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Zwei Männer, die gegensätzlicher nicht sein könnten. Der eine Priester, der andere Staatsanwalt. Der eine links, der andere rechts orientiert. Der eine Atheist, der andere will Glauben für die Gegenwart übersetzen. Zusammen wie Geschwister aufgewachsen, trennen sich ihre Wege radikal, und sie werden zu ideologischen Feinden. Unerbittlich kämpft Matthias für politische Korrektheit, Flüchtlinge und Klima, Robert für Recht und Ordnung. Nach Jahren treffen sie wieder aufeinander. Der eine nun Erzbischof, der andere Justizminister. Der Kampf eskaliert. Unerwartet sehen sie sich inmitten von Intrigen und kriminellen Machenschaften.
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Seitenzahl: 833
Veröffentlichungsjahr: 2025
Zwei Männer, die gegensätzlicher nicht sein könnten. Der eine Priester, der andere Staatsanwalt. Der eine links, der andere rechts orientiert. Der eine Atheist, der andere will Glauben für die Gegenwart übersetzen. Zusammen wie Geschwister aufgewachsen, trennen sich ihre Wege radikal, und sie werden zu ideologischen Feinden. Unerbittlich kämpft Matthias für politische Korrektheit, Flüchtlinge und Klima, Robert für Recht und Ordnung. Nach Jahren treffen sie wieder aufeinander. Der eine nun Erzbischof, der andere Justizminister. Der Kampf eskaliert. Unerwartet sehen sie sich inmitten von Intrigen und kriminellen Machenschaften.
Karl Heinz Auer schrieb mit „Verleumdet und verbannt“ seinen Erstlingsroman. Bevor er sich der Belletristik zuwandte, lehrte er an in- und ausländischen Hochschulen und Universitäten, zuletzt Rechtsethik für Juristen. Seine Kompetenzbereiche in Literatur, Theologie und Rechtswissenschaften führten zu gegenseitigen Horizonterweiterungen. Sein Themenschwerpunkt ist der Mensch im Recht. Staatsanwälte haben ihn eingeladen, über die Herausforderungen von Migration und Radikalisierung zu referieren, Gefängnisseelsorgern erläuterte er das Schuldprinzip im Strafrecht. Er lebt mit seiner Frau in Österreich.
VERLEUMDET UND VERBANNT
Wenn Gesinnung aus Freunden Feinde macht
Ein Roman von Karl Heinz Auer
VERLEUMDET UND VERBANNT
Wenn Gesinnung aus Freunden Feinde macht
Ein Roman von Karl Heinz Auer
Homepage des Autors: kha.at
VOIMA Verlag
Lektorat: Liliane Ritzi
Covergestaltung VOIMA Verlag
Originalausgabe
Alle Rechte vorbehalten.
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E-Book-Erstellung CPI books GmbH
ISBN E-Book 978-3-907442-58-6
ISBN Taschenbuch 978-3-907442-55-5
voima-verlag.ch
Inhaltsverzeichnis
Gemeinsame Wege – getrennte Wege
Rivalen
Karrieren in gespaltener Gesellschaft
Im Zentrum der Macht
Gefeuert
Die Wende
Epilog
GEMEINSAME WEGE – GETRENNTE WEGE
1
Der weitläufige Garten erinnert mehr an einen Schlosspark denn an das Freigelände eines Kindergartens. Alte Buchen und Eichen, die in der warmen Jahreszeit Schatten spenden, wie auch die große Linde in der Mitte, Sträucher, die die Wege säumen, Blumen und ausgedehnte Wiesen. Ein Paradies für Kinder, wogegen sich das Gebäude selbst mit den zweckmäßigen Innenräumen für die Kinderbetreuung eher bescheiden ausnimmt. Ganz anders die nicht weit entfernte Grundschule, ursprünglich Bürgerschule genannt. Im 19.Jahrhundert errichtet, wirkt sie mit ihren Giebeln, den renaissanceartigen Fensterfronten und ihrem monumentalen Eingangsbereich wie ein entfernter Gruß aus dem schottischen Hochland mit seinen Schlössern und royalen Anwesen. Kindergarten und Schule fügen sich harmonisch in diese Kleinstadt mit ihren Lauben und gepflasterten Gässchen, Brunnen und Plätzen ein. Geschäftig und verschlafen gleichermaßen ist die Stadt. Geschäfte und Betriebe florieren, ebenso die zahlreichen Gaststätten. Zum Wohlstand tragen auch die Fabriken bei, darunter eine Brauerei und eine Schokoladenmanufaktur. Traditionen werden großgeschrieben, Musik und Tanz prägen vor allem die Wochenenden, immer wieder auch Konzerte. Kirchen und Klöster laden zur Einkehr ein. Auch zum Mittun, wenn soziale oder caritative Veranstaltungen durchgeführt werden. Manche, die sonst mit Kirche und Religion nichts am Hut haben, besuchen das Innere der Kirchen nur dann, wenn es im Sommer sehr heiß ist und der Aufenthalt drinnen angenehme Kühlung und Ruhe verspricht.
Es ist eine kleine Schar, die im Kindergarten betreut wird. Rund dreißig Buben und Mädchen kommen täglich, außer an Sonn- und Feiertagen, und erkunden vormittags und nachmittags spielerisch ihre Schritte ins Leben, angeleitet von Frauen, die Kinder nennen sie Tante mit dem jeweiligen Vornamen. Sie sind in der Begleitung der Kinder erfahren und haben Freude an ihrer Arbeit, die sie nicht als solche empfinden. Viel Praktisches bringen sie den Kindern bei. Den Kleinen, wie man Schuhe bindet und Maschen macht, die halten. Wie man die Jacke an den richtigen Haken in der Garderobe hängt und sie wieder findet. Oder wie sie sich richtig waschen, wenn es nach dem Spiel im Sandkasten erforderlich war. Den Älteren, wenn sie schon fünf oder sechs Jahre alt sind, öffnen sie die Augen für die Natur um sich herum. Die Unterschiede der Bäume und Pflanzen im Wechsel der Jahreszeiten werden ihnen ebenso geläufig wie die Bräuche und Feste im Lauf des Jahres. Ostern mit dem Suchen der Osterneste, die im frühlingshaften Gelände gezielt versteckt werden. Schwer genug, dass die Kinder wirklich suchen müssen, aber nicht zu schwer, damit sie die Freude am Suchen und mehr noch am Finden nicht verlieren. In den Wochen vor dem Mutter- und Vatertag üben sie sich in Basteleien, die sie dann meist voller Stolz den Eltern schenken. Im Herbst, wenn die Blätter fallen, sammeln sie die schönsten Exemplare, und für den Friedhofsbesuch zu Allerheiligen und Allerseelen bereiten sie unter geübter Anleitung kleine Gestecke, die sie auf die Gräber ihrer Familien legen. Zu Beginn der Adventzeit ist es der Besuch des heiligen Nikolaus, dem sie erwartungsvoll entgegenblicken. Für jedes Kind hält er in der Regel nicht nur lobende oder aufmunternde Worte bereit, sondern auch einen kleinen Jutesack mit Nüssen, Mandarinen und Süßigkeiten. So wird der Ablauf der Zeit durch die Jahreszeiten und das Brauchtum derart geprägt, dass es den Kindern später kein Problem ist, Strukturen zu erkennen und zu schaffen. Streitigkeiten, wie sie auch unter Kindern vorkommen, werden im Tagesablauf des Kindergartens meistens so beigelegt, dass den Beteiligten für spätere Konfliktsituationen Handlungsmuster zur Verfügung stehen, die sich schon bewährt haben. Darauf legen die Tanten ein besonderes Augenmerk. Schon früh soll den Kleinen klar werden, dass es oft besser ist, im aktuellen Streit auf etwas zu verzichten, das einem dann später ganz ungestört zur Verfügung steht. Oder dass nicht unbedingt der gewinnt, der das letzte Wort hat. Es ist die Goldene Regel, die hier vermittelt wird und den Kindern in ihrem weiteren Leben eine wichtige Basis sein kann – den anderen so zu behandeln, wie man auch selbst behandelt werden möchte. Schon viele Generationen haben diesen Kindergarten besucht, und gerne erinnern sie sich als Erwachsene daran, besonders dann, wenn nun ihre Kinder oder Enkelkinder diese Einrichtung gerade besuchen. Auch sie sollen jenes Fundament erhalten, das ihnen in ihrem Leben so nützlich geworden ist. Auch sie sollen die Erfahrung machen können, noch nach vielen Jahren mit den anderen, mit denen sie im Kindergarten waren, freundschaftlich verbunden zu sein. Immer wieder gibt es Freundschaften, ja sogar Ehen, die ihre Wurzeln in dieser gemeinsamen Zeit haben.
Es war ein warmer Spätsommertag, der sich schon am frühen Morgen angekündigt hatte, an dem zwei Kinder fast gleichzeitig zum Kindergarten gebracht wurden. Robert von seiner Mutter, Matthias von der Haushälterin seiner Familie. Beide waren unbekümmert und fröhlich, als sie eintraten. Erst als sie merkten, dass sich ihre vertrauten Begleiterinnen ohne sie wieder auf den Weg nach Hause machten, legte sich ein Schatten auf ihre Gesichter, den Tante Emma, die die Neuzugänge aufgenommen hatte, aber geschickt zu zerstreuen wusste. Da gab es so viel Neues, das ihnen gar keine Zeit ließ, traurig zu werden. Und viele Kinder. Zumindest eines war ihnen schon nicht mehr fremd. Robert für Matthias und Matthias für Robert. Dass dies der Anfang einer Freundschaft werden soll, mit Höhen und Tiefen, mit Gemeinsamkeiten und Gegensätzen, bis hin zu feindseligen Attacken und ideologischen Brüchen, konnten sie nicht ahnen. Jetzt tat es einmal jedem der beiden gut, sich in der neuen Umgebung nicht alleine zu wissen. Matthias, der Blondschopf mit verträumtem Blick, der durch die hellblauen Augen noch verstärkt wurde, und Robert, der dunkle, fast schwarze Locken hatte und braune Augen, die sich schnell bewegten und fast listig wirkten, auf alle Fälle aufgeweckt.
Matthias war das jüngste Kind von vier Geschwistern, drei Buben und einem Mädchen. Der Vater war Tischlermeister und führte einen erfolgreichen Betrieb mit drei Mitarbeitern. Beim Gehen hinkte er etwas. Folge eines Granatenangriffs in Hitlers Russlandfeldzug bei Woronesch, knapp 600Kilometer nordwestlich von Stalingrad, heute Wolgograd. Das war Glück im Unglück, weil von den über 100.000Soldaten, die in Stalingrad kapituliert hatten, nur rund fünf Prozent zurückkamen. Das Kriegstrauma begleitete ihn sein ganzes Leben. Die Mutter war voll in die Tischlerei integriert, sie war zuständig für die Kundenkontakte und erledigte die Buchhaltung und die Bankgeschäfte. Für den Haushalt blieb ihr daher keine Zeit, weswegen sie eine Haushaltshilfe angestellt hatten, die, wie auch einer der Tischler, ein eigenes Zimmer im Haus hatte und sich der Familie zugehörig fühlte. Schon in der Früh drang der Lärm der Werkstatt durch das ganze Haus, ausgenommen an Sonntagen, und der Duft des frisch bearbeiteten Holzes zog alle, die hier ein und aus gingen, in ihren Bann, besonders dann, wenn gerade Zirbenholz verarbeitet wurde. Möbel aller Art wurden hergestellt. Alles in Handarbeit. Das war es vor allem, das die Kunden so schätzten und immer für ein volles Auftragsbuch sorgte. Das große Wohnzimmer im ersten Stock über den Werkstätten war in einen Wohn- und einen Essbereich aufgeteilt. Dieser war von einem massiven Holztisch dominiert, an dem bis zu zwölf Personen gleichzeitig Platz nehmen konnten. Das tägliche Mittagessen war ein festes Ritual, an dem nicht nur die Eltern mit ihren vier Kindern, sondern auch die Gehilfen der Tischlerei teilnahmen. Das Tischgebet vor und nach dem Essen war fester Bestandteil davon. Sonntags war der Mittagstisch der Familie vorbehalten. Wie auch der Wohnbereich mit seinen gemütlichen Möbeln, der in der Regel erst abends benutzt wurde, wenn die Maschinen abgeschaltet und die Werkstatträume gereinigt waren. Das Schlafzimmer teilte Matthias mit seinen beiden Brüdern, die schon deutlich älter waren, der eine sieben, der andere zehn Jahre älter als er. Trotz des Altersunterschieds fühlte er sich als einer von ihnen, und abgesehen von ein paar Situationen, in denen sie ihm zeigten, dass sie die stärkeren waren, ließen sie Matthias den Altersunterschied nie so spüren, dass es für ihn unangenehm gewesen wäre. Dass er jetzt in den Kindergarten ging, war ihnen und besonders auch der Schwester, die als älteste am häufigsten auf den Kleinen aufpassen musste, recht, hatten sie doch nun mehr Zeit für ihre gleichaltrigen Freunde.
Robert machte einen vergnügten Eindruck, als seine Mutter ihn am späten Nachmittag des ersten Tages im Kindergarten wieder abholte. Das beruhigte sie, weil er ein Einzelkind ist und sie sich nicht sicher war, ob und wie er sich in die Gemeinschaft mehrerer Kinder einfügen wird. Roberts Vater war Rechtsanwalt mit einem genau geregelten Tagesablauf. Die Kanzlei, in der noch ein Juniorpartner und eine Konzipientin mitarbeiteten, wie auch zwei Sekretärinnen und eine Kanzleileiterin, zwei- bis dreimal in der Woche auch Roberts Mutter, befand sich in zentraler Lage unter den Lauben. Pünktlich um acht Uhr morgens wurde geöffnet. Termine, auch Gerichtsverfahren, waren hauptsächlich vormittags angesetzt, der Nachmittag war in der Regel dem Studium der Fälle und der Abfassung von Verträgen und Schriftsätzen vorbehalten. Täglich um 17Uhr fand die aktuelle Lagebesprechung mit Erörterung der zu lösenden Probleme und der weiteren Vorgangsweise statt, an der nicht nur Roberts Vater mit dem Juniorpartner und der Konzipientin teilnahmen, sondern auch die Kanzleileiterin. Danach war eigentlich Feierabend, aber immer wieder kam es vor, dass auch abends und in der Nacht weitergearbeitet wurde, wenn es die Situation erforderte.
Das Haus, in dem der Advokat mit seiner Familie wohnte, lag am Stadtrand, in dem das Grün und die Ruhe der Landschaft dominierten und den städtischen Charakter zurückdrängten. Es war eine Villa, die in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts gebaut wurde und ein fast herrschaftliches Flair verströmte. Immer wieder instandgehalten und auf den aktuellen technischen Stand gebracht, vermittelte das Gebäude nicht nur einen sauberen, sondern auch einen modernen Eindruck. Für den Garten hatte die Familie eigens einen Gärtner verpflichtet, eine Köchin sorgte an drei Tagen der Woche für das leibliche Wohl, und für den restlichen Haushalt kam eine andere Frau zweimal in der Woche, beide schon seit Jahren. So verblieb Roberts Mutter ausreichend Zeit, um in der Rechtsanwaltskanzlei mitzuhelfen und dennoch den Überblick über den Haushalt zu bewahren. Der zentrale Raum des Hauses war das Wohnzimmer, sowohl was die Lage, die Größe als auch die Bedeutung betrifft. Besucher nahmen den Raum primär als Bibliothek wahr, weil die Bücherregale drei der vier Wände vom Boden bis zur Decke des drei Meter hohen Raumes ausfüllten. Hier schlug jedes bibliophile Herz höher. Kaum ein Bereich, der nicht abgedeckt war. Gesetzestexte, juristische Kommentare und Lehrbücher sowie Loseblattsammlungen befanden sich allesamt in den Räumlichkeiten der Kanzlei im Stadtzentrum. Jene juristische Literatur aber, die Grundsätzliches, Rechtsphilosophisches, Rechtsethisches, Rechthistorisches und das Wesen und die Geschichte der Gerechtigkeit behandelte, war hier untergebracht. Die große Brockhaus-Enzyklopädie hatte hier ebenso ihren festen Platz wie die großen Philosophen von der Antike bis in die Gegenwart, darunter die gesammelten Werke von Immanuel Kant und Friedrich Nietzsche. Aber auch Klassiker zu Fragen der Wirtschaft. Adam Smith, Friedrich Hayek und Ludwig von Mises ebenso wie John M. Keynes. Mit den Erstgenannten war Roberts Vater der Überzeugung, dass sich individuelle Freiheit nur dann entfalten kann, wenn sich der Staat aus den privaten Dingen weitgehend heraushält. Dem Ansatz, dass der Staat in die Konjunktur eingreift oder gar zentral eine Planwirtschaft steuert, konnte er nichts abgewinnen, zumal die praktische Umsetzung dieser Idee immer wieder gescheitert ist. Religionen waren durch deren jeweils heilige Schriften repräsentiert, eine Bibel in lateinischer Sprache, die sogenannte Vulgata, ein Koran und die Bhagavadgita in deutscher Übersetzung. Homers Odyssee und Ilias im griechischen Original, die gesammelten Werke Shakespeares im englischen Original, vor allem aber Werke der deutschsprachigen Literatur vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Aufwändige Atlanten, teure Faksimile-Drucke berühmter Handschriften, Bildbände zur Kultur- und Kunstgeschichte, Sammlungen zur Geschichte Europas und fremder Kulturen. Und nicht zuletzt gesellschaftskritische Werke und gehobene Belletristik. Noch hatte Robert keine Ahnung von dieser Welt der Bücher, aber sie waren ihm so selbstverständlich seine Umwelt wie Matthias das Holz. Das Wohnzimmer war zwar dominiert durch die Bücherregale aus massiver Eiche, aber gemütlich wurde es erst durch die handgeknüpften Perserteppiche, die englische Chesterfield-Sitzgruppe aus dunkelbraunem Leder und die Musikanlage, die den großen Raum in klassische Musik eintauchte, während es Roberts Eltern und fallweise auch deren Gäste genossen, abends einen guten Wein zu trinken und die Mühen des Alltags hinter sich zu lassen.
So unterschiedlich der familiäre Hintergrund von Matthias und Robert auch war, so erstaunlich wenig hat das ihr Verhältnis zueinander im Kindergarten beeinflusst. Beide gingen gerne hin, als sie im sechsten Lebensjahr waren, sogar ohne Begleitung. Für beide brachte der Ablauf des Alltags im Kindergarten mehr Abwechslung, mehr Spiel und Spaß, aber auch mehr Herausforderung, als wenn sie zu Hause geblieben wären. Nicht nur Matthias, auch Robert war voll in die Gemeinschaft der Kinder integriert. Unausgesprochen standen sie zueinander aber näher als zu den anderen. Das wussten die beiden, das wussten aber auch die anderen. Als einmal bei der jährlichen Osternestsuche alle außer Robert ihr Nest gefunden hatten und es den Anschein hatte, dass ein Nest zu wenig versteckt worden ist, war es Matthias, der sich damit nicht abfand und alles daransetzte, dass auch Robert sein Nest bekam. Ein andermal war es Robert, der Matthias zu Hilfe kam, als eines der Kinder mit Matthias einen Streit anfing, ohne dass dieser einen Anlass dafür geboten hätte. So vergingen die Tage und Wochen, oberflächlich betrachtet immer ähnlich. Sah man aber genauer hin, wurde schnell klar, dass die Erfahrungen, die die Kinder hier gemacht hatten, und die Entwicklungen, die sie genommen hatten, zum Fundament ihres weiteren Lebens gehörten.
2
Der beeindruckende Bau strahlt jahrein, jahraus eine stoische Gelassenheit aus. Im Winter, wenn viel Schnee Dach und Giebel bedeckt und Eiszapfen von den Gesimsen hängen, gleichermaßen wie im Sommer, wenn er sich bei glühender Hitze hinter einer flimmernden Aura zu verbergen scheint. Im Frühling, wenn ihn tiefblaue Krokusse und strahlend gelbe Narzissen heiter erscheinen lassen, gleichermaßen wie im Herbst, wenn das bunte Laub an die Farbpalette des Lebens wie an die Vergänglichkeit erinnert. Auch an diesem Septembermorgen, als wieder ein neues Schuljahr begann, ließ sich das Schulgebäude nicht vom Lärm der vielen Kinder, die sich am Platz vor dem großen Eingangstor versammelt hatten, beeindrucken. Die Schüler, die schon ein oder mehr Schuljahre hinter sich hatten, waren die lautesten, hatten sie einander nach den langen Sommerferien doch viel zu erzählen, und sie wussten, dass sie nur gehört werden, wenn sie lauter sind als die anderen. Auch der eine oder andere Streit, der zu Beginn der Ferien noch nicht beigelegt war, flammte sogleich wieder auf und führte zu Gerangel unter ihnen. Als die schrille Schulglocke ertönte, die vielen verhasst war, wenn sie das Ende von Spiel und Spaß ankündigte, die aber mit Freude vernommen wurde, wenn sie umgekehrt die Pause oder das Ende des Unterrichtstages ankündigte, als diese Glocke zum ersten Mal im neuen Schuljahr ertönte, war es schnell vorbei mit Lärm und Zoff. Wie von Geisterhand, auf alle Fälle bestens eingeübt, stellten sich die Schüler an den vorgesehenen Plätzen in Zweierreihen auf, die vom jeweiligen Klassenlehrer überprüft und dann in ihre neue Klasse geführt wurden.
Ganz anders die Kinder, deren Schulzeit heute erst ihren Anfang nehmen soll. Unsicherheit, Neugier und gedämpfte Erwartung lag über den Buben und Mädchen, die auf dem Platz herumstanden und ohne Ausnahme in Begleitung gekommen sind. Wie am ersten Tag im Kindergarten war Matthias wieder mit der Haushälterin und Robert in Begleitung seiner Mutter gekommen. Matthias‘ Eltern hatten wegen der Betriebsamkeit in der Tischlerei keine Zeit dafür, maßen der Schule auch nicht so viel Bedeutung bei, dass sie es für notwendig erachtet hätten. Auch für Roberts Vater war es klar, dass es nicht seine Aufgabe ist, den Sohn zur Schule zu begleiten, zumal auch er sich als beruflich unabkömmlich betrachtete. Die Schule selbst hatte für ihn aber einen hohen Stellenwert, weil ihm die Bedeutung eines guten schulischen Fundaments für den weiteren Bildungsweg bewusst war.
Seit die Kinder ab der zweiten Schulstufe im Schulgebäude waren, ist es auf dem Schulplatz ziemlich ruhig geworden, sodass alle die Stimme des Schulleiters hören konnten, als er die Buben und Mädchen aufforderte, sich nach Aufruf ihres Namens in die richtige Reihe zu begeben. Für die rund fünfzig Kinder waren zwei in etwa gleich große Klassen geplant. Dieser Schritt war auch mit der Trennung von der Begleitperson verbunden, und nicht wenige der Kinder waren deswegen etwas verängstigt. Matthias und Robert hatten ganz andere Sorgen. Werden wir wohl, wie sie es hofften, in die gleiche Klasse kommen?Oder findet die Gemeinsamkeit der Kindergartenjahre jetzt ihr jähes Ende? Matthias war als einer der ersten in der alphabetischen Reihenfolge der Familiennamen schon einer Gruppe zugeordnet worden, während sich Robert, dessen Familienname sich am Ende des Alphabets befindet, noch gedulden musste. Die Spannung war für beide fast unerträglich. Nur zwei Kinder waren noch nicht aufgerufen, eines davon Robert. Die Freude, als Robert schlussendlich dem gleichen Klassenverband wie Matthias zugeteilt wurde, war für beide riesengroß. Mit einem Schlag wandelte sich die Bedrückung der Anspannung in die Erleichterung der Entspannung. Als sie dann zum ersten Mal eine Zweierreihe bilden mussten, waren die beiden in der gleichen Reihe zusammen, wie sie auch im Klassenzimmer gemeinsam in einer der Zweierbänke saßen, gleich vorne in der Mitte. Es fing doch gut an mit der Schule, und so wird es wohl bleiben, knüpften sie unausgesprochen ihre Erwartung daran. Dazu das imposante Schulgebäude, das sich mit den großen Gängen und Klassenräumen deutlich abhob von den Räumlichkeiten des Kindergartens und dem neuen Lebensabschnitt eine größere Bedeutung verlieh. Und noch etwas trug zur positiven Erwartung der beiden bei. Ihre Klassenlehrerin. Jung war sie, kaum älter als Matthias‘ Schwester, und schön.
Der Alltag in der Schule war anders als der Alltag im Kindergarten. War es dort vor allem das Spiel, das den Tag prägte, stand in der Schule das Lernen im Vordergrund. Jeder Schultag begann mit einem Schulgebet am Beginn der ersten Unterrichtsstunde. Dann folgten die Unterrichtsstunden in unterschiedlicher Reihenfolge. Neben Deutsch, Lesen, Schreiben und Rechnen gab es auch Religion, Zeichnen, Singen und Leibesübungen. Außer Religion wurden alle Unterrichtsfächer von der Klassenlehrerin unterrichtet. Betragen und Fleiß wurden eigens benotet. Die Klassenlehrerin verstand es, den Unterricht abwechslungsreich zu gestalten, Neugier und Interessen zu wecken. Im pädagogischen Spannungsfeld von Fördern und Fordern war sie eine wahre Meisterin. Mit gezielt eingesetztem Lob und Tadel förderte sie die Lernfreude, aber auch Eigenschaften wie Ausdauer, Sorgfalt, Genauigkeit und Rücksicht aufeinander. So entstand schon im ersten Schuljahr ein gutes Klassenklima, das geprägt war durch Hilfsbereitschaft und Lernfreude der Kinder. Nicht selten machten sie ihre Hausaufgaben besonders sorgfältig, um ein anerkennendes Wort ihrer jungen, aber, wie sich bald herausgestellt hatte, auch strengen Lehrerin zu bekommen. Als Matthias einmal von ihr wegen eines Fettflecks im Hausübungsheft vor versammelter Klasse kritisiert wurde, schämte er sich. Fortan vermied er es, ein Butterbrot zu essen, während er die Hausübungen machte. Die Eltern waren positiv überrascht, wie schnell ihre Kinder Fortschritte vor allem im Lesen, aber auch in Schreiben und Rechnen machten, und wie kreativ sie waren, als in weiteren Jahren der Grundschule Basteln dazukam. In Bereichen, die zwar nicht direkt der Schule zuzuordnen waren, aber doch zu ihrem Umfeld gehörten, konnten die Schüler Aufgaben mit Verantwortung übernehmen, so zum Beispiel bei Muttertags- oder Adventkonzerten oder bei sportlichen Veranstaltungen.
Die Jahre der Grundschule vergingen schneller als gedacht, und als das Ende des letzten Jahres nahte, stand die Frage nach dem weiteren schulischen Werdegang im Raum. Für Robert hatten schon seine Eltern entschieden, dass er die weiteren Schuljahre im Gymnasium absolviert, vorausgesetzt, er besteht die Aufnahmsprüfung, die für alle obligatorisch war, die das Gymnasium besuchen wollten. Robert wurde nicht eigens gefragt, es regte sich in ihm aber auch kein Widerstand dagegen. Es bahnte sich nur, je mehr das Ende der Grundschule im Raum stand, die Sorge um die Freundschaft mit Matthias an. Er fühlte, dass es deren Ende bedeutet, wenn sich ihre Wege für die weitere schulische Laufbahn trennen. Tatsächlich hing bei Matthias alles in der Luft, wie es schulisch weitergehen soll. Das Gymnasium war für Matthias‘ Vater keine Option, da er davon ausging, dass seine Kinder im eigenen Betrieb arbeiten und diesen weiterführen werden. Matthias‘ Mutter dachte durchaus ähnlich. Mangels Interesses schoben sie die Entscheidung auf die lange Bank. Bis eines Tages Matthias selbst das Thema ansprach und etwas verhalten, so als ob er sich der abschlägigen Antwort sicher ist, sagte: „Robert geht im Herbst aufs Gymnasium“ und nachsetzte, dass er sich das auch für sich vorstellen könne, ohne jedoch zu erwähnen, dass es ihm eigentlich um den Fortbestand der Freundschaft ging. Die Antwort kam wie befürchtet. Ein Tischler brauche doch kein Gymnasium, so der Vater, der den Wunsch des Sohnes fast wie einen Verrat an dem von ihm aufgebauten Tischlereibetrieb betrachtete. Die Mutter stimmte dem zu, war aber doch ob des Wunsches ihres jüngsten Kindes etwas unsicher. Das Gespräch war für alle unbefriedigend. Ein paar Tage später suchte die Mutter das Gespräch mit dem Pfarrer der Stadt, mit dem sie eine gute Gesprächsbasis hatte und der Matthias, der auch Ministrantendienste in der Pfarrkirche versah, gut kannte. Nach einigen Überlegungen und Rückfragen an Matthis‘ Mutter über die familiäre und betriebliche Zukunft sprach sich der Pfarrer für das Gymnasium aus und dachte sich schmunzelnd, vielleicht wird aus dem Ministranten dann sogar noch ein Pfarrer. Die Mutter meldete Matthias jedenfalls zur Aufnahmsprüfung für das Gymnasium an, und erst, als er diese wie auch sein Freund bestanden hatte, unterrichtete sie ihren Mann darüber. Etwas mürrisch, aber doch stimmte er zu, dass sein Jüngster halt den Weg gehen könne, den die bestandene Aufnahmsprüfung nun ermöglichte. Und wenn’s nicht klappt, kommt er sowieso zurück auf den Weg, der in den Familienbetrieb führt, dachte er im Stillen.
3
Es war eine ganz andere Welt, die sich Matthias und Robert im Herbst, wenngleich räumlich nicht allzu weit entfernt, eröffnete. Beide sind diesmal ohne Begleitung zur neuen Schule gekommen, was sie mit ihren knapp elf Jahren ein Gefühl von Selbständigkeit erahnen ließ. Mit ihren Eltern waren sie schon vor den Ferien einmal hier, als sie offiziell eingeschrieben und dem Direktor vorgestellt wurden, der Wert darauflegte, alle Kinder zu kennen, die seine Schule besuchen. Hatte das Gebäude schon bei dieser Gelegenheit einen großen Eindruck auf sie gemacht, zog es sie auch jetzt wieder in seinen Bann. Nicht nur wegen der modernen Architektur, auch die noch unklaren Erwartungen und Befürchtungen im Blick auf die vor ihnen liegenden Jahre im Gymnasium ließen sie mit angespanntem Respekt auf das Schulgebäude blicken. Ein großer Komplex in Form eines Vierkanthofes, die Front bestehend aus einem dreistöckigen Hauptgebäude mit großen lichtdurchfluteten Fenstern, an das die Seitentrakte anschließen, die zu zwei großen Turnsälen führen, die dem Hauptgebäude gegenüberliegen und mit dem Rest der Anlage den begrünten Innenhof umschließen. Das Gymnasium kann auf eine Geschichte von über dreihundert Jahren zurückblicken und war lange in den Räumlichkeiten eines Klosters untergebracht, bis es aus allen Nähten platzte und ein Neubau unumgänglich war. Am äußeren Stadtrand gelegen und damit abseits von der Geschäftigkeit des Stadtlebens war es für alle Schüler erforderlich, einen mehr oder weniger langen Schulweg zum Gymnasium einzuplanen. Vielleicht ein Sinnbild dafür, dass man sich bewegen muss, um Bildung zu erlangen. Oder auch dafür, dass sich betriebliche Hektik und Bildung nicht gut vertragen. Gedanken dieser Art waren Matthias und Robert noch fremd. Sie befanden sich erst einmal in einer Phase des respektvollen Staunens. Und Staunen bezeichneten schon Platon und Aristoteles als Beginn der Philosophie, als Anfang der Liebe zur Weisheit. Was folgt, sind Reflexion und Zweifel. Im geistesgeschichtlichen Ablauf ebenso wie im individuellen Werdegang.
Was sich für die Kinder als erste große Herausforderung des Gymnasiums darstellte, war der Lehrkörper, mit dem sie ab sofort anstelle einer einzelnen Lehrperson konfrontiert waren. Da mussten sie sich im Stundentakt umstellen, hatte doch jedes Mitglied des Lehrkörpers seine Eigenart, seine Methoden und Schwerpunkte. Manche Studienräte waren auch schrullig. Sie waren die ersten, die von den Kindern mit durchaus treffenden Spitznamen bedacht wurden. Matthias und Robert sprachen schon bald den spürbaren Unterschied zwischen der Grundschule und dem Gymnasium an. „Sie geht mir schon ab“, meinte Matthias in fast träumerischer Erinnerung an die Grundschullehrerin, während Robert die Mischung aus mütterlicher Obsorge und Strenge, die sie für ihn ausgestrahlt hatte, nicht vermisste. Sein Blick war in fast analytischer Nüchternheit auf das gerichtet, was nun kommen wird. Vielfältig wie die neuen Gymnasiallehrer waren auch die Unterrichtsfächer, die auf dreißig Unterrichtsstunden in der Woche aufgeteilt waren. Die meisten Stunden entfielen auf Deutsch, Englisch und Mathematik, in deutlich geringerem Umfang standen Religion, Geographie, Biologie, Geschichte, Musik- und bildnerische Erziehung, aber auch Sport im Stundenplan. Die größte Neuerung für die Schüler war Englisch, ihre erste Fremdsprache. Die Lehrerin, die das Fach unterrichtete, wusste genau, wie wichtig ein solides grammatikalisches Fundament für den Erwerb und die Weiterentwicklung der Sprache ist und setzte anspruchsvolle, aber erreichbare Etappenziele. Das spielerische Moment des Unterrichts, wie sie es aus der Grundschule kannten, war jetzt fast gänzlich zurückgedrängt. Und auf der pädagogischen Waage von Fördern und Fordern verlagerte sich das Gewicht langsam, aber spürbar zu letzterem. Für Matthias war die Umstellung schwieriger als für Robert. Dieser konnte sich mit seinen akademisch gebildeten Eltern austauschen, wenn es notwendig war, und er hatte ein eigenes Zimmer, in dem er ungestört seine Hausübungen machen konnte. Ganz zu schweigen von der Hausbibliothek, in der er die Literatur finden konnte, von der in der Schule da und dort die Rede war. Bei Matthias war das anders. Er war das erste Kind der Familie, das ein Gymnasium besuchte. Die Eltern und Geschwister konnten ihm bei den Hausaufgaben kaum helfen, und ein eigenes Zimmer hatte er auch nicht, in das er sich zum Lernen zurückziehen hätte können. Nach gegenseitigen Besuchen wussten die Freunde von den häuslichen Gegebenheiten des anderen. So entwickelte sich in Matthias alsbald der Plan, seinen Vater zu bitten, ihm im geräumigen Dachboden des Hauses ein Lernzimmer einzurichten. Nachdem er ein paarmal darüber geschlafen und sich gute Argumente zurechtgelegt hatte, fasste er seinen Mut zusammen und teilte dem Vater, der wegen eines guten Geschäftsabschlusses gerade bester Laune war, seinen Wunsch mit. Matthias war nicht wenig erstaunt, dass der Vater ohne langes Zögern einwilligte und versprach, das Vorhaben gleich in Angriff zu nehmen. Dass Matthias‘ neuer Bildungsweg auch eine Entfremdung zwischen ihm und seiner Familie hervorbringen wird, konnte jetzt noch keiner ahnen.
Die Wochen waren für die beiden Freunde vor allem mit Schule und Hausübungen ausgefüllt, es blieb aber auch Zeit für Freizeit, Spiel und Spaß. Auch Fußball kam nicht zu kurz, wenn auch viel weniger, als dies bei jenen Schülern der Fall war, die nicht das Gymnasium besuchten. Man sah sie fast immer zusammen. Wo der Blondschopf auftauchte, war der italienisch anmutende Freund mit seinem dunklen Wuschelkopf nicht weit. Es gab aber auch Bereiche, in denen sie unterschiedlichen Interessen folgten. Roberts Interesse war geweckt, wenn es um Berechenbares und Technisches ging. Matthias hingegen hatte mehr einen Blick für das Schöngeistige und Künstlerische. Für ihn war ein Regenbogen nach einem Regenschauer etwas, das sein Herz höherschlagen ließ. Etwas, das Himmel und Erde verbindet. Für Robert war es ein naturwissenschaftliches Phänomen, das Ergebnis einer Brechung des Lichts, wenn die Sonne die Wassertropfen eines abziehenden Regens beleuchtet und Spektralfarben erzeugt. Ein weiterer Bereich, wo sie unterschiedliche Wege gingen, waren Kirche und Religion. Robert sah eine Kirche selten von innen. Zu Weihnachten und zu Ostern. Sonst nur noch, wenn ein besonderer Anlass wie eine Hochzeit oder eine Beerdigung anstand. Matthias hingegen fühlte sich in der Pfarrkirche wohl und hatte einen engen Bezug zum Ablauf des Kirchenjahres mit seinen Festen, den unterschiedlichen liturgischen Farben, den Liedern, je nach Anlass in Dur oder Moll oder ganz ohne Musik. Selbst Ministrant, wurde ihm vom Pfarrer bald auch die Aufgabe zugewiesen, bei der Einschulung neuer Ministranten mitzuhelfen. Die Pfarrkirche war ein moderner Zentralbau mit einer Kuppel und einem vierzig Meter hohen Glockenturm. Vom damaligen Pfarrer in den 1930er Jahren zu einer Zeit großer Arbeitslosigkeit mit Bettelgeldern aus dem In- und Ausland erbaut, um nicht nur neuen Kirchenraum, sondern auch Arbeit zu schaffen, wirkte sie in ihrer Architektur wie eine Vorwegnahme der Liturgiereform des Zweiten Vatikanischen Konzils. Als Matthias eines nachmittags, es war in der Woche nach Ostern, wieder einmal in die mystische Sphäre des imposanten Kirchenraumes eingetaucht war, die das Licht der bunten Kirchenfenster erzeugte, richtete er seinen Blick auf die Wand hinter dem Hochaltar. Da war links der auferstandene Christus zu sehen, jung und vital, in die Höhe strebend und mit klarem Blick. Rechts ein ebenfalls jugendlich wirkender Mann, mit kräftigem Griff die Grabplatte haltend, der Engel. Es war der Blick der Christusfigur, der Matthias in seinen Bann gezogen hat. Er schaut mich an, genau mich, empfand es Matthias fast erschauernd, und ging an verschiedene Stellen in dem großen Kirchenraum. Der Blick folgte ihm unablässig. Er meint mich, verstärkte sich Matthias‘ Empfindung. Natürlich wusste er, dass bei einer Fotografie der Blick des Abgebildeten immer auf den Betrachter gerichtet blieb, wenn er direkt in den Fokus der Kamera geblickt hatte. Das war hier nicht anders, und trotzdem war Matthias von diesem Blick berührt. Er erzählte aber niemandem davon, auch Robert nicht, wollte er doch nicht in Kauf nehmen, als Träumer belächelt zu werden.
Diese unterschiedlichen Interessen taten der Freundschaft keinen Abbruch, zumal die Gemeinsamkeiten deutlich überwogen und sie einander wie Geschwister waren. In Mathematik half Robert Matthias auf die Sprünge, wenn dem etwas unverständlich war. In Bildnerischer Erziehung war es umgekehrt, wenn Matthias Robert Tipps gab, Farben gewagt zu mischen und mit Tricks in der Pinselführung Ergebnisse zu erzielen, die er sonst nie erreicht hätte. In der Grundschule haben sie Kompetenzen im Bereich der Kulturtechniken vermittelt bekommen, jetzt wurden diese in den ersten Jahren des Gymnasiums Schritt für Schritt verfeinert. Jedes Wort ein Treffer war ein Motto ihres Deutschlehrers. Als in der 3. Gymnasialklasse der Fächerkanon mit Latein erweitert wurde, und das gleich mit vier Wochenstunden, ging es vorerst wieder um den Erwerb grundlegender Kompetenzen, um in der Folge lateinische Texte übersetzen und diskutieren zu können. Deklinationen und Konjugationen, Tempus und Modus der Verben ließen ihre Köpfe rauchen. Ein angenehmes Gegengewicht war ihnen der Musikunterricht. Der Musiklehrer war der Leiter eines anerkannten Chores, der über die Landesgrenzen hinweg bekannt war. Dementsprechend lag seine Intention vor allem darin, den Schülern den Zugang zur Welt der Musik, vor allem der klassischen Musik, zu öffnen. Für Robert war manches aufgrund seines familiären Hintergrundes schon bekannt. Im Unterricht wurde der Verständnishorizont für die Werke, die er bislang nur hörte, vertieft und erweitert. Manchmal konnte er sogar seine Eltern mit Hintergrundinformationen überraschen, wenn sie zu Hause eine Sinfonie anhörten, die gerade im Musikunterricht besprochen worden war. Für Matthias eröffnete sich im Musikunterricht eine neue Welt, die er begierig in sich aufsog. Hatte er manchmal gewisse Zweifel gehabt, ob sein Weg ins Gymnasium der richtige war, waren sie wie weggewischt, seit ihm die Musik, die er hier kennenlernte, eine neue Dimension eröffnete. Der erste Tonträger, den Matthias mit seinem Taschengeld erwarb, war Peter Iljitsch Tschaikowskys Konzert in D-Dur für Violine und Orchester, op. 35. Roberts Lieblingsstück war Robert Schumanns Konzert in a-Moll für Klavier und Orchester, op. 54. So unterschiedlich die beiden Konzerte auf den ersten Blick zu sein scheinen, so ähnlich sind sie sich darin, wie sich in beiden Werken die Solisten gegen das Orchester behaupten müssen, ja geradezu gegen dieses ankämpfen, um aber doch immer wieder in einer einzigartigen Harmonie miteinander zu verschmelzen. Matthias und Robert konnten noch nicht wissen, dass diese musikalische Dramaturgie wie ein Abbild ganze Strecken ihrer Lebenswege vorwegnimmt. Tschaikowskys Violinkonzert und Schumanns Klavierkonzert werden ihnen zu vertrauten Wegbegleitern in guten und in schlechten Zeiten.
Als das Ende der achten Schulstufe nahte, zeichnete sich am Horizont eine Weggabelung ab, der vielfach keine besondere Bedeutung beigemessen wurde, die aber für den weiteren Weg entscheidend war. Weil damit das Ende der Schulpflicht erreicht war, verließen einige die Schule, um eine Lehre zu absolvieren und ins Berufsleben einzusteigen. Andere wechselten in eine berufsbildende Schule. Jene, die das Gymnasium weiter besuchen wollten, mussten zwei Entscheidungen treffen. Einerseits, ob sie als dritte obligatorische Fremdsprache Altgriechisch oder Französisch wählen, und anderseits, ob sie den Religions- oder den Ethikunterricht besuchen. Dass Matthias Religion und Robert Ethik wählte, hatte sich schon vorher abgezeichnet. Die Wahl Roberts für Französisch erfolgte ganz pragmatisch, weil er sich dafür mehr Vorteile für den späteren beruflichen Werdegang erwartete. Auch seine Eltern unterstützten ihn mit diesem Argument. Matthias‘ Wahl für Griechisch erfolgte hingegen deswegen, weil er schon mit Latein gute Erfahrungen gemacht hatte und der gleiche Studienrat, den er als Lateinlehrer so schätzte, sie auch in Griechisch unterrichten wird. Vor allem faszinierte ihn die Aussicht, das Neue Testament im Original lesen zu können. Allen Schülern war, egal wie sie entschieden hatten, etwas gemeinsam. Sie waren keine Kinder mehr und scharrten in den Startlöchern für die vor ihnen liegenden Teenagerjahre.
Der Klassenverband ist in der Oberstufe deutlich kleiner geworden, besonders in den Unterrichtsfächern, in denen die Schüler aufgeteilt waren, in Französisch und Griechisch sowie Religion und Ethik, was es aber ermöglichte, sich intensiver mit einem Thema auseinanderzusetzen, als dies in einer großen Klasse möglich gewesen wäre. Die Schüler betrachteten ihre Lehrer nun kritischer, als das in den Jahren davor der Fall gewesen war. Sie hatten einige, denen zuzuhören und von denen zu lernen sie buchstäblich faszinierte. Diese Unterrichtsstunden waren das Salz im Schulalltag. Es gab aber auch negative Erfahrungen und, zumindest aus Schülersicht, Leerlauf. Vor manchen Lehrern fürchteten sie sich, manche waren einfach blass und nicht in der Lage, sich in der Welt der Erinnerungen einen Platz zu sichern. Dafür wirkten jene Lehrer, die durch fachliche und persönliche Kompetenz besonders ausgewiesen waren, wie ein Ferment für die weitere Entwicklung nicht weniger Schüler. Dem Deutschlehrer gelang es anscheinend mühelos, die Schüler bei ihrem aktuellen Sprachniveau abzuholen und Stufe um Stufe in die vielfältige Welt der gehobenen Sprache einzuführen. Ob Stimmungsbild oder Beschreibung, Problemaufsatz, Referat oder literarische Erörterung, Matthias und Robert gelang es unter dieser fachkundigen Führung und durch die Freude am treffenden Ausdruck problemlos, die formalen Vorgaben und die thematische Aufgabenstellung in eine Synthese zu bringen. Die Sprache, so der Deutschlehrer immer wieder, sei die größte Erfindung der Menschheit. An dieser Kreativität Anteil zu vermitteln und dem Sein zur Sprache zu verhelfen oder, wie es der Philosoph Georg Friedlich Wilhelm Hegel formuliert hatte, Welt als sprachlich vermittelte Welt begreifbar zu machen, war sein erklärtes Lehrziel. Er verstand sich auch bestens darauf, die Schüler in die Weiten der literarischen Welt zu führen. Wenn er seine Ausführungen beendete und, im zeitlichen Ablauf immer genau geplant, die Eintragung ins Heft angesagt war, regte sich der Widerstand der Schüler. Sie hätten gerne einfach nur weiter zugehört. In Wolfram von Eschenbachs Parzifal stellte er die Entwicklung vom tumben tor über alle Irrungen und Zweifel bis hin zur saelde, zum höchsten Glück, in einer derart lebendigen Art und Weise vor, dass die Schüler das Gefühl hatten, selbst dabei zu sein. Für Matthias wurde Parzifal zur Metapher des eigenen Werdeganges, nur noch übertroffen von Goethes Faust, dessen von ungestilltem Erkenntnisdrang verursachte Unruhe ihn, mehr noch aber Robert, in hohem Maß beeinflusst hat. Faustische Menschen, die ihre Mitte suchen, waren sie beide. Auch Märchen sahen sie nun in neuem Licht. Begann ein Text mit Es war einmal, wussten sie sogleich, wie er ausging. Das Gute wird belohnt, das Böse wird bestraft. Aber auch die tiefenpsychologische Dimension der Märchen wurde erörtert, sie nahm der Gattung das Unschuldige. Träume, wie sie in Märchen oft vorkamen, waren nicht mehr einfach nur Träume, sondern die via regia, der königliche Weg ins Unbewusste, wie es Freud formuliert hatte. Matthias verglich die Träume in den Märchen mit den Träumen in der Bibel. Ging es in der tiefenpsychologischen Deutung um unterdrückte Wünsche, die sich Gehör verschaffen wollten, waren Träume in der Bibel ein Sprachrohr Gottes. Eines Tages überraschte der Studienrat die Klasse mit der Ankündigung eines Redewettbewerbs, und als sich Matthias und Robert beide entschlossen hatten mitzumachen, sagte er ihnen die volle Unterstützung zu. Dass Matthias über ein Thema referierte, das die positive Rolle der Religion für Jugendliche zum Inhalt hatte, und Robert über Galileo Galilei und die Notwendigkeit der Trennung von Wissenschaft und kirchlicher Einflussnahme, zeigte nicht nur auf, wie unterschiedlich die beiden Freunde in diesem Bereich denken. Die Reden in der großen Aula des Gymnasiums zogen die Zuhörer und die Jury derart in ihren Bann, dass beide ihre Reden beim Landeswettbewerb noch einmal halten durften.
Eine der schillerndsten Figuren im Lehrkörper der Oberstufe war der neue Englischlehrer. Jung, dynamisch, US-Amerikaner, intellektuell, unkonventionell, vor allem unkonventionell. Das war der erste Eindruck für die Klasse, als er die Studienrätin, die den Unterricht in der Unterstufe bestritten hatte, ablöste. Mit Mr.Joe, wie ihn die Schüler mit Spitznamen bald nannten, kam ein Hauch der großen weiten Welt in die Schule. In einer vorher nicht gekannten Dringlichkeit mussten die Schüler jetzt ihre Englischkenntnisse vorantreiben, um mit ihm kommunizieren zu können, zumal sein Deutsch anfangs bescheiden war, und das Englisch der Klasse im Großen und Ganzen noch holprig. Grammatikalisch im Wesentlichen richtig zwar, aber eben nur ein Schulbuchenglisch. Mr.Joe konfrontierte die Schüler mit einem schönen, harmonisch fließenden und modernen Englisch amerikanischer Prägung. Er beschränkte sich nicht nur auf Grammar und Vocabularies, If-Clauses und Irregular Verbs, er brachte sich auch selber als Person ein und prägte, vor allem in höheren Klassen, das philosophische Denken der Teenager. Einmal hatte er die Gitarre dabei, machte die Schüler mit den Liedern von Joan Baez und John Denver bekannt, vermittelte ihnen ein Stück des Lebensgefühls, das hinter diesen Songs steht. Der philosophische Ansatz von Mr.Joe ist für viele zu einem Korrektiv geworden, zu einem Anlass, auch vermeintliche Selbstverständlichkeiten auf ihren Geltungsgrund hin zu befragen. Is love a question of possession? war eine der Fragestellungen, mit der sie sich eine ganze Stunde beschäftigten, nur um einmal den Sinn der Frage und deren Interpretationsmöglichkeiten einzukreisen. Antwort, zumindest eine allgemein gültige, gab es keine. Dass sie durch diese Diskussionen gleichzeitig auch eine anspruchsvolle Konversation übten, war ihnen gar nicht bewusst. Wie dem Deutschlehrer war es auch dem Englischlehrer ein persönliches Anliegen, den Schülern nicht nur eine tragfähige Sprachkompetenz zu vermitteln, sondern sie auch mit der Welt der englischsprachigen Literatur vertraut zu machen. So kam es, dass Matthias und Robert nicht nur beim Redewettbewerb die Zuhörer begeistern konnten, sondern auch als Theaterspieler. Samuel Becketts Waiting for Godot war das Theaterstück, das Mr.Joe ausgesucht hatte und dessen Hauptrollen Matthias und Robert spielen durften. Einerseits, weil sie ein gutes fließendes Englisch sprachen, andererseits, weil sie nach Einschätzung des Englischlehrers den Inhalt glaubwürdig auf die Bühne bringen konnten. Absurdes Theater war Matthias‘ und Roberts Sache eigentlich nicht, aber es ließ sich ohne große Probleme auf einer kleinen Bühne, wiederum in der Aula des Gymnasiums, umsetzen. Die Dialoge waren herausfordernd. Die Landstreicher Estragon und Wladimir warten auf Godot, der nicht kommt, obwohl mehrfach angekündigt. So vertreiben sie sich die Zeit mit Gesprächen. Gewalt, Ausbeutung, der Tod von Millionen von Menschen kommt zur Sprache. Sie entwickeln in ihrem Warten alles Mögliche, um nur der Auseinandersetzung damit zu entgehen. Es ist Estragon, gespielt von Matthias, der zwar Hinweise für eine globale christliche Verantwortung ins Gespräch einbringt, aber Wladimir, dargestellt von Robert, entwickelt Wege, um dem Denken und der Empathie zu entgehen. Das tödliche Warten wird zum Lebenskonzept. Godot kommt nicht. Was Matthias und Robert auf der Bühne nach Becketts Vorgabe überzeugend spielten, fand eine Fortsetzung im persönlichen Bereich. Robert, der auch das französische Original En attendant Godot gelesen hatte, fand, dass der Name Godot, bestehend aus dem englischen God und der französischen Verkleinerungsform -ot, richtig mit Göttchen übersetzt werden müsste. Seine Absenz im Theaterstück wertete er als generelle Absenz Gottes. Atheismus pur. Matthias interpretierte das genau umgekehrt. Die Welt ersticke in ihren Gräueltaten, gäbe es nicht einen Gott, der dann komme, wenn der Mensch zur Verantwortung bereit sei. Die unterschiedliche Akzentsetzung der beiden spiegelte sich auch im Griechisch- und im Französischunterricht wider. Standen bei Matthias Homers Epen Odyssee und Ilias sowie Platons Der Staat und die Schriften des Neuen Testaments auf dem Programm, waren es bei Robert unter anderem Émile Zolas Un mariage d‘amour und J’accuse, ein Text, mit dem er der Dreyfus-Affäre eine entscheidende Wende gegeben und Machtmissbrauch angeprangert hatte. Auch Religions- und Ethikunterricht förderten mit den unterschiedlichen Akzentsetzungen die unterschiedliche Entwicklung der Freunde.
„Was jetzt?“ fragten die Freunde leise, als sie in Anzug und Krawatte und mit dem Reifeprüfungszeugnis in der Hand im Park saßen und ihnen bewusstwurde, dass wieder ein Wendepunkt gekommen ist, der ihnen unerbittlich Entscheidungen abverlangt. Abiturus war jetzt jeder der beiden, sie können, dem lateinischen Verb abire entsprechend, weg- oder abgehen. Haben Hochschulreife erlangt. Alles, was in den vergangenen Jahren war, plötzlich Geschichte? Der Unterricht, die schönen und weniger schönen Erfahrungen, die Kämpfe und Auseinandersetzungen, die Versöhnungen, die Beziehungen zu den Freundinnen, die nie lange hielten, aber bezaubernd und manchmal auch bedrückend waren?
„Was jetzt?“ wiederholte Matthias, ohne eine Antwort zu erwarten. Nach einer Pause, von der keiner sagen konnte, wie lange sie gedauert hat, hörte er Robert sagen „Ich werde Jura studieren. In der Bundeshauptstadt. Mein Vater hat schon alles in die Wege geleitet. Das wird dich nicht überraschen.“ Nein, dachte Matthias, wirklich nicht, und sagte nach einer Weile „Alles andere hätte mich überrascht.“
„Und du, Matthias? Auf welche Kunstakademie wirst du gehen?“ Kunstakademie? dachte Matthias und überlegte die Worte, um dem Freund die Entscheidung mitzuteilen, von der er wusste, dass er sie kalt ablehnen würde.
„Die bildnerische Kunst fasziniert mich. Wenn ich mich als Betrachter eines Bildes von diesem ergreifen lasse, entstehen Schwingungen, die mich im Innersten berühren und mich die Frage nach dem Wesen und Wesensursprung des Menschlichen stellen lassen.“
„Auch das Recht ist eng mit dem Wesen des Menschen verknüpft und klammert die Frage nach dem Wesensursprung des Menschlichen nicht aus. So zumindest habe ich es in einem der Bücher meines Vaters gelesen.“
„Dann kann ich also beruhigt sein, dass aus dir kein Paragrafenreiter wird, der Menschen knechtet und mit weltfremden Normen um sich wirft?“
„Mach dir da einmal keine Sorgen! Wie ich mir ja auch keine um dich mache, wenn du als Künstler die Welt erforschen und beglücken wirst.“
„Es trifft“, so setzte Matthias vorsichtig zu seiner Antwort an, „in hohem Ausmaß zu, dass die bildnerische Kunst, wie ich sie verstehe, um den Menschen kreist. Sie will sein Wesen und seine Erscheinungsformen, sein Denken und Fühlen erhellen. Wahrscheinlich liegt es in der Natur des Menschen begründet, dass er nicht umfassend und abschließend dargelegt werden kann, dass immer Fragen offenbleiben und neue entstehen, dass jede Antwort, auch die der Kunst, nur ein Mosaiksteinchen sein kann.“ Matthias redete sich warm, wie wenn er ein Bild vor sich hätte, das er schon in allen Facetten kennt und nun jemandem erklären muss, für den es neu ist. Aber es war die Entscheidung, die er noch niemandem mitgeteilt hat, auf die seine Erklärungen hinausliefen. „Seit Menschengedenken stellt der Mensch die Frage nach sich selbst, nach seinem Woher, Wohin, Wozu, nach seinem Sinn. Die Kunst kann das nicht beantworten, das Recht auch nicht.“
Nach einer Weile brach Robert das Schweigen und versuchte, den ernsten Ton etwas aufzulockern. „Und die Moral aus der Geschicht?“
„Ich werde Theologie studieren. Und ich möchte Priester werden.“ Hatte Robert gerade noch geglaubt, das Gespräch etwas auflockern zu können, schlug Matthias‘ Ankündigung wie eine Bombe ein, die sein Gesicht und seine Gedanken erstarren ließ. Priester!Katholischer Priester!Hätte es nicht genügt, Theologie zu studieren, was er sowieso nach einiger Zeit gelassen hätte, und etwas Vernünftiges zu tun? Wie kann er sein Leben nur an einen derartigen Aberglauben verschwenden? Weiß er nicht, dass Godot nicht kommt? Dass es ihn gar nicht gibt? Roberts Gedanken überschlugen sich, aber er war zu keinem vernünftigen Satz fähig. Er stand auf und ging, ohne ein weiteres Wort, ohne Matthias eines Blickes zu würdigen. Der saß da und mühte sich, die Tränen zurückzuhalten. Als sich seine Gedanken langsam aus der Starre lösten, musste er sich eingestehen, dass Roberts Reaktion weit heftiger war, als er befürchtet hatte. Hat er seinen Freund, der ihm seit Kindergartentagen wie ein Bruder war, verloren? Wie werden die anderen reagieren? Wie seine Familie? Seine Eltern? Roberts verachtende Reaktion hatte zumindest ein Gutes. Sie konnte wohl nicht übertroffen werden.
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Das monotone Geräusch des Zuges, unterbrochen nur von einem gelegentlich pfeifenden Warnsignal und der sich ändernden Akustik, wenn er durch einen Tunnel oder über eine Brücke rauschte, hatte eine einschläfernde Wirkung. Auf Matthias, der eine über fünfstündige Zugfahrt in die mehrere hundert Kilometer entfernte Universitätsstadt vor sich hatte, wirkte diese Monotonie beruhigend. Er hing ungestört seinen Gedanken nach und spürte deutlich die Zäsur, die mit dieser Fahrt stattfand. Dass seine Heimatstadt nun Teil seiner Geschichte geworden ist. Dass seine Zukunft vor ihm lag. Dass er hierher wohl nur noch in den Ferien, zu Weihnachten oder im Sommer kommen würde. Es war ein Hauch von Wehmut und eine gewisse Erleichterung mit der Erinnerung an den Abend verbunden, als er der Familie von seiner Entscheidung berichtete. Fast hatte er ein schlechtes Gewissen, weil er Robert zuerst informiert hatte und die Familie doch sein ursprüngliches und bergendes Biotop war. Schon deswegen und weil die Familie auch die Kosten seiner Studienzeit tragen würde. Alle saßen sie um den großen Esstisch im ersten Stock, fast etwas förmlich. Matthias konnte sich nur ein zwei Gelegenheiten erinnern, die der Situation vergleichbar waren. Beide Male ging es um den Betrieb der Tischlerei und notwendige Neuerungen, um diesen zu erhalten und zu erweitern, damit die Familie weiterhin ihre Existenzgrundlage hat und auch die Arbeitsplätze für die Gehilfen und die Haushälterin erhalten werden können. Für dieses Zusammentreffen gab der Jüngste unter ihnen den Anlass. Jetzt, mit etwas Abstand, musste Matthias schmunzeln, als er sich die Gesichtsausdrücke in Erinnerung rief, die seine Botschaft auslöste.
„Pfarrer?“ rief sein Vater in einer Mischung aus Überraschung und Zweifel.
„Dir ist schon klar, dass du mit diesem Schritt ein Verlust für die Frauen bist?“ gab die um dreizehn Jahre ältere und zwischenzeitlich verheiratete Schwester zu bedenken und meinte das durchaus ernst, obwohl sie es mit einem gewissen Schalk in den Augen gesagt hatte. Ganz unterschiedlich die beiden Brüder, von denen der eine bedauerte, dass er nicht selber den Weg gehen konnte, den Matthias einschlug, und der ältere abschätzig meinte „Na, wenn du glaubst, dass das etwas für dich ist“. Die Mutter war die Einzige, die sich aufrichtig freute und den Jüngsten herzlich umarmte. Es ist besser gelaufen, als ich erwartet hatte, dachte sich Matthias. Jetzt war er alleine im Zug, ganz bewusst alleine. Es war seine Entscheidung, und er wollte dem Leiter des Priesterseminares nicht in Begleitung der Eltern oder Geschwister gegenübertreten. Er war fast neunzehn und fühlte sich erwachsen. Die Dunkelheit und der plötzliche Wechsel der Geräuschkulisse rissen ihn aus seinen Gedanken, als der Zug wieder einen Tunnel passierte.
Als er am späten Nachmittag in der Universitätsstadt angekommen war, überfiel ihn nun doch ein flaues Gefühl. Es erinnerte ihn an den ersten Tag in der Grundschule und im Gymnasium. Wieder war es das Empfinden von etwas reizvoll Neuem, vom Zauber des Anfangs. Und wie damals wiederholte sich das Staunen, als er den markanten Bau des Priesterseminars betrachtete, der an ein großes Kloster erinnert. Nachdem ihm der Pförtner die massive Eingangstüre geöffnet hatte, befand er sich inmitten einer Halle, die als Stiegenhaus dient, aber alles andere als nur funktionell ist. Die prächtige Treppenhalle, die in der gläsernen Kuppel im Turm endet, dem höchsten Punkt des gesamten Gebäudes, flößte dem Neuankömmling Respekt ein. Noch vor dem Ersten Weltkrieg erbaut und seiner Bestimmung übergeben, überlebte das Gebäude beide Weltkriege und war Heimat für viele Theologen aus aller Welt. Damals wie jetzt war die Hausgemeinschaft international geprägt. Kein Kontinent, aus dem keine Studenten hier waren, die Priester werden wollten oder es schon waren. Aus west- und osteuropäischen Ländern ebenso wie aus den USA und Kanada, aus südamerikanischen Staaten gleichermaßen wie aus afrikanischen, aus Ländern des Fernen Ostens wie aus Australien und Ozeanien. Diese Weltoffenheit war eines der Motive für Matthias, hier einzutreten. Die ganze Welt en miniature. Als Gemeinschaft, die in aller Vielfalt der Kulturen, Sprachen und Anschauungen einen gemeinsamen Weg geht. Die herzliche Art, mit der der Regens Matthias willkommen hieß und ihm nicht nur sein Zimmer zeigte, sondern auch alle anderen wesentlichen Bereiche, vertrieb auf Anhieb jede Unsicherheit, die sich zuvor angebahnt hatte. Diesen freundlichen und wie es schien gütigen Mann in den nächsten Jahren als Chef zu haben, gab Matthias ein Gefühl gelassener Zuversicht.
Der Tagesablauf war genau geregelt. Jeder Tag begann in der Kapelle mit Morgengebet und Eucharistiefeier und endete ebendort mit dem gemeinsamen Abendgebet. Die Essenszeiten waren genau festgelegt, natürlich auch die Lehrveranstaltungen an der Universität. Der Rest, die Einteilung in Studium und Freizeit, oblag den Studenten selbst, und es blieb viel an individuellen Gestaltungsmöglichkeiten übrig. So besuchte Matthias fallweise auch Lehrveranstaltungen an anderen Fakultäten, insbesondere am Institut für deutsche Sprache und Literatur und am Institut für Anglistik und Amerikanistik, um das, was er im Gymnasium gelernt hatte, zu vertiefen. Im Konservatorium der Stadt besuchte er gerne kleinere Konzerte, manchmal auch einen Film in einem der Kinos. Sein Hauptaugenmerk lag aber auf dem Studium. Sein Zimmer war klein, aber zweckgerecht eingerichtet. Gerade richtig, wenn man sich auf das Studium konzentrieren will. Von seinen Zimmernachbarn war einer aus Peru, einer aus Vietnam. Im Zimmer gegenüber war ein Schweizer untergebracht. Wenn Matthias auf die US-amerikanischen Studenten traf, nützte er die Situation regelmäßig, um sein bei Mr.Joe erworbenes Englisch fließend zu halten, da und dort auch zu ergänzen mit Formulierungen, wie man sie nur in der gelebten Sprachpraxis junger Native Speaker erwerben kann. Für Fragen in Studienangelegenheiten gab es eigens einen Studienpräfekten. Für den spirituellen Bereich einen Spiritual. Geistliche Schwestern sorgten in Küche und Refektorium für das leibliche Wohl. Auch die Krankenstation, in Anspruch genommen zumeist in der kalten Jahreszeit, wurde von einer geistlichen Schwester, die zugleich Krankenschwester war, betreut. Matthias fühlte sich wohl in seinem neuen Leben. Auf freundschaftliche Beziehungen wollte er sich aber nicht einlassen. Zu sehr schwelte noch das Trauma der Trennung von Robert unter der Oberfläche.
Die theologische Fakultät ist in der alten Universität untergebracht, die vor über dreihundert Jahren gegründet worden war, nur fünfzehn Gehminuten vom Priesterseminar entfernt. Alle anderen Fakultäten sind in neueren Gebäuden einquartiert, die Mediziner und die Juristen, die Philosophen, Historiker und Sprachwissenschaftler, ebenso die jungen Fakultäten für das Bauingenieurwesen und die Wirtschaftswissenschaften. Die Theologen haben das alte Universitätsgebäude für sich alleine. Es ist ihre eigene Welt. Matthias betrat den großen nüchtern wirkenden Hörsaal, in dem er die erste Vorlesung über Logik mit Sprachphilosophie und Erkenntnistheorie hören sollte, mit einer gewissen Scheu und wähnte sich an der falschen Fakultät, als er mit mathematischen Formeln und Schlüssen konfrontiert wurde. Die anderen Vorlesungen entsprachen mehr seinen Vorstellungen, allen voran Philosophische Anthropologie, die Einführungen in das Alte und Neue Testament und in die Liturgie sowie Grundlagen der Gesellschaftslehre und der Religionswissenschaft. Zwei Fachbereiche erinnerten ihn sogleich an Robert. Einmal die Einführung in das naturwissenschaftliche Denken und dann Metaphysik mit philosophischer Gotteslehre. Da hätte es Stoff in Hülle und Fülle für heiße Diskussionen gegeben. Der Einführung in das Heilsmysterium hätte Robert einiges abgewinnen können, da in dieser Vorlesung, anders als der Titel vermuten lässt, die Zusammenhänge zwischen Christentum und Moderne erörtert wurden, um ein Wissen zu vermitteln, das die Menschen vor enthemmter Barbarei bewahren können soll. Wiederholt dachte Matthias, das hätte Robert hören sollen! Er konnte nicht ahnen, dass ihm das Rüstzeug, das er schon in den Anfängen seines Studiums aufsog, noch sehr nützlich sein wird. In den Gesprächen und Diskussionen mit seinen Kollegen an der Fakultät und im Seminar hatte er es ja mit mehr oder weniger Gleichgesinnten zu tun. Bewähren muss ich mich, das wusste Matthias, in der Auseinandersetzung mit den politisch und religiös Andersdenkenden, mit Agnostikern, Atheisten und Kirchenfeinden. In den höheren Semestern umfassten die Lehrveranstaltungen Vorlesungen, Seminare und Übungen zu Philosophischen Gegenwartsfragen, vor allem aber zu den eigentlichen theologischen Disziplinen Biblische Theologie, Dogmatische und Ökumenische Theologie, Moraltheologie, Kirchengeschichte und Sakramententheologie. Den direkten Bezug zur späteren Berufspraxis stellten vor allem Katechetik und Pastoraltheologie her. Von Semester zu Semester verstärkte sich in Matthias der Eindruck, dass er auf dem richtigen Weg war und Fakultät und Priesterseminar ihn gut auf den Beruf des Priesters vorbereiten. Anders als jene, die einfach schnell in den geistlichen Beruf einsteigen wollten und die Jahre an der Universität als notwendiges Übel betrachteten, anders aber auch als jene, die ausschließlich akademische Interessen verfolgten und den geistlichen Stand als Begleiterscheinung wahrnahmen, waren für Matthias die Lehrveranstaltungen an der Universität als auch das geistliche Leben und die Vorbereitung im Priesterseminar unabdingbar miteinander verbunden. Sein besonderes Interesse galt den Fragen der Moraltheologie, nicht zuletzt deswegen, weil er wusste, dass das die Fragen waren, die den Menschen besonders unter den Nägeln brennen. Neben individualethischen Aspekten im Bereich der persönlichen Moralität setzte er sich primär mit dem großen Thema der sozialen Gerechtigkeit und der Bewahrung der Schöpfung auseinander und verfasste dazu sogar eine Doktorarbeit. Im Priesterseminar war es die konkrete Liturgie, die ihm immer mehr ans Herz gewachsen ist. Sie wurde ihm zu einem Fundament seines täglichen Lebens. Wissenschaft und Spiritualität vermischten sich in Matthias zu einer Synthese. Fromme Sprüche und frommes Getue waren aber seine Sache nicht.
Um der Gefahr einer klerikalen Ghettoisierung zu entgehen, besuchte er regelmäßig das universitäre Sportinstitut mit seinen vielfältigen Möglichkeiten, um den Körper fit zu halten. Beim Schwimmen fühlte er immer wieder die Augen so mancher Studentinnen auf sich gerichtet, was ihm nicht nur seine Wirkung auf Frauen bewusst machte, sondern auch zur Steigerung seines Selbstwertgefühls beitrug. Auch der Besuch von Lehrveranstaltungen an anderen Fakultäten diente ihm dazu, der Gefahr einer ungewollten Abschottung entgegenzuwirken. Dabei machte er nicht nur die Erfahrung, dass die Atmosphäre an den anderen Fakultäten eine gänzlich andere war, vor allem bedingt durch einen anderen Studententypus und den höheren Anteil an Studentinnen, sondern auch, dass es viele Querverbindungen zur Theologie gab. Am Institut für deutsche Sprache und Literatur besuchte er ein Seminar mit dem Titel Endzeit und Weltuntergang in der mittelalterlichen deutschen Literatur und untersuchte Predigttexte zu dieser Thematik, vor allem deren Argumentationsstruktur. Er konnte nicht voraussehen, dass er selber viele Jahre später mit Menschen konfrontiert werden wird, die sich selbst als Die letzte Generation bezeichnen und im Wesentlichen die gleichen Argumente verwenden wie ihre Vorläufer im Mittelalter. Die Methode manipulativer Beeinflussung war ihm schon bewusst geworden, als er in den mittelalterlichen Predigten von den schauderhaften Schrecken las, die den Menschen angedroht wurden, damit sie sich entsprechend den Vorgaben der mittelalterlichen Obrigkeiten verhalten. Das hat sich bis heute nicht verändert, dachte er sich, nur die Protagonisten sind andere geworden. Eine weitere Lehrveranstaltung, durch die sich Matthias Bezüge zur theologischen Fakultät aufdrängten, war Lessings Emilia Galotti. Lessings Trauerspiel thematisiert, wie eine bürgerliche Familie zwischen der eigenen privaten Moral und der skrupellosen höfischen Unmoral zugrunde geht. Es war aber nicht die Moral, die vom Professor und von den Seminarteilnehmern diskutiert wurde, auch nicht das Misstrauen gegenüber Autoritäten, wie es dem Wesen der Aufklärung im 18.Jahrhundert entspräche, sondern ausschließlich der sozialkritische Aspekt, die Anklage gegen den Absolutismus. Die Intention des Autors, einen vernünftigen Umgang mit Religion, Humanität und Toleranz zu finden, fiel unter den Tisch und wurde ganz im Sinne von Karl Marx durch dessen Religionskritik ersetzt. Als Matthias mit engagierten Worten auf diese Themenverfehlung hinwies, gab es zwar bei einigen zustimmendes Kopfnicken, die überwiegende Mehrheit erkannte in der ideologischen Herangehensweise an das Werk aber keinen Fehler. Erfahrungen wie diese waren ihm ein Ansporn, sich noch gewissenhafter dem Studium zu widmen. Die Freizeit im Priesterseminar und die Zeiten des Sports waren für Matthias jener Bereich, in dem er sich abseits von den Mühen des Erkenntnisgewinns und von anstrengenden Auseinandersetzungen einfach nur wohl fühlte.
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Er saß auf dem Beifahrersitz der Limousine und genoss die flotte Fahrt. Bei schönstem Wetter, das der frühe Herbst zu bieten hat, ließ Robert seinen Gedanken freien Lauf und freute sich ehrlich, dass sein Vater es sich diesmal nicht hat nehmen lassen, ihn persönlich in die Hauptstadt zu fahren, wo er an der Fakultät, an der auch zwei der Professoren Freunde seines Vaters waren, studieren wird. Für Robert war die Fahrt etwas Besonderes. Es war die Fahrt in seine Zukunft. Universität, ich komme, hallte es in seinem Inneren, und am liebsten hätte er es so hinausgerufen, wäre da nicht sein nüchterner Vater gewesen, auf den er damit wahrscheinlich lächerlich gewirkt hätte. So blieb er still. In seinem Gesicht spiegelte es sich aber deutlich, dieses von Optimismus und Zuversicht durchtränkte Grundempfinden. Seine Gedanken kehrten an den Tag zurück, als er das Reifeprüfungszeugnis in Händen hielt und den Eltern offiziell seine Entscheidung mitgeteilt hatte, Jura zu studieren. Das hatte sich ja schon länger abgezeichnet und wurde vor allem vom Vater nachdrücklich gefördert, aber an diesem Tag war es offiziell. Mit dem besten Sekt, den sie im Weinkeller hatten, wurde darauf angestoßen. Dass Robert nach seinem Studium die florierende Rechtsanwaltskanzlei übernehmen und fortführen wird, bewegte sich vom erst bloßen Wunsch des Vaters ein Stück mehr in Richtung Wirklichkeit, die sowohl den Vorstellungen der Eltern als auch Roberts entsprach. Schnell war auch die Frage des Studienortes und der Unterkunft geklärt. Die rechtswissenschaftliche Fakultät der größten Universität in der Bundeshauptstadt sollte es sein, an der auch schon Roberts Vater studiert hatte und die einen guten Ruf über die Landesgrenzen hinaus genießt. Was die Unterkunft betraf, komme ein Studentenheim, meinte Roberts Vater, schon deswegen nicht in Frage, weil die Gefahren der Ablenkung vom Studium zu groß seien und es zudem ohnehin kaum eine Möglichkeit gäbe, einen Platz zu bekommen, wenn man nicht sozial bedürftig war. Nach mehreren Telefonaten mit seinen alten Kontakten dauerte es keine drei Wochen, bis alle Möglichkeiten besprochen und notwendigen Fragen geklärt waren, dass auch dieses Problem gelöst war. Robert würde eine Zwei-Zimmer-Wohnung in greifbarer Nähe zur Universität beziehen.
„Wo bist du mit deinen Gedanken?“ fragte Roberts Vater, dem aufgefallen war, dass sein Sohn schon einige Zeit schweigsam war.
„In meiner neuen Unterkunft. Wie sie wohl aussehen wird?“ Und wieder hing jeder der beiden seinen Gedanken nach. Der Vater dankbar und zufrieden, dass er gute Kollegen und Kontakte hatte, die ihm halfen, so konkrete Anliegen wie eine Studentenwohnung rasch lösen zu können. Der Sohn zuversichtlich, dass er erfolgreich sein wird.
Das Gebäude, in dem sich Roberts neue Unterkunft befindet, liegt tatsächlich nur fünf Gehminuten von der juristischen Fakultät entfernt. Der innerstädtische Altbau aus der Gründerzeit strahlt in seiner hellgrauen Farbe mit den Gesimsen und dem Stuck ein besonderes Flair aus, das sich noch verstärkt, wenn man das Innere betritt und den großzügigen Raumzuschnitt wahrnimmt, wie er für Häuser aus der Jahrhundertwende charakteristisch ist. So erging es auch Robert, als er hier ankam. Er war beeindruckt. Ähnlich das Gebäude, in dem die Rechtsfakultät untergebracht ist. Groß, schön, beeindruckend und fast zweihundert Jahre alt. Die weitläufige Architektur mit den repräsentativen Säulen und die Beschriftung Universitas in überdimensionalen goldenen Lettern im Giebel hoch über dem Haupteingang atmen noch den Geist der Monarchie.