Verlangen und Melancholie - Bodo Kirchhoff - E-Book

Verlangen und Melancholie E-Book

Bodo Kirchhoff

4,3

Beschreibung

Hinrich, dem ein »e« zum eleganteren Heinrich fehlt, findet an einem sonnigen Maitag einen Brief mit schwarzem Rand in seinem Briefkasten. Wer mag da gestorben sein? Hinrich wagt nicht, den Umschlag zu öffnen. Seit seine Frau vor neun Jahren bei einem Sturz aus 43 Metern Höhe ums Leben gekommen ist, lebt er allein. Seine Zeit als Kulturkorrespondent bei einer großen Frankfurter Zeitung liegt hinter ihm. Und so gehören seine Tage den Erinnerungen an Irene, der geliebten Mutter seiner Tochter Naomi, der Übersetzerin anspruchsvoller italienischer Literatur. Da gab es die gemeinsamen Sommer in Italien, ihre Reisen nach Rom und Pompeji, wo sie vor den berühmten Fresken der Villa dei Misteri stundenlang stehen bleiben konnten, um deren Bedeutung zu enträtseln. Und da gab es ihre Liebe zum Kino; sie mochten das Schwermütige der Schwarzweißbilder, aber ließen sich auch verführen von etwas Leichtem. Doch was geschah wirklich vor neun Jahren, vor ihrem Sturz? Und was steht in diesem Brief mit dem schwarzen Rand? Aufklärung bringt erst eine Reise nach Warschau, wo Hinrich sowohl das Leben mit Irene als auch die Zeit mit einer früheren Geliebten in einer Weise einholt, die alles auf den Kopf stellt, woran er geglaubt hat. »Verlangen und Melancholie«, der neue große Roman von Bodo Kirchhoff, ist ein mit einer hintergründigen Spannung geladener Roman, der den Leser mitnimmt auf eine Spurensuche, bei der langsam, aber unerbittlich die Aufdeckung des großen »Warum« geschieht und der Held die Wahrheit über den Tod seiner Frau erkennt. Bodo Kirchhoff erzählt dabei auch von einem Älterwerden, ohne dass die Wünsche mitaltern, von einem ewig jungen Verlangen und einer letztlich hilfreichen Melancholie.

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Seitenzahl: 607

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Inhalt

Über dieses Buch

Titel

Widmung

Zitate

Textbeginn

Impressum

Über den Autor

VERLANGEN UND MELANCHOLIE

Hinrich, dem ein »e« zum eleganteren Heinrich fehlt, erhält einen Brief mit schwarzem Rand – wer kann da gestorben sein? Er hat nur vage Vermutungen und scheut sich, den Brief zu öffnen; ihn bewegt schon genug seit dem Ausscheiden bei einer großen Zeitung, dort einmal zuständig für Regionalkultur. Die Tage und Nächte gehören jetzt ihm und der Frage, warum sich Irene, seine Frau, vor Jahren das Leben genommen hat. Und mit jedem neuen Warum kommen die Erinnerungen: an Irene, die Übersetzerin italienischer Literatur, etwa der Gedichte Pasolinis, an die Sommer in Italien, an Orte wie Rom oder Pompeji, und nicht zuletzt an Irene als Mutter seiner nun erwachsenen Tochter Naomi. Ihrem Sohn Malte hilft Hinrich gerade durchs Abitur und sein »ach so gescheiter Enkel« überredet ihn zu einem Abenteuer: Sie lösen ein Konto in der Schweiz auf und schaffen das Schwarzgeld über die Grenze – Geld, das Hinrich auf keinen Fall behalten will, und das ihn nach Polen reisen lässt, zu jemandem, der es gebrauchen kann. In Warschau aber holen ihn sowohl das Leben mit Irene, als auch die Zeit mit einer früheren Geliebten auf eine Weise ein, die alles auf den Kopf stellt, woran er geglaubt hat.

Verlangen und Melancholie, der neue große Roman von Bodo Kirchhoff, ist eine Geschichte von Liebe und Verrat, in der mit wachsender Spannung unerbittlich die Frage nach dem Warum eines Freitods gestellt wird. Erst als mit der Antwort offenliegt, welches Leben sich der Mensch, den man am besten zu kennen glaubte, genommen hat, setzt das Verzeihen ein.

Bodo Kirchhoff

Verlangen und Melancholie

Roman

Und wieder für dieselbe hinter allen Worten,das Unerlaubte im Herzen, zum Glück.

… imprendibilenel tuo esistere puro,ingenuo, e conscio, vivi:anche a me sei oscuro.

… unfassbarlebst du in deinem reinen, kindlichenund doch wissenden Sein,auch mir bleibst du rätselhaft.

Pier Paolo Pasolini

I

1

Wann endet ein Leben, wenn das Herz nicht mehr schlägt oder es sinnlos erscheint, dass es noch schlägt? Meine Frau und ich waren Kinogänger, wir mochten das Schwere, aber ließen uns auch von Leichtem verführen, den Bildern einer Liebe an sich – im Kino vergisst man die Sprache oder dass schon Homer die Liebe mit Scheitern und Tod in Verbindung gebracht hat und doch ihre Nachahmung empfiehlt. Was aber ist sie nun, mehr Segen oder mehr Verhängnis? Ein Grübeln seit Menschengedenken, das Ergebnis immer noch offen. Und dabei ist Liebe zweifellos eine schöne Idee, unzählige Filme profitieren davon. Aber auch der Tod als schreckliche Tatsache macht jeden guten Film noch besser und war für Irene am Ende sogar die bessere Wahl als das Leben. Seitdem frage ich mich, warum, und damit auch, wann ein Leben endet: Wenn das Herz die Arbeit einstellt oder diese Arbeit sinnlos erscheint und, wie in meinem Fall, bei Regenwetter oft nur zu einem Lichtblick führt, dem Tierfilm am Nachmittag – Der schwarze Panther vom Orinoco, Das Rätsel der Waldelefanten, Die letzten Tiger Sumatras–, Bilder, die mich bis vor kurzem, noch im Mai, in den Abend gebracht hatten, ja sogar in den Schlaf, und dann lag ein Brief im Kasten, weiß mit einem Rand im Ton des Panthers.

2

Dieser Tag mit dem Brief im Kasten, kurz vor den Eisheiligen, war ein Prachttag – blauer Himmel, milde Luft und ein Gefühl, als sei man bis auf weiteres unsterblich. Alles war gut an dem Tag, sogar die Begegnung mit meinem Nachbarn aus der zehnten Etage ging über die üblichen Worte hinaus. Ich hatte gerade mein Rad in die Fahrradecke der Tiefgarage gestellt, als er mit seinem Geschoss von Auto hereinfuhr, es parkte und ein bildschönes Tier aussteigen ließ, den Hund, der seine Ertüchtigungsläufe mitmachen durfte und ansonsten in der Wohnung lag, tieftraurig, auch wenn es sich nicht beweisen ließ. Es war ein Mischlingsrüde, halb Weimaraner, halb Afghane, etwas Drittes nicht ausgeschlossen, mit dem Resultat menschlicher Augen, und Ohren, die man sich aufs Kopfkissen legen wollte, Name: Grandeville. Ein Hund also, dem kein Buchstabe blieb, auf den er hätte hören können, und der sich gern an mich drängte, auch als der Nachbar um den Wagen ging und Erdspuren von den Reifen schnippte, in der anderen Hand sein Verbindungsgerät mit der Welt. Was für ein Wetter, rief ich, und anstatt wie üblich nur Tagtag zu murmeln, erwiderte er Oh, ja und ging dann zu den Fahrstühlen, während ich die Einfahrt hinauflief, um im Foyer in den Briefkasten zu sehen, etwas, das ich immer erst nach der Arbeit mache, an dem Tag das Zusammenstellen von Fragen, um meinen Enkel Malte auf seine Abiturprüfungen in Deutsch und Ethik vorzubereiten.

Und im Hauseingang traf ich auf andere Nachbarn aus meiner Etage, Nachbarn, die alle drei Monate wechseln, weil sie eine Sprachschule im Parterre besuchen; zu der Zeit, im Mai, waren es drei junge Chinesen mit ihrer Wohnungstür auf demselben Flur wie ich und der Hundebesitzer. Jeden Abend meldeten sie erregt ihre Fortschritte nach Hause, ich konnte es hören, wenn sie noch auf dem Weg zu ihrer Tür telefonierten, und im Foyer vor den Briefkästen begrüßten sie mich mit Tschüs. Und dann lag dort eben dieser Umschlag mit schwarzem Rand, darauf mein Name in Druckschrift, jeder Buchstabe nach rechts unten verrutscht, aber mit Absicht, wie es aussah, als verstellte jemand seine Schrift und lehnte zugleich die Maschinenschrift ab. In meiner näheren Umgebung, Familie, Freunde, frühere Kollegen, war in den Tagen zuvor niemand gestorben, das hätte ich erfahren, also ließ sich in Ruhe überlegen, wessen Tod mir da mitgeteilt wurde. Wen hatte ich in den letzten Jahren aus den Augen verloren, ohne dass er oder sie und die Hinterbliebenen mich aus den Augen verloren hätten? Mir fiel nur, absurderweise, der einzig eng befreundete Kollege aus all meinen Jahren bei der Zeitung der Zeitungen ein, wie Irene sie gern genannt hatte, ein Mann, der längst unter der Erde war, als hätte er aus dem Jenseits geschrieben, zum Jahrestag seiner Beerdigung, was ungefähr hinkam. Und erst im Fahrstuhl dachte ich an die Frauen, die mein Leben erfüllt hatten, die wichtigste auch im Jenseits, kein genaues Wort, aber ein tröstliches. Eine andere war aus dem nahen Vordertaunus, Internistin, Anfang vierzig, als wir uns kennenlernten, groß, blond, kulturell interessiert, Marianne. Ich war nie ihr Patient, außer mit Beschwerden, die in keinem Medizinbuch stehen. Sie war aktiv bei den Umweltleuten, fuhr aber gern in ihrem Zweisitzer, von mir, einem Mann ohne Führerschein, immer wieder vor den Gefahren der Straße gewarnt. Hatte sie etwa den Verkehrstod gefunden? Aber von wem wäre dann die Nachricht gekommen; demzufolge nein.

Fuhr oder fährt, Imperfekt oder Präsens: Wie soll man von einem Menschen reden, von dem man sich gelöst hat, aber den es noch gibt? Fast zwei Jahre lang waren Marianne und ich ein stilles Paar, der Zeitraum, in dem Irene, Frau meines Lebens, am Ende gegen sich selbst nicht mehr ankam. Ein Sommertag in der Stadt, sie hatte mittags mit einem kleinen Rucksack und der Erklärung, sich einer Kundgebung gegen den Flughafenausbau anzuschließen, um ein neuer Mensch zu werden, die Wohnung verlassen, und der Schuss Ironie über den Ernst einer Sache war keine Seltenheit bei ihr. Nur fuhr Irene gar nicht zum Flughafen; sie war gegen Abend auf dem Opernplatz und fotografierte dort junge Paare mit Kind, das erzählte später eine Kollegin aus dem allgemeinen Kulturteil, dem für die ganze Republik – mir unterstand der Umlandteil. Sie kannte meine Frau vom Sehen und rief mich an, nachdem das Furchtbare passiert war. Irene also nicht bei der Kundgebung, sondern Irene allein unterwegs, während ich allein in der Wohnung saß und kein neuer Mensch werden wollte, keiner, der es schafft, auch allein zu leben. Und am nächsten Tag fand man sie am Fuße des Goetheturms, zerschmettert nach einem Fall aus dreiundvierzig Meter Höhe. Sie hat ihrem Dasein ein Ende gesetzt. Oder den Tod aus einer unbekannten Zukunft herbeigeholt, ganz wie man es sehen will.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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