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Jessica wächst ohne Mutter auf. Ein liebevoller Vater und die Oma bereiten ihr eine schöne Kindheit, aber als sie sich im Alter von 13 Jahren zum ersten Mal mit der Liebe beschäftigt, geht das gründlich schief! Ein unheilbarer Knacks in ihrer Psyche macht sie zur Mörderin und das eigene Leben zur Hölle...
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Seitenzahl: 202
Veröffentlichungsjahr: 2014
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Matthias Meister
Verhasstes Blond
Ein Revierkrimi
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Impressum neobooks
Matthias Meister
Verhasstes Blond
Ein Revier - Krimi
Eigentlich hatte Jessica gute Laune. Es war ein wunderschöner, sonniger Herbsttag. Außerdem war es Freitag, und sie konnte rechtzeitig Feierabend machen um sich in aller Ruhe auf das folgende Wochenende vorzubereiten. Am morgigen Samstag hatte ihr Vater Geburtstag, er wurde sechzig. Da sie es liebte, einzukaufen und in den Geschäften nach Herzenslust zu stöbern, war das heute also ein Tag so richtig nach ihrem Geschmack.
So schlenderte sie langsam erst durch das Essener City-Center, um dann über den Kennedyplatz langsam zur Limbecker Strasse zu flanieren. Die attraktive Frau genoss den Anblick der herbstlich geschmückten Schaufenster und das eine oder andere mal betrat sie auch ein Geschäft, um sich mal wieder eine Kleinigkeit zu kaufen. Sie liebte exklusive Geschäfte und hasste die großen Discounter, das war einfach nicht ihr Stil. Eine gewisse Extravaganz konnte sie sich auch leisten, denn ihre Tierarztpraxis im Essener Süden hatte sich inzwischen etabliert und erlaubte ihr, das Leben zu geniessen. „Dr.med.vet. Jessica Dienel“ stand in großen schwarzen Lettern auf dem bronzenen Praxisschild, das neben dem Eingang auf ihre Tätigkeit hinwies. Freitags endete die Sprechstunde bereits um 11 Uhr, und da heute auch kein unvorhersehbarer Notfall alles verzögerte, konnte die Tierärztin ihre Sprechstundenhilfe Jenny pünktlich ins Wochenende entlassen. Gut gelaunt schloss Jessica gewissenhaft die Praxistür ab, stieg in ihr Auto und fuhr in Richtung City davon.
Als sie Karstadt am Limbecker Platz erreichte, zögerte Jessica nicht lange. Sie wusste, dass in der Lebensmittelabteilung des Hauses auch die besonderen Leckereien vorrätig waren, die sie und ihr Vater so sehr liebten. Ihr Vater, ein seit kurzem pensionierter hoher Beamter des Landes, kochte leidenschaftlich gern. Und sie wiederum liebte die Gaumenfreuden, die er zubereitete, über alles. Und auch an seinem runden Geburtstag ließ ihr Vater Horst Dienel es sich nicht nehmen, seine geliebte Tochter mit exquisiten Speisen zu verwöhnen.
Jessica und Horst Dienel waren ein Herz und eine Seele. Horsts Frau war bei der Geburt der Tochter durch einen tragischen Umstand gestorben und er sah es als seine Pflicht an, trotz der Tragödie es seiner Tochter an nichts fehlen zu lassen. Er war ein fürsorglicher Vater und sie dankte ihm dies durch eine abgrundtiefe Liebe, wie es sie nur selten zwischen Vater und Tochter gibt. Vielleicht kam es auch dadurch zu dieser Ähnlichkeit zwischen den beiden, sei es die sportliche Figur, die Größe oder auch die tiefschwarzen und dichten Haare.
Jessica Dienel betrat mit leuchtenden Augen die Spezialitätenabteilung des Kaufhauses. Ob es Trüffel, Lachs, Kaviar oder die exotischsten Früchte waren, sie stellte die Zutaten für ein Menü zusammen, das den Ansprüchen ihres Vaters und ihr in jeder Form gerecht wurde. Er würde seine Freude daran haben, seiner Tochter ein Menü zu kredenzen, wie es kein Sternekoch besser könnte.
Voller Vorfreude auf den morgigen Tag ging sie, schwer beladen mit zahlreichen Einkaufstaschen, zu Ihrem Auto zurück, das sie in weiser Voraussicht direkt auf dem Parkplatz vor Karstadt abgestellt hatte. Lächelnd öffnete sie die Fahrertür ihres BMW Z4 und begann, die Taschen mit ihren Einkäufen hinter den Vordersitzen zu platzieren.
Plötzlich fror ihr Lächeln ein. Sie hielt mit ihrem Bewegungen inne, die Mundwinkel verzerrten sich leicht. „Oh nein, nicht schon wieder“ dachte sie. „Nicht heute, nicht jetzt und nicht hier“.
Gesehen hatte sie eigentlich nichts. Bestenfalls aus den Augenwinkeln, mehr eine Ahnung als eine Wahrnehmung. Und jeder Außenstehende, hätte er etwas bemerkt, hätte nicht gewusst, was denn überhaupt los ist.
Erst ahnte sie nur den Schatten. Reflexartig versuchte sie mehr zu erkennen. Was Jessica sah, war ein junger Mann, der in der Jackentasche nach seinem Autoschlüssel suchte. Offenbar wollte auch er gerade den Parkplatz verlassen um seiner Wege zu ziehen. Eigentlich sah er gar nicht mal so schlecht aus. Groß, Mitte dreißig, seine hellblonden Haare zu einem modischen Kurzhaarschnitt frisiert. Dazu hatte er lässig eine Carrera-Sonnenbrille auf seinen Kopf gesteckt. Wenn man genau hinsah, sah man eine winzige Narbe in Höhe des linken Wangenknochens, den einzigen Makel, den er wohl zu verzeichnen hatte. Aber das interessierte Jessica nicht. Wie immer waren es die blonden Haare, die sie an ihr Erlebnis vor vielen Jahren erinnerte und das sie bis heute nicht hat verarbeiten können.
Langsam kam Jessica wieder zu sich. Mit versteinerter Miene stellte sie weiter ihre Taschen ab und begann plötzlich, in Ihrer Handtasche zu suchen. Spiegel, Lippenstift, Haarspray. Eben alles, was eine gepflegte Frau so mit sich führt. Sie suchte weiter, bis sie einen kleinen metallenen Gegenstand in den Fingern hielt, den sie fest umklammerte. Hätte man ihre Hand sehen können, so hätte man erkannt, dass ihre Fingerknöchel weiß vor Anstrengung wurden.
Noch einmal bäumte sich ihr Innerstes gegen den aufwallenden Hass auf, den sie jetzt wieder empfand, und den sie seit ihrer Kindheit kannte. Eigentlich müsste sich in psychologische Behandlung begeben. Sie wusste das, fühlte sich aber gehemmt, hierzu den ersten Schritt zu unternehmen. So legte sie sich den kleinen Damenrevolver, den sie noch immer fest umklammert hielt, in ihrer Hand so zurecht, dass sie ihn problemlos benutzen konnte. Wie oft wollte sie sich schon von der Waffe trennen? Immer wieder hatte Jessica sie bei einem Spaziergang in ihrer Tasche umklammert, um sie blitzschnell und von Anderen unbemerkt in die Ruhr zu werfen. Sie wollte von ihrem Kindheitstrauma loskommen um sich danach befreit und geheilt zu fühlen. Doch nie hat sie dieses Vorhaben in die Tat umgesetzt. Immer wieder beließ sie die Pistole in ihrer Tasche. Sie kam davon nicht los, genau so wenig wie ein starker Raucher vom Tabak oder ein Rauschgiftsüchtiger vom Stoff.
In diesem Moment stieg der blonde junge Mann in seinen Golf Cabrio, startete den Wagen und verließ den Parkplatz stadtauswärts.
Jessica sah den Aufbruch des Mannes und handelte wie in Trance. Sie stellte die Tasche auf den Beifahrersitz, bestieg ihr Auto und startete den BMW, um dem Unbekannten zu folgen. Dieser hatte sein nahe gelegenes Ziel, das Parkhaus unter dem City-Center, schon fast erreicht, als sie mit ihrem Wagen hinter seinem Golf an der Ampel stand. Zwei Minuten später passierten sie beide nacheinander die Einfahrtsschranke des Parkhauses.
