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Karen Chance

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Beschreibung

Cassie Palmer ist zurück! Nun muss sich die Seherin der magischen Gemeinde mit den Problemen herumschlagen, die so ein Job mit sich bringt. Nach einer Zeremonie wird ihre Macht sich nämlich erst vollständig entfalten – doch so weit wollen es ihre Feinde am liebsten gar nicht kommen lassen. Sie versuchen, Cassie vorher zu töten, und gehen dabei nicht gerade zimperlich vor: Ein Dämon bemächtigt sich Cassies Körper, und es erfordert all ihre Tricks und die Kräfte ihrer Freunde, allen voran eines gewissen attraktiven Kriegsmagiers Pritkin, um sie aus den Klauen ihres Peinigers zu befreien. Und wenn möglich, bevor der Dämon sie in ihrer eigenen Badewanne ertränkt.

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Entdecke die Welt der Piper Fantasy:

Für meine Lektorin Anne Sowards und ihre überirdische Geduld!

Übersetzung aus dem Amerikanischen

von Andreas Brandhorst

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

1. Auflage 2012

ISBN 978-3-492-96221-6

© Karen Chance 2011 »Hunt the Moon«, Signet, Penguin Group (USA) Inc., New York 2011 Deutschsprachige Ausgabe: © Piper Verlag GmbH, München 2012 Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München Umschlagabbildung: Larry Rostant Datenkonvertierung: CPI – Clausen & Bosse, Leck

Eins

Ich landete auf dem Boden und lief oder stolperte oder fiel. Es ließ sich kaum feststellen, da sich die Erde anfühlte, als gäbe sie unter mir nach. Und dann begriff ich: Die Erde fühlte sich so an, weil sie unter mir nachgab.

»Scheeeiiiße!«

Ich fiel über den Rand einer Klippe in die leere Luft, ruderte mit den Armen und trat mit den Beinen, obwohl das überhaupt nichts nützte, und schrie Zeter und Mordio. Für einen langen Moment gab es nur mich, kristallblauen Himmel und jede Menge funkelndes, schneebedecktes Land viel zu weit unter mir. Ich wusste, dass ich etwas tun sollte, aber der Wind pfiff mir in den Ohren, die Kälte trieb mir Tränen in die Augen, und das weiße Land eilte mir mit einer Geschwindigkeit entgegen, die eine sehr breiige Hellseherin in sehr naher Zukunft versprach …

Und dann wurde ich nach oben gerissen, so schnell, dass es mir den Atem verschlug und mir schwindelig wurde. Oder vielleicht lag es an den festen Armen, die sich um mich schlangen, oder dem noch festeren Körper hinter mir. Oder an dem erleichterten Gedanken: Bin noch nicht tot, noch nicht tot …

Es ist immer wieder erstaunlich.

Ich bin Cassie Palmer und habe dem Tod öfter ein Schnippchen geschlagen, als man erwarten sollte. In den vergangenen beiden Monaten hat man immer wieder versucht, mich zu erschießen, zu erstechen, zu erschlagen und mich in die Luft zu jagen, von den magischen Anschlägen auf mein Leben ganz zu schweigen. Es hätte mich schon vor langer Zeit erwischt, wenn nicht meine Freunde gewesen wären, und einer von ihnen war mir gerade über den Klippenrand nachgesprungen.

Ich wäre ihm dankbar gewesen, wenn nicht er es gewesen wäre, der mich in den Abgrund gestoßen hätte.

Mir lief die Nase, ich konnte kaum etwas sehen, und mein Gehirn war noch immer in namenlosem Entsetzen erstarrt. Deshalb hing ich für einen Moment einfach nur in der Leere, schnappte nach der eiskalten Luft und wartete darauf, dass mein Herz nicht mehr versuchte, mir aus der Brust zu springen. Aus dem Augenwinkel sah ich ein kleines Stück von dem, was uns oben hielt, und es beruhigte mich kaum.

Das Etwas war transparent, bis auf ein schwaches bläuliches Glühen, fast unsichtbar vor dem Hintergrund des blauen Himmels. Oben wölbte es sich wie eine Kuppel, und einige hauchdünne Tentakel reichten nach unten und umgaben uns, wodurch das Ding wie eine Qualle aussah – wenn es Quallen gab, die so groß wie ein Bus wurden und die Angewohnheit hatten, über den Colorado Rockies zu schweben. Die Realität war fast noch seltsamer: Es handelte sich um die Magie eines Mannes, geformt zu einem Fallschirm, dem ich nicht traute.

Andererseits … Dem Mann vertraute ich. Obwohl ich wünschte, dass er mich von vorn gepackt hätte. Dann wäre ich nämlich imstande gewesen, ihm das Knie in die Eier zu rammen.

»Das hast du absichtlich gemacht!«, keuchte ich, als ich wieder atmen konnte.

»Natürlich.«

»Natürlich?« Ich sah auf, musste aber den Hals recken, und das Gesicht über mir war verkehrt herum. Die hellgrünen Augen blieben unverändert, und leider auch das stachelige blonde Haar.

Aus diesem Blickwinkel sah es nicht viel besser aus, fand ich.

»Du musst lernen, auch unter Druck zuverlässig zu reagieren«, teilte er mir mit. »Andernfalls bist du verwundbar.«

Ich versuchte, den Kopf zu drehen und einen finsteren Blick auf den Mann zu richten, aber das klappte nicht besonders gut, wenn man jemanden falsch herum ansah. Was sich meinen Blicken darbot, war vor allem eine muskulöse Schulter in einem grünen Army-Sweatshirt. John Pritkin, gelegentlich ein Freund, manchmal ein Feind und immer eine Nervensäge, trug keinen Mantel. Natürlich nicht.

Die Temperatur lag hier bestimmt unter dem Gefrierpunkt, und ohne all das Adrenalin in meinem Blut wäre ich vermutlich dem Erfrieren nahe gewesen, aber ein Mantel war nicht macho. Und wenn ich eins über Kriegsmagier – gewissermaßen das Äquivalent der Polizei in der übernatürlichen Welt – gelernt hatte, dann das: Sie waren immer macho. Selbst die Frauen. Furchtbar.

Furchtbar war es auch, anderthalb Kilometer über zahlreichen spitzen Bergen in der Luft zu hängen.

»Deine Fähigkeiten nützen dir nichts, wenn du nicht lernst, auch unter Stress einen kühlen Kopf zu bewahren«, fügte Pritkin ruhig hinzu, als wir uns langsam den spitzen Dingern näherten.

»Stress?«, wiederholte ich, und meine Stimme vibrierte ein wenig. »Ein schlechter Tag ist Stress, Pritkin. Stress ist, kurz vor der Bikini-Saison fünf Pfund zuzunehmen. Das hier ist kein Stress!«

»Nenn es, wie du willst; es ändert nichts an der Sache. Denk daran, was wir besprochen haben. Abschätzen: Stell fest, was geschieht. Angehen: Entscheide, welche deiner Fähigkeiten sich am besten dafür eignet, mit dem Problem fertigzuwerden. Und dann Agieren, schnell und voller Entschlossenheit. Du musst lernen, das alles automatisch ablaufen zu lassen, ohne zu erstarren, und ungeachtet der Umstände. Andernfalls könnten sich schlimme Folgen für dich ergeben.«

»Ich versuch’s!«, erwiderte ich verärgert. Es war kaum zwei Monate her, dass man mich von einer anderen Klippe gestoßen hatte, und die Tatsache, dass es eine metaphorische gewesen war, machte es nicht besser. Man hatte mich trotz meines lauten, nachhaltigen Protests zur Pythia erklärt, zur Chefseherin der übernatürlichen Welt.

Manche Leute waren bereit, für diesen Posten zu töten, wie ich am eigenen Leib erfahren hatte. Was mich betraf … Ich hatte den größten Teil jener zwei Monate mit Versuchen verbracht, die mit dem Amt einhergehende Macht abzugeben, nur um dabei festzustellen, dass sie mich nicht verlassen wollte. Nach einigen bitteren Lehren hatte ich mich schließlich damit abgefunden, dass ich das Beste daraus machen musste.

Was dazu führte, dass ich mir den metaphysischen Arsch aufriss, um die lebenslange Ausbildung der anderen Kandidaten wettzumachen. Es wäre hilfreich gewesen, wenn Rambo da oben nicht darauf bestanden hätte, dass ich auch Selbstverteidigung lernen musste. Ich hatte zugegeben, entsprechende Kenntnisse zu benötigen, fürchtete aber, dass ich damit meinem Repertoire an Dingen, mit denen ich nicht zurechtkam, nur eine weitere Sache hinzufügte.

»Gib dir mehr Mühe«, sagte Mr.Ich-habe-überhaupt-kein-Mitleid-mit-dir.

»Hör mal«, sagte ich und versuchte, vernünftig mit ihm zu reden, obwohl ich aus Erfahrung wissen sollte, wie wenig Sinn das hatte. »Das ist kein guter Zeitpunkt. Meine Amtseinführung …«

»Deine Krönung.«

»… steht kurz bevor, und ich versuche, das Niveau meiner Fähigkeit von armselig auf traurig zu heben, damit ich mich nicht vor den Leuten lächerlich mache, die von mir Führung erwarten. Hinzu kommen Anproben für das Kleid, das ich tragen soll, und ich muss mir mindestens tausend Namen merken, und wenn ich jemanden mit dem falschen Titel anspreche, kommt es vielleicht zu einem internationalen Zwischenfall …«

»Ich mach dir einen Vorschlag«, unterbrach mich Pritkin.

»Was für einen?«, fragte ich argwöhnisch. Gemauschel und Kungelei gehörten zu den Wesenszügen von Vampiren, und damit musste ich vor allem von dem anderen Mann in meinem Leben rechnen. Kriegsmagier befahlen, drohten und meckerten, je nach den Umständen. Sie feilschten nicht.

Abgesehen von diesem, wie es schien.

»Wir befinden uns direkt über einem Gebiet, das vom Korps als Übungsgelände benutzt wird«, sagte Pritkin und nannte dabei die offizielle Bezeichnung der Kriegsmagier. »Wenn es dir mithilfe deiner Fähigkeiten gelingt, mir für fünfzehn Minuten zu entwischen, lasse ich dich eine Woche lang in Ruhe. Zeitsprünge sind die einzige Ausnahme.«

Ich schwieg einige Sekunden. Zur Ausstattung meines Amtes gehörten verschiedene Arten des Springens durch Raum und durch Zeit. Für Pritkin sah vielleicht beides gleich aus, aber Sprünge durch den Raum bedeuteten allein Ortsveränderungen; ich blieb dabei in der jeweiligen Zeit. Sein Chef beim Korps, Jonas Marsden, bildete meine neu erworbenen Fähigkeiten aus und hatte mich auf diesen Unterschied hingewiesen.

Wenn Pritkin also nicht ausdrücklich räumliche Sprünge untersagte, konnte ich ihm leicht entgehen und mir auf diese Weise eine Atempause von einer Woche verschaffen. So wie die Dinge in letzter Zeit gelaufen waren, wäre ein bisschen Ruhe herrlich. Aber natürlich durfte ich mir nichts anmerken lassen.

»Wir sind schon einen halben Tag hier draußen«, klagte ich. »Ich bin müde, seit dem Frühstück habe ich nichts mehr gegessen, ich fühle die Zehen kaum noch …«

»Ich biete außerdem ein Picknick an.«

Ich hob den Kopf. »Was?«

»Heute Morgen habe ich einen Korb versteckt. Ich bringe dich zu ihm, wenn wir fertig sind.«

»Inzwischen dürfte alles kalt sein.«

»Ich habe einen Wärmer in den Korb gelegt«, erwiderte Pritkin trocken. Kriegsmagier aßen ihr Brathähnchen auch steinhart gefroren und fanden sogar Gefallen daran.

Gut. Brathähnchen, Kartoffelsalat, gebackene Bohnen, zum Nachtisch vielleicht Apfelkuchen oder Kekse – ja. Ein solches Picknick konnte ich jetzt gut vertragen.

»Na schön«, sagte ich und erklärte mich schneller einverstanden, als es klug war. Aber ich hatte echten Kohldampf. »Keine Zeitreisen.«

»Bist du sicher? Denn wenn ich gewinne …«

»Falls du gewinnst.«

»… bleibst du und bringst die ganze Strecke hinter dich. Ohne zu jammern.«

»Ich jammere nicht!«

»Abgemacht?«

»Meinetwegen«, sagte ich und versuchte, widerstrebend zu klingen.

»Gut«, sagte Pritkin freundlich.

Und dann ließ er mich fallen.

Zwei Stunden später wankte ich in die Hotelsuite in Vegas, die derzeit mein Zuhause war, und sank mit dem Gesicht voran auf die Couch. Dort saß bereits jemand, aber das kümmerte mich nicht. Ich war zu müde, die Lider zu heben und festzustellen, um wen es sich handelte.

Jemand hob eins für mich, mit einem Finger so dick wie ein Hotdog. »Anstrengender Tag?«

Ich drehte das Auge – lieber Himmel, selbst das tat weh – und erkannte den Chef meiner Leibwache. Er sah auf mich herab.

»Nein. Ich mag es, aus Flugzeughöhe ohne Fallschirm in die Tiefe zu stürzen.«

Marco klopfte mir auf den Hintern, woran es vermutlich nichts auszusetzen gab, da ich bäuchlings auf seinem Schoß lag. »Offenbar ist alles in Ordnung mit Ihnen.«

Marco scheint in Hinsicht auf meine Gesundheit immer gleichgültiger zu werden, dachte ich missmutig. Er hatte seinen Job mit der Annahme begonnen, dass ich ebenso empfindlich war wie die meisten Menschen und praktisch einen Herzanfall bekam, wenn ich mir einen Nagel einriss. Nachdem er gesehen hatte, wie ich einige Dutzend Angriffe überlebte, begann er sich zu entspannen. Wenn ich heutzutage nicht mit einer klaffenden Wunde oder Blut spuckend heimkehrte, bekam ich von ihm kaum Mitleid.

»Weil es mir gelang, auf den Boden zu springen, bevor er mich zerschmetterte!«, stieß ich unwirsch hervor.

»Wo liegt dann das Problem?«

Ich drehte mich um, damit ich ihn anstarren konnte. »Das Problem besteht darin, dass ich gerade einen Marathon gelaufen bin, bei Eiseskälte und von einem Verrückten verfolgt.«

»Warum sind Sie nicht einfach …« Marco winkte mit einer Riesenpranke, die gut zu seiner bärigen Statur passte. »… Sie wissen schon. Poff.«

»Springen, meinen Sie?«

»Ja. Warum sind Sie nicht gesprungen?«

»Bin ich ja. Aber Pritkin hatte damit gerechnet und sich Jonas’ Halskette ausgeliehen.«

»Welche Halskette?«

Ich seufzte und setzte mich auf. »Es ist eine Art Zauber, der es ihm gestattet, die Pythia im Notfall zurückzurufen. Wenn ich zu springen versuche, wann und wo auch immer … Die Halskette holt mich zurück.« Was Pritkin natürlich klar gewesen war, als er mir den Deal angeboten hatte.

Himmel, wie sehr ich bedauerte, ihm nicht das Knie in die Weichteile gestoßen zu haben!

Marco schien das alles für komisch zu halten, was meine Stimmung nicht verbesserte. Ich stand auf und torkelte ins nächste Zimmer, noch immer eiskalt und halb verhungert. Denn Pritkins Vorstellung von einem Picknick hatte einiges zu wünschen übrig gelassen.

Im Gegensatz zu meinem Bad. Wie dumm das auch sein mochte, mein Bad stimmte mich froh. Vielleicht lag es an der Größe, die ans Sündhafte grenzte, oder am beruhigenden weißblauen Farbschema oder am riesigen Duschkopf über der godzillagroßen Wanne. Oder es lag daran, dass das Bad der einzige Ort in der ganzen verdammten Suite war, an dem ich wirklich allein sein konnte.

Marco war nicht das Problem. Er hatte mich zuerst wie einen lästigen Plagegeist behandelt, aber im letzten Monat war er dazu übergegangen, so etwas wie eine görenhafte jüngere Schwester in mir zu sehen, und inzwischen mochte ich seine Gesellschaft sogar. Aber Marco war die Spitze des Eisbergs, soweit es meine Leibwächter betraf. Und seit der Bekanntgabe des Datums meiner Amtseinführung war die Anzahl der Leibwächter immer mehr gestiegen.

Alle gingen davon aus, dass es zu einem Angriff kommen würde, mich selbst eingeschlossen. In der übernatürlichen Welt herrschte Krieg, und es entsprach dem üblichen Prozedere, das Oberhaupt der gegnerischen Seite umzubringen. Ob es mir gefiel oder nicht, man hielt die Pythia für einen der wichtigsten Aktivposten unserer Seite. Was nicht nur Pritkins Versuche erklärte, mir so viel Selbstverteidigung beizubringen, dass ich in dieser Hinsicht keine totale Niete war, sondern auch die Präsenz all der goldäugigen Meistervampire, die dauernd in der Suite patrouillierten.

Sie waren zu meinem Schutz da, das wusste ich, aber es machte ihre Anwesenheit nicht weniger unheimlich. Sie beobachteten mich, während ich aß. Sie beobachteten mich, während ich trank. Sie beobachteten mich beim verdammten Fernsehen. Sie beobachteten mich sogar beim Schlafen. Mehr als einmal hatte beim Aufwachen einer von ihnen in der Tür des Schlafzimmers gestanden und mich angestarrt, als sei es das Normalste auf der Welt.

Ohne das große Bad wäre ich vermutlich ausgerastet.

Wirklich schade, dass ich hier drin nicht schlafen konnte.

Marco sah zur Tür herein, als ich heißes Wasser in die riesige Wanne laufen ließ. »Brauchen Sie was? Ich frage, weil ich gleich Dienstschluss habe.«

»Was zu essen«, sagte ich und streifte die Jacke ab.

»Was möchten Sie?«

»Irgendwas. Solange es nicht gesund ist.«

Marco nickte und verschwand, als ich mir das T-Shirt über den Kopf zog. Es war viel zu dünn für den Ort, an dem ich gewesen war, doch die Aufschrift vorn spiegelte meine Stimmung gut wider: Ich drücke dauernd ESCAPE, bin aber immer noch da. Ich warf das T-Shirt zur Jacke, fügte ihnen dann die in der Kälte steif gewordene Jeans und den teuren Seidenfetzen hinzu, der während der letzten halben Stunde einen kleinen kalten Knäuel an meinem Allerwertesten gebildet hatte. Dann kletterte ich langsam in die Wanne.

Himmel. Welch eine Wonne.

Das Wasser war eigentlich ein bisschen zu heiß, aber die an mir hängenden Eisreste glichen das vermutlich aus. Ich gab eine großzügige Portion Badesalz hinein, fand mein Kissen unter einigen Handtüchern und ließ den Kopf auf den Wannenrand sinken. Nach einigen Momenten lockerten sich meine verkrampften Muskeln, der Rücken sackte voller Erleichterung durch, und ich begann mich ernsthaft zu fragen, ob die Übernachtung im Bad wirklich eine so schlechte Idee war.

Vielleicht nickte ich für eine Weile ein, denn als ich die Augen wieder öffnete, war ich im rosaroten und schrumpeligen Stadium, die Spiegel waren beschlagen und das Wasser nicht mehr heiß. Und neben mir saß ein Geist und sah auf mich herab.

Unter anderen Umständen hätte ich mich erschrocken, aber diesen Geist kannte ich. Mit einer Hand schnappte ich mir ein Handtuch und warf ihm einen bösen Blick zu. Billy scherte sich nicht um seine zahlreichen Laster. Er hatte den Tod ebenso betrogen wie viele Leute, mit denen er Karten gespielt hatte, und daran wollte er nichts ändern. Das machte seine Moral zu einer recht bunten Mischung, da er nie beabsichtigte, für irgendetwas zur Rechenschaft gezogen zu werden.

Mit einem substanzlosen Finger schob er den Stetson hoch, den er seit anderthalb Jahrhunderten trug. »Ich sehe dich nicht zum ersten Mal auf diese Weise«, sagte er mit einem übertrieben anzüglichen Grinsen.

»Warum siehst du dann hin?«

»Weil ich weder tot noch senil bin.«

Ich warf den Schwamm nach ihm, was nichts nützte, da er durch Billy hindurchflog und an die Wand klatschte. »Ich kann dir keine Nahrung geben«, sagte ich. »Erst muss ich was essen.«

Billy und ich hatten eine seit Langem bestehende Vereinbarung, seit damals, als ich mit siebzehn Jahren in einem Ramschladen die Halskette gefunden hatte, die seine Heimstatt gewesen war. Ich spendete ihm die Lebensenergie, die er brauchte, um sich frisch und munter zu fühlen, und dafür leistete er mir den einen oder anderen Gefallen. Das machte er zumindest, wenn ich mich lange genug beschwerte.

Als säße er auf einem Sofa, streckte er die in einer Jeans steckenden Beine aus. »Kann ich nicht einfach bei dir vorbeischauen, ohne dass du sofort glaubst …« Er bemerkte meinen Gesichtsausdruck und gab es auf. »Na schön, ich warte.«

Ich überlegte, ob ich die Wanne verlassen oder heißes Wasser nachlaufen lassen sollte, als es an der Tür klopfte. »Haben Sie was an?«, erklang es von draußen.

Ich zog das Handtuch etwas höher. »Ja, wenn Sie meine nackten, verschrumpelten Zehen nicht stören.«

Marcos dunkler Kopf sah herein. »Nein, sind niedlich, die Zehen.«

Ich bewegte sie für ihn, dankbar dafür, dass ich sie wieder fühlte.

»Wie dem auch sei, das Essen steht draußen, und ich muss los.« Er lächelte mich an. »Hab ein wichtiges Date.«

»Ein Date?« Ich blinzelte überrascht, denn Meistervampire hatten keine Dates, zumindest keine freiwilligen.

»Mit einer Hexe«, sagte er.

»Ist das nicht etwas … ungewöhnlich?«

»Ich bin wie der Herr. Ich liebe Abstecher ins Abenteuer.«

Ich brauchte einige Sekunden, um zu verstehen, was er meinte. »Ich bin kein Abenteuer«, erwiderte ich. »Ich bin so weit vom Abenteuerlichen entfernt, wie es nur möglich ist.«

Marco hob eine buschige schwarze Braue. »Wie Sie meinen.«

Ich öffnete den Mund und fand dann, dass ich zu erledigt war für einen Streit. »Viel Spaß.«

»Danke.« Marco zögerte. »Und zu Ihrer Information: Heute Abend sind einige neue Jungs im Dienst. Ich meine, sie sind nicht in dem Sinne neu, aber neu für Sie.«

Ich wusste nicht, warum er es für angebracht hielt, mich darauf hinzuweisen. Bei den Leibwächtern gab es eine regelmäßige Rotation. Rund-um-die-Uhr-Sicherheit bedeutete, dass einige von ihnen für die Tagesschicht eingeteilt wurden, was für Vampire recht hart war. Das mochte der Grund dafür sein, warum sie nach ein, zwei Wochen ein bisschen verhärmt wirkten.

Ich nickte, aber Marco stand einfach da und schien eine Antwort zu erwarten.

»In Ordnung«, sagte ich.

»Es ist nur …« Er zögerte. »Versuchen Sie, die Leute nicht zum Ausflippen zu bringen.«

»Wie bitte?«

»Sie wissen schon. Ich meine die Dinge, die Sie machen.«

»Welche Dinge?«

Marcos Blick huschte durchs Bad. »Indem Sie mit Unsichtbaren reden und so.«

»Es sind Geister, Marco.«

»Ja, aber die meisten der Jungs glauben nicht an Geister und haben begonnen, Sie für … ein wenig seltsam zu halten.«

»Sie sind Vampire und halten mich für seltsam?«

»Und Sie sollten besser nicht aus dem Nichts vor jemandem erscheinen. An so was muss man sich erst gewöhnen. Ich fürchte, Sanchez hat sich noch immer nicht ganz von dem Schreck erholt.«

»Mir liegt nichts daran, aus dem Nichts vor irgendwelchen Leuten zu erscheinen. Ich möchte nur noch ins Bett.«

»Guter Plan.« Marco nickte zufrieden. »Wir sehen uns später, nachdem Sie an der Matratze gehorcht haben.«

Ich verdrehte die Augen, als ich diese umgangssprachlichen Worte hörte – der Slang der meisten alten Vampire war seit Jahrzehnten überholt –, und ließ den Kopf wieder auf den Wannenrand sinken. Es war angenehm warm, mein Körper war entspannt, und ich konnte wieder alle meine Glieder spüren, was kaum den Wunsch in mir weckte, aus der Wanne zu steigen. Aber der vom Nebenzimmer hereinkommende Duft veranlasste meinen Magen zu einem klagenden Knurren.

Ich konnte nicht genau identifizieren, was der Duft versprach, aber das spielte auch keine Rolle. Wenn Marco die Bestellung aufgegeben hatte, musste das Essen gut sein. Im Gegensatz zu Pritkin machte sich Marco keine Sorgen über Dinge wie Trans-Fettsäuren und Cholesterol. Wenn Marco aß, dann richtig: Nudeln mit reichlich cremiger Soße, riesige Pfeffersteaks, Kartoffelbrei mit Bratensaft und so süße Cannoli, dass sie einem die Zähne zerfraßen. Oft aß er das alles während derselben Mahlzeit.

Marco störte sich nicht daran, dass Vampire eigentlich gar nicht essen mussten. Er hatte mir einmal gesagt, das Beste am Erreichen des Meisterstatus sei die Rückkehr funktionierender Geschmacksknospen. Und seitdem holte er nach, was er all die geschmacklosen Jahre versäumt hatte.

Ich gelangte zu dem Schluss, dass ich inzwischen sauber genug war. »Dreh dich um«, forderte ich Billy auf. »Ich steige aus der Wanne.«

Er zog eine Schnute, widersprach aber nicht. Vielleicht hatte er ebenfalls Hunger. Ich wickelte mich ins Handtuch und wollte die Wanne verlassen. Doch meine Hände rutschten vom Porzellan ab, die Knie knickten ein, und ich glitt ins schnell abkühlende Wasser zurück.

Für ein oder zwei Sekunden lag ich einfach da und war vor allem verwirrt, noch nicht besorgt. Bis ich weitersank. Daraufhin versuchte ich, wieder aufzustehen.

Doch meine Bemühungen blieben ohne Erfolg.

Es gelang mir nur, den Kopf noch etwas länger über Wasser zu halten, während ich versuchte, mich zu bewegen, zu rufen, irgendetwas zu tun. Aber mein Körper gehorchte mir nicht, und der Ruf blieb mir in der Kehle stecken, weil sich mein Mund einfach nicht öffnen wollte. Ich brachte nur ein dumpfes Brummen hervor, und dann sank auch der Kopf ins Wasser.

Sofort verschwanden alle Geräusche. Das leise Zischen der Klimaanlage, die fast unhörbaren Schritte der Wächter, ein leises Klirren, als jemand im Esszimmer Eiswürfel in ein Glas gab – das alles wich von mir. Stille schloss sich um mich wie eine schwere, kalte Hand, die mir den Atem nahm.

Inzwischen hatten sich die Blasen größtenteils aufgelöst, und es gab nur noch hier und dort ein wenig Schaum, wie Wolken am Himmel. Zwischen ihnen konnte ich die Decke des Badezimmers sehen, und sie schwankte, als meine Bemühungen, mich nach oben zu stemmen, zumindest ein wenig Bewegung ins Wasser brachten. Sosehr ich mich auch anstrengte, ich kam nicht nach oben, und mir wurde bereits die Luft knapp.

Nach etwas, das sich wie eine Stunde anfühlte, vermutlich aber nur wenige Sekunden waren, erschien Billys undeutliche Gestalt über mir. Er sagte etwas, aber ich hörte ihn nicht, und dann glitt sein Gesicht durchs Wasser und sah mich neugierig an. »Wird Zeit, dass du aus dem Wasser kommst.«

Ach tatsächlich?, dachte ich hysterisch und versuchte, Gliedmaßen zu bewegen, die sich plötzlich anfühlten, als gehörten sie jemand anderem. Dünne Falten bildeten sich auf Billys Stirn, aber er sah mich auf die ungeduldige, nicht besorgte Art an. Er hatte noch nicht gerafft, was mit mir geschah.

»Im Ernst, Cass. Das Essen wird kalt.«

Ich starrte ihn nur an, mit von der Seife brennenden Augen, und wollte, dass er verstand. Nichts geschah, abgesehen davon, dass sich einige Luftblasen von meinen Lippen lösten und zur einige Zentimeter entfernten Wasseroberfläche aufstiegen. Für mich hätten es genauso gut tausend Meter sein können.

Meine Zehen schwammen dicht neben dem kleinen Hebel für den Abfluss, direkt unter dem Hahn und leicht erreichbar für jemanden, der sich bewegen konnte. Aber das konnte ich nicht, und so starrte ich auf das verdammte Ding, von einem Entsetzen gepackt, das mich endgültig zu lähmen drohte. Ich blieb reglos, und Billy half mir nicht, und ich konnte nicht einmal tief durchatmen, um mich zu beruhigen, weil …

Weil ich in der gottverdammten Badewanne zu ertrinken drohte.

Zwei

Der Gedanke schnitt durch all die wimmernden und kreischenden Gedanken in meinem Gehirn. Monatelang hatten irgendwelche Leute immer wieder versucht, mich mit gut ausgetüftelten Plänen ins Jenseits zu befördern, doch wenn ich mich nicht endlich zusammenriss, würde das auf meinem Grabstein stehen: SIE ERTRANK IN DER BADEWANNE. Nein, ausgeschlossen, das würde ich auf keinen Fall zulassen.

Allerdings schien ich in dieser Hinsicht kaum eine Wahl zu haben.

Je mehr ich versuchte, mich aus der Starre zu befreien, desto weniger konnte ich mich bewegen. Ich kam mir vor wie jemand, der von innen an den Sargdeckel klopfte. Ich schrie, aber die Schreie kamen nicht aus dem gelähmten Hals.

Das Schlimmste war die Stille. Ich hatte mir den Tod immer laut vorgestellt: Schüsse, Explosionen, Donnern und Gebrüll. Aber nicht diese gespenstische Lautlosigkeit, die mich wie ein Leichentuch umgab. Ich hörte nur das Wasser an die Seiten der Wanne platschen, wie das Ticken einer Uhr, das die wenigen Sekunden zählte, die mir noch blieben.

Plötzlich erklang eine strenge Stimme zwischen meinen Schläfen: Abschätzen, Angehen und Agieren.

Für eine Sekunde hingen die Worte einfach nur in meinem Kopf und weigerten sich, Bedeutung zu gewinnen. Dann fielen mir Pritkins verdammte drei As ein. Ich griff nach dem Gedanken wie nach einer Rettungsleine, bevor er fortgleiten und im weißen Rauschen meiner Panik verschwinden konnte.

Na schön, dachte ich wild. Abschätzen. Wo lag das Problem? Es bestand aus Mangel an Luft – ich konnte nicht atmen!

Angehen. Was konnte ich tun, um das Problem zu lösen? Nichts. Nicht solange sich mein Körper weigerte, mir zu gehorchen, solange er sich anfühlte, als stünde er unter fremdem Befehl …

Moment mal. Ich brauchte mich nicht physisch zu bewegen, um von meinen Fähigkeiten Gebrauch zu machen, die von meiner menschlichen Gestalt unabhängig waren. Und mithilfe meiner besonderen Gabe konnte ich …

Ich sprang, noch bevor ich den Gedanken zu Ende gedacht hatte, und fand mich mit dem nackten Hintern einen halben Meter über dem Badezimmerboden wieder. Die Schwerkraft kümmerte sich um den Rest, aber bevor sie mich auf die kalten Fliesen warf, gelang es mir, nach Luft zu schnappen. Etwa hundertfünfzig Liter Wasser lauwarmes Wasser folgten mir. In meiner Panik hatte ich beim Sprung den Inhalt der Wanne mitgenommen, und jetzt strömte er über die Fliesen, durchnässte den dicken Läufer und schwappte wie ein Miniatur-Tsunami gegen die Wände.

Ich achtete nicht darauf, lag auf den nassen Fliesen und keuchte hingebungsvoll, während Billy neben mir schwebte. Er wirkte jetzt durchaus etwas besorgt, stellte ich fest, aber dieser Gedanke verließ mich sofort wieder, als sich eine Hand um meine Kehle schloss.

Es war meine eigene, wie mir eine halbe Sekunde später klar wurde.

Zum Glück hatte ich kleine Hände, und deshalb hatte die Hand, die mich zu erwürgen versuchte, nicht viel Erfolg. Mit etwas Hilfe hätte sie bessere Arbeit leisten können, aber die andere Hand war mit weißen Knöcheln um den stehenden Handtuchhalter geschlossen und wollte sich nicht davon lösen. Ich starrte darauf, benommen und ungläubig, und meine eigenen weit aufgerissenen blauen Augen erwiderten meinen Blick vom glänzenden Chrom.

Was zum Teufel …?

Die Worte zogen so durch meinen Kopf, als stammten sie von mir, aber sie hatten einen anderen Ursprung. Nach einer Sekunde begriff ich, dass Billy in meinen Körper geschlüpft war, wie er es machte, wenn er Nahrung aufnehmen wollte – er bekam dadurch Zugang zu meiner Kraft. Es gefiel mir nicht, aber ich hatte gelernt, ihn gewähren zu lassen. Diesmal empfing ich ihn mit einer metaphysischen Umklammerung und schluchzte fast vor Erleichterung.

Hilfe!

Wie soll ich helfen?, erwiderte er. Was ist geschehen?

Besessenheit. Dieses Wort überraschte mich, da mein bewusstes Ich die Sache offenbar noch nicht geschnallt hatte. Mein Unterbewusstsein hingegen schien mehr auf Zack zu sein, denn das mit der Besessenheit klang richtig. In den vergangenen Monaten hatte ich damit gewisse Erfahrungen gesammelt, denn es war eine der Hauptwaffen der Pythia, aber bisher hatte sie sich noch nicht gegen mich selbst gerichtet.

Auf ein Erlebnis dieser Art hätte ich gern verzichtet.

Besessen von was?, fragte Billy.

Wenn ich das wüsste! Tu was!

Ja, aber was ich tun kann, hängt größtenteils davon ab, was die Besessenheit verursacht …

Billy!

Schon gut, schon gut. Keine Sorge, Cass, ich kriege das hin, versicherte er mir. Einen Augenblick später stieß ihn etwas aus mir heraus, und er flog durchs Badezimmer und durch die Wand.

Ich beobachtete, wie er verschwand, mit fast komischer Verblüffung im Gesicht, und begriff zu spät, wer meine andere Hand kontrolliert hatte. Sie wurde sofort taub und gesellte sich der Würgeparty an meinem Hals hinzu. Doch erstaunlicherweise war das nicht mein größtes Problem.

Es gab eine begrenzte Anzahl von Geschöpfen, die von Menschen Besitz ergreifen konnten. Geister zählten zu ihnen, aber wenn man sie nicht in seinem Innern willkommen hieß, wie ich es bei Billy machte, mussten sie sich einen Weg durch die Verteidigungslinien des Körpers kämpfen. Was bedeutete, dass der betreffende Geist geschwächt war, wenn er schließlich hereinkam – falls ihm das gelang.

Doch das Etwas in mir war nicht schwach. Es hatte Billy vertrieben und mich gleichzeitig fest im Griff behalten, und dazu war ein Geist nicht imstande. Was die Möglichkeiten auf die O-Scheiße-Liste beschränkte.

Eine Bestätigung dafür erhielt ich, als der Handtuchhalter kippte und versuchte, mir den Schädel einzuschlagen. Meine Hand hielt ihn nicht mehr – keine Hand hielt ihn –, aber das Ding lief trotzdem Amok. Es zerschmetterte den Spiegel über dem Waschbecken, prallte ab, stieß gegen die Wanne, riss das Glas mit dem Badesalz zu Boden und verlieh den nassen Fliesen ein fluoreszierendes Rosarot.

Der Lärm hätte ausgereicht, um Tote zu wecken, und einer von ihnen hämmerte an die Badezimmertür. »Miss Palmer? Alles in Ordnung?«

Ich kannte die Stimme nicht, aber das spielte keine Rolle. Zu einer Antwort war ich ohnehin nicht imstande. Ich dachte nur noch daran, wie ich zu jener Stimme gelangen konnte. Die Vampire wussten von dieser Besessenheitssache wahrscheinlich nicht mehr als ich, aber sie sollten in der Lage sein, die verdammten Hände von meinem Hals loszuklauben.

Ich versuchte zu springen, aber diesmal geschah nichts. Vielleicht lag es daran, dass sich der Raum drehte, vor meinen Augen alles grau wurde und ich langsam auf die Knie sank. Und dann kam Billy zurück und schien ziemlich sauer zu sein.

Er kroch mir unter die Haut, und sofort spürte ich, wie mir etwas Kraft nahm. Du genehmigst dir jetzt eine Mahlzeit?, fragte ich ungläubig.

Ich brauche Energie, um gegen dieses Ding zu kämpfen, Cass! Und mein Tank ist fast leer.

Hältst du meinen vielleicht für voll?

Billy antwortete nicht, und ich spürte, wie ich mehr Kraft verlor. Doch einen Augenblick später flogen meine Hände fort vom Hals, als hätten sie sich dort verbrannt. Plötzlich konnte ich wieder atmen.

Ich blieb unten, weil ich mich zu schwach fühlte, um aufzustehen, und konzentrierte mich darauf, meine Lunge mit Luft zu füllen. Schnaufend und keuchend atmete ich durch eine Kehle, die auf den halben Durchmesser geschrumpft zu sein schien. Mir schwindelte, und mir war speiübel, aber ich hätte vor Erleichterung geweint, wenn wenigstens die Augen unter meiner Kontrolle gewesen wären.

Unglücklicherweise verdrehten sie sich und wollten nicht in ihre normale Position zurückkehren.

»Miss Palmer?« Der Vamp klang inzwischen ernsthaft besorgt, aber die Tür blieb geschlossen.

Warum kommt er nicht herein?, fragte Billy verärgert.

Er will mich nicht stören.

Du und deine verdammte Privatsphäre!

Ich verzichtete auf eine Antwort, weil Billy durchaus recht hatte. Und weil ich plötzlich wieder meine Beine spürte. Es hätte mich eigentlich nicht überraschen sollen. Einen Körper unter Kontrolle zu halten, der einem nicht gehört und nicht gehorchen will, ist keine leichte Aufgabe. Was auch immer mich in der Gewalt hatte, es schien nicht alle meine Glieder im Griff behalten und gleichzeitig gegen Billy kämpfen zu können.

Ein großer Vorteil ergab sich dadurch nicht für mich, aber es war der einzige, den ich hatte. Ich kam wieder auf die Beine und verzog das Gesicht, als mir ein Glassplitter in den Fuß stach und ich fast über den zusammengeknüllten nassen Läufer stolperte. Ich gab mir alle Mühe, nicht in Panik zu geraten, aber nackt und blind und einem Feind ausgeliefert, von dem ich nichts wusste, fühlte ich mich wieder wie kurz vor dem Ertrinken.

Ich wusste nur eins von meinem Gegner: Er wollte mich tot sehen.

Und ihm war offenbar jedes Mittel recht, dieses Ziel zu erreichen.

Ich hatte zwei unsichere Schritte hinter mich gebracht, als meine Beine plötzlich taub wurden, sich mein Körper umdrehte und loslief, auf die nächste Wand zu. Es gelang mir, den Kopf ein wenig zur Seite zu drehen, was meine Nase rettete, aber die Schläfe bekam einen solchen Stoß, dass ich zurücktaumelte, was das Etwas in mir zum Anlass nahm, mich erneut gegen die Wand rennen zu lassen.

Augen!, schrie ich geistig und streckte die Hand aus, um den Aufprall abzufangen. Fast hätte ich sie mir gebrochen.

Ich arbeite daran.

Arbeite schneller!, rief ich, als ich erneut taumelte, und diesmal war mir das Waschbecken im Weg.

Meine Hüfte stieß so hart gegen den unnachgiebigen Marmor, dass ich mir dabei vermutlich einen blauen Fleck holte, und einen Moment später konnte ich wieder sehen. Normalerweise wäre das eine Erleichterung gewesen, aber mein Widersacher bekam dadurch Gelegenheit, erneut eine meiner Hände zu packen. Zum Glück war es die angeschlagene, und sie ließ die zuvor aufgenommene Haarnadel fallen, bevor sie Gelegenheit fand, mir damit die Augen auszustechen.

Die Nadel fiel, und die andere Hand kam nach oben, zusammen mit einer Scherbe des zerbrochenen Spiegels, die offenbar dazu dienen sollte, mir die Halsschlagader aufzuschneiden. Billy griff gerade noch rechtzeitig ein, aber die Hand sank nicht wieder nach unten, sondern verharrte drohend vor meinem Gesicht, vor Anstrengung zitternd, während drei Geister um die Kontrolle darüber rangen.

Ich wusste nicht, wer gewann, befürchtete aber, dass es nicht Billy und ich waren. Voller Sorge starrte ich auf das unheilverkündende scharfe Dreieck, als es langsam näher kam und mir ein Spiegelbild zeigte: wild zerzaustes blondes Haar, ein knochenweißes Gesicht, weit aufgerissene blaue Augen … und hinter meiner linken Schulter die Tür des Esszimmers. Sie war jetzt näher, und ich befand mich noch immer auf den Beinen.

Ich lief los.

Nach ein paar Schritten kriegte ich Zuckungen und ging zu Boden, aber auf dem Weg nach unten bekam ich eine Topfpflanze zu fassen. Das gute Stück Delfter Fayence ruhte auf einem hübschen kleinen Ständer, der kippte und mit einem kleinen Krachen auf den harten Fliesen zerbrach.

Womit für die Wächter endlich das Maß voll zu sein schien. Die Tür platzte auf, und drei Vampire eilten herein und blieben verwirrt stehen, als sie nur eine schlanke junge Frau sahen, die offenbar damit beschäftigt war, das Badezimmer auseinanderzunehmen. Und dann fühlte es sich an, als würde ich selbst auseinandergenommen. Ich spürte ein seltsames Ziehen und Zerren, das jedoch nicht lange dauerte, denn nur eine Sekunde später schoss etwas aus mir heraus.

Ein wortloser Schrei schnitt durch die Stille, und etwas schimmerte mitten in der Luft. Es war eine ölige, glitschige, falsche Präsenz, und der Geruch war noch schlimmer: grässlich süß, widerlich und sofort übelkeiterregend. Er bewirkte primordiale Abscheu in mir, und offenbar ging es nicht nur mir so. Die Vamps duckten sich und zogen ihre Knarren, obwohl es nichts gab, auf das sie schießen konnten, von mir abgesehen, und sie schafften es, nicht auf mich zu ballern, als ich mitten durch sie stürzte.

Ich saß nicht am Steuer meines Körpers, aber die fremde Entität vermutlich auch nicht, denn ich spürte den Aufprall in aller Deutlichkeit, als ich im Esszimmer auf den Teppich fiel. Das ist nicht besonders hilfreich!, teilte ich Billy mit. Einen Sekundenbruchteil später sauste die Spiegelscherbe über mich hinweg und traf einen der Wächter.

Mir blieb keine Zeit, mich zu entschuldigen, denn plötzlich ging es im Apartment drunter und drüber. Eine Karaffe mit Gläsern flog von einem nahen Servierwagen und schmetterte hinter mir an die Wand; teurer Cognac spritzte in alle Richtungen. Das Besteck des Wagens folgte und hätte mich vermutlich aufgespießt, wenn nicht einer der Vampire vor mich gesprungen wäre. Und dann rissen unsichtbare Hände den Kronleuchter von der Decke und warfen ihn in meine Richtung. Ein kristallener Tornado schien es auf mich abgesehen zu haben.

Billy warf uns ins Wohnzimmer und hinters Sofa, was keine große Hilfe war. Anschließend rollte er uns unter den Couchtisch, was durchaus etwas nützte. Zumindest für den Moment. Durch die Glasscheibe des Tisches sah ich nur einige Hundert Kristallsplitter, die wie teurer Hagel daraufhämmerten, doch auf der Seite bot sich mir bessere Sicht.

Was sich dort meinen Blicken darbot … Ich starrte ungläubig und fassungslos, denn so etwas hatte ich nie zuvor gesehen. Für Geister war es sehr schwer, selbst kleine Dinge wie eine Büroklammer oder ein Blatt Papier zu bewegen. Sie rissen keine Gardinenstangen von den Wänden oder warfen mit schweren Gemälden nach den Köpfen von Leuten oder schlugen Fenster mit Stühlen ein.

Die ganze Sache sah wie Amityville Horror aus. Es fehlte nur das Blut an den Wänden.

Ich blinzelte, als bei mir endlich der Groschen fiel. Und dann drückte ich Billy so fest, dass er quiekte. Hör auf damit!

Wir müssen zu Pritkin, sagte ich schnell.

Was? Was? Was kann er …

Das ist kein Geist!

Ach was!

Vermutlich haben wir es mit einer Art Dämon zu tun.

Und?

Pritkin weiß, wie man Dämonen austreibt!

Billy antwortete nicht, vielleicht deshalb, weil er wusste, dass Pritkin unser Dämonenexperte war. Oder er schwieg, weil der Couchtisch gerade in der Mitte zerbrach. Er brachte uns auf alle viere, und wir krochen auf der anderen Seite unter dem Tisch hervor, als der Kronleuchter wie eine Kristallgranate im Wohnzimmer explodierte.

Für diese Art von Aktivität mochte er nicht vorgesehen sein, aber die etwa ein Dutzend umherfliegenden Holzstäbe sahen weitaus stabiler aus. Und sie wirkten vertraut. Ich erkannte schließlich einen, als er mich zu erreichen versuchte und dabei durchs Klavier schmetterte. Es handelte sich um ein Bein von den Esszimmerstühlen, und ich fragte mich, warum die Entität sich die Mühe gemacht hatte, die Stühle zu zertrümmern. Wir waren jetzt auf der anderen Seite des Apartments, und deshalb schien es kaum Sinn zu ergeben.

Dann sah ich, wie einer der Wächter vorbeilief, verfolgt von einem fliegenden Holzpflock. Er wich ihm aus, zumindest mit dem wichtigsten Teil seines Körpers, und der Pflock traf das Bein anstatt das Herz. Zum Glück für den Vampir, denn das Ding bohrte sich so mühelos durch Fleisch und Knochen wie auch durch Wände, Möbel und die dünnen Seiten des Klaviers.

Die Vamps meiner Leibwache waren Senior-Meister, und vermutlich hatten sie in den vielen Jahren ihres langen Lebens jede Menge Verrücktes gesehen. Das hier schien selbst sie zu erstaunen. Vampire, die auf ihre Kraft und Ruhe stolz waren, rannten mit großen Augen umher und griffen die aufmüpfigen Möbel an, als glaubten sie, das Problem ginge von ihnen aus. Oder sie versuchten zu vermeiden, in Vampir-Schaschlik verwandelt zu werden.

Es krachte und schepperte, aber erstaunlicherweise gab niemand einen Ton von sich. Ich konnte nicht sprechen, und die Vamps mussten nicht miteinander reden, zumindest nicht laut. Sie konnten sich geistig ebenso mühelos verständigen wie ich mich mit Billy, was ihnen im Kampf normalerweise einen Riesenvorteil gab. Diesmal allerdings nicht.

Einem der Wächter fiel plötzlich ein, dass sie Hilfe brauchten, und er holte sein Handy hervor. Der Bursche stand auf der anderen Seite des Raums – ich hockte hinter dem Klavier und hatte ohnehin keine Kontrolle über meine Stimmbänder. Sag ihm, er soll Pritkin rufen!, forderte ich Billy auf.

Billy versuchte es und bewegte meinen Mund, aber was er sagte, ergab kaum einen Sinn, denn einzelne Silben blieben in meiner brennenden Kehle stecken. Außerdem ging es im Apartment so laut zu, dass mich der Vamp ohnehin nicht hörte.

Diese Typen sind neu, sagte Billy. Vermutlich wissen sie nicht einmal, wer Pritkin ist!

Dann musst du ihn holen.

Wie denn? Durch dieses Chaos schaffen wir es nie zur Tür!

Ich nicht, aber du schon. Der Dämon hat es nicht auf dich abgesehen.

Ja, aber wenn ich dich verlasse, kehrt das verdammte Ding in dich zurück!

Und wenn du mich nicht verlässt, erschlägt es mich früher oder später! Ich konnte da keinen besonders großen Unterschied erkennen.

Na schön, na schön. Billy klang, als bemühte er sich, ruhig zu bleiben, und als hätte er dabei nicht viel Erfolg. Angenommen, ich finde den Magier. Was dann? Er kann mich nicht sehen.

Mist. Billy erschien mir vollkommen real, und deshalb vergaß ich manchmal, dass er für andere Leute gar nicht existierte. Pritkin würde ihn nicht einmal sehen können.

Es fiel mir schwer, mich trotz des lauten Todeskampfs des Klaviers zu konzentrieren, aber ich versuchte es. Doch diesmal brachte mich das dreifache A nicht weiter. Ich wusste, was mein Problem war: Ich musste zu Pritkin. Aber es gab nichts, das mir dabei helfen konnte, dieses Problem zu lösen.

Unter anderen Umständen wäre ich einfach gesprungen. Aber Pritkins Zimmer befand sich fünf Stockwerke weiter unten und auf der anderen Seite des Hotels, und zu einem so weiten Sprung war ich nicht imstande – das wusste ich, ohne es auszuprobieren. Es wäre selbst ohne die Erschöpfung schwer gewesen zu springen, nachdem Billy Kraft von mir aufgenommen hatte. In der gegenwärtigen Situation hätte ich von Glück reden können, auch nur fünf Meter weit zu kommen …

Ich hielt meine rasenden Gedanken fest. Geh zu Pritkin, forderte ich Billy auf, während das Blut in meinen Schläfen donnerte und rauschte.

Ich habe dir doch gerade gesagt …

Hör mir zu! Er hat Jonas’ Halskette. Die hat er heute benutzt, um mich zu sich zurückzuholen, als ich sprang. Schnapp dir die Kette!

Und dann? Sie wirkt nur dann, wenn du deine Gabe benutzt, und das kannst du nicht, weil …

Ich brauche nur zu springen – die Entfernung spielt keine Rolle! Einige Zentimeter würden genügen, um die Halskette zu aktivieren! Mach dich auf den Weg!

Dieses eine Mal erhob Billy keine Einwände, vielleicht deshalb, weil er keine bessere Idee hatte. Ich fühlte, wie er mich verließ, und bereitete mich auf einen neuen Angriff vor. Aber die Entität war so beschäftigt, dass sie Billys Verschwinden gar nicht bemerkte, und ich wartete nicht ab, bis sie schnallte, was los war. Ich kippte die Klavierbank, benutzte sie als Schild und kroch los.

Ein Wächter stand bei einem umgedrehten Stuhl und schlug mit einem Tischbein nach fliegenden Holzstücken, wie bei einem Baseballspiel. Er sah mich, und seine Augen wurden riesig, als hätte er mich schon seit einer ganzen Weile für tot gehalten. »Bin noch am Leben«, krächzte ich ermutigend und kroch weiter.

Die Einrichtung des Esszimmers war zerstört, doch der Servierwagen hatte alles wie durch ein Wunder unbeschädigt überstanden und stand eingeklemmt zwischen Bar und Küche. Ich schob ihn weiter und warf einen Blick unter den Warmhaltedeckel. Brathähnchen, und noch nicht kalt geworden.

Es gab einen Gott.

Ich hockte mich hinter den Küchentisch und widmete mich dem Bemühen, genug Kraft zu sammeln, um weiterzuspringen, falls Billys Mission scheiterte. Mit anderen Worten: Ich stopfte ganz schnell so viel in mich hinein, wie es mir möglich war, ohne kotzen zu müssen. Ich hatte schon einiges verdrückt, als mich etwas veranlasste, den Kopf zu heben.

Drei Vampire standen in der Küchentür und starrten mich an. Sie wirkten ein wenig verstört, und ein Blick zur spiegelnden Seite des Kühlschranks teilte mir den Grund dafür mit. Ich war nackt und blutig, mein halb getrocknetes Haar stand büschelweise in verschiedene Richtungen ab, und ich hatte eine Hähnchenkeule schief im Mund. So stellte man sich eine verrückte Höhlenfrau vor.

Ich nahm die Hähnchenkeule aus dem Mund und leckte mir die fettigen Lippen. »Ähm. Hallo?«

Die drei Vamps sprachen kein Wort, und einige Sekunden lang sahen wir uns einfach nur an. Dann griff der Dämon erneut an, und ich hörte auf, mir Sorgen über den Eindruck zu machen, den andere Leute von mir gewannen. Stattdessen machte ich mir Sorgen darüber, dass mir an der Seite des Tisches das Gehirn aus dem Kopf geschlagen wurde. Ich sah Sterne und rote explodierende Dinge, die vermutlich in die Kategorie »nicht gesund« fielen.

Und dann sah ich Pritkin, der einen schockierten Blick auf mich richtete.

Ich erinnerte mich nicht an den Sprung, aber ich musste gesprungen sein, denn meine Zehen fühlten nicht mehr den kalten Küchenboden, sondern sanken in den Teppich von Pritkins Hotelzimmer. Ich war beim Bett gelandet, zu dem Pritkin gerade zurückkehrte, mit feuchtem Haar und einigen Wassertropfen auf den Schultern. Entweder hatte er noch nicht wieder den Pyjama angezogen, oder er schlief nackt. Vielleicht wäre es peinlich gewesen, wenn ich mich nicht halb tot gefühlt hätte.

»Besessenheit«, krächzte ich, bevor mein Körper aufsprang und meine Finger auf Pritkins hellgrüne Augen zielten.

Ich bekam keine Gelegenheit, auch nur zu versuchen, sie ihm auszukratzen – so baff Pritkin auch sein mochte, seine Reflexe waren viel zu gut –, aber an einer Wange blieb ein zweieinhalb Zentimeter langer Kratzer zurück. »Entschuldigung!«

»Welche Art von Besessenheit?«, fragte er ernst und packte mich an den Handgelenken.

»Kein Geist, aber …«

Mehr bekam ich nicht hervor, weil meine Kehle plötzlich wie zugeschnürt war und ich heftig zu zappeln begann. Pritkin sah mich überrascht an, als fiele es ihm schwerer als erwartet, mich festzuhalten. Doch in der nächsten Sekunde lag ich rücklings auf dem Bett, mit beiden Händen über dem Kopf, unter einer von Pritkin. Mit der anderen Hand nahm er kleine Phiolen von einem nahen Bücherregal, das er angebracht hatte und offenbar als Ablage für Elixiere aller Art diente.

Ein großer Teil davon fand sich kurze Zeit später auf mir wieder.

Manche waren klebrig, andere matschig und alle richtig, richtig abscheulich. Welchem Zweck das eklige Zeug diente – abgesehen davon, Flecken auf meiner Haut zu hinterlassen –, blieb mir verborgen, denn es hatte überhaupt keine Wirkung auf den Dämon in mir.

Und dann wurde plötzlich mein ganzer Körper taub, und mir blieb etwa eine Sekunde, um O Scheiße zu denken, bevor die Entität Gebrauch von meinen Beinen machte und Pritkin durchs Zimmer fliegen ließ. Ich beobachtete, wie er die Wand erreichte und durch sie flog, wie zuvor Billy in einem anderen Zimmer. Aber Pritkins weitaus substanziellerer Körper schlug ein Loch in die Rigipsplatte.

Und zu meiner Überraschung beschloss der Dämon, ihm zu folgen. Vielleicht nahm er an, leichtes Spiel mit mir zu haben, wenn er zuerst Pritkin erledigte, oder es war dem Kriegsmagier gelungen, das Geschöpf auf die Palme zu bringen. Was auch immer, ich spürte, wie die Entität mich verließ, denn plötzlich kehrte das Gefühl der Erschöpfung zurück und entlockte mir ein Wimmern, das ich später abstreiten würde, wenn ich lange genug überlebte.

Und dann fühlte ich die Überraschung des Dämons, als ich plötzlich meinen Schild schloss und er darin festsaß.

Ich war nicht in der Lage gewesen, ihn aus mir zu vertreiben, aber hiermit sah die Sache ganz anders aus. Der Dämon hatte von mir Besitz ergreifen können, weil ich müde und achtlos gewesen war und weil ich Billy erwartet hatte. Deshalb war mein Schild unten gewesen. Aber jetzt hatte ich ihn gehoben, und dies war mein Körper, und das Eigentum gab mir gewisse Privilegien. Auf keinen Fall wollte ich zulassen, dass die Entität die eine Person, die mir helfen konnte, tötete, während sie bewusstlos war und …

Das Wesen merkte, dass sich mein Körper plötzlich in ein Gefängnis verwandelt hatte, und es wollte unbedingt hinaus.

Allem Anschein nach sprachen wir nicht dieselbe Sprache, was das Geschöpf allerdings nicht weiter störte. Es zeigte mir jede Menge Bilder wie aus einem Horrorfilm: Das Herz explodierte in meiner Brust, die Lunge zerriss wie Seidenpapier, das Gehirn …

Wenn du dazu imstande wärst, hättest du es längst getan, dachte ich grimmig und schickte ihm ein Bild von dem Versuch, mir mit der Haarnadel die Augen auszustechen. Ich wusste nicht, warum der Dämon das Apartment demolieren konnte, aber nicht mich. Was auch immer der Grund dafür sein mochte, jeder einzelne Angriff auf mich war externer Natur oder passiv gewesen, wie mich unter Wasser zu halten, damit ich ertrank. Vielleicht war er in meinem Körper doch nicht so stark, wie ich zunächst gedacht hatte.

Oder er hatte sich noch nicht ganz an diese Besessenheitssache gewöhnt.

Was eigentlich keinen Sinn ergab für einen Dämon, der mit so etwas die ganze Zeit beschäftigt war. Bevor ich genauer darüber nachdenken konnte, begann das Ding damit, in mir Radau zu machen. Wenn ich geglaubt hatte, zuvor in Schwierigkeiten gewesen zu sein, so bekam ich jetzt eine ganz neue Vorstellung davon. Das Wesen war entschlossen, aus dem Gefängnis, in das ich mich verwandelt hatte, zu entkommen, und ich war ebenso entschlossen, es auf keinen Fall entkommen zu lassen, denn wenn es Pritkin tötete, war ich erledigt.

Und dann kehrte er zurück, blutig und zerschrammt. Er langte durchs Loch in der Wand, nahm etwas von seiner Truhe und warf es mir zu. »Fang, Cassie!«

Instinktiv hob ich den Arm und fühlte, wie sich meine Hand um etwas Kaltes und Festes schloss. Und dann fühlte ich für eine Weile gar nichts mehr, als ich vom Bett aufstieg und schwebte.

Eindeutig Amityville, dachte ich verdutzt und gab den Schild auf. Mein Körper zuckte heftig, und plötzlich war ich von dunklen, schlagenden Flügeln und einem abscheulichen Geruch umgeben. Wütendes Kreischen drang an meine Ohren.

Und dann fiel ich aufs Bett zurück und rollte über den Rand. Zum Glück, denn eine Sekunde später fauchte eine Art Miniaturzyklon durchs Fenster, und in eklatanter Missachtung der Gesetze der Physik explodierte Glas ins Zimmer. Der größte Teil davon traf mich nicht, weil ich mit den Händen über dem Kopf auf dem Boden lag und nicht zu schreien versuchte.

Pritkin war irgendwann durchs Loch in der Wand gekrochen, denn als ich aufsah, kauerte er auf dem Boden und starrte mich an. Ich starrte stumm zurück, keuchte und bebte am ganzen Leib, während um uns herum Konfetti aus Staub und Tapetenfetzen herabregneten. Und dann öffnete sich plötzlich die Tür, und Marco stürmte herein.

Er sah mich nackt und mitgenommen, das Loch in der Wand, das zerschmetterte Fenster und den blutverschmierten Kriegsmagier. »Was zum Teufel …«, brachte er hervor.

Ich schluckte und leckte mir etwas, das nach Staub und Kupfer schmeckte, von den Lippen. »Ich fürchte, ich habe die Leute zum Ausflippen gebracht«, sagte ich schwach und fiel in Ohnmacht.

Drei

Eine halbe Stunde später war ich nach wie vor nackt und freute mich noch immer nicht darüber.

»Verdammt, Marco!«, krächzte ich. »Das tut weh.«

»Wenn Sie nicht stillhalten, gibt es Narben.« Es klang streng, doch die große Hand auf meinem Allerwertesten war sanft.

»Seien Sie nur vorsichtig, ja? Das dort ist lebendes Fleisch.« Zumindest derzeit noch.

»Ich gebe mir alle Mühe.«

Ich ließ mich wieder auf den Bauch sinken und zupfte an dem Laken, das mich bedecken sollte. Das tat es nicht, was bestimmte Stellen meines Körpers betraf, aber ich war so müde und vermutlich auch so breit, dass ich mich nicht darum scherte. Ich wusste, dass der Tisch, auf dem ich lag, waagerecht war, doch er schien auf hoher See zu schwimmen. Was vermutlich an den Tabletten lag, die mir jemand gegeben hatte, und den beiden Drinks, mit denen ich sie heruntergespült hatte.

»Kann man seekrank werden, während man stillliegt?«, fragte ich.

»Wenn Sie kotzen müssen, sollten Sie mir rechtzeitig Bescheid geben«, sagte Marco.

»Muss ich nicht«, erwiderte ich mit all der Würde, die ich zusammenkratzen konnte. Viel war es nicht, denn immerhin lag ich nackt auf einem Massagetisch, und Marco zog mir Glassplitter aus dem Hintern.

»Damit’s nicht noch schlimmer wird. Es gibt hier schon genug sauber zu machen.«

Was zweifellos stimmte.

Wir waren wieder im Apartment, trotz allem, denn es verfügte über bessere Schutzzauber als der Rest des Hotels. Nicht dass sie uns dieses Mal viel genützt hätten, aber während des vergangenen Monats hatten sie die meisten Leute ferngehalten, die mich einen Kopf kürzer machen wollten. So übel das Apartment auch zugerichtet war, ich würde hier die Nacht verbringen.

Die Vampire versuchten, alles in Ordnung zu bringen, und damit hatten sie reichlich zu tun. Durch die offene Tür beobachtete ich, wie zwei von ihnen umherliefen und immer wieder vergeblich nach den Gardinenfetzen griffen, die vor dem zerbrochenen Wohnzimmerfenster im hereinkommenden Wind wehten. Schließlich brummte der eine etwas und riss einfach die Gardinenstange von der Wand, mit ihren Haken und allem. Er wollte sie in einen Müllbeutel stopfen, und als sie nicht hineinpasste, zerknüllte er das Ding zu einer Metallkugel und machte sie passend. Der andere Vamp sah ihm mit verschränkten Armen dabei zu und schüttelte langsam den Kopf.

Bei einer anderen Gelegenheit wäre es lustig gewesen. Die Wächter waren mindestens Meister der dritten Stufe und gehörten damit gewissermaßen zum Vamp-Adel. Müllbeutel tragen, den Boden fegen und Trümmer fortschaffen – an so etwas waren sie nicht gewöhnt. Aber sie wollten keine anderen Leute in die Nähe des Apartments lassen, nicht einmal Zimmermädchen, und deshalb blieb ihnen keine Wahl. Und eins musste man ihnen lassen: Bisher hatte sich nicht einer von ihnen beschwert.

Was vielleicht daran lag, dass noch niemand von ihnen etwas gesagt hatte. Die meisten schienen noch etwas blasser zu sein als sonst, und gelegentlich warf mir einer von ihnen einen Blick zu. Es waren die Blicke, die im Zoo ein gefährliches Tier bekam, das sich zu dicht am Zaun befand. Sie schienen zu befürchten, dass ich mich jeden Augenblick auf sie stürzen konnte.

»Ich glaube, sie haben Angst vor mir«, sagte ich zu Marco, als ein weiterer Wächter mit einem schnellen Seitenblick in meine Richtung vorbeieilte.

»Nicht vor Ihnen«, erwiderte Marco und warf ein blutiges Papierhandtuch in den überquellenden Abfallkorb.

»Was soll das heißen?«

»Es soll heißen, dass Sie Feinde anlocken wie verfaulendes Fleisch Fliegen.«

»Hübscher Vergleich!«

»Und es sind keine normalen Feinde«, klagte er. »Ich meine, keine Leute, denen man ein Ding verpassen und die man ordentlich durch die Mangel drehen kann. Wir reden hier von Geistern, Dämonen oder einem verdammten Gott. Meine Jungs sind gut, aber sie wissen nicht, wie man mit so was fertigwird. Deshalb fühlen sie sich hilflos, und das hassen sie.«

Ich liebte es auch nicht gerade, verzichtete aber auf einen entsprechenden Hinweis, denn Marco war richtig in Fahrt.

»Und die meisten von ihnen haben das hier für Urlaub gehalten. Ein Trip nach Vegas, Unterbringung in einem Luxushotel, und sie mussten nur auf die Freundin des Herrn und Meisters aufpassen. Was die meiste Zeit über bedeutete, ihre Einkaufstüten zu tragen und gefragt zu werden, welche Schuhfarbe am besten zur Handtasche passt, alles klar?«

Ich runzelte die Stirn. Nein, es war nicht alles klar. Ihr Herr und meine bessere Hälfte war sehr zurückhaltend in Bezug auf seine romantische Vergangenheit. Ich wusste, dass es ihm nicht an Erfahrung mangelte – was im Alter von fünfhundert Jahren auch recht schwer gewesen wäre –, aber viele Details kannte ich nicht. Eigentlich kannte ich sogar gar keine und hatte nur den einen oder anderen Verdacht, bei dem ich richtigliegen konnte oder auch nicht.

Aus irgendeinem Grund war es mir nie in den Sinn gekommen, Marco zu fragen. Es fiel mir jetzt ein.

»Es hört sich an, als hätten Sie diese Aufgabe nicht zum ersten Mal.«

»Das meinte ich nicht.«

»Habe ich recht? Sind Sie schon einmal mit so etwas beauftragt gewesen?« Die Vorstellung, nur eine weitere Frau von vielen zu sein, bei der Marco den Babysitter spielen musste – bis sie so alt wurden, dass sie die Aufmerksamkeit ihres immer wie dreißig aussehenden Freunds verloren –, gefiel mir nicht sonderlich. Ich fand sie ziemlich beunruhigend.

»Normalerweise werde ich nicht als Leibwächter eingesetzt«, sagte Marco ausweichend.

»Aber Sie haben viel gesehen.«

»Ja.«

»Wie viele Freundinnen hatte Mircea?«, fragte ich geradeheraus.

Marco seufzte. »Das möchten Sie nicht wissen.«

»Doch, ich denke schon.«

»Vielleicht sollten Sie ihn selbst fragen«, sagte Marco.

»Er ist nicht hier, im Gegensatz zu Ihnen.« Angesichts des Umstands, dass Marco ganz offensichtlich nicht darüber reden wollte, fragte ich mich, mit welchen Zahlen wir es hier zu tun hatten. »Ich meine, wie viele können es gewesen sein?«, überlegte ich laut. »Fünf, zehn?«

Marco schwieg.

»Zwanzig?«, fragte ich, und dabei klang meine Stimme ein wenig schrill.

»Ich hab’s vergessen«, behauptete Marco, und dann stach er mir in den Hintern.

»Au!«

»Möchten Sie noch einen Drink?«, fragte er, als ein Vampir mit einem Tablett hereinkam, auf dem eine Karaffe stand.

»Ich möchte, dass Sie damit aufhören, in meiner Kehrseite herumzustochern!«

Marco hielt mir etwas vor die Augen. »Sehen Sie das hier? Es ist eine Pinzette. Damit kann man nicht in irgendetwas herumstochern.«

»Sagen Sie das meinem Hintern!«

»Möchten Sie einen Drink oder nicht?«

»Ich möchte Kaffee«, sagte ich, verärgert darüber, dass ich keine Antworten bekam. Ich drückte mir das Laken an die Brust und versuchte, über die Schulter hinweg einen Blick auf meinen malträtierten Hintern zu werfen. Und dann bemerkte ich, dass der Vampir in die gleiche Richtung starrte. »He!«

»Er wollte Ihnen nicht zu nahe treten«, sagte Marco, als der Vamp hinauseilte. »Er ist einfach da.«

Ich begriff, dass er mit dem zweiten »er« meinen Allerwertesten meinte.

»Und?«

»Und wir sind Männer. Männer sehen sich die Hintern von Frauen an.«

»Sehen Sie sich meinen an?«, fragte ich argwöhnisch.

»Ich muss hinsehen, um all die Splitter zu entfernen.«

»Vielleicht sollten wir einen Doktor rufen.«

Marco klopfte mir auf die Schulter. »Schon gut. Sie sind nicht mein Typ.«

»Wer ist Ihr Typ?«

»Jemand, der weniger oft in Schwierigkeiten gerät«, sagte er und ließ einen Glassplitter in den Aschenbecher fallen, den er als Aufnahmebehälter benutzte. »Ich hab’s mir anders überlegt. Das Wilde und Unbändige gefällt mir nicht mehr. Mir fehlt einfach das Durchhaltevermögen des Herrn.«

»Bei mir braucht man kein Durchhaltevermögen.«

»Mein liebes Kind, bei Ihnen braucht man einen Panzer.«

Ich wusste nicht, wie er das meinte, aber nach einem Kompliment klang es nicht. Bevor ich fragen konnte, kam Pritkin mit einem Becher herein, von dem ein köstlicher Duft ausging. Er reichte ihn mir, und ich bereitete mich innerlich auf seinen üblichen Koffeinhammer fürs Gehirn vor. Dieses Gebräu war keine Enttäuschung; nach zwei Schlucken begann mein Herz zu rasen.

»Es war kein Dämon«, sagte ich ohne Einleitung.

»Von wegen.« Marco warf einen weiteren Glassplitter in den Aschenbecher, mit etwas mehr Nachdruck als nötig. »Die Jungs meinten, es hätte hier wie in Der Exorzist ausgesehen.«

»Amityville«, brummte ich, aber niemand hörte mir zu.

»Sie haben sich geirrt«, sagte Pritkin knapp. Er sah mich an und runzelte die Stirn, streckte dann die Hand aus und strich mir Locken aus den Augen. Ich schenkte ihm ein müdes Lächeln, was die Falten in seiner Stirn tiefer werden ließ. »Bist du sicher, dass es kein Geist war?«

Ich nickte. Das war so ziemlich die einzige Sache, bei der ich keine Zweifel hatte.

»Kannst du die Erscheinung beschreiben?«

»Hast du sie nicht gesehen?«

Er schüttelte den Kopf. »Eine dunkle Wolke, mehr nicht.«

»Viel mehr habe ich auch nicht gesehen.«

»Beschreib sie mir. Jeder Hinweis könnte helfen.«

Ich versuchte mich zu erinnern, aber mein Kopf tat ziemlich weh, und das Bild vor meinen Augen verschwamm immer wieder. »Das Etwas war dunkel«, sagte ich langsam. »Schwarz oder grau. Oder vielleicht ein sehr dunkles Blau. Und es hatte Federn – glaube ich.« Ich zermarterte mir das Gehirn, doch mehr bot es einfach nicht an. »War es groß?«

»Was ist mit deinem Diener? Hat er was gesehen?«

Es dauerte einige Sekunden, bis mir klar wurde, dass er Billy Joe meinte. Pritkin hatte die komische Idee, dass Billy dem ähnelte, was ein versklavter Dämon für einen Magier war: ein tüchtiger, gehorsamer Diener, der auch in der Not gelassen blieb. In Wahrheit verhielt es sich genau umgekehrt. Unmittelbar nach dem Ende der Krise war Billy in seine Halskette geflohen, und seitdem glänzte er durch Abwesenheit.

Ich stieß die Halskette an, nur aus Spaß an der Freud, und bekam dafür die metaphysische Version seines Mittelfingers. »Billy weiß nichts«, übersetzte ich.

»Bist du sicher?«

Sag ihm, er kann mir die Eier lutschen!

»Ganz sicher.«

Pritkin strich sich mit der Hand durchs Haar. Es war schweißfeucht. Zwar hatte er eine alte Jeans angezogen, aber er sah noch immer wie durch die Wand geschleudert aus. Mit anderen Worten: Er sah ungefähr so aus, wie ich mich fühlte.

Ein besonders auffälliger blauroter Striemen führte über den Brustkorb zum Rücken und markierte vermutlich die Stelle des Aufpralls. Er stand so nahe, dass ich die Hand ausstrecken und den Striemen berühren konnte, und ich machte von dieser Möglichkeit Gebrauch. Es fühlte sich heiß an unter meinen Fingerkuppen – Pritkin war immer etwas wärmer als ein normaler Mensch –, und eine halbe Sekunde später wich er zurück.

Ich ließ die Hand sinken. »Du solltest das untersuchen lassen. Vielleicht ist eine Rippe gebrochen.«

»Ich bin in Ordnung«, sagte er knapp, als ein anderer Vampir mit einem Telefon hereinkam.

»Für Sie«, teilte mir der Mann mit, und sein Blick glitt bereits gen Süden.

»Gibt es in diesem Apartment jemanden, der mich noch nicht nackt gesehen hat?«, fragte ich und langte nach Laken und Telefon.

»Das hoffe ich sehr, Cassandra.«

Ich seufzte, und mein Kopf sank auf die gepolsterte Tischoberfläche. Die Art und Weise, wie Mircea meinen Namen verwendete, deutete auf den aktuellen Zustand seiner Gefühle hin. Wenn er in guter Stimmung war, nannte er mich Dulceaţǎ, ein rumänisches Kosewort, das sich mit »Liebling« oder »Schatz« übersetzen ließ. Wenn es um seine Stimmung nicht ganz so gut bestellt war, hieß es einfach nur »Cassie«. Und wenn er sich ärgerte, es aber nicht zeigen wollte, weil er Prinz Mircea Basarab war, Mitglied des mächtigen Nordamerikanischen Vampirsenats und immer cool, sprach er mich mit »Cassandra« an.

Das war nie ein gutes Zeichen.

Doch diesmal traf mich keine Schuld.

»Diesmal bin ich nicht schuld«, sagte ich und zuckte zusammen, als Marco einen weiteren Glassplitter in meinem Allerwertesten entdeckte.

»Ich rufe nicht an, um dir die Schuld zu geben.«

»Warum dann das ›Cassandra‹?«

»Du hast mich erschreckt. Für einige Momente konnte ich dich nicht spüren.«

Ich runzelte die Stirn. »Du bist in New York. Wie willst du mich da spüren können?«

»Durch die Verbindung.«

»Wir haben eine Verbindung?«

Ein Seufzen kam aus dem Hörer. »Natürlich haben wir eine Verbindung, Dulceaţǎ. Du bist meine Frau.«

Ich sagte nicht Nach Vampir-Maßstäben, denn das brachte mir immer ein Cassandra ein. Die Zeremonie, wenn man sie so nennen konnte, war vorbei gewesen, noch bevor ich richtig begriffen hatte, was eigentlich vor sich ging. Aber das spielte keine Rolle, denn so unwichtige Details wie die Zustimmung der Braut waren bei Eheschließungen von Vampiren nicht erforderlich.

Ich sah die Sache ein wenig anders.

Wir sahen uns nur gelegentlich und beschränkten uns noch auf die Rendezvous-Phase, weil ich erst noch herausfinden musste, ob diese Beziehung etwas war, mit dem ich fertigwerden konnte. Mircea ließ mir meinen Willen, obwohl er die ganze Sache lächerlich fand. Er war in einer Zeit geboren, als Männer sich einfach genommen hatten, was sie wollten, und es auch behielten, solange sie stark genug waren. Und Stärke war nie eins seiner Probleme gewesen.

Zuzuhören hingegen …

»Ich höre«, summte eine samtene Stimme an meinem Ohr.

Ich neigte den Kopf und ließ das Haar übers Telefon fallen. Viel Privatsphäre bekam ich dadurch nicht, aber mehr konnte ich unter den gegebenen Umständen kaum erwarten. »Mhm.«

»Und was bedeutet das?«, fragte Mircea. Er klang amüsiert.

»Es bedeutet ›So ein Blödsinn‹«, erwiderte ich ehrlich. »Ich bin so dicht, dass mir keine höflichere Antwort einfällt.«

»Dicht?«

»Blau, beduselt, stockvoll …«

»Ich verstehe, was du meinst«, sagte Mircea, und seine Stimme wurde schärfer. »Warum, würde ich gern wissen.«

Ich zögerte. Die Wahrheit lautete: Ich war beim Erwachen ziemlich hysterisch gewesen. Inzwischen kam ich in Krisenzeiten etwas besser klar, was vor allem daran lag, dass ich ziemlich viel Übung bekam, aber nachher …

Mit dem Nachher hatte ich immer noch Probleme.

»Marco hielt es für das Beste«, sagte ich.

Die Antwort schien Mircea nicht zu gefallen. »Ich rede mit Marco«, sagte er grimmig. »Aber derzeit gilt meine Sorge vor allem dem Angriff heute Abend. Ich habe die Berichte meiner Leute entgegengenommen, soweit es ›Berichte‹ sind. Jetzt würde ich gern deinen hören.«

Daraufhin seufzte ich. »Ich weiß nicht. Es war kein Geist; da bin ich sicher. Und Pritkin schwört, dass es kein Dämon war.«

»Es gibt Tausende Arten von Dämonen, Cassie. Er kann unmöglich sicher sein …«

»Er ist ziemlich sicher«, erwiderte ich trocken.

»… und du hattest in letzter Zeit Probleme mit einigen. Ein Dämon ist der wahrscheinlichste Übeltäter.«

»Ich schätze, wir sollten bei dieser Sache Pritkins Urteil vertrauen«, sagte ich, weil mir nichts anderes einfiel. Dass Pritkin selbst ein halber Dämon war, wussten nur wenige, und welche Art von Dämon … Das wusste nur ich.

Ich hatte nicht vor, dieses Wissen mit jemandem zu teilen.

»Ich bin nicht so sicher.« Mircea klang mürrisch. »Aber ich bin bereit, mit dem Mann zu reden. Kannst du ihn mir geben?«

Ich hielt das nicht für eine gute Idee, da sich Pritkin und Mircea wie Öl und Wasser vertrugen, nur nicht so gut. Doch ich gab das Telefon trotzdem weiter. Von ihrem Gespräch bekam ich nicht viel mit, da es von Pritkins Seite recht einsilbig war und weil sich Marco wieder meiner Kehrseite zuwandte.

»Es können doch nicht so viele Glassplitter in meinem Hintern stecken«, brachte ich nach einer recht schmerzvollen Minute hervor.

»Sie scheinen sich darin gerollt zu haben, Kindchen.«

»Das Zeug lag überall auf dem Boden!«

»Und unter solchen Umständen sollte man vermeiden, auf dem Boden zu rollen«, erwiderte Marco und schien die Pinzette mehrere Zentimeter tief in eine weiche Hinterbacke zu bohren.

»Ich versuche daran zu denken, wenn das nächste Mal eine bösartige Entität von mir Besitz ergreift!«

»Dämon«, sagte Marco mit Bestimmtheit.