der Welt, über Frauen und über Jugend preis: Ein Redner warf euphorisch unter anderem das Bild einer Inderin mit einer solarbetriebenen Lampe in der Hand an die große Leinwand und kreischte ins Mikrofon, wie glücklich diese Inderin doch sei, dass ihre Kinder nun endlich Hausaufgaben machen und zur Schule gehen können. Man könnte also auch in Indien glücklich sein, wenn man doch nur eine Solarlampe hat.

Ein anderes Bild zeigte einen Beduinenjungen in einem Zelt, der ebenfalls durch Solarenergie nun Strom im Zelt hatte und sein Handy aufladen konnte und deshalb ja nun nicht mehr genötigt wäre, nach Europa zu fliehen. „I will stay in my tent and will not leave my country now that I have electricity“ zitierte ihn der Redner mit sich überschlagender Stimme. Gut, dass es ein etwas ungläubiges Raunen im Publikum gab, sonst hätte ich die Hoffnung aufgegeben, dass ich mich in der richtigen Veranstaltung befand.[20]

Kein Wort wurde darüber verloren, dass das Problem der indischen Frauen ein gesellschaftliches Problem ist und Frauen in manchen Teilen Indiens nur wegen ihres Geschlechts grausamster Gewalt ausgesetzt sind – ergo braucht es wahrscheinlich doch etwas mehr als eine Lampe, um dieser Frau ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen. Kein Wort darüber, dass ein Jugendlicher mehr als ein Handy und Strom im Zelt braucht, dass Menschen nicht nur nach Europa fliehen, weil es dort mehr zu kaufen gibt, Strom und fließend Wasser, sondern weil sie ihre politische Meinung äußern wollen, weil sie wegen ihrer sexuellen Orientierung verfolgt werden oder einfach weil sie eine Lebensperspektive brauchen, ja sogar jenseits des Konsums.

Ich war entsetzt über die Naivität und Gedankenlosigkeit, maßlose Unterschätzung und Fehleinschätzung und die inhärente Superiorität des weißen, männlichen, akademisch gebildeten Menschen vor mir, dem es nicht einmal auffiel, mit welcher Haltung er da eigentlich sprach. Es war sicherlich gut gemeint, aber keineswegs gut. In den Workshops offenbarten sich weitere klaffende Lücken zwischen dem Wunsch, Gutes tun zu wollen, aber nicht zu wissen, wie. Sämtliche Diskussionen darüber, wie mittels sozialem Unternehmertum in den Ländern des südlichen Globus Veränderungen angestoßen werden könnten, mündeten in Ideen, wie unser Denken und Handeln und unsere Systeme exportiert werden können, anstatt darüber, wie Zusammenarbeit auf Augenhöhe und das Ausprobieren neuer Ansätze ermöglicht werden könnten. Auch hier dominierte in der Diskussion die Ignoranz anderen Ländern gegenüber, in denen es aber auch Regeln gibt, Gesetze, eine Regierung, Wirtschaftskreisläufe, an denen man sich orientieren muss, die man respektieren sollte. Manche Beiträge von Teilnehmenden trugen quasi post-koloniale Züge.[21]

Aber wie soll auch eine Veranstaltung, bei der es vor allem um den globalen Süden geht, auf sinnvolle Ideen kommen, wenn niemand aus dieser Zielregion vertreten ist? Warum haben sowohl renommierte Redner als auch wohlmeinende, engagierte Teilnehmende so kurzsichtige Ansätze? Es gibt zwei Gründe: Erstens, weil sie es nicht besser wissen, und zweitens, weil das unreflektierte Gutmenschen-Syndrom das so dringend benötigte Selbstbewusstsein stärkt. Wir fühlen uns schlicht und ergreifend gut, wenn wir den Armen etwas geben. Dabei lassen wir sie arm, anstatt sie zu empowern.

Genug gemeckert. Die Veranstaltung war gut gemeint. Sie hat allerdings weiter im Einsteinschen Sinne die Art und Weise der Kommunikation perpetuiert, der sie eigentlich etwas entgegensetzen wollte.

Wer kennt das nicht – die Sitzungen, in denen um den heißen Brei herumgeredet wird, die Verhandlungsrunden, in denen jeder versucht, das größte Stück Kuchen für sich zu gewinnen, aber von „Kooperation“ und „Win-win“ spricht. Gähnend lehnen wir uns zurück, wenn schon wieder dieselben Phrasen gedroschen werden und wir innerlich Bullshit-Bingo spielen. Beteiligt sind wir schon lange nicht mehr, denn wir wissen, dass am Ende doch alles anders ist, als es scheint. Als Beispiel sei hier einer meiner Einsätze als Beraterin erwähnt, der für mich der Anlass war, über Verhandlung nachzudenken:[22]

BEISPIEL

2009 war ich als Beraterin im Team von Tony Blair, dem damaligen Repräsentanten des Nahost-Quartetts, in Jerusalem tätig. Neben der Recherche und Aufbereitung von Informationen war diese Aufgabe eine reine Kommunikations- und Verhandlungsaufgabe, in der es um die Umsetzung der sogenannten Road Map ging. Meine inhaltliche Arbeit dort würde ich eher als biografische Randnotiz vermerken. Was jedoch besonders interessant war, war die Verhandlungskultur in den Kreisen internationaler Organisationen und politischer Würdenträger. Kurz gefasst: Um Verhandeln ging es im Grunde nicht. Es ging darum, möglichst lange und möglichst umfassend zu verschleiern, was man wirklich zu tun gedachte und welche Strategie man verfolgte. Die gesprochenen Worte waren so unkonkret wie möglich, um möglichst viel Interpretationsspielraum zu lassen. So konnte man sich auf eine andere Interpretation zurückziehen, sollte der Verhandlungspartner das Verhandlungsergebnis auf eine unerwünschte Art und Weise auslegen. Verantwortung wurde immer dem zugeschoben, der gerade nicht am Verhandlungsort anwesend war. Beides kann als Verzögerungs- bzw. Zermürbungstaktik gewertet werden. Diese wird immer dann angewendet, wenn man einen Konflikt aussitzen möchte, darauf wartend, dass der Verhandlungspartner mit den schwächeren Nerven irgendwann aufgibt. Die Aneinanderreihung von diplomatischen Phrasen war das einigende Element aller Verhandlungspartner. Es sollte signalisieren, „ich respektiere die vereinbarte Verhandlungskultur und werde mich daran halten, niemals das zu sagen, was wirklich los ist“. Tat das doch jemand, war es klar, dass dieser bei der nächsten Verhandlung keinesfalls dabei sein würde. Kurz und gut: In meiner Zeit in Jerusalem hat sich der Nahost-Konflikt jedenfalls nicht in eine positive Richtung verändert. Wir haben auch heute noch dieselben Probleme, trotz mannigfaltiger Verhandlungsoptionen.[23]

Das, was ich dort erlebt habe, ist leider traurige Realität vielerorts. Auch wenn wir meinen, durch Tricks und Rhetorik andere von unseren Zielen überzeugt und somit erfolgreich verhandelt zu haben, könnte es sich herausstellen, dass unsere Art zu verhandeln nicht nur Vorteile gebracht hat. Warum sind wir nicht weitsichtig genug, von vornherein so zu verhandeln, dass es uns später nicht schadet? Das liegt daran, dass wir dazu neigen, Fehleinschätzungen über die Konsequenzen unserer Handlungen zu treffen. Es fehlt uns häufig die Reflexionsfähigkeit, die Kenntnis über den systemischen Zusammenhang von Phänomenen und die Chance, wahrhaftig kollaborative Lösungen für anstehende Probleme zu entwickeln. In jeder Verhandlung sollte es immer auch um das Wohl derjenigen gehen, die Nutzen aus den Folgen der Verhandlung ziehen oder deren Kosten werden tragen müssen. Sie werden sagen, das ist doch klar und entspricht dem gesunden Menschenverstand! Aber mal Hand aufs Herz: Wie klar ist das wirklich, wenn es um wichtige persönliche Ziele geht? Dann ist sich jeder selbst der Nächste.[24]

In der Komplexität navigieren

Nur mit Offenheit und Flexibilität kann in der Komplexität unserer heutigen Welt sinnvoll navigiert werden. Erstarrung bringt bestenfalls, dass wir uns wehtun und verzweifeln. Flexibilität haben wir jedoch mit Hyperaktivität gleichgestellt. Je mehr und je schneller wir handeln, desto eher meinen wir, der Komplexität gerecht zu werden. Leider ein fataler Trugschluss. Wie oft habe ich schon Menschen in meiner Beratungspraxis erlebt, die wie ein Hamster im Rad vor sich selbst herrennen und nicht mehr wahrnehmen, was sie tun und welche Qualität ihr Handeln hat. Sie wissen nicht einmal mehr, was sie brauchen, damit sie sich verändern können. Sie halten ihre Bedürfnisse für unangemessen und verschweigen sie vor sich selbst und anderen. Es reicht oft nicht, dass ich als Coach darauf hinweise. Ich muss manchmal provokant und massiv intervenieren, damit mein Coachee aus Selbstbestrafung und Überheblichkeit erwacht und sich wieder kommunikations- und handlungsfähig macht. Der Umgang mit der Komplexität liegt nicht nur in der quantitativen Reduktion von Tätigkeiten, sondern in unserer Fähigkeit, uns mitzuteilen und unser Umfeld als das wahrzunehmen, was es ist – ein weites Feld von Möglichkeiten. Denn keiner agiert isoliert. Alles, was wir sagen oder tun, hat einen Einfluss auf jemand anderen und natürlich auf uns selbst und unser Selbstbild. Jede gewonnene[25] Verhandlung ist mit einem Verlust verbunden. Das liegt in der Natur der uns bestimmenden Dualität. Außerdem ist ein wichtiges Merkmal von Komplexität das Auftauchen nicht-linearer Phänomene, das heißt scheinbar unzusammenhängender Dinge, die doch einander bedingen. Umgangssprachlich werden diese auch als „Schmetterlingseffekt“ bezeichnet: Der Flügelschlag eines Schmetterlings lässt einen Luftwirbel entstehen, der dann einen weiteren größeren Luftwirbel hervorbringt und dieser stößt einen größeren an, der sich dann zu einer Kettenreaktion aufschaukeln kann, die woanders in einen Tornado mündet. Im Kern beinhaltet der Schmetterlingseffekt also, dass jede kleine Veränderung der Anfangsbedingungen große Effekte in einem scheinbar nicht verbundenen System auslösen kann. Und er beinhaltet, dass wir viele Variablen nicht kennen, die uns und unsere Verhandlungspartner sowie die Situation beeinflussen. Diese liegen häufig völlig außerhalb der Verhandlungssituation und sind von uns in keiner Weise zu erreichen oder zu verändern – zum Beispiel politische Rahmenbedingungen in einem anderen Land, die Persönlichkeit der Verhandelnden, der Stau, durch den wir uns schlängeln, das Wetter etc. Eigentlich nahezu alles. Wie sollen wir also mit diesem hohen Maß an Unsicherheit umgehen?[26]

Wir müssen lernen, nicht nur den eigenen Standpunkt und die eigenen Interessen durchzusetzen, sondern das System, in dem wir leben, aus der Perspektive aller Akteure zu sehen – auch derer, die gerade nicht am Tisch sitzen. Mit sehen meine ich nicht nur einfühlsam verstehen, warum jemand etwas möchte, sondern ich meine das Sehen mit den inneren Augen. Darunter verstehe ich unsere intuitive Großzügigkeit, unsere Freigiebigkeit und eine gewisse Form des Altruismus, der uns als Menschheit das Überleben garantiert hat. Wenn wir wissen, dass sehr viele Faktoren, derer wir nicht habhaft werden können, die Verhandlung beeinflussen, dann ist es sehr wichtig, dass wir achtsam und aufmerksam mit jeder Situation und mit jedem Thema umgehen, da jede wie auch immer geartete Entscheidung Einfluss hat auf andere, aber eben früher oder später auch auf uns selbst.

Großzügigkeit und Genauigkeit bilden einen nur scheinbaren Widerspruch. Sie sind jedoch meiner Meinung nach durch liebevolle Hingabe und Präsenz des Menschen zwei miteinander verbundene Qualitäten. Menschen, die beides in sich vereinen, begegnen mir immer wieder. Manchmal an den merkwürdigsten Orten unter extremsten Bedingungen, manchmal auch gerade dann, wenn ich es am wenigsten erwarte. Sie sind der Fels in der Brandung in schwierigen Verhandlungen und gleichzeitig das wogende, weiche Meer, das diesen umspült und allen Beteiligten wohltut. Ich erkenne solche Menschen daran, dass ich mich in ihrer Gegenwart akzeptiert fühle und ermutigt, meine Gedanken und Gefühle zu äußern, dass ich ernst genommen werde, ohne bewertet zu werden. Die Offenheit und die Neugier dieser Menschen motivieren mich dazu, mich zu engagieren und mein Wissen und meine Fähigkeiten mit anderen zu teilen. Solche Menschen sind für mich die besten Verhandler. Sie bringen unterschiedlichste Meinungen zusammen und sind in der Lage, etwas Neues zu erschaffen, die Energie hochzuhalten, sodass gemeinsame Ziele einer Gruppe erreicht werden können; sie stellen sich dabei nicht in den Vordergrund, sondern integrieren sich in das gemeinsam Erreichte. Ich bin sicher, dass Sie solchen Menschen auch schon begegnet sind. Das ist gelebtes, mitreißendes Leadership.[27]

Leider wird auch der Begriff „Leadership“ mittlerweile inflationär gebraucht, ist längst durch viele Management-Theorien zerhackt und unbeholfen wieder zusammengesetzt worden. Es schimmert dennoch die Essenz einer Leaderin oder eines Leaders in der Sachliteratur zum Thema immer durch, nämlich die Fähigkeit zu einen. Es hat sich zwar bereits durchgesetzt, dass Win-win die beste Führungs- und Verhandlungshaltung ist. Allerdings werden diese Begriffe ebenso mechanisch gebraucht wie Leadership. Gute Verhandlung wird nicht mit Philanthropie oder Zusammengehörigkeit, sondern mit Kommunikationsprofis assoziiert, die den Psycho-Jargon beherrschen und sehr geschickt anwenden, um andere zu manipulieren und ihre Dominanz durchzusetzen.[28]

Was eigentlich unter Win-win verstanden wurde und wie auch das Harvard-Verhandlungskonzept den Begriff ursprünglich eingeführt hat, war: Wir sprechen miteinander auf Augenhöhe, erkennen an, dass unsere Interessen gleichermaßen wichtig sind, und gehen empathisch miteinander um. Ich bin der Meinung, das kann man lernen, wenn auch manchmal sehr mühsam. Und tatsächlich: Verhandlungstrainings stehen bei jeder Führungskraft auf der Tagesordnung. Wir müssen jedoch erkennen, dass Win-win eine Lebensaufgabe ist und nicht nur durch ein kurzes Training gemeistert werden kann. Als Trainerin habe ich auch schon oft erlebt, dass Teilnehmende meiner Trainings mit der Erwartung gekommen sind, nach dem Training sämtliche Verhandlungen zu ihren Gunsten entscheiden zu können.

BEISPIEL

Zu Beginn meiner Verhandlungstrainings frage ich die Erwartungen der Teilnehmenden ab. In mehr als 80 % der Fälle möchten die Teilnehmenden auf folgende Fragen gerne Antworten haben:

„Wie kann ich den anderen von meiner Meinung überzeugen?“

„Wie kann ich mich am besten durchsetzen?“

„Woran erkenne ich, dass ich manipuliert werde, und wie kann ich mich dagegen wehren?“

„Ich möchte gerne Tipps und Tricks bekommen, um andere auf meine Seite zu ziehen.“

Niemand hat vor dem Training den Anspruch zu lernen, wie man ganzheitlich verhandelt, wie man sich empfänglich für die wichtigen Dinge macht, die jenseits der eigenen Agenda liegen, wie man für andere engagiert handelt oder wertschätzend zuhört. Es ist nicht schwer nachvollziehbar, warum Teilnehmende genau solche Fragen haben. Sie erleben und erleiden Verhandlungen, in denen sie den Kürzeren ziehen, in denen sich Menschen mit eigennützigen Zielen durchsetzen. Sie meinen, dass sie sich mit einer ähnlichen Haltung besser zur Wehr setzen und durchsetzen können. Aber genau daran krankt unser ganzes System, das wir nur dann verändern können, wenn wir aktivanders[29] verhandeln.

Der Aha-Effekt, dass es um etwas Größeres geht als sie selbst, hat schon das eine oder andere Mal zu entscheidenden, positiven Veränderungen nicht nur im beruflichen, sondern im persönlichen Leben geführt. Vielfach sind Teilnehmende nach dem Training betroffen zu mir gekommen und haben mir offenbart, dass sie jetzt verstanden haben, was zu tun ist, um ihre Ehe zu erhalten oder die Beziehung zu ihren Kindern zu verbessern. Meiner Meinung nach ist Win-win das Leitbild der nächsten gesellschaftlichen Entwicklungsphase. Und es ist noch einiges an Weg zurückzulegen, bevor wir wirklich verstehen, was das bedeutet.

Wir haben gelernt, wie wir – teilweise vom eigentlichen Geschehen und der eigenen Verfassung abgekoppelt – zu unserem Verhandlungspartner eine Beziehung aufnehmen, in der wir weiterhin die Oberhand behalten. Das tun wir, indem wir in standardisierten Verhandlungstrainings lernen, unsere Verhandlungspartner zu analysieren (wohlgemerkt meine ich hier analysieren[30] und nicht verstehen) und bestimmte Trigger-Worte zu nutzen, die uns als empathischen Kollaborateur auszeichnen. Außerdem ist uns die Bedeutung von nonverbaler Kommunikation sehr bewusst, sodass wir sie zu unserem Vorteil einsetzen können. In Präsentationstrainings finde ich es daher eher kontraproduktiv, nonverbaler Kommunikation bewusst einzusetzen. Was nützt es, wenn jemand absichtsvoll, aber für ihn unnatürlich mit den Armen fuchtelt und damit nichts weiter als Irritation beim Gegenüber erntet? Kommunikations- und Verhandlungsprofis muten manchmal sogar schrecklicher an als unerfahrene oder sogar egozentrische Verhandler, weil ihre geheuchelte Empathie misstrauisch macht. Letztere sind wenigstens ehrlich, erstere inkognito Egozentriker. Ich möchte hier ein Beispiel (angelehnt an ein Beispiel von Schultz von Thun 1991: 256 ff.) geben, um den Kommunikations- und Verhandlungsprofi als Typ zu charakterisieren.

INFO

Nehmen wir an, Herr Dr. Müller, Wirtschaftswissenschaftler und bereits durch viele Kommunikations- und Verhandlungstrainings geschulter Manager eines großen Automobilherstellers, nimmt an einer Sitzung mit einer Beratungsfirma teil, die gemeinsam mit dem Automobilhersteller ein internationales Beratungsgeschäft aufbauen möchte. Herr Müller findet die Idee charmant und möchte gerne, dass das Geschäft zustande kommt; allerdings hat er Bedenken, was die vorgeschlagene Außenstruktur anbelangt, sowohl im Bezug auf finanzielle Mittel, die seine Firma bereitstellen müsste, als auch bezüglich des vorgeschlagenen Personals. Herr Müller weiß, dass es aus kommunikationspsychologischer Sicht wichtig ist, bei kritischen Punkten in Ich-Botschaften zu kommunizieren. Statt also klar zu sagen, welche Bedenken er hat, sagt er: „Mich interessiert Ihr Ansatz sehr, jedoch sehe ich da einige Herausforderungen, was die Strukturen angeht, wofür ich aber selbstverständlich noch Raum zur Diskussion geben möchte.“[31]

Hier bedient sich Herr Müller also der Sandwich-Taktik: Ich sage etwas Positives, dann das Problem, dann etwas Positives. Die Regeln des Feedbacks hat er selbstverständlich sehr oft schon praktiziert und erwartet vom Gegenüber ein ebensolches zurück. Der Verhandlungspartner reagiert allerdings irritiert. Vor allem über das Angebot, Raum zur Diskussion zu geben, gepaart mit einem freundschaftlichen Klaps auf die Schulter, etwas nach vorne geneigt. Das Angebot, etwas zu diskutieren, worüber man sich nicht einig ist, ist ja eigentlich selbstverständlich. Er fühlt sich bevormundet, nicht zuletzt unbewusst – durch die Körperhaltung und Geste seines Gegenübers. „Was meinen Sie mit Herausforderungen bezüglich der Strukturen?“ Herr Müller neigt sich noch ein wenig nach vorne, um nonverbal zu betonen, dass er an der gelungenen Beziehung interessiert ist (Distanzverringerung als Freundschaftsangebot), und erwidert in antrainierter Empathie: „Ich habe den Eindruck, Sie sind darüber irritiert, dass ich die von Ihnen vorgeschlagene Idee herausfordernd finde?“ Darauf kommt die Erwiderung mit etwas abgekühlter Stimme: „Ich habe schlicht nicht verstanden, was Sie meinen.“ Herr Müller fragt sich nun, wie er mit dem gefühlten Widerstand seines Verhandlungspartners umgehen soll. Die emotionale „Abfuhr“, die er gerade bekommen hat, kratzt an seinem Selbstverständnis. Soll er darauf eingehen, dass seinem Verhandlungspartner aus seiner Sicht die Regeln gelungener Kommunikation nicht geläufig sind (eigentlich kränkt es ihn nämlich, dass er für seine Zugewandtheit keine Erwiderung erhält) oder klar sagen, dass er die vorgeschlagene Personalstruktur zu teuer findet. Er entscheidet sich für die Beziehung zum Verhandlungspartner, denn es ist ja bekanntlich das A & O in der Verhandlung, mit den anderen Beteiligten einen vertrauensvollen Umgang zu etablieren, auch wenn diese selbst leider nicht sehr reflektiert sind. Er sagt also schon fast mitfühlend: „Wissen Sie, ich kann es verstehen, wenn Sie jetzt etwas irritiert sind. Ich hatte selbst auch solche Situationen und das ist erst einmal verunsichernd, aber ich bin sicher, gemeinsam werden wir auch hierfür eine Lösung finden.“ Herr Müller möchte zeigen, dass er sich persönlich offenbart und seine noch immer nicht richtig ausgesprochene Kritik nicht gefährlich ist für die Verhandlung. Allerdings sind die bisherigen Botschaften, die er ausgesendet hat, nicht nur ein Ausdruck dessen, was Herr Müller über seine Sicht sagen möchte, sondern er impliziert eine Wirkung, nämlich die, dass er weiterhin die Dominanz in der Verhandlung behält. Damit kreiert er Doppelbotschaften, die der Verhandlungspartner spürt und intuitiv ablehnt, da er deren manipulativen Charakter bemerkt.[32-33]

Ich erwähne diese konstruierte Geschichte an dieser Stelle, um aufzuzeigen, dass das Zur-Schau-Stellen von professionalisierter Emotion eben nicht das ist, was uns zu einem erfolgreichen Verhandler macht. Es verschafft uns eher Augenrollen und ein Image des nervtötenden Schwaflers. Menschen spüren nämlich, ob jemand ehrlich und wahrhaftig ist und aus welcher Haltung er oder sie handelt und spricht. Leider bleibt uns oft zu wenig Zeit, um eine Situation entsprechend zu analysieren und darin zu agieren. Oder aber wir spüren es nicht sofort, sondern erst nach längerem Nachdenken, aber auch dann ist es zu spät, etwas am Verlauf zu ändern. Deshalb meinen wir ja auch, dass wir Verhandlungsstrategien und Taktiken brauchen, um unser Unwissen und die verzögerte Wahrnehmung zu überbrücken. Denn meist nehmen wir nur Ausschnitte dessen wahr, was geschieht. Wir haben keinen Überblick über das Ganze. Das Ganze ist der gesellschaftliche, wirtschaftliche und ökologische Kontext, der unmittelbar von den Ergebnissen einer Verhandlung betroffen ist. Sehen wir den Verhandlungsprozess als die oben erwähnten Flügelschläge eines Schmetterlings, so hat dies weitreichende systemische Folgen.

Ökosystem-Bewusstsein

Otto Scharmer nennt es „Ökosystem-Bewusstsein“, zu dem wir vom derzeitigen „Egosystem-Bewusstsein“ hinfinden müssen (Scharmer/Käufer 2014: 13 ff.). Er beschreibt diesen Weg zu einem neuen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen System anhand von drei Dimensionen von Veränderung:[34]

Eine verbesserte Beziehung zu den anderen,

eine verbesserte Beziehung zum System und

eine verbesserte Beziehung zu uns selbst (vgl. Scharmer/Käufer 2014: 30 ff.).

Diese Dimensionen sollten von den Beteiligten mutig erforscht werden. Mutig deswegen, weil man bei der Erforschung der drei Dimensionen immer auch auf eigene blinde Flecken stößt, auf „Randgebiete des Selbst“ (Scharmer/Käufer 2014: 30). Dies geht damit einher, dass man Gefühlen begegnet und sich für diese öffnet, dass man Denkgewohnheiten begegnet und diese loslässt und Empathie entwickelt. Selbstverständlich ist dies kein einfaches Unterfangen, die eigenen Sichtweisen vom ICH zum WIR zu erweitern. Während des Erforschens ergibt sich Stück für Stück eine neue kreative Art der Kommunikation und der Verhandlung. Man könnte hier ein horizontales Verhandlungsmodell kreieren, das nicht nur neue Ergebnisse hervorbringt, sondern auch Komplexität reduziert, neue Grundlagen schafft, zu Entscheidungen zu finden, und Beziehungen stärkt. Das horizontale Modell ist fehlerbehaftet, improvisiert und veränderbar. Es ist nicht aalglatt und es kommt nicht mit dem Anspruch, dass alles gleich und sofort und für immer geregelt und festgeklopft ist, was aus seiner Anwendung resultiert. Man kann an dem Modell rütteln, es neu aufstellen und immer weiter bereichern und erweitern. Ich mache das ständig als Trainerin. Kein Verhandlungstraining ähnelt dem anderen. Ich orientiere mich an den Anwesenden und bekomme von diesen die nötigen Anstöße, wie ich das Verhandlungstraining gestalten sollte. Positiv ist, dass die Teilnehmenden niemals das Gefühl haben, sie würden trainiert [35]werden. Die meisten Teilnehmenden melden mir zurück, sie würden sich selbst wieder entdecken und ihre Potenziale als handelnder und verhandelnder Mensch aktivieren. Selbstverständlich habe ich immer wieder auch kritische Stimmen in den Trainings und für diese bin ich dankbar. Jeder kritische Teilnehmende bietet ein sehr gutes Übungsfeld für alle Beteiligten. Ich ermuntere Sie dazu, in jeder Verhandlung den Kritikern Ihrer Argumente sehr gut und wertschätzend zuzuhören und nachzufragen. Wenn Sie diese Chance versäumen, dann vergeben Sie sich, von den Erfahrungen anderer zu lernen und sich selbst zu hinterfragen. Leider ist es in den meisten Fällen so, dass wir uns genau darauf nicht einlassen. Das liegt daran, dass wir ein immenses Sicherheitsbedürfnis haben. Daher versuchen wir auch, in allen Lebenslagen einzuschätzen, was als nächstes passiert. Interessanterweise müssen wir uns dieses Sicherheitsbedürfnis mühsam wieder abtrainieren. Nicht umsonst gibt es die kuriosesten Angebote für Managertrainings, um Flexibilität, Humor, Spaß und Improvisation wiederzuentdecken.