Während das Cabrio in eine Parkbox steuerte, suchte Jessica in ihrer Tasche erneut nach dem Revolver und steuerte ihr Auto mit einer Hand langsam an dem Golf vorbei, um am Ende der Spur stehen zu bleiben. Ganz so, als orientiere sie sich, um selbst einen Parkplatz zu finden. In Wahrheit jedoch suchte sie im Rückspiegel mit den Augen die Parketage ab. Weit und breit niemand zu sehen. Der Unbekannte schwang sich gerade lässig aus seinem Auto heraus, verriegelte dieses und wollte das Parkhaus gerade verlassen.
Niemand sollte sie beobachten können. Geduckt und versteckt hinter ihrer geöffneten Autotür legte Jessica daher an und nach weniger als einer Sekunde ertönte der gedämpfte Schuss.
Der blonde Mann zuckte zusammen, fasste sich reflexartig an den Nacken und schüttelte anschließend den Kopf. Er konnte nicht verstehen, was soeben geschehen war. War da nicht eben ein Geräusch, als ob ein Schuss gefallen wäre? Und hat er nicht etwas an seinem Hals gespürt? Aber da war nichts. Irgendetwas schmerzte in der Nähe seines Schulterblattes, aber er konnte kein Blut fühlen. Ungläubig verließ er das Parkhaus, ohne auf den BMW zu achten, der jetzt wieder langsam weiter durch die Gänge fuhr. Noch wusste er nicht, dass er die nächste Stunde nicht mehr erleben würde.
Sie hatte es wieder getan. Dabei hat sich so sehr geschworen, damit aufzuhören und ein normales Leben anzufangen. Dr. Jessica Dienel, eine erfolgreiche, lebenslustige und attraktive Frau, die aber nicht in der Lage war, ihr größtes Problem in den Griff zu bekommen oder auch nur mit jemandem darüber zu sprechen. Nicht mit ihren Freunden oder ihrem Hausarzt und auch nicht mit ihrem geliebten Vater.
Ihre gute Laune war seit dem Auftauchen des Mannes verflogen und die Einkaufstaschen mit den Spezialitäten lagen hinten im Auto, als hätte man sie dort vergessen.
Mittwoch, 12.August 1970
Ich glaube, es geht los“! Horst Dienel sah kurz von seiner Zeitung auf. So scheinbar emotionslos, wie seine Frau ihm soeben eröffnet hatte, dass es wohl Zeit würde, das Krankenhaus aufzusuchen, faltete er seine Morgenlektüre zusammen, setzte die Brille ab und sah Johanna an. Seine Frau lächelte, aber Horst kannte sie gut genug um zu erkennen, dass es kein echtes Lächeln war. Es ging ihr nicht so gut wie noch bis vor zwei Wochen. Sie fühlte sich unwohl, wie schon seit fast einer Woche permanent. Vielleicht hatte sie doch einfach nur etwas Angst vor der jetzt unmittelbar bevorstehenden Geburt. Aber niemals würde Hanna, wie er sie nannte, ihn damit belästigen wollen. Er sollte nur ihre fröhliche Seite kennen, so, wie er sie kennen und lieben gelernt hatte. Diese Liebe ging von beiden Seiten aus. Jeder respektierte den Anderen so, wie er war. Man erkannte, wenn sich der Partner nicht wohl fühlte und versuchte, das Leid zu lindern oder zumindest Trost zu spenden.
So war es auch heute Morgen. Johanna erwartete das erste Kind des noch jungen Paares, aber so wie während der ersten Monate der Schwangerschaft alles ohne Probleme verlief, schienen sich jetzt, so kurz vor der Niederkunft, Komplikationen einstellen zu wollen. Johannas Frauenarzt stellte bei der letzten Vorsorgeuntersuchung fest, dass die Blutwerte der jungen Frau nicht mehr ganz so optimal waren wie bisher und auch jetzt hätten sein sollen. Er wollte so kurz vor dem geplanten Geburtstermin jedoch keine Medikamente mehr verabreichen und sie am liebsten ins Krankenhaus zur Beobachtung einliefern. Dem widersprach Johanna aber aufs Heftigste, hätte sie doch dann ihren Horst länger als unbedingt nötig allein zu Hause lassen müssen. Da der Arzt jedoch trotz der schlechteren Werte keine ernsthafte Bedrohung zu erkennen vermochte, gab er dem Protest Johannas nach, legte ihr nahe, sich rechtzeitig in die Klinik zu begeben, und entließ sie lächelnd und mit guten Wünschen aus seiner Praxis.
So saß sie also jetzt zu Hause, lächelte ihren Mann ein wenig verkrampft an und sagte „Ich glaube, es geht los!“ um ihm zu bedeuten, dass sich die Geburt ankündigte.
Horst, der selbstverständlich Urlaub hatte, um seiner Frau in dieser Zeit beistehen zu können, lächelte zurück und sagte nur „Dann lass’ uns nicht länger warten“, stand auf und ging ins gemeinsame Schlafzimmer, um die schon seit zwei Wochen gepackte Tasche für das Krankenhaus zu holen. Es war 12 Uhr mittags, als die beiden das Haus verließen.
Johanna hakte sich bei ihrem Mann ein und gemeinsam gingen sie so an diesem sommerlichen Augusttag zum Auto. Ein kurzes Telefonat mit dem Marienhospital, wo sie auch die vorbereitenden Kurse für werdende Mütter besucht hatte, kündigte ihre Ankunft dort an. Schweigend fuhr das Paar die Strecke zum Krankenhaus. Nur mit einem gelegentlichen Blick, lächelnd, zum Partner verständigten sie sich. Horst wurde das unangenehme Gefühl nicht los, dass es seiner Frau schlechter ging, als sie es ihm gegenüber zugeben wollte. Er machte sich Sorgen, genau wie Johanna auch, die nicht verstand, warum es ihr nach mehr als acht Monaten nahezu problemloser Schwangerschaft offenbar von jetzt auf gleich nicht mehr so gut ging, wie sie es gewohnt war. Warum war ihr denn seit ein paar Tagen immer so komisch zumute? Ihr Gynäkologe Dr. Romberg hat ihr nach der letzten Untersuchung noch einen Bericht für die Klinik mitgegeben. Er hat ihr auch versucht zu erklären, warum er sie gerne vorzeitig ins Krankenhaus eingewiesen hätte. Aber Johanna hat ihn nicht verstanden. Sie machte sich ihre eigenen Gedanken, ja mehr noch, sie hatte sogar etwas Angst. So hatte sie den Umschlag mit dem Arztbericht ungeöffnet und von Horst unbemerkt in ihre gepackte Krankenhaustasche gelegt, zu ängstlich, den Brief zu öffnen und eine von ihr nicht gewollte Wahrheit zu lesen. Sie fand auch nicht den Mut, ihrem Mann von dem Bericht zu erzählen. Dieser versteckte Arztbefund war bisher das einzige Geheimnis, das sie vor ihrem Mann hatte und sie wusste sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass es auch das letzte sein würde, auch wenn sie es ganz tief in sich drin geahnt und befürchtet hat.
Mittwoch, 26.August 1970
Die vergangenen zwei Wochen waren die schwersten in Horsts bisherigem Leben. Er stufte dies so ein, unwissend, dass ihn das Schicksal durchaus noch schlimmer treffen könnte.
Voller Traurigkeit dachte er an den vorletzten Mittwoch zurück. Nach ihrer Ankunft im Marienhospital hat Johanna ihr Bett im Doppelzimmer der gynäkologischen Station bezogen. „Ich bin müde und möchte mich ausruhen. Fahr’ Du ruhig nach Hause. Ich werde hier gut versorgt und wenn es etwas Neues gibt, bist Du sicherlich der Erste, der davon erfährt.“ Lächelnd bat Hanna so ihren Mann, sie alleine zu lassen. „Du siehst auch ziemlich geschafft aus. Dann pass’ gut auf euch beide auf und verärgere mir nicht die Schwestern und die Ärzteschaft“ erwiderte er mit dem Versuch, scherzhaft und unbekümmert zu wirken. Zärtlich küsste er sie auf den Mund, hauchte ein „Ich liebe Dich, mein Schatz“ und begab sich zur Zimmertür. Dort drehte er sich noch einmal zu ihrem Bett herum und sah, dass sie tatsächlich schon die Augen geschlossen hatte und offenbar eingeschlafen war. Im gleichen Moment verlor er sein Lächeln und seine Augen bekamen einen kummervollen Ausdruck. Leise verließ er das Zimmer und schloss die Tür hinter sich.
Was sollte er jetzt zu Hause? Dort würde er nur unruhig hin und her laufen, Radio oder Fernseher ein- und wieder ausschalten und ständig das Telefon anstarren, als wenn er so einen Anruf aus dem Krankenhaus herbeizaubern könnte. Nein, nach Hause wollte er nicht fahren, in die große, freundliche Wohnung mit dem frisch eingerichteten Kinderzimmer. Er könnte es nicht aushalten, das leere Doppelbett im Schlafzimmer und die Babywiege im pastellfarben gehaltenen Raum für den Säugling, auf den sich beide so sehr gefreut hatten, anzusehen. Zu groß waren seine Befürchtungen. Warum nur? Johanna war doch bei allen Vorsorgeuntersuchungen gewesen und immer hat alles nur blendend ausgesehen. Bis auf die letzte Untersuchung. Und die Schmerzen, die Horst seiner Frau angesehen hat. Wenn doch bloß erst alles vorüber wäre und Johanna mit dem Neugeborenen wieder zu Hause wäre.
Während er in seinen Gedanken versunken schweigend den Krankenhausflur auf und ab ging, kam ihm eine Stationsschwester entgegen. „Ach, Schwester, entschuldigen Sie bitte. Mein Name ist Horst Dienel und ich habe gerade meine Frau in Ihr Zimmer begleitet. Sie ist eine Neuaufnahme und erwartet unser erstes Kind. Ich mache mir solche Gedanken, dass etwas nicht stimmen könnte.“ „Guten Tag, Herr Dienel, ich bin Schwester Annemarie. Da machen Sie sich mal keine Gedanken, es geht vielen werdenden Vätern so wie Ihnen. Gerade, wenn es sich um das erste Kind handelt. Ich habe Ihre Frau übrigens schon mehrfach hier im Hause gesehen, wenn sie zu den geburtsvorbereitenden Übungen gekommen ist. Und sie hat immer so glücklich und zufrieden ausgesehen, keine Spur von angekündigten Komplikationen.“ „Aber sie hat seit ungefähr einer Woche Schmerzen. Sie will sich nichts anmerken lassen, aber ich spüre, dass da etwas nicht in Ordnung ist.“ „Machen Sie sich keine Sorgen. Dr. Freiland, der leitende Stationsarzt, wird sich Ihrer Frau annehmen. Und glauben Sie mir: Er ist ein sehr guter Arzt. Er wird alles tun, um Ihre Frau und Ihren ersehnten Nachwuchs gesund nach Hause zu entlassen. Haben Sie denn Ihre Telefonnummer in der Anmeldung hinterlassen, damit wir Sie benachrichtigen können, wenn es soweit ist? Sie wollen doch auch bei der Geburt dabei sein, vermute ich?“ Schwester Annemarie wusste, mit Vätern in spe umzugehen. „Ja, natürlich, das will ich. Und unsere Telefonnummer habe ich natürlich auch hinterlassen.“ „Na, sehen Sie. Dann kann doch nichts mehr schief gehen. Setzen Sie sich noch eine Weile in die Cafeteria oder fahren Sie nach Hause. Versuchen Sie, sich zu entspannen. Aber jetzt müssen Sie mich bitte entschuldigen, da warten nämlich noch ein paar andere Frauen darauf, dass sie endlich zu zweit in ihrem Krankenhausbett liegen dürfen…“ Damit verabschiedete sich die Schwester lächelnd von Horst, der nach diesem Gespräch tatsächlich versuchte, sich zu beruhigen und nicht mehr ganz so schwarz zu sehen.
Er ging in die Cafeteria, kaufte sich einen Cappuccino, eine Illustrierte und eine Schachtel Zigaretten. Eigentlich hatte er schon vor mehr als einem Jahr mit dem Rauchen aufgehört, aber ihm war jetzt wieder danach. Er schlug die Illustrierte auf und steckte sich eine Zigarette an mit dem Streichholzheftchen, das als Werbung auf seinem Tisch lag. Nach drei Zügen hatte er genug. Angewidert drückte er die nur zu ein einem Viertel gerauchte Zigarette aus, nahm die Zeitung und verließ die Kaffeestube. Die Zigarettenschachtel „vergaß“ er absichtlich weil er nicht wollte, dass sein Kind in eine verrauchte und stinkende Wohnung einzog. Es war jetzt kurz nach 18 Uhr und er fuhr nun doch nach Hause um zu sehen, ob wirklich alles Notwendige vorbereitet war.
Es war natürlich alles in bester Ordnung. Das Kinderbett frisch bezogen, keine Bügelwäsche mehr und keine Reste auf dem Tisch vom letzten gemeinsamen Essen mit seiner Frau. So setzte er sich vor den Fernseher, goss sich ein Glas Gemüsesaft ein und suchte auf den damals vorhandenen drei Programmen nach einer interessanten Sendung. Das Letzte, was er noch bewusst mitbekam, war die Tagesschau, die von der Unterzeichnung des Moskauer Vertrages durch den damaligen Bundeskanzler Willy Brandt berichtete. Wach wurde er dann, als nur noch das Testbild zu sehen war.
„Wie es ihr wohl geht“, dachte er „ob sie immer noch – oder schon wieder- schläft?“ Er starrte auf das Telefon. Es hatte nicht geklingelt, davon wäre er sicherlich wach geworden. Nicht einmal seine Mutter hatte angerufen um zu hören, ob es etwas Neues gab. Aber sie war auch nicht so penetrant neugierig und aufdringlich wie andere Mütter, die ihre Kinder mit ihrer ewigen Sorge, Nörgelei oder Präsenz ganz schön auf die Geduldsprobe stellen konnten.
Um ein Haar hätte er jetzt selbst im Krankenhaus angerufen, aber es war mitten in der Nacht und er zwang sich dazu, vernünftig zu sein. Jede wesentliche Neuigkeit, ob positiv oder negativ, hätte man ihm sicherlich sofort mitgeteilt und ihn ins Krankenhaus beordert. Also zog er seinen Pyjama an, ging ins Badezimmer und anschließend ins Bett in der Hoffnung, noch ein wenig schlafen zu können.
Das Telefon schrillte morgens um halb Fünf. Er hatte es erst gar nicht als Telefonklingeln wahrgenommen, das Geräusch war Teil seiner wirren Träume geworden. Ihm erschien es zunächst als das nervöse Geläut einer Straßenbahn, die sich den Weg durch eine Menschenmenge bahnen musste, um ihn und seine Frau rechtzeitig in die Klinik zur Entbindung bringen sollte. Doch dann erkannte er seinen Irrtum und nahm, nervös und mit zitternden Händen, den Hörer von der Gabel.
„Dienel“ meldete er sich und hörte wie in Trance die Stimme der Stationsschwester am anderen Ende der Leitung. „Herr Dienel, können Sie bitte zur Klinik kommen? Der Bereitschaftsarzt bat mich, Ihnen dies auszurichten.“ „ Natürlich, Schwester. Ist denn etwas passiert?“ „Ich weiß leider nichts Näheres, ich habe auch gerade erst meinen Dienst übernommen.“ „Ja, gut. Ich bin in ein paar Minuten da.“ In Windeseile zog er sich an, griff seinen Schlüsselbund und rannte mit klopfendem Herzen zu seinem Auto.
Horst war eigentlich ein besonnener und umsichtiger Autofahrer, aber davon war im Moment nichts zu merken. Mit weit überhöhter Geschwindigkeit raste er durch Essen in Richtung Marienhospital. Der morgendliche Berufsverkehr hatte noch nicht eingesetzt und er konnte wohl von Glück sagen, dass die nächtlichen Polizeistreifen offenbar auch unterwegs zu ihren Wachen waren, um ihre Schichten an die nachfolgenden Kollegen vom Tagesdienst zu übergeben. So erreichte er die Klinik innerhalb kürzester Zeit, stellte sein Auto auf dem noch leeren Besucherparkplatz ab und hastete in das Gebäude. Als er die gynäkologische Station betrat und der dienst habenden Schwester gegenüber stand, fiel ihm auf, wie diese ihn kurz von oben bis unten musterte. Da erst wurde ihm bewusst, wie er aussehen musste. Seine wirr vom Kopf abstehenden schwarzen Haare, sein unrasiertes Gesicht und die schon recht angegriffen wirkende Kleidung vom Vortag standen in krassem Gegensatz zu seinem sonst so gepflegten Äußeren. Er sah selbst kurz an sich herunter. „Entschuldigen Sie, Schwester. Aber ich habe eine sehr unruhige Nacht hinter mir. Wie geht es denn meiner Frau? Steht die Geburt bevor? Oder komme ich vielleicht doch zu spät, um dabei zu sein?“ „Kommen Sie bitte, Herr Dienel. Dr. Freiland erwartet Sie bereits.“ Schwester Birgit führte Horst zum Sprechzimmer des Stationsarztes und meldete ihn an. Mit ernstem Gesicht, wohl fühlend, dass hier etwas ganz und gar nicht in Ordnung war, betrat Dienel den Raum des Arztes, begrüßte diesen und setzte sich auf dessen Geheiß auf den Stuhl am Schreibtisch, gegenüber des Mediziners.
Es war zehn nach Fünf am Morgen des dreizehnten August, als für Horst Dienel eine Welt zusammen brach.
„Herr Dienel, ich muss Ihnen eine äußerst bittere Nachricht überbringen“ begann der Arzt. Was war passiert? Horst Dienel ahnte, was Dr. Freiland ihm sagen wollte. „Ihre Frau hat gestern Abend, eine Minute vor Mitternacht, ein gesundes Mädchen zur Welt gebracht“ begann der Arzt. „Es ging alles leider viel zu schnell, als dass wir Sie noch benachrichtigen konnten“. „Johanna“ stammelte Dienel mit weit aufgerissenen Augen den Mediziner anstarrend. „Leider sind die Befürchtungen, die Dr. Romberg Ihrer Frau bei der letzten Untersuchung bereits mitgeteilt hatte, wahr geworden. Dass sich jedoch die Blutwerte noch einmal so dramatisch verschlechterten, war für ihn auch nicht vorhersehbar. Herr Dienel, es tut mir unendlich leid, aber Ihre Frau ist bei der Geburt Ihrer Tochter verstorben“.
Kreideweiß und mit starrem Blick saß Dienel dem Arzt gegenüber. „Warum? Warum nur?“ stammelte er immer wieder, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Immer wieder fasste er sich ins Gesicht, rieb sich die Augen und verschlimmerte damit sein ohnehin schon sehr zerknittertes Erscheinungsbild noch weiter. Der Stationsarzt versuchte ihm zu erklären, was genau passiert war, aber Dienel war nicht aufnahmefähig. Freiland hatte Angst, dass sein Gegenüber vollständig kollabierte und rief einen Kollegen von der inneren Abteilung an, damit dieser sich Dienel annehmen konnte.
Drei Stunden später wachte er in einem Krankenzimmer auf. Die Augen starr an die Decke gerichtet überlegte er, wo er war und was passiert ist. „Guten Morgen, Herr Dienel. Schön, dass es Ihnen wieder besser geht.“ Von ihm unbemerkt hatte die Schwester das Zimmer betreten. „Was ist passiert? Meine Frau, meine Tochter?“ „Sie haben einen Schock erlitten, Herr Dienel. Der Doktor hat Ihnen eine Beruhigungsspritze gegeben und Sie haben drei Stunden lang geschlafen. Doktor Windberg wird gleich bei Ihnen sein“ sagte die Schwester noch, um gleich darauf das Zimmer zu verlassen. Nahezu in der gleichen Sekunde betrat der Internist, ein sehr großer und übermäßig schlanker Mann von 45 Jahren das Zimmer und stellte sich an das Bett neben seinen Patienten. „Ich möchte zur Säuglingsstation“ bat Dienel, der gerade begann zu versuchen, sich mit seiner neuen Lebenssituation auseinander zu setzen.