Vermächtnis der Schwerter (Band 3) - Götterschild - Michael Rothballer - E-Book

Vermächtnis der Schwerter (Band 3) - Götterschild E-Book

Michael Rothballer

4,0

Beschreibung

Ein vielschichtiges, dramatisches Fantasy-Abenteuer voller Spannung und Tiefgang! Nachdem die Insel Andobras endgültig befreit ist, segelt Rai nach Seewaith. Dort sammeln sich die Völker der Ostlande zu einer Schlacht von noch nie dagewesenem Ausmaß. Arton und Arden sollen die riesigen Heerscharen führen, denn nur sie haben dank der Schwerter Tausendsturm und Feuerzwinger die Macht dazu. Dabei handelt es sich bei ihrem Gegner nur um ein einzelnes Wesen – den letzten und zugleich mächtigsten aller Drachen. Zu spät erkennen die ungleichen Halbbrüder, wer der wahre Feind ist. Und so wird die eherne Festung Arch Themur, der Götterschild, zur letzten Bastion im Kampf ums Überleben der Menschheit. "Götterschild" ist der dritte Band der Vermächtnis der Schwerter-Trilogie. Die beiden Vorgängertitel lauten "Tausendsturm" und "Feuerzwinger".

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Für meine Mutter. Du warst mein Kompass.

RÜCKBLICK „TAUSENDSTURM“

In der kleinen Hafenstadt Seewaith lebt Arton, der trotz seines jungen Alters im ganzen Land berühmt ist für seine Schwertkünste. Gemeinsam mit seinem Bruder Arden und dem altehrwürdigen Maralon Erenor bildet er in der Kriegerschule Ecorim junge Männer und Frauen aus den ganzen Ostlanden in der Kunst des Schwertkampfs aus. An seinem achtzehnten Geburtstag erfährt Arton, dass er nicht dem Geschlecht der Erenors entstammt, und eine Welt bricht für ihn zusammen. Da er kein Nachfahre des großen Helden Ecorim ist, wird ihm zeit seines Lebens das von ihm so sehr begehrte, machtvolle Schwert seiner Familie verwehrt bleiben. Stattdessen soll sein Halbbruder Arden die legendäre Waffe erhalten.

Da Arton seinen verantwortungslosen Bruder für unwürdig hält, die mächtige Klinge zu führen, beginnt er nach einem anderen Erben aus dem Hause Erenor zu suchen, der das Schwert an Ardens Stelle übernehmen könnte. Tatsächlich findet Arton ein uneheliches Kind Ardens mit Namen Thalia und bringt es in die Kriegerschule, ohne dass jemand von der Herkunft des Mädchens erfährt.

Inzwischen machen sich in Tilet, der Hauptstadt von Citheon, die Diebe Barat und Rai daran, die Thronschätze des Königs Jorig Techel zu stehlen. Rai wird in der Schatzkammer jedoch von einer kleinen, schwarz verhüllten Gestalt überrascht, deren geräuschvolles Eindringen die Wachen alarmiert. Rai greift zur Verteidigung nach einem schwarzen Schwert, das in der Schatzkammer liegt, und mit dessen Hilfe gelingt ihm die Flucht. Rai und Barat werden wegen dieses Schwerts sowohl von den Soldaten des Königs als auch von mehreren gnomenartigen Kreaturen erbittert verfolgt. Barat erkennt die unheimlichen, kleinen Wesen als Zarg, die einst zur Verteidigung der großen Festung Arch Themur eingesetzt wurden. Außerdem hegt er den schrecklichen Verdacht, dass es sich bei der dunklen Klinge, die Rai durch Zufall in der Schatzkammer ergriff, um das mächtige Schwert des gefürchteten Herrschers von Arch Themur handeln könnte, der damals in der großen Schlacht zwischen dem Norden und dem Süden von Ecorim Erenor bezwungen wurde.

In Seewaith kommen sich unterdessen Arton und seine Schwertschülerin Tarana näher und verbringen eine Nacht miteinander, die nicht ohne Folgen bleibt.

Tags darauf kommt es zu einem Überfall auf die Kriegerschule. Die Attentäter werden von dem verräterischen Schwertschüler Megas angeführt, der vom königlichen Berater Abak Belchaim beauftragt wurde, die ganze Familie Erenor auszulöschen. Durch die Ermordung der mit dem alten Königshaus verwandten Erenor-Familie soll Abak seinem Herrn Jorig Techel den Thron sichern.

Doch der Überfall hat nur zum Teil Erfolg. Zwar werden Maralon, die Schwertschüler Estol und Derbil getötet und die Schule brennt völlig nieder, Arden und Arton überleben jedoch. Arton verliert allerdings durch einen Schwertstreich sein linkes Auge und endet als Gefangener auf einem Sklavenschiff. Von den anderen wird er durch unglückliche Umstände für tot gehalten. Die überlebenden Schwertschüler finden in den Ruinen der Kriegerschule das Testament Maralon Erenors, in dem offenbart wird, dass Arden der Sohn Ecorims und damit der legitime Thronfolger des Landes ist. Daraufhin leisten Arden, der mittlerweile das Schwert Ecorims an sich genommen hat, und die verbliebenen Schwertschüler Meatril, Targ, Deran, Eringar und Daia einen Eid, Jorig Techel zu stürzen. Nur Tarana beteiligt sich nicht an dem Racheschwur. Bald stellt sie fest, dass sie ein Kind von Arton erwartet.

Sobald Jorig Techel und sein Berater Abak von dem Scheitern des Überfalls auf die Familie Erenor und den rebellischen Umtrieben Ardens erfahren, versuchen sie, alle Landesfürsten für einen Krieg gegen das aufrührerische Fendland zu gewinnen. Doch der Citarim, der oberste Priester des Sonnengottes Cit, bringt die Landesherren dazu, Arden als rechtmäßigen Thronerben anzuerkennen und Jorig Techel ihre Unterstützung zu verweigern. Daraufhin beschließt Jorig Techel, selbst mit einem Heer nach Fendland zu ziehen.

Die beiden Diebe Rai und Barat geraten inzwischen in die Fänge von Sklavenjägern, die eigentlich keine Menschen, sondern kleine, kindlich anmutende Waldwesen jagen, die von Barat Wurzelbälger getauft werden. Zusammen mit den Wurzelbälgern werden Rai und Barat auf einem Schiff nach Norden zu einem Erzbergwerk auf der Insel Andobras gebracht. Einer der Sklavenjäger namens Ferrag nimmt Rai das schwarze Schwert ab und verkauft es an einen ranghohen Offizier.

In der Sklavenmine Andobras legt sich Rai gleich zu Beginn mit Ulag, dem riesenhaften Beherrscher der Mine, an. Fortan ist es für ihn unmöglich, sein geschlagenes Erz für Essen einzutauschen, da alle Vorräte von Ulag kontrolliert werden. Als Barat schwer erkrankt, ist Rai gezwungen, sich zur Tarnung einer Gruppe Xeliten anzuschließen, fanatischen Anhängern des Unterweltgottes Xelos. Er gerät in eine Auseinandersetzung mit deren Anführer und nur dank des rettenden Eingreifens eines narbengesichtigen Einäugigen gelingt es Rai, Ulag und dem Xelitenführer zu entwischen.

Um nicht zu verhungern, bittet Rai danach einen Jungen namens Warson darum, sein Erz bei Ulag gegen Nahrung einzutauschen. Der Junge wird jedoch von Ulag ertappt und getötet. Gleichzeitig setzt ein Unwetter die tieferen Bereiche der Mine unter Wasser. Beim Versuch, das Leben des Einäugigen zu retten, der ihm gegen die Xeliten beigestanden hat, stürzt Rai selbst in die Fluten. Bewusslos wird er durch einen unterirdischen Fluss aus dem Bergwerk gespült.

Außerhalb der Mine trifft Rai auf Kawrin, mit dessen Hilfe er heimlich in die Mine zurückkehrt, um Barat und die anderen Sklaven zu befreien. In der Auseinandersetzung mit Ulag kommt der mysteriöse Einäugige Rai erneut zu Hilfe und erschlägt den Riesen. Rai bittet den Narbengesichtigen nach dem Kampf, ihm seinen richtigen Namen zu nennen: Er lautet Arton. Zwischen Rai und Arton beginnt eine zaghafte Freundschaft.

Beflügelt von ihrem Sieg über Ulag beschließen Arton und Rai, aus dem Bergwerk zu fliehen, um zusammen mit den befreiten Sklaven die Festung am Hafen von Andobras anzugreifen und damit die Kontrolle über die gesamte Insel zu übernehmen. Bei dem Kampf um die Festung sehen sich Arton, Rai und ihre Anhänger unvermutet mit einer ganzen Einheit derselben Zarg konfrontiert, die Rai und Barat auch nach dem Diebstahl des schwarzen Schwertes verfolgten. Die Zarg kämpfen ohne Rücksicht auf eigene Verluste und stehen offensichtlich unter der Kontrolle des Hohepriesters der Insel.

Als Arton im Kampf auf den Festungskommandanten Garlan trifft, der gerade das schwarze Schwert in Sicherheit bringen will, nimmt er diesem die Klinge ab. Daraufhin vervielfachen sich auf einmal seine Kräfte. Mithilfe des schwarzen Schwertes gelingt es Arton, die geistige Kontrolle über die Zarg zu übernehmen und den Sieg herbeizuführen. Nach der Schlacht stellt sich heraus, dass es sich bei den Zarg um in schwarze Mäntel gehüllte Wurzelbälger handelt, die nun von Arton in die Freiheit entlassen werden. Rai, Barat, Kawrin und der ehemalige Minensklave Erbukas träumen nach dem Sieg von einer „freien Insel“, auf der es keine Sklaven mehr geben soll, und beginnen, erste Vorbereitungen dafür zu treffen.

Arton sucht währenddessen bei dem alten Hohepriester Nataol nach Antworten und stellt ihn bezüglich des schwarzen Schwertes und dessen Verbindung zu den Wurzelbälgern zur Rede. Nataol erkennt in dem Schwert die sagenhafte Klinge Themuron wieder, die einst der Herr von Arch Themur, Hador Badach, führte. Sie wurde von den Göttern erschaffen, um ihrem Träger die Kontrolle über die Zarg, die der Citpriester als Themuraia bezeichnet, zu ermöglichen. Arton beschließt, so lange auf der Insel Andobras zu bleiben, bis er alles erfahren hat über das magische Schwert Themuron, das von den Menschen der Ostlande Tausendsturmgenannt wird.

RÜCKBLICK „FEUERZWINGER““

Auf der Mineninsel Andobras kommt es zu einem Aufstand gegen die neuen Anführer, zu denen auch Rai, Barat und Kawrin gehören. Die Drahtzieher dieser Revolte sind Ferrag und Nessalion, Warsons Vater, der Rai für den Tod seines Sohnes verantwortlich macht. Rai gerät in die Gewalt dieser beiden Männer und als der Aufstand dank Artons entschlossenem Eingreifen zu scheitern droht, entführt Nessalion Rai in die Mine, um ihn dort auf gleiche Weise sterben zu lassen wie Warson. Doch die beiden werden von den Xeliten aufgegriffen, die sich in den Tiefen des Bergwerks versteckt halten. Deren geistiges Oberhaupt, der sich selbst als Feuerherold bezeichnet, hat die einstige Auseinandersetzung mit Rai nicht vergessen und beabsichtigt, ihn daher mit Nessalion zusammen dem Gott Xelos als Feueropfer darzubringen. Während seiner kurzen Gefangenschaft lernt Rai eine Xelitin mit Namen Selira kennen, die ihn vom ersten Augenblick an fasziniert. Als Selira Rai und Nessalion gegen den Feuerherold beistehen will, schlägt der Xelitenführer Selira nieder. Da stürzt sich Nessalion auf ihn und reißt ihn mit sich in den Tod. Rai kehrt unbeschadet an die Oberfläche zurück.

Nach und nach erfährt Arton vom Priester Nataol mehr über seine Abstammung und das Schwert Tausendsturm. Nataol erzählt Arton von den drei Völkern der Ostlande: den Themuraia, den Menschen und den Fardjani. Letztere erhielten von ihren göttergleichen Erschaffern zwei Schwerter, um die anderen beiden Völker anzuführen: Themuron – „Tausendsturm“ – für die Themuraia und Fendralin – „Licht der Menschen“ – für die Menschen. Arton erfährt, dass diese zweite Klinge nun sein Halbbruder Arden besitzt. Voraussetzung für das Führen dieser Waffen ist eine seltene Gabe, die Nataol als „Geistsprache“ bezeichnet. Diese kann durch die beiden Götterklingen um ein Vielfaches verstärkt werden und nur die Fardjani – zu denen auch Arton zählt – zeigen die Befähigung dazu. Als Nataol Arton schließlich enthüllt, dass er der Sohn des verhassten einstigen Herrschers von Skardoskoin ist, der mit der Macht Themurons die Themuraia gegen die menschlichen Heerscharen führte, zieht er sich von allen zurück und hadert mit seinem Schicksal. Rai beschließt, nach seinem Freund zu sehen, und kann gerade noch rechtzeitig verhindern, dass Belena, die Mutter von Ardens unehelicher Tochter Thalia, Arton niedersticht. Sie beschuldigt Arton, für ihre Versklavung und die Verschleppung ihrer Tochter verantwortlich zu sein, worauf sich Rai entsetzt von Arton abwendet. Aus diesem Grund beschließt der Krieger, Nataol nach Tilet zu begleiten.

Unterdessen wird Arden, der sich in Fendland zum Gegenkönig ausgerufen hat, von dem Sondergesandten des Citarim Malun besucht und für eine Zusammenarbeit mit der Citkirche gewonnen. Als König Techel Fendland angreift, um seinen Widersacher Arden Erenor zur Rechenschaft zu ziehen, wird er auf Veranlassung des Citarim von Megas Arud’Adakin verraten. Megas vernichtet die königliche Flotte, worauf Techel beim Angriff auf Fendland ganz auf seine Fußtruppen angewiesen ist. Arden gelingt es dank der Kraft seines Schwertes Fendralin, die Schlacht bei Königswacht für sich zu entscheiden. Beim Kampf wird jedoch die schwangere Tarana schwer verletzt. Während Daia, begleitet von der kleinen Thalia, ihre Freundin Tarana zur Genesung zu ihrem Stamm zurückbringt, bricht Arden mit Meatril, Targ, Deran, Eringar und dem Heer Richtung Tilet auf. In der Hauptstadt hat der Citarim mit Megas’ Unterstützung bereits für so viel Aufruhr in der Bevölkerung gesorgt, dass König Techel auf seine Heimatinsel Tar’ Tianoch fliehen muss. Nach seinem kampflosen Einmarsch in Tilet wird Arden vom Citarim zum neuen König von Citheon gekrönt. Im Folgenden wird Arden von dem Priester Malun so lange in seiner Überheblichkeit bestärkt, bis es zum Zerwürfnis zwischen Arden und seinen Freunden, den Ecorimkämpfern, kommt. Da diese nun nicht mehr unter Ardens Schutz stehen, gibt Malun Megas den Auftrag, die vier zu ermorden. Dies kann jedoch von einer Spionin Jorig Techels verhindert werden, die sich schließlich als Shyrali zu erkennen gibt und die Ecorimkämpfer auf dem Schiff Joshua Tabuks versteckt, dem Flottenkommandanten von Megas Arud’Adakin. Diesem ist Megas so verhasst, dass er sich mit den Ecorimkämpfern gegen seinen Herrn verbündet.

Dem Rat Joshua Tabuks folgend segeln Meatril, Targ, Deran und Eringar nach Andobras, wo sie Arton wiederzusehen hoffen. Doch sie treffen nur auf Rai und dessen Gefährten, denen sie die von Kapitän Tabuk erhaltenen Informationen über einen bevorstehenden Angriff von Megas’ Flotte auf Andobras überbringen. Shyrali, die eine Schwäche für Meatril zu entwickeln beginnt, beschafft von ihrem Herrn Jorig Techel Kriegsausrüstung und so gelingt es den Andobrasiern, Megas’ Truppen zurückzuschlagen. Bei den Kämpfen werden jedoch die beiden Ecorimkämpfer Eringar und Deran von Megas getötet. Targ nimmt daraufhin wutentbrannt die Verfolgung des Mörders auf, doch in den lebensfeindlichen Sümpfen von Andobras geraten er und Megas in solche Bedrängnis, dass sie nur überleben, indem sie einander helfen. Bevor Megas durch eine List entwischen und von der Insel entkommen kann, erfährt Targ von ihm, dass noch ein weiterer Name für das Schwert Fendralin existiert: Feuerzwinger. So wurde die Klinge einst bezeichnet, weil sie angeblich von den Fardjani genutzt wurde, um die Menschen gegen ihren Willen in den Kampf mit den feuerspeienden Drachen zu treiben.

Während Tarana bei ihrem Stamm in der Istaebene Artons Kind zur Welt bringt, wird Arton vom Citarim persönlich in der Geistsprache und im Umgang mit dem Schwert Tausendsturm geschult. Dabei erzählt der Citarim ihm auch von den beiden Fardjani Torion und Caras: Vor langer Zeit verbündete sich Caras, der Träger des Schwertes Fendralin, mit dem letzten Drachen und den Menschen, um gegen die Gebieter – die Nauraín heißen – aufzubegehren. Sein Bruder Torion, der Träger Themurons, stellte sich ihm entgegen, aber er unterlag und die Nauraín wurden vertrieben. Der Citarim hofft, dass die von ihm als gottgleich verehrten Nauraín in die Ostlande zurückkehren werden, sobald die Welt von dem immer noch lebenden Drachen befreit ist. Schon seit Jahrzehnten arbeitet er im Verborgenen auf dieses Ziel hin und mit der Macht der beiden Schwerter Themuron und Fendralin will er es endlich erreichen. Die Armeen sammeln sich für den größten und letzten Krieg gegen den Drachen …

DAS VERSPRECHEN

Energisch bahnte sich Rai seinen Weg durch die aufgeregte Menschenmenge am Hafen von Andobras. Die Leute hatten sich um einen Trupp der Stadtmiliz geschart, der in der Nähe eines am Kai vertäuten Seglers stand und sich den wütenden Beschimpfungen eines Seemannes ausgesetzt sah. Merklich verunsichert taten die Soldaten im Moment nichts weiter als abzuwarten, was den erbosten Seefahrer offensichtlich noch mehr in Rage brachte.

„Was ist denn hier los?“, erkundigte sich Rai, als er endlich zu den Streitenden vorgedrungen war.

Der Seemann musterte ihn ein wenig von oben herab. „Und wer bist du, Kleiner, dass du dich hier einmischst?“

Zornesröte brachte Rais Wangen zum Glühen. So herablassend brauchte ihm dieser abgehalfterte Schiffslenker nicht zu kommen. „Ich bin Rai, einer der Anführer der freien Insel Andobras!“, fauchte er. „Und wer, bitte schön, seid Ihr, dass Ihr hier so ein Aufhebens macht und es wagt, unsere Stadtwache zu beleidigen?“

Der Seefahrer ließ sich von Rais forschen Worten sichtlich beeindrucken und bemühte sich eilig zu antworten: „Ich bin der Kapitän dieses Seglers dort drüben.“ Er wies auf das Schiff hinter ihm. „Gerade eben haben meine Männer eine blinde Passagierin in einem der Laderäume entdeckt und wollten sie den Wachen übergeben. Doch die haben nicht aufgepasst und jetzt ist die Frau nach oben in den Ausguck geklettert und will nicht mehr herunterkommen. Sie hat sich mit einem Enterhaken bewaffnet und damit bereits zwei meiner Matrosen übel zugerichtet.“ Er warf einen grimmigen Blick auf die ratlos aussehenden Männer der Stadtmiliz und sagte deutlich schärfer: „Trotzdem weigern sich eure sogenannten Wachen, diese Verrückte von meinem Schiff zu entfernen.“

Erstaunt sah Rai nach oben zur Spitze des Masts. Tatsächlich stand dort im Aussichtskorb eine Frau mit einer langen, hakenbewehrten Stange und blickte angriffslustig auf die Matrosen, Wachen und Dutzenden von Schaulustigen unter ihr hinab. Rais Kinnlade klappte nach unten. Er erkannte sie sofort. Es war Belena Sogwin, jene bedauernswerte Gefangene, die er mit Arton vor mittlerweile mehr als eineinhalb Jahren aus Ulags Wohnhöhle befreit hatte. Nach ihrem misslungenen Messerangriff auf Arton hatte die junge Frau sich anschließend in ihre Behausung zurückgezogen und war kaum noch in Erscheinung getreten. Rai hatte sich mehrmals vorgenommen, sie aufzusuchen, weil ihn ihr Schicksal rührte, aber auf der Insel gab es so viel zu tun, dass sein Vorsatz immer wieder in Vergessenheit geraten war. Jetzt hatte sie dafür gesorgt, dass Rai diese Nachlässigkeit bereute.

„Ich kenne die Frau“, sagte er mit fester Stimme. „Ich werde zu ihr hinaufklettern und mit ihr sprechen.“

Rai beachtete das spöttische Grinsen des Kapitäns nicht, als dieser ihm „Na, dann mal viel Glück“ wünschte, und sprang an Bord des Segelschiffs. Er schwang sich auf die Reling und kletterte von dort flink an den zwischen den Wanten gespannten Steigseilen hinauf, bis er etwa noch zwei Mannslängen von dem Mastkorb entfernt war.

„Bleib bloß weg!“, rief ihm Belena entgegen. „Dir wird es nicht besser ergehen als den anderen, die versucht haben, mich runterzuholen. Ich bleibe so lange hier, bis der Kapitän sich bereit erklärt, mich mitzunehmen.“

Rai zog ein wenig verwirrt die Stirn in Falten. „Dich mitnehmen? Wohin denn?“

„Nach Hause!“, schrie Belena so laut, dass ihre Stimme sich überschlug. „Zu meiner Tochter!“

Rai schüttelte den Kopf. „Aber du weißt doch, dass der Seeweg durch den Quasul-Hor noch immer von Megas’ Flotte blockiert wird. Kein Kapitän würde diese Passage wagen. Und auch in den Häfen an der Küste Südantheons werden Schiffe und Mannschaften, bei denen der Verdacht besteht, dass sie aus Andobras kommen, sofort festgesetzt. Die Schiffe, die bei uns anlanden, auch das, auf dem du gerade bist, sind aus irgendwelchen Schmugglerhäfen an der skardischen Küste und sie kehren auch wieder dorthin zurück. Und was machst du, wenn du dort bist? Willst du von da aus zu Fuß nach Hause gehen?“

„Das ist mir gleich“, zischte Belena. „Irgendwie komme ich schon heim, wenn ich nur erst mal von dieser verfluchten Insel wegkomme.“

„Und warum hast du dann nicht einfach eine Überfahrt gekauft?“, wollte Rai wissen.

Sie lachte verächtlich. „Und von welchem Geld sollte ich das bezahlen? Diese abergläubischen Dummköpfe von Seefahrern behaupten, dass eine Frau an Bord Unglück bringt, und deshalb ist eine Überfahrt immer besonders teuer.“ Sie fuhr sich verzweifelt durch ihre zerzausten Haare. „Dann muss ich sie eben auf diese Weise zwingen, mich mitzunehmen.“

„Aber du hättest doch bloß mich oder einen der anderen fragen müssen, wir hätten dir die Überfahrt bezahlt“, entgegnete Rai bestürzt. „Mal davon abgesehen, dass ich immer noch nicht weiß, wie du von der Küste Skardoskoins nach Seewaith kommen willst.“

„Ha“, spie sie ihm entgegen, „jetzt plötzlich interessieren sich unsere großen Anführer also für mich – dass ich nicht lache! Seit du meine Rache an Arton vereitelt hast, bist du nicht ein einziges Mal zu mir gekommen und hast nach mir gefragt oder deine Hilfe angeboten. Ich bin es leid, irgendjemanden anbetteln zu müssen. Also habe ich beschlossen, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Ich habe lange genug gewartet.“ Zur Untermauerung ihrer Worte schwang sie bedrohlich den Enterhaken, doch Rai war glücklicherweise außer Reichweite geblieben.

Er verzog das Gesicht. Dieser unerwartete Vorwurf traf ihn hart, denn augenblicklich meldete sich sein schlechtes Gewissen zurück.

„Ja, du hast ja recht“, gab Rai kleinlaut zu. „Ich hätte nach dir sehen müssen. Aber der Wiederaufbau der Stadt hat mich so sehr beschäftigt, dass ich irgendwie für nichts anderes Zeit gefunden habe.“ Er ließ den Kopf sinken. Selbst für seine eigenen Ohren hörten sich diese Worte nach einer lahmen Ausrede an.

„Das ist jetzt auch egal“, erwiderte Belena entschieden. „Ich werde mit diesem Schiff Andobras verlassen, koste es, was es wolle.“

Angesichts dieses Kampfgeistes konnte Rai nicht umhin, die zornige Seewaitherin bewundernd zu mustern. „Darf ich zu dir hochkommen?“, fragte er und kletterte ein paar weitere Tausprossen empor. „Während ich hier zwischen den Seilen hänge, kann ich nicht vernünftig mit dir reden.“

„Verschwinde!“, zischte sie und ließ im gleichen Moment die Enterstange nach unten sausen.

Gerade noch rechtzeitig gelang es Rai, sich zur Seite zu werfen, um dem Schlag zu entgehen. Allerdings verlor er dabei den Halt und konnte sich nur noch mit Mühe an einem der Taue festklammern. Einen schrecklichen Augenblick lang baumelte er nur mit einer Hand gesichert über dem gut zehn Schritt tiefer gelegenen Schiffsdeck. Ein erschrockenes Raunen ging angesichts dieses gefährlichen Manövers durch die stetig wachsende Menge Schaulustiger auf dem Kai.

Rai drehte sich ein wenig ungelenk herum und klammerte sich mit allen vieren an das Tauwerk. „Bist du verrückt?“, schimpfte er nach oben. „Beinahe wäre ich abgestürzt!“

„Ich habe dich gewarnt“, antwortete Belena ungerührt, „ich lasse nicht zu, dass mich jemand hier wegholt. Ich bin bereit, alles zu tun, was nötig ist, um meine Tochter wiederzusehen.“

„Ich will nur mit dir reden, bei allen Göttern“, grollte Rai. Dann schlug er einen sanfteren Tonfall an: „Vielleicht finden wir gemeinsam eine Lösung für dein Problem. Ich kann dich nur noch einmal darauf aufmerksam machen, dass dich dieses Schiff bestenfalls zu einem Schmugglerhafen an der Skardoskoiner Küste bringen wird, selbst wenn wir für dich die Überfahrt bezahlen. Von dort schaffst du es niemals nach Seewaith. Meatril und Targ sitzen ja ebenfalls schon seit einem Jahr auf Andobras fest, obwohl auch sie sicherlich gerne wieder nach Fendland zurückkehren würden. Aber da der Seeweg dorthin blockiert ist und es daher zu gefährlich ist, Fendland über das Meer zu erreichen, müssen auch sie abwarten, bis Megas die Passage endlich wieder freigibt. Aber wenn wir gleich alle gemeinsam darüber nachdenken, wie wir euch wieder nach Hause bringen, dann wird uns bestimmt etwas einfallen.“

„Meatril und Targ machen auf mich nicht den Eindruck, als hätten sie es sonderlich eilig, in die Heimat zurückzukehren“, wandte Belena ein. „Seit der Schlacht gegen Megas’ Truppen wirken sie eher so, als würden sie sich hier verkriechen. Ich will aber nicht darauf warten, bis sich die Ecorimkämpfer endlich aufraffen, die Heimreise anzutreten. Ich muss meine Tochter finden, alles andere zählt nicht.“

Rai musste der jungen Mutter insgeheim recht geben, denn tatsächlich waren Meatril und Targ seit dem Tod von Eringar und Deran nicht mehr dieselben. Sie hatten sich zwar am Wiederaufbau der Stadt beteiligt, aber es fehlte ihnen dabei jegliche Begeisterung und es schien, als sei dies für sie nur eine Möglichkeit gewesen, um sich von ihrem Schmerz abzulenken. Dieses Verhalten schien zwar noch verständlich, was Rai indes nicht wirklich begreifen konnte, war die Gleichgültigkeit, die die beiden bezüglich ihrer Rückkehr nach Seewaith an den Tag legten. Meatril hatte dieses Thema bisher noch nicht einmal angesprochen, geschweige denn etwas in dieser Richtung unternommen. Und Targ redete ohnehin kaum noch etwas, seit er vom Tod seines Bruders Deran erfahren hatte. Targ war zwei Tage nach der Schlacht um Andobras bewusstlos auf der Straße zur Schmiedesiedlung gefunden worden und man hatte ihn zur Pflege in eines der Krankenlager geschafft. Als Meatril ihm dann nach seinem Erwachen die schreckliche Kunde von Derans Tod überbrachte, schienen bei Targ sämtliche Dämme der Vernunft zu brechen. Es war einfach zu viel für ihn gewesen, dass er, in der Absicht, Megas zu stellen, seinen Bruder Deran sterbend zurückgelassen hatte, nur um dadurch unabsichtlich dazu beizutragen, dass der Mörder seines Bruders entkommen konnte. Wie von Sinnen quälte sich Targ damals trotz seines angeschlagenen Zustandes von seinem Wundlager hoch und bestand verbissen darauf, augenblicklich ein Schiff zu besteigen, mit dem er auf die Jagd nach Megas gehen könnte. Als ihn Meatril aufhalten wollte, schlug er seinen Waffenbruder mit der Kraft der Verzweiflung zu Boden und bedrohte anschließend sogar noch Barat und Rai, die hinzugeeilt waren, mit einem Messer. Hätten ihn nicht die Nachwirkungen seiner entbehrungsreichen Sumpfdurchquerung doch noch niedergezwungen, so wäre Targs Raserei wohl nur mit Gewalt zu stoppen gewesen. Nachdem er sich schließlich von Schwäche übermannt nicht mehr dagegen hatte wehren können, von seinen Freunden wieder zurück auf sein Lager gebettet zu werden, sank er für ganze zwei Wochen in eine tiefe, fiebrige Ohnmacht und es sah lange Zeit so aus, als wolle er seinem Bruder in Xelos’ Hallen nachfolgen. Aber, den Göttern sei Dank, kam es anders, und als er sein Bewusstsein zurückerlangt hatte, blieben auch weitere Ausbrüche zur Erleichterung aller aus. Allerdings schien es Rai seither so, als ob sich Targ in der Welt der Lebenden nicht mehr richtig zu Hause fühlte.

„Aber du musst doch einsehen“, versuchte Rai weiter Belena zu überzeugen, „dass es nichts bringt, auf diesem Schiff nach Skardoskoin zu reisen.“ Er versuchte abermals ein wenig höher zu klettern, doch verharrte sofort, als Belena erneut zum Schlag ausholte.

„Jetzt lass den Unsinn“, beschwor er sie, „ich will dir doch nichts tun. Komm runter, dann gehen wir zurück zur Festung und reden noch mal über alles. Ich habe nämlich keine Lust, mir hier den Hals zu brechen.“ Er schielte besorgt nach unten auf das Schiffsdeck, auf dem er bei einem Sturz aus dieser Höhe sicherlich alles andere als sanft landen würde.

„Dann solltest du mich einfach in Ruhe lassen“, antwortete Belena. „Kümmere dich nicht um mich, schließlich hast du das bisher auch nicht getan. Ich komme hier schon zurecht.“

Der kleine Tileter stöhnte. „Was könnte dich denn dazu bewegen, von dort oben runterzukommen?“, fragte er mühsam beherrscht. Seine Geduld erreichte langsam ihre Grenzen.

„Wie schon gesagt: nichts!“, erwiderte sie unversöhnlich.

„Wie wäre es denn“, schlug Rai vor, „wenn ich dir mein persönliches Ehrenwort dafür gebe, dass ich dich, so schnell es geht, auf einem sicheren Weg nach Seewaith bringe?“

Die junge Frau kniff misstrauisch die Augen zusammen und überlegte einen Moment. „Du wirst mich persönlich auf schnellstem Weg dorthin bringen?“, wollte sie wissen.

Rai stutzte. „Äh, nein, nein“, versuchte er richtigzustellen, „ich sagte, ich gebe dir mein persönliches Ehrenwort, dass du schnell und sicher dorthin gelangst. Ich wollte eigentlich nicht selbst …“

„Dann vergiss es“, schmetterte sie ab. „Wenn du mich nur wieder auf irgendein anderes Schiff setzen willst, dann kann ich es auch gleich mit diesem hier versuchen. Ich bin so oder so auf mich allein gestellt.“

Rai verspürte große Lust, frustriert in eines der Taue zu beißen. Aber was blieb ihm schon für eine Wahl? Wenn er Belena nicht davon überzeugen konnte, das Schiff zu verlassen, würde sie vermutlich beim Versuch, zu Fuß von Skardoskoin aus Fendland zu erreichen, ums Leben kommen. Nach allem, was Rai gehört hatte, war Skardoskoin trotz der citheonischen Besatzung noch immer ein raues Land mit Räuberbanden, Wolfsrudeln, hohen Bergen, Schneestürmen und dergleichen mehr. Jedenfalls lud diese Gegend keinesfalls dazu ein, dort auf eigene Faust herumzuwandern.

„Also schön“, seufzte er, nachdem er eine Weile mit sich gerungen hatte, „ich werde dich begleiten, sobald ich einen sicheren Weg dorthin gefunden habe.“

„Und“, ergänzte Belena unerbittlich, „ab heute keine Ausflüchte mehr. Ich will so rasch wie möglich heim zu meinem Kind.“

„Ist ja gut“, kapitulierte Rai. „Kommst du jetzt runter?“

„Ich will dein Ehrenwort“, forderte Belena.

„Ich gebe dir mein Ehrenwort“, antwortete Rai matt, „dass ich möglichst rasch einen sicheren Weg für dich nach Hause finde und dich auch noch auf deiner Heimreise begleiten werde. Zufrieden?“

Belena zögerte noch ein wenig, so als überlege sie, ob es sich nicht doch um einen Trick handeln könnte. Aber dann schwang sie ein Bein über den Mastkorb und begann, mit ihrer Enterstange aufs Deck hinunterzuklettern.

Die Schaulustigen spendeten Rai anerkennenden Applaus, als er mit der streitbaren blinden Passagierin endlich das Schiff verließ, und der Kapitän des Seglers verpasste ihm einen wohlgemeinten, aber deshalb nicht weniger schmerzhaften Schlag auf die Schulter.

„Hätte nicht gedacht, dass du das hinkriegst, Kleiner … Anführer!“ Er lächelte und machte sich dann daran, seine Besatzung wieder aufs Schiff zu scheuchen.

Die Menge begann sich zu zerstreuen, während Rai mit grimmiger Miene und Belena im Schlepptau der Festung entgegenstapfte. Da hatte er sich ja wieder etwas Schönes eingebrockt. Warum musste er sich auch immer überall einmischen? Aber das waren eben die Schattenseiten seines neuen Lebens auf der Insel. Rai fühlte sich für das, was auf Andobras geschah, verantwortlich und konnte nicht einfach vorbeigehen, wenn es irgendwo Probleme gab.

Die beiden passierten die neu errichtete steinerne Gedenktafel in der Mitte des Marktplatzes, auf der die Namen aller Andobrasier eingemeißelt waren, die bei der Schlacht um die Insel ihr Leben gelassen hatten. Ganz oben standen etwas abgesetzt die Namen Eringar Warrud und Deran Soldarin. Jedes Mal, wenn Rai hier vorbeikam, drohte ihn die Trauer beinahe zu ersticken, denn die Gräuel des Kampfes und der übermäßig hohe Blutzoll, den sie für ihre Freiheit bezahlt hatten, hafteten allem, was sie bisher erreicht hatten, als Makel an.

Dennoch konnten sie stolz sein auf ihre freie Insel. Nicht nur, weil sämtliche zerstörten Häuser der Stadt in den beinahe anderthalb Jahren seit ihrem Sieg wieder aufgebaut worden waren, sondern weil es jetzt sogar noch mehr Häuser und Stadtbewohner als früher gab. Zum Teil waren die alten Gebäude mit einem zusätzlichen Stockwerk versehen worden oder man hatte an einigen Stellen einfach noch ein paar Häuser hineingequetscht, wo sich vorher ungenutzte Leerräume zwischen den Häuserzeilen befunden hatten. Dadurch stand nun vielen ehemaligen Minenflüchtlingen eine eigene Unterkunft zur Verfügung. Außerdem hatten sie auch damit begonnen, die Schmiedesiedlung nahe des Mineneingangs im Landesinneren zu einem größeren Dorf auszubauen. Die umliegenden Flächen waren nach und nach in fruchtbares Ackerland verwandelt worden, sodass Andobras nun bald in der Lage wäre, seinen Bedarf an landwirtschaftlichen Produkten selbst zu decken. Dann waren sie nämlich endlich nicht mehr gezwungen, das Schmuggelgut vom Festland zu völlig überteuerten Preisen zu erstehen. Sogar einen eigenen Namen hatte die kleine Siedlung im Herzen der Insel mittlerweile erhalten, der an ihre zweifache Bedeutung als Lieferant für Nahrung und Stahl erinnern sollte: Eisenfeld. Rai erfüllte es mit einem gewissen Stolz, das dies sein Einfall gewesen war.

Während er und Belena den steilen Pfad hinauf zur Festung von Andobras einschlugen, versuchte der kleine Tileter, seinen Ärger über das folgenreiche Versprechen, das ihm die Seewaitherin abgerungen hatte, hinunterzuschlucken. Er rief sich in Erinnerung, welch hartes Schicksal seine Begleiterin zu tragen hatte und wie schwer es ihr fallen musste, hier auf der Insel fern von ihrem Kind auszuharren. Also riss er sich zusammen und sagte so freundlich wie möglich:

„Vielleicht gibt es eine Möglichkeit, irgendwo im Westen an der Küste von Südantheon an Land zu gehen. Von da aus ist es zwar auch noch ein weiter Fußweg bis nach Fendland, aber wenigstens müssen wir dann nicht durch Skardoskoin.“

„Wie wir dort hinkommen, ist jetzt deine Sache“, gab Belena kühl zurück. „Ich will nur hier weg.“

Rai quittierte diese reichlich rüde Antwort mit einem missbilligenden Blick. Jetzt, da sie erreicht hatte, was sie wollte, könnte sie ja schon etwas netter sein, fand er. Schließlich war es kein kleiner Gefallen, den er ihr erwies. Aber vermutlich hatte sie sich ihre Abwehrhaltung schon so sehr zur Gewohnheit gemacht, dass sie gar nicht mehr anders konnte. Ironischerweise glich sie darin ein wenig dem von ihr so gehassten Arton, stellte Rai fest. Er seufzte und schwieg.

Kurze Zeit später hatten sie die Festung erreicht. Rai führte Belena in ein Zimmer im ersten Stock der Kaserne, das inzwischen zum Versammlungszimmer geworden war, und bat sie zu warten, bis er alle zusammengerufen hatte. Ihre Treffen hielten Barat, Rai und die anderen Anführer der Insel schon lange nicht mehr wie früher im Speisesaal ab, da sie aufgrund des ständigen Kommens und Gehens der Festungsbewohner nie wirklich ungestört sprechen konnten. Dort wurden inzwischen nur noch die vierteljährlichen Ratsversammlungