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Lisa, eine Frau die alles hat, was sie sich vorgenommen hat, steht kurz vor der Beförderung. Ihre Welt scheint in Ordnung zu sein. Doch dann holt sie die Vergangenheit ein. Schleichend, zunächst von Lisa unbemerkt, werden die Fäden über ihr Schicksal gezogen und die Ereignisse überschlagen sich. Wem kann sie noch Vertrauen?
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Seitenzahl: 386
Veröffentlichungsjahr: 2021
Man trägt viel im Herzen, was man nie einem anderen Menschen Mitteilen kann.
Greta Garbo
Für meine Mama, eine Frau, die niemals aufgegeben hat und bis zum Schluss alle glücklich machen wollte und glücklich gemacht hat.
DAMALS
HEUTE
1. KAPITEL
DAMALS
2. KAPITEL
3. KAPITEL
DAMALS
4. KAPITEL
DAMALS
5. KAPITEL
DAMALS
6. KAPITEL
DAMALS
7. KAPITEL
DAMALS
8. KAPITEL
9. KAPITEL
DAMALS
10. KAPITEL
DAMALS
11. KAPITEL
12. KAPITEL
DAMALS
13. KAPITEL
DAMALS
14. KAPITEL
15. KAPITEL
16. KAPITEL
17. KAPITEL
18. KAPITEL
19. KAPITEL
20. KAPITEL
DAMALS
21. KAPITEL
22. KAPITEL
DAMALS
23. KAPITEL
24. KAPITEL
EPILOG
Sie lag auf dem Boden.
Getreten, gedemütigt und am Ende. Über ihr sah sie nur Köpfe. Sie sah keine Gesichter mehr, aber sie hörte das Lachen. Dieses grauenvolle, gehässige Lachen, und dann diese Stimme:»Na,du Schlampe? Hast du es jetzt endlich verstanden? Berühre niemals wieder meinen Tisch.« Sie schloss die Augen und dachte an die letzten Minuten zurück. Wie war alles so schnell gegangen? Eben saß sie doch noch an ihrem Platz und wollte sich die Hausaufgaben aufschreiben, die noch an der Tafel von der Stunde davor notiert waren.
Es war doch ihr Stift, den man ihr weggenommen hatte.
Sie sieht es noch immer vor sich, wie Thomas den Stift nimmt. Thomas, der keine Gelegenheit auslässt, sie zu ärgern. Er sitzt zwei Reihen weiter vorne. Grinst und brüllt: »Los, sag es!« Sie weigerte sich. Sie lispelt und möchte nicht schon wieder, dass man lacht, wenn sie den Zungenbrecher mit den »10 zahmen Ziegen« aufsagt. Es ist ihr unangenehm. Sie denkt, wenn sie einfach nur ruhig ist, wird er sich geschlagen geben. Den Stift würde sie sich dann später wieder holen können. Oder er würde ihr diesen, wie immer, einfach hinwerfen, wenn sie nicht damit rechnete. So hat er es bisher immer gemacht. Aber diesmal scheint es anders zu sein. Sie spürt, dass er diesmal einen anderen Plan hat und sie überlegt noch, welchen. Sie sitzt da. Schaut stur zur Tafel und versucht Thomas zu ignorieren.
Er schnauft verächtlich, als sie sich weigert, steht auf und geht Richtung Tür. Sie will schon erleichtert aufatmen. Sie hat sich also getäuscht. Er gibt auf wie immer. Er hat nichts vor. Das Schlimmste scheint sie überstanden zu haben. Doch dann passiert es. Er lässt ihren Stift wie zufällig auf Melanies Tisch fallen. Ausgerechnet Melanie! Die Schülerin kam erst in diesem Schuljahr in die Klasse und hatte schon vorher diesen gewissen Ruf. Sie war schon manches Mal Opfer von Melanies Angriffen gewesen. Weil sie eine Behinderung hat, sie übergewichtig ist und keine Freunde hat. Sie gehört zu der Gruppe von Schülern, die Melanie und ihre Clique gerne zum Angriff nehmen und ausgerechnet in ihre Klasse musste sie vor einem halben Jahr kommen. Sie hat es bisher geschafft Melanie erfolgreich aus dem Weg zu gehen. Mit der Zeit hat sie gelernt unsichtbar zu werden. So lange sie alle ignoriert, ist meistens alles gut.
Meistens, nicht immer! Heute scheint es nicht zu klappen. »So du fette Kuh, dann sieh mal zu, wie du deinen Stift bekommst,« sagt Thomas und grinst sie dabei diabolisch an. Sie überlegt, ob es der Stift wert ist. Es ist ihr Lieblingsstift und ein wenig so etwas, wie ihr »Glücksstift«. Sie hat kaum Freunde an der Schule. Seit ihrem Unfall vor zwei Jahren, will keiner mehr mit ihr etwas zu tun haben. Sie ist die »Abnormale«, die Schülerin, mit der man eben nicht gesehen werden will.
Diesen Stift hatte ihr ihre Freundin geschenkt. Die Einzige in der Klasse, die ihr geblieben ist, nachdem ihre Freundin Alissa die Schule wechseln musste. Das Schreibutensil bedeutet ihr viel. Dieses gibt ihr Kraft und macht ihr Mut. Sie wägt ihre Chancen ab.
Melanie ist gerade nicht am Tisch. Es könnte also gut funktionieren. Sie überlegt, den Stift schnell vom Tisch zu nehmen und wieder an ihrem Platz zu sitzen. Das müsste klappen, die Pause geht noch drei Minuten. Sie riskiert es. Blitzschnell steht sie auf. Sie spürt ihren Atem, spürt ihr Herz wie wild klopfen. Sie geht zur Tür, steht vor dem Tisch an der die Person sitzt, vor der sie die größte Angst hat. Sie denkt nichts mehr. Sie hält den Atem an. Sie nimmt den Stift, dann spürt sie einen Schmerz in ihrer Hüfte. Das Nächste was sie bemerkt ist, wie sie an den Haaren gezogen wird. Melanie ist zurück. Hält sie an den Haaren fest, presst ihr ihren angebissenen Apfel fest an ihre Wange. Sie spürt einen starken Schmerz an ihrer Hüfte. Die Hüfte, die operiert wurde. Als nächstes liegt sie auf dem Boden, kann sich nicht mehr rühren. Sie will nichts mehr hören, blendet alles aus. Denkt nur noch an den glücklichen Moment, der erst 3 Monate her ist. Der Tag, an dem sie endlich ohne Gehhilfen in die Schule kam. Sollte es wieder von vorne los gehen? Wieder OPs, wieder eine Schiene, wieder Gehhilfen? Sie betete, dass dies alles nicht wirklich passiert ist. Dann holt sie die Wirklichkeit ein: Sie liegt im Krankenhaus.
Sie sieht die Ärzte über sich, die etwas von Notoperation reden und sie will eigentlich aufstehen und gehen, aber sie merkt, ihr Bein tut weh. Sie weint. Sie ist verzweifelt, dann fängt sie an zu schreien. So laut, dass eine Schwester sie festhält und ihr etwas spritzt. Danach schläft sie ein und erwacht erst wieder, als die Operation vorbei ist. Dann starrt sie zur Decke und fragt sich, wann dieser Albtraum endlich vorbei ist. Wann sie endlich die Schule wechseln darf. Vielleicht haben ihre Eltern ja jetzt endlich ein Einsehen mit ihr.
Lisa, kommst du bitte in mein Büro?«
Lisa hörte ihren Chef über den Flur rufen. Das tat er gerne, auch wenn er damit allen auf die Nerven ging. Sie arbeitet im Kundenvertrieb und gerade wenn man einen Kunden am Telefon beriet, war es einfach nur störend, wenn da laute Geräusche über den Flur hallten. Er muss gesehen haben, dass sie gerade aufgelegt hatte. Schnell notierte sie im System den Verlauf des Gesprächs. Herr Wieland würde wieder anrufen und bestellen, dessen war sie sich sicher. Aber natürlich gehörte es auch zum Spiel zwischen dem Kunden und dem Vertrieb, erst einmal unentschlossen zu tun. Mit einem letzten Klick speicherte sie den Verlauf, dann stand sie langsam auf, während Karl ein zweites mal laut ihren Namen über den Flur rief. Ihr Büro lag am anderen Ende des Ganges. Karl musste immer besonders laut rufen, damit sie ihn hörte. Sie kam am Büro ihres Lieblingskollegen vorbei. Mario steckte bereits den Kopf aus seinem Büro und grinste breit: »Viel Erfolg! Gleich Kaffee, wie immer?«
Lisa sah in seine strahlenden blauen Augen und ihr Herz machte einen Hüpfer bei seinem Anblick. Sie lächelte und zwinkerte ihm zu: »Stark, heiß und flüssig, wie immer.«
Er grinste noch breiter, zeigte beide Daumen nach oben und schaute ihr hinterher. Lisa und Mario waren Kollegen, aber ein Flirt zwischen beiden gehörte einfach dazu, auch wenn sie privat auf Distanz blieben. Nicht das Mario nicht Lisas Typ war. Er war wunderbar. Groß, sportlich, hatte blaue Augen und braune Haare und er hatte Lisa direkt am ersten Tag gefallen. Lisa hätte nichts dagegen auch privat mehr mit Mario zu unternehmen, aber seine Freundin hätte dies sicher und ihr Mann garantiert auch. Doch ihren Mann sah sie nur noch selten. Die beiden hatten sich, nach einigen gescheiterten Versuchen ein Kind zu bekommen, einfach auseinander gelebt. Seitdem verbrachten beide lieber mehr Zeit im Büro oder mit Freunden, als miteinander. Lisa wollte einfach noch nicht den Schritt der Trennung gehen. Sie wollte sich damit nicht beschäftigen. Und fremdgehen? Auf gar keinen Fall. Ein kleiner Flirt war in Ordnung. Sie fühlte sich gut damit. Es stärkte einfach ein wenig ihr Selbstvertrauen. Es gab ihr das Gefühl attraktiv zu sein und wieder begehrenswert. Ihr Mann hatte sie schon lange nicht mehr so angesehen wie Mario. Dabei musste sie sich um ihr Aussehen keine Sorgen machen. Sie selber hatte hart trainiert für ihre Figur. Sie war schlank und muskulös, hatte aber auch viele weibliche Rundungen. Sie mochte sich und ihren Körper. Sie wusste, sie sah mal anders aus und so wollte sie nie wieder aussehen. Ihr war es wichtig etwas für ihren Körper zu tun und sie genoss es, wenn sie die Anerkennung von anderen dafür bekam.
Als Lisa vor dem Büro ihres Chefs stand erwartete er sie bereits. Er stand an der Tür und schien den Flirt zwischen Mario und ihr beobachtet zu haben. Er schaute etwas mürrisch drein. Sie schob es darauf, dass sie mit Mario diesen offenen Flirt hatte. Vermutlich hieß er Beziehungen zwischen Kollegen nicht gut. Gesprochen hatten sie darüber noch nie. Aber sie erinnerte sich an eine Situation zwischen ihr und Karl. Eine unangenehme Situation. Sie wurde leicht rot bei diesem Gedanken.
War ja klar, dachte sie. Diese Momente mitzubekommen, dafür hatte er ein Händchen. So wie damals, auf der letzten Wiesn. Eigentlich war es ihr peinlich, denn Lisa war gut in ihrem Job und wollte als professionelle Vertriebskraft wahrgenommen werden. Ihr Chef hatte doch erst vor Kurzem verkündet, dass er einen neuen Stellvertreter für sich suche, da sein ursprünglicher Stellvertreter bereits in acht Wochen das Unternehmen verlassen würde. Im Vertrauen hatte er ihr erklärt, dass sie für diese Position perfekt geeignet schien und er sich überlege, ihr diese Aufgabe anzubieten. Sie stand aber in Konkurrenz zu Robert. Robert war ein deutlich älterer Kollege, der aber auch länger in der Firma war. Trotzdem hatte Lisa keine Zweifel, dass ihre Chancen gut standen. Sie hatte ein gutes Verhältnis zu Karl. Er mochte sie und nach dieser Geschichte, letztes Jahr auf der Wiesn, waren sich die Beiden noch vertrauter und Lisa war sich sicher, sie würde die Stelle bekommen. Robert war gut, hatte viele Fachkenntnisse und war zuverlässig. Er hatte sie damals vor fünf Jahren eingearbeitet. Vielleicht war das der Grund, warum sie heute so hart und zielstrebig in ihrem Job war. Robert arbeitete anders als Lisa. Er hatte ihr direkt am ersten Tag klar gemacht, dass für Emotionen im telefonischen Vertrieb kein Platz ist und man höflich, distanziert aber auch knallhart verhandeln müsse. Er hatte super Zahlen, war perfekt organisiert und immer der Beste am Ende eines jeden Monats. Bis sie kam. Sie arbeitete hart, aber mit Emotionen und es dauerte nicht lange, bis viele der Kunden nur noch zu ihr wollten, was natürlich nicht immer ging, weil die Kunden den Sachbearbeitern zugeordnet waren. Aber es ehrte sie, dass sie so beliebt war und viele Kunden es schätzten, mit ihr zu reden. Vor allem wenn sie mal in Vertretung die Kunden der Kollegen übernahm. Seit einiger Zeit nun lieferten sich Monat für Monat Robert und Lisa einen harten Kampf um den ersten Platz in der Statistik. Und meistens gewann Lisa. Karl riss Lisa aus ihren Gedanken.
»Setz dich, bitte.« Ihr Chef zeigte auf einen Stuhl. Als amerikanisches Unternehmen gehörte es dazu, dass sich alle mit Vornamen anredeten. Lisa war nervös. Sie war der festen Überzeugung, die Entscheidung über die Stellvertretung sei gefallen. Heute hatte er sie zu sich gerufen um es ihr zu verkünden. Und obwohl sie es wusste, war da dieses komische Gefühl. Warum schloss er nicht die Tür? Das Gespräch sollte doch vertraulich sein, oder etwa nicht? Sie lächelte und versuchte sich ihre Nervosität nicht anmerken zu lassen. Sie setzte sich, schlug die Beine übereinander und wartete. Er positionierte sich ihr schräg gegenüber, nahm eine Mappe von der Seite und kam direkt auf den Punkt.
»Das ist eine Bewerbungsmappe.« Karl machte eine kurze Pause und schaute Lisa dabei in die Augen, als erwarte er eine Reaktion. Sie war überrascht, aber sie ließ es sich nicht anmerken. Dann fuhr er fort: »Wir haben uns dazu entschlossen, in diesem Jahr auszubilden. Ich hatte es nicht groß angekündigt, weil wir uns nicht sicher waren, ob wir geeignete Auszubildende finden werden. Du weißt wie das ist heutzutage. Die guten Abiturienten wollen alle studieren oder man muss als Firma schon etwas zu bieten haben um gute und lernwillige junge Menschen anzulocken.« Er räusperte sich und versuchte zu lachen. Lisa fragte sich, ob er es lustig fand, was er sagte, oder ob es ihm unangenehm war, weil er wusste, dass Lisa auf etwas anderes hoffte. Doch sie zeigte noch immer keine Reaktion und wartete darauf, dass Karl weiter redete.
»Auf jeden Fall haben wir doch einige Zuschriften bekommen und dies ist die Kandidatin auf die unsere Wahl gefallen ist.« Er schlug die Mappe auf und auf einem Deckblatt sah man das Bild einer jungen Frau. Sie hatte mittellange, blonde Haare, strahlende blaue Augen und sie schaute selbstsicher in die Kamera. Unter dem Bild stand ihr Name: Celine Maurer und der Hinweis, dass es sich bei der Mappe um eine Bewerbung als Auszubildende zur Bürokauffrau handelte. »Frau Maurer ist 18 Jahre alt und hat nach zwei Jahren Oberstufe das Gymnasium abgebrochen, aber dafür mit besten Noten. Sie hat uns im Vorstellungsgespräch sehr überzeugen können. Sie kommt übrigens auch aus Köln. Wie du.« Lisa schmunzelte. Ihr Chef dachte immer noch, sie mag ihre Heimatstadt. Sie hatte gute Gründe diese vor Jahren zu verlassen. Lisa hatte nicht lange gezögert als ihr Mann ein Jobangebot in München bekam und sie ging sofort mit. Es dauerte nicht lange, bis sie in München erst einmal bei einem kleinen Unternehmen für Entsorgungswirtschaft unterkam, bis sie die Stellung hier annahm, die ihr durch einen Headhunter angeboten wurde. Ihre Firma war der größte Anbieter für Holzpellets. Sie versuchte, sich nie anmerken zu lassen, dass die Erwähnung Kölns sie bedrückte. Offiziell gab sie sich als gesellige Kölnerin, die den heimischen Karneval liebt.
»Ach, wunderbar,« sagte sie daher und lächelte ihr bestes Lächeln. » Endlich eine Leidensgenossin. Was verschlägt sie denn dann nach München?«
»Sie möchte unabhängig werden. Ihre Mutter ist vor kurzem verstorben und die Erinnerung daran hat sie sehr mitgenommen. Einen Vater gibt es leider nicht. Die Eltern haben sich früh getrennt und er wollte wohl keinen Kontakt.«
Lisa war überrascht über soviel Ehrlichkeit. So etwas erzählte man im ersten Vorstellungsgespräch?
»Sie wollte so weit wie möglich in den Süden, sie hat italienische Wurzeln. Ihre Großmutter sei wohl aus Italien, aber auch zu ihr gibt es keinen Kontakt,« fuhr Karl weiter fort. »Frau Maurer schien uns sehr offen und ehrlich zu sein. Das hat mir gefallen. Alles Eigenschaften, die wir benötigen. Sie wird bereits am 1. September bei uns anfangen und als erstes in den Vertrieb gehen. Dem Hauptgeschäft unserer Niederlassung.«
Der deutsche Vertrieb war aber hier in München. Außer dem Vertrieb wurde hier auch die Technik abgewickelt, die dafür zuständig war, dass die Kessel alle einwandfrei funktionierten. Ein besonderer Service ihrer Firma. Auch die Buchhaltung war hier angesiedelt, allerdings machte diese nur einen kleinen Teil der Firma aus. Diese Abteilung benötigte gerade mal drei Mitarbeiter und eine vierte kümmerte sich um die personellen Angelegenheiten nebenbei. Insgesamt hatte der Sitz dreißig Mitarbeiter. Davon zwanzig im Vertrieb. Ihr Chef war der Leiter der Niederlassung und des Vertriebs.
»Karl, worauf läuft das Gespräch hinaus?« Lisa war misstrauisch. Eigentlich hoffte sie immer noch, dass er bald auf die Stellvertretung zu sprechen kam.
»Du wirst Ausbilderin.« Lisa hörte die Worte, aber verstand sie noch nicht. Karl redete weiter: »Ich möchte, dass Du Dich komplett um Celine Maurer kümmerst. Sie wird am Anfang bei Dir im Büro sitzen und …« Lisa unterbrach ihren Vorgesetzten an dieser Stelle, in dem sie die Hand hob. Jetzt hatte sie verstanden. Es ging hier gar nicht um seine Stellvertretung. Wie sollte sie das Gespräch möglichst in eine professionelle Richtung lenken, ohne enttäuscht zu wirken? Sie räusperte sich kurz. »Aber bei mir ist kein Platz. Kevin ist doch bei mir im Büro.« Auch wenn sie froh wäre, wenn er dies nicht war, aber das wollte sie niemals offen zugeben. Immerhin war es auch gut einen Kollegen zu haben, der wenig arbeitete. So bekam sie einfach noch seine Kunden dazu, was zwar mehr Arbeit bedeutete, aber auch eine bessere Quote, um am Ende des Monats wieder einmal ganz oben in der Statistik zu sein.
»Und wenn Frau Maurer jetzt bei mir sitzt, kann ich natürlich auch weniger arbeiten, wie regeln wir dies?«
»Das wäre ein Punkt worüber ich mit Dir auch bald reden will. Es geht um die Sache mit der Stellvertretung.« Ein ungutes Gefühl breitete sich in ihrem Magen aus. »Wie Du weißt, hatte ich Dich vorgeschlagen,« fuhr Karl fort. » Nun, wie soll ich es erklären? Wir, also die Zentrale und ich, haben lange darüber gesprochen. Wir finden Dich ein wenig zu jung für die Stellvertretung der kompletten Niederlassung.« Lisa konnte ihre Enttäuschung nicht verbergen. Ihr Gesicht fühlte sich glühend heiß an. Sie hatte das Gefühl unter ihr würde der Boden zusammenbrechen. Zu jung? Sie war immerhin schon 38. Sie hatte eine ideale Ausbildung. Neben dem Beruf hatte sie Wirtschaftswissenschaften studiert. Sie war eine der Besten an der Fernuniversität gewesen. Sie hatte sich die letzten fünf Jahre hart durchgebissen und neben der vielen Arbeit abends hingesetzt und studiert. Sie mag vielleicht jünger als Robert sein, aber sie hatte die deutlich bessere Ausbildung und gezeigt, dass sie ehrgeizig und belastbar war. Außerdem hatte Karl ihr immer versichert, dass sie die Stelle bekommen würde. Wie oft war sie mit ihm in den letzten Wochen mittags zum Essen gegangen. Er lud sie oft ein, erzählte ihr immer wieder, dass die Gespräche gut liefen und er sich keine bessere Kandidatin wünschen könne. Wie kam auf einmal diese spontane Wendung der Ereignisse? Hatte Karl sie angelogen? Sie hatte doch sonst ein gutes und offenes Verhältnis zu ihm. Warum sollte er sie anlügen?
Karl, dem die Reaktion von Lisa nicht entging, faltete seine Hände zusammen. Ihm war es sichtbar unangenehm was er ihr mitteilen musste. »Lisa hör zu, es tut mir leid. Ich sehe Dir an, dass Du enttäuscht bist, aber bitte verstehe, die Entscheidung darüber habe nicht ich alleine treffen können. Du bist in vielerlei Hinsicht eine geeignete Kandidatin gewesen. Das habe ich Dir immer gesagt. Ich vertraue Dir Lisa und ich hoffe, dass wir unser Verhältnis zueinander dadurch nicht verschlechtern. Ich habe Dich immer wieder in den höchsten Tönen gelobt, auch Deine Zahlen waren perfekt und Deine Arbeitsmoral sowieso. Aber die Zentrale hatte Bedenken, dass die fünf Jahre bei uns einfach noch nicht lange genug seien um diese Verantwortung zu übernehmen.« Er schaute kurz auf und über ihre Schulter hinweg und schien erst jetzt zu bemerken, dass die Tür noch immer offen stand.
»Ich glaube, wir sollten lieber die Tür schließen. Ich hatte nicht vor, Dir das jetzt schon mitzuteilen. Ich wollte Dich eigentlich nur auf die bevorstehenden Aufgaben mit unserer Auszubildenden vorbereiten. Ein Kompromiss, ich weiß. Aber ich finde, Du solltest trotzdem mehr Verantwortung bekommen, auch wenn Du keine Stellvertreterin wirst.«
Ohne das er weiterreden musste stand Lisa auf und schloss die Tür. Mit jedem Schritt den sie machte, hatte sie das Gefühl, ihre Beine würden nachgeben. Sie hoffte immer noch auf ein Missverständnis. Als sie wieder auf dem Stuhl saß schaute sie Karl herausfordernd an. Was hatte sie schon zu verlieren? »Karl, ich verstehe, dass Du diese Entscheidung nicht alleine tragen konntest und die Argumente mögen ja auch alle für sich und auf dem Papier stimmen. Aber Du weißt, ich habe hier angefangen und gleichzeitig studiert. Es war immer ein offenes Geheimnis wo ich beruflich hin will und Du hast mich von Anfang an unterstützt. Als Du mir vor ein paar Wochen mitgeteilt hast, dass Siegfried das Unternehmen verlässt, sah es deutlich so aus, als sei klar, dass ich seine Stelle bekomme. Du bist noch regelmäßiger mit mir zum Essen gegangen. Hast mich immer auf den neusten Stand der Gespräche gebracht, und es war nie die Rede davon, dass ich zu jung bin. Erst letzte Woche hast Du mir versichert, dass Du alle auf deiner Seite hast. Also was ist wirklich das Problem? Ist es wirklich mein Alter, oder doch weil ich eine Frau bin? Oder hast Du vielleicht ein Problem mit mir? Ist es wegen der Sache nach der Wiesn? Ich dachte, das war geklärt. Du fandest es im Nachhinein auch lustig.«
Karl war nicht verwundert. Er wusste, dass Lisa ihre letzte Firma verlassen hatte, nachdem ihr da deutlich gesagt wurde, dass sie als Frau sicher nur Kinder haben will. Ein Thema, bei dem Lisa sehr empfindlich reagierte. Und das aus sehr persönlichen Dingen, die hier niemand wusste, außer Karl. Die beiden hatten ein besonders Verhältnis zueinander. Nach dem letzten Wiesn Besuch waren sie sich deutlich näher gekommen, als es zwischen einer Angestellten und ihrem Chef gut gewesen wäre. Aber am nächsten Morgen hatten sie alles geklärt und vereinbart, dass sie sich gut verstanden, sich sympathisch waren und dies alles ihre Arbeit niemals belasten durfte.
»Lisa, hör zu. Natürlich ist das nicht der Grund. Du weißt, wir haben alles geklärt und ich mag Dich. Aber wir waren uns einig, dass es unsere Arbeit nicht belasten soll, was letztes Jahr passiert ist und daran halte ich mich auch. Es liegt auch nicht daran, dass Du eine Frau bist und die Firma denkt, Du könntest noch Kinder bekommen wollen. Alles was Du mir erzählt hast, bleibt unter uns und ich habe es nicht weitergegeben. Ich selbst habe immer wieder vor der Zentrale betont, dass das Thema Frau und Kinder keine Rolle spielen darf und ich Dich wirklich als sehr geeignet finde.
Ich weiß, dass du Dich hier sehr angestrengt hast und es tut mir wahnsinnig leid, dass Du noch nicht diese Art der Beförderung bekommst. Aber ich habe eine andere gute Neuigkeit für Dich. Ich werde mich beruflich etwas zurückziehen müssen. Wir haben ein neues Geschäftsmodell entwickelt, welches ich leiten soll. Hierfür wird meine Anwesenheit in den USA öfter erfordert als geplant. Robert könnte sicher alles alleine schaffen, aber wir haben uns gedacht, bei Deinen Qualifikationen, wäre es fair auch Dir mehr Verantwortung zu übergeben. Wir wollen gerne für den Vertrieb eine eigene Leitung. Und dabei haben wir an Dich gedacht.« Lisa schluckte. Ihr wurde langsam klar, was von ihr erwartet wurde. Sie atmete tief durch. »Warte mal, Robert soll also die stellvertretende Leitung der Niederlassung übernehmen und wäre dann sozusagen mein Vorgesetzter, wenn Du in den USA bist und ich leite den Vertrieb? Habe ich dann auch noch meine Kunden?«
»So in etwa haben wir uns das vorgestellt. Ja, Du hast alle achtzehn Vertriebsmitarbeiter unter Dir und Deine Kunden werden neu strukturiert. Du wirst nur noch unsere VIP Kunden betreuen und Dich gleichzeitig um die Ausbildung von Frau Maurer kümmern, die die ersten Wochen bei Dir sitzen und mit Dir zusammen noch an Deinen Kunden arbeiten wird, bis sie dann umgesetzt wird. Wir dachten daran, sie dann zu Mario zu setzen.«
Lisa stutze. Achtzehn Mitarbeiter? Sie waren zur Zeit zwanzig. Wenn sie die Leitung bekäme wären es nur noch neunzehn.
»Karl, warte mal. Ich komme da nicht mehr ganz mit. Wenn ich also die Leitung übernehme und Kevin umgesetzt wird, warum sind wir dann nur noch achtzehn Mitarbeiter? Und was ist mit Susanne, die zur Zeit bei Mario sitzt?«
»Susanne wird zu Kevin gesetzt. Die Beiden übernehmen das Büro von Sandra und Georg. Georg hat sich entschieden, uns zu verlassen. Wir haben beschlossen, die Stelle nicht neu zu besetzen. Wir setzen Susanne und Kevin in das Büro. Sandra wird rüber gehen zu Mario und ihn mit Celine unterstützen. Das Büro ist groß genug für drei Mitarbeiter.«
Lisa überlegte kurz und wusste jetzt schon, dass Susanne nicht begeistert wäre. Niemand wollte mit Kevin zusammen sitzen, der mehr Zeit bei den Kollegen in der Technik verbrachte um dort die neusten Fußballergebnisse durchzugehen, als wirklich zu arbeiten. Ihr machte das nichts aus. Sie arbeitete wirklich gerne und hart. Aber Susanne war da anders. Susanne war seit acht Jahren in der Firma und träumte immer davon, irgendwann eine Stelle in den USA angeboten zu bekommen. Aber sie war auch sehr unauffällig und nicht gerade strebsam. Daher fiel sie weder negativ noch positiv auf. Die Kollegen in den USA nahmen sie überhaupt nicht wahr und Karl hatte wenig von ihr gesprochen bisher.
Sie schwieg, was Karl dazu veranlasste, weiter zu sprechen. »Celine Maurer würde nun also ein paar Wochen bei Dir sitzen und die Grundlagen lernen. Das gibt uns genug Zeit den Umzug der Büros vorzubereiten. Georg verlässt uns bereits Anfang August. Er nimmt noch seine Überstunden. Du kannst Dir das ganze natürlich noch überlegen. Aber ich denke, Du wirst mir zustimmen, dass unser Angebot fair ist. Robert ist nicht mehr der Jüngste und wer weiß, wann er in Rente geht. Dann wäre diese Stelle wieder offen, oder vielleicht sogar meine.« An dieser Stelle lachte er kurz. Lisa lächelte und nickte. Sie war erleichtert, dass es nichts Persönliches war und sie merkte, dass Karl sich wirklich Mühe gab, ihr die Stelle so schmackhaft wie möglich zu machen. »Also gut, ja. Ich brauche nicht zu überlegen. Bereite den neuen Vertrag vor.« Sie zwinkerte. »Aber ich bin immer noch ein bisschen sauer, dass Du mir das so zwischen Tür und Angel sagst. Das kostet Dich mindestens drei Mittagessen.«
»Schön,« fuhr ihr Chef weiter fort. »Und auch einen Kaffee?«
Lisa grinste. War er etwa eifersüchtig auf Mario? »Gerne auch einen Kaffee, wenn Du möchtest. Ich weiß nur nicht, wie ich dann Mario schonend beibringen soll, dass es einen Kaffee weniger mit ihm gibt.«
Karl lächelte. »Tu nichts Verbotenes.« Lisa schaute erschrocken auf. Störte es ihn etwa wirklich, wenn sie mit Mario flirtete? »Ich meinte,« fügte er hinzu, als er ihren Gesichtsausdruck richtig deutete, »rede erst einmal noch mit niemanden darüber. Das Du nur mich magst, weiß ich doch.« Dabei zwinkert er ihr zu. Das die Beiden einen kleinen Flirt miteinander hatten, nach der Geschichte auf der Wiesn war in Ordnung. Es war ihre Art, damit umzugehen, was passiert war. Aber sie wussten, dass es einmalig passiert war und nie wieder vorkommen würde. Karl liebte seine Frau. »Wir haben wie immer am Dienstag unsere Besprechung. Da werde ich es allen verkünden. Der Vertrag ist fertig Lisa. Mir war klar, dass Du annehmen wirst. Ich kenne Dich doch.« Er grinste breit, stand auf, ging zu seinem Schreibtisch und nahm eine Klarsichthülle vom Tisch mit Papieren.
»Hier. Lies Dir zu Hause alles in Ruhe durch und bei Fragen kannst Du morgen gerne zu mir kommen.«
Lisa nahm die Hülle, dann stand sie auf. Sie verabschiedete sich, öffnete die Tür und ging schmunzelnd zu ihrem Büro zurück. Sie hatte zwar nicht die erhoffte Position bekommen, aber sie hatte eine Beförderung, und das war ein Anfang. Als sie am Büro von Mario vorbeikam, steckte dieser schon den Kopf aus dem Büro. »Kaffee, hübsche Frau?« Lisa lächelte noch mehr. Sie liebte seine Komplimente, auch wenn es nur ein Spiel zwischen den beiden war. Sie war zwar nicht glücklich in ihrer Ehe und sie genoss es mit Mario Zeit zu verbringen. Sie wusste viel über ihn und seine Hobbys und er hörte ihr immer zu, wenn sie Sorgen hatte. Auch wenn er nicht alles über ihre Ehe wusste, so teilte sie zumindest viele andere Sorgen mit ihm.
Susanne schaute die beiden misstrauisch an und stöhnte. »Mario, wir haben heute viel zu tun. Ich kann nicht wieder stundenlang Dein Telefon nehmen.« Wie aufs Stichwort klingelte es. Mario zuckte nur mit den Schultern, zeigte mit den Händen, dass er ihr eine Email schreiben würde und ging ans Telefon. Das siegessichere Grinsen von Susanne bekam Lisa schon nicht mehr mit. Und sie fragte sich einmal mehr, was sie bitteschön Böses getan hatte, dass Susanne sie so gar nicht mochte. Außer das sie ihren Kollegen regelmäßig zum Kaffee entführte, fiel ihr nichts ein.
Als sie in ihr Büro kam, war es leer. Kevin war mal wieder irgendwo. Die Telefone waren nicht umgestellt und sie machte sich daran, die Anrufliste abzuarbeiten.
Sie ist im Krankenhaus. Die OP sei gut verlaufen, sagt der Arzt. Die Nägel, die den Hüftknochen in ihrer Pfanne halten sollen, haben eventuell deren Nerven getroffen und zerstört. So genau konnten ihr die Ärzte das leider nicht mitteilen. Es würde sich mit der Zeit zeigen. Aber wahrscheinlich würde sie Schmerzen behalten.
Vor zwei Jahren ist der Knochen das erste Mal verrutscht. Bei einem 100m Lauf. Sie war die Beste, und sie wollte gewinnen. Auf einmal spürte sie den Schmerz. Sie brach zusammen und konnte nicht mehr aufstehen. Man hat die Nägel ersetzt. Sie darf das Bein mal wieder nicht belasten. Und wieder die Sorge, wie ihr Leben verläuft. Sie will doch nur ein ganz normaler Teenager sein! Nun liegt sie im Bett und darf sich nicht bewegen. Sie weint. Es war doch alles gut. Erst diesen Sommer hat sie die Gehhilfen in die Ecke stellen dürfen. Sie musste lange eine Schiene tragen. Diese hinderte sie daran, wie andere Teenager zu sein. Diese doofe Schiene passte nicht über moderne Jeans, sie passte nicht unter einen Rock, und bewegen konnte sie das Bein damit auch nicht. Sie trug spezielle Schuhe. Schuhe, die klobig waren, während ihre Mitschülerinnen angefangen haben, Schuhe mit Absatz zu tragen. Doch diesmal brauchte sie keine Schiene tragen, hatte man ihr erklärt. Eine Sorge weniger! Sie würde normale Klamotten anziehen können, brauchte keine widerlichen Trainingshosen wie beim letzten Mal. Das Einzige, was über diese dicke klobige Schiene ging. Aber sie würde noch eine ganze Weile die Gehhilfen benutzen müssen, erklärte der Arzt, und ihre ohnehin sehr besorgten Eltern hatten zwar genickt, aber sie wusste, was das wirklich bedeutete: Wieder schonen, wieder kein Ausgehen mit Freunden! Wobei, welche Freunde? Sie hatte keine mehr. Ihre einzige Freundin hatte die 8. Klasse nicht geschafft und hat daher auf eine andere Schulform wechseln müssen. Und in ihrer Klasse mochte sie keiner. Sie war die »Komische«. Während in ihrer Klasse die Mädchen erste Bekanntschaften mit Jungs machten, erste Küsse austauschten und miteinander gingen, hockte sie daheim vor ihrem Computer und spielte Legend of Zelda. Ihre einzigen Freundinnen waren Sally, die jedoch auch oft mit Marina zusammen war, die sie nicht ausstehen konnte und Alissa, deren Eltern sehr katholisch waren und ihr deswegen nicht erlaubten, sich mit Jungs zu treffen. Sie besuchten sich regelmäßig gegenseitig und verstanden sich gut. Denn auch sie war eine Außenseiterin. Auch sie wurde dafür ausgelacht, noch keinen Freund zu haben und auch sie sei hässlich und fett. Doch sie waren nicht fett. Sie konnten nur eben nicht mit Jungs ausgehen. Auch wenn die Gründe dafür unterschiedlicher Art waren.
Alissa kam ins Krankenhaus. Noch bevor sie ihre Freundin begrüßen konnte, präsentierte diese ihr stolz einen Büschel Haare. Alissa grinste breit. »Meine neuen Freunde und ich haben dich gerächt. Die sind von Melanie.«
Sie schluckte. Das würde noch mehr Ärger geben, wenn sie aus dem Krankenhaus käme. Aber darüber wollte sie im Moment nicht nachdenken.
Guten Morgen.« Fröhlich betrat Lisa das Büro. Heute war der 1. September. Heute würde sie ganz offiziell ihre neue Rolle als Vertriebsleiterin antreten. Ihre Beförderung war auf großen Zuspruch gestoßen. Alle, außer einer Person befürworteten ihre Beförderung. Susanne schien ihr diesen Erfolg nicht zu gönnen. Heute würde Susanne auch das erste Mal zusammen mit Kevin in einem Büro sitzen. Susanne war so brüskiert über die Entscheidung, dass sie sich bis zuletzt weigerte, mit Kevin zusammen zu arbeiten. Des lieben Friedens willen hatte Karl zugestimmt, dass sie vorerst alleine im Büro bleiben könne. Lisa war zur Einarbeitung für ihre neuen Aufgaben regelmäßig in Karls Büro und so hatte dieser schon früh mitbekommen, dass Kevin nicht ganz gewissenhaft seine Aufgaben erledigte. Aber da dies bald Lisas Problem werden würde, hatte er nicht mehr die Kraft, sich darum zu kümmern. Lisa selbst war viel zu sehr eingespannt mit ihrer Einarbeitung und ihrer bisherigen Tätigkeit, dass sie daran noch gar nicht gedacht hatte, wie sie mit Kevin und seiner Arbeitseinstellung umgehen sollte. Robert jedoch wusste es sehr wohl. Sie hörte ihn schimpfen, als sie an seinem Büro vorbei kam. »Ich würde ihm ja sofort eine Abmahnung für ein solches Verhalten ausstellen und der Technik auch noch. Aber das muss Mohammed selber wissen, wie er seine Jungs führt. Immerhin ist er der Leiter der Technik. Aber das er das duldet, ist für mich ein Unding. Fußball! Allein wenn ich dieses Wort höre. Da tut Kevin so, als sei er selbst täglich für die Verteidigung in seinem Verein zuständig, schafft es aber nicht ordentliche Zahlen zu bringen und Gespräche anzunehmen. Das wird sich ändern, wenn ich hier das Sagen habe.«
»Hast Du ja bald,« lachte Lisa. Doch Robert hörte ihr nicht zu, oder wollte es nicht. Er grummelte weiter unverständliches Zeug vor sich hin. Lisa wusste insgeheim, dass er sich nicht mit Mohammed anlegen würde. Die beiden waren zwar keine Freunde, verbrachten aber doch regelmäßig Zeit miteinander und verstanden sich gut.
Wie jeden Morgen schaute sie erst einmal bei Mario rein. Doch diesmal lächelte dieser nicht wie gewohnt zurück, sondern starrte stur auf den Bildschirm. Sandra, seine neue Büropartnerin saß ihm gegenüber. Susanne war auch da und holte ihre letzten Sachen mürrisch aus dem Büro. Ach, daher weht der Wind, dachte sich Lisa und beschloss, Mario sofort eine Email zu schreiben, sobald sie den PC hochgefahren hatte. Die schlechte Laune von der Kollegin schüchterte wohl alle ein.
Ihr Büro wurde renoviert. Der zweite Schreibtisch stand jetzt ein wenig abseits von ihrem und sie bekam einen kleinen Besprechungstisch in den Raum, der gerade montiert wurde von zwei Kollegen der Technikabteilung. »Ja Servus Hansi und Servus Hubi,« grüßte sie die Kollegen. »So netten Besuch direkt in der Früh. Da kann der Tag ja nur gut werden.« Zu den Kollegen aus der Technik hatte sie immer einen guten Draht, weshalb sie auch nie beleidigt war, wenn diese nicht merkten, dass sie Kevin zu sehr in Beschlag nahmen. Hansi sah als erster auf. »Wir sind hier gleich fertig, dann hast Du das Büro wieder ganz für Dich alleine.«
»Schön wär‹s,« seufzte sie theatralisch. »Heute kommt doch die neue Azubine.«
Hubi pfiff. »Die hab ich heute schon gesehen. Heißer Feger.«
»Ach, sie ist schon da?« Lisa war verwundert. Es war erst halb Neun. Eigentlich sollte die Dame erst um zehn Uhr hier anfangen.
»Nein,« erklärte Hubi, der eigentlich Hubert hieß. »Ich hab heute morgen nur jemanden draußen stehen sehen, als ich um sieben Uhr wie immer aufgesperrt habe und wunderte mich schon. Als ich das Mädchen gefragt habe, ob es vielleicht Hilfe brauche, hat sie mir erklärt, dass sie die neue Auszubildende sei. Sie lief rot an und sagte es sei ihr peinlich, heute so früh hier gesehen zu werden. Sie sei nervös und daher viel zu zeitig los gefahren. Ich wollte sie reinlassen. War ja doch schon ganz schön frisch heute morgen. Sie kam kurz mit. Ich hab ihr dann schon mal gezeigt wo sie später hin muss und dann hat sie sich entschuldigt und meinte, sie würde lieber draußen einen Kakao trinken und in Ruhe frühstücken. Natürlich wollte ich ihr etwas anbieten. So eine Hübsche lässt man nicht sofort gehen, aber sie sagte, es sei ihr zu unangenehm. Sie kommt pünktlich wieder.«
»Ach so, komisch!«
»Ja, fand ich auch, vor allem war es so plötzlich. Sie hatte Deinen Namen noch an der Tür angeschaut, wirkte nachdenklich und dann, auf einmal, sprang sie auf und war weg.«
»Was ist an meinem Namen so komisch?«
»Na, der is net Boarisch.« lachten Hansi und Hubi gleichzeitig. Lisa stimmte ein. »Na nicht wirklich.« Ihr Tag hatte schon gut begonnen. Sie mochte es mit den Kollegen zu spaßen und genoss es, dass die meisten ihrer urbayrischen Kollegen sie ohne wenn und aber akzeptierten, auch wenn es ihr nach all den Jahren immer noch nicht gelang, bayrische Wörter richtig auszusprechen.
Sie ging zu ihrem Schreibtisch, schaltete ihren PC ein, wollte gerade aufstehen und sich einen Kaffee holen, während das Programm hochfuhr, als sie Mario an der Tür fand. Die beiden Techniker waren noch immer mit dem Tisch beschäftigt. Lisa schaute Mario an, lächelte und grüßte: »Guten Morgen, Du. Na, hast Du mich doch vermisst?« Hansi und Hubi wechselten einen vielsagenden Blick, sagten aber nichts und schraubten weiter. »Ähm, ja,« erwiderte Mario. »Ich würde Dich gerne mal sprechen. Alleine!«
Wie aufs Stichwort drehten die zwei anderen Männer den Tisch um und verabschiedeten sich so dezent wie möglich.
»Pfiat‹s euch. Bis später, Lisa.« Mit diesem Gruß waren beide aus der Tür.
Mario trat ein, schloss die Tür hinter sich und setzte sich auf den neu aufgebauten Tisch. »Schön ist‹s geworden.«
»Deswegen wolltest Du mich alleine bei geschlossener Tür sprechen?« Lisa, die noch immer hinter ihrem Schreibtisch stand, verzog das Gesicht.
»Nein, ähm.. ich.« Mario stotterte.
»Nun sag schon, was ist los. Du warst gestern schon so komisch und das Du mich heute morgen mal nicht angelächelt hast, war sehr merkwürdig. Wir sind doch sonst nicht so verklemmt miteinander.« Sie ging um ihren Schreibtisch herum und ein paar Schritte auf ihn zu. Ihre Hände vergrub sie in den Hintertaschen ihrer Jeans. Sie wusste, es brannte Mario etwas auf der Seele und so nervös hatte sie ihn noch nie erlebt. Ihr war es selber ein wenig unangenehm.
»Du ähm, es tut mir leid. Ich meine, wir verstehen uns super. Sehr gut sogar und so. Aber Du bist ja jetzt meine Chefin und ich weiß nicht, ob es da angebracht ist, weiter so zu tun, als wären wir … na ja, als würden wir flirten.« Verlegen schaute er auf seine neuen Turnschuhe.
Sie wusste selber nicht was sie darauf sagen sollte. Er räusperte sich und fuhr dann fort. »Außerdem bin ich wieder Single.« Darauf reagierte Lisa sofort. Sie setzte sich auf einen der Stühle, die noch mitten im Raum standen und eigentlich für den Besprechungstisch gedacht waren. Dann schnaufte sie einmal tief durch, bevor sie fragte: »Wie, wann, warum?«
Mario schaute auf: »Seit gestern. Ich will einfach nicht, dass es zu komischen Gerüchten kommt. Susanne hat sowieso schon immer blöde Sprüche wegen uns gemacht. Von wegen wir würden unsere Partner im Büro betrügen und so. Dabei weißt Du so gut wie ich, dass ich immer offen mit meiner Freundin darüber gesprochen habe. Sie weiß, dass wir uns mögen und uns einfach gut verstehen. Aber na ja, sie hat mich gestern verlassen und ich möchte, dass einfach alles ganz offen geklärt ist. Nicht, dass es zwischen uns und Deiner Position steht. Jetzt, wo ich keine Freundin mehr habe. Ich weiß nicht, wie die Anderen das auffassen, wenn wir weiter so machen, Du weißt schon. Vielleicht ist der Kaffee keine gute Idee mehr? Du weißt wie ich das meine, oder?«
Ja, das wusste sie und sie verstand ihn auch. Sie stand auf, ging auf ihn zu, umarmte ihn und sagte dann leise in sein Ohr: »Danke,« bevor sie zurück trat.
»Ähm, wofür?« fragte er verdutzt.
»Dafür, dass Du mich unterstützt. Wir sind ab jetzt nur noch Kollegen. Aber auf den Kaffee mit Dir nach der Mittagspause verzichte ich nicht, damit das klar ist. Einmal am Tag, das muss sein. Und sei es nur, um Dich in meinem Büro wegen Deiner Zahlen zusammenzustauchen.« Dabei grinste sie frech und wollte gerade noch zu etwas ansetzen, als es klopfte.
»Herein!« rief sie daher und signalisierte Mario mit einem lächelnden Nicken, dass alles in Ordnung ist. Mario schaute sich um. Er sah ein wenig betrübt aus, fand Lisa, aber sie hatte keine Zeit weiter darüber nachzudenken. Robert betrat das Büro und runzelte die Stirn.
»Guten Morgen, Lisa.« Er nickte Mario zu, der sich daraufhin auf den Weg zur Tür machte und das Büro verließ.
Streng schaute Robert Lisa an. »Dir ist klar, dass Euer … wie soll ich es nennen …. geflirte …. Nun ja, es ist in Deiner Position nicht angebracht.«
Lisa verdrehte die Augen. »Das ist mir klar. Genau deswegen war Mario hier. Wir wollen ab jetzt anders miteinander umgehen. Guten Morgen auch. Also warum bist Du eigentlich hier?«
»Lisa damit das klar ist, ich bin Dein Chef, solange Karl abwesend ist. Den schnippischen Tonfall kannst Du Dir daher sparen. Verstanden?«
Lisa lief leicht rot an. Sie hatte sich hinreißen lassen, emotional zu reagieren. Das war nicht ihre Art. Sie mochte Robert zwar nicht, aber ihr war klar, das Robert auch Respekt verdiente in seiner neuen Position. Sie räusperte sich und entschuldigte sich dann: »Ja, ist klar, tut mir leid. Aber Karl ist doch heute da, oder etwa nicht?«
Robert trat einen Schritt weiter auf sie zu und schaute sich dabei um. »Nein, heute nicht. Er hat sich krank gemeldet. Grippe. Daher bin ich hier. Ich werde heute Celine Maurer empfangen und mich um sie kümmern. Sie kommt dann morgen zu Dir.«
Lisa war verwirrt. »Aber das war so nicht geplant. Celine sollte heute Mittag zu mir kommen und bereits mit den ersten Aufgaben beginnen.«
Auf Roberts Gesicht trat eine Überheblichkeit hervor, die sie vorher bei ihm so nie wahrgenommen hatte, bevor er antwortete: »Ich weiß, aber ich habe gerade entschieden, dass Du bestimmt noch gewisse Dinge klären willst. Mit Deinen alten Kollegen, um vielleicht nicht von Anfang an den Eindruck zu erwecken, dass man sich hier den lauen Lenz machen kann. Das sollte unsere neue Azubine natürlich nicht mitbekommen. Und wie ich eben gesehen habe, hast Du noch einiges zu klären. Ich empfange Celine Maurer um zehn Uhr und führe sie herum. Du wirst sie dabei dann kurz kennenlernen und morgen früh wird sie direkt bei Dir anfangen. Bis später.« Er drehte sich um und ging.
Damit ließ er Lisa stehen, die sich mit offenem Mund auf einen der Stühle setzte und für einen ersten Moment sogar vergaß, dass sie eigentlich einen Kaffee holen wollte.
War Robert schon immer so gewesen, oder hatte er diese neue Wesensart angenommen, seitdem er jetzt die Leitung der kompletten Niederlassung in Deutschland inne hatte. Er wirkte auf einmal so herrisch.
Sie schüttelte den Kopf, stand auf, ging noch einmal zu ihrem Schreibtisch und meldete sich an. Während der PC seine Arbeit tat ging sie raus, ohne den Computer zu sperren.
Als Lisa später in ihrem Büro saß und die Zahlen der laufenden Woche bearbeitete, klopfte es am Türrahmen. Ohne eine Antwort ihrerseits abzuwarten trat Robert schon ein mit der Begrüßung: »So und hier sitzt Lisa Oppenheimer. Hallo Lisa. Das ist Celine Maurer. Unsere neue Auszubildende. Ich führe sie gerade herum.«
Lisa stand hastig auf. Sie war so in ihrer Arbeit eingetaucht, sie hatte ganz vergessen, dass sie die Auszubildende heute kennenlernen würde. »Hallo, ich bin Lisa,« begrüßte sie das blonde Mädchen mit den aufgeweckten blauen Augen, die zwar freundlich aussahen, aber auch eine gewisse Kälte ausstrahlten. »Hallo, Celine,« sagte das Mädchen höflich. »Freu mich, Dich kennenzulernen. Robert hat mir eben schon gesagt, dass ich ab morgen bei Dir im Büro sitzen werde.«
Ganz schön aufgeweckt und gar nicht schüchtern, bemerkte Lisa. Aber sie fand das nicht schlimm. Eher im Gegenteil. Celine würde hier gut rein passen und sich sicher schnell einfinden.
»Ja, ich freue mich sehr darauf. Morgen geht es dann richtig los. Komme heute erst einmal richtig an. Es sind ja auch ganz schön viele Namen im Moment, die Du Dir merken musst. Dein Platz ist schon eingerichtet.« Sie zeigte einladend auf den Schreibtisch.
»Danke.« Celine schaute kurz zu ihrem Schreibtisch. Dieser Stand mit einem Abstand von knapp fünf Schritten gegenüber von Lisas. »Ich freue mich auch darauf.«
»Ja wir gehen dann mal weiter,« mischte sich Robert ein. »Celine muss noch zu Mohammed in die Technik, da wird sie heute dann auch kurz reinschnuppern.«
Lisa runzelte die Stirn, sagte aber nichts. Technik? Ist das nicht etwas zu viel für den ersten Tag? Das arme Mädchen wollte Bürokauffrau werden und war noch jung. In einer Abteilung wie der Technik fürchtete sie, dass sie verschreckt werden könnte, bei den ganzen Männern und den ganzen technischen Daten. Und warum sollte Celine an ihrem ersten Tag in die Technik und nicht wie geplant, zu ihr? Sie verstand nicht, was Robert damit bezwecken wollte, aber ihn hier und jetzt vor Celine darauf ansprechen? Das kam überhaupt nicht in Frage, das würde ihn bloßstellen.
»Bis morgen Celine,« sagte sie daher nur und schaute den beiden kurz hinterher. Danach wollte sie weiter an ihren Zahlen arbeiten. Sie merkte jedoch schnell, dass sie abgelenkt war. Das Verhalten von Robert fand sie merkwürdig. Ein kurzer Blick auf die Uhr verriet ihr, dass sowieso gleich Mittagszeit wäre. Sie beschloss, die Mittagspause ein wenig vorzuziehen, griff zum Hörer und wählte die Kurzwahl zu Marios Büro.
Nach nur einem Klingeln hob er ab. Sie ließ ihn erst gar nicht zu Wort kommen. »Hallo, mein Lieblingskollege. Ich wollte Fragen, ob Du ausnahmsweise mit mir Mittagessen gehen willst.«
Sie hörte, wie Mario am Ende der Leitung schwieg. Vermutlich hatte sie ihn überrumpelt. Ja, sie flirteten, sie tranken gemeinsam ihren Kaffee in der Kaffeeküche, aber Mittagessen? Bis auf ein paar gemeinsame Abende auf Firmenfeiern hatten sie sonst nicht viel Zeit miteinander verbracht. Er atmete einmal tief ein, bevor er antwortete:
»Ähm ja, ich muss aber Sandra erst einmal fragen ob es für sie in Ordnung ist.«
Lisa hörte wie er kurz mit der Hand die Sprechmuschel zuhielt und etwas zu Sandra sagte, was sie nicht verstand. Sandras Antwort hörte sie auch nicht, aber er war kurz darauf wieder für sie da. »Ja, wir können eigentlich sofort los. Soll ich Dich abholen?«
Lisa lächelte. »Nein, mein Büro ist am Ende des Flurs, schon vergessen? Ich bin gleich bei Euch.«
Ohne auf eine Antwort zu warten legte sie auf. Sie stand auf. Mit einem Blick nach draußen entschied sie, sich keine Jacke anzuziehen und ging drei Bürotüren weiter. Sie kam kurz am Büro von Susanne vorbei und sah nur aus den Augenwinkeln, dass Kevin wohl wieder mal nicht an seinem Platz saß. Das fand sie im ersten Moment amüsant, doch dann entsann sie sich wieder, dass sie jetzt auch Kevins Vorgesetzte ist. Sie nahm sich vor, Kevin bei nächster Gelegenheit darauf anzusprechen, dass es so nicht weiter gehen konnte. Als sie bei Mario ankam, stand er schon auf und kam auf sie zu. »Können wir?« fragte sie dennoch und winkte Sandra kurz zu, die jedoch in einem Kundengespräch war und ihr deshalb nur zunickte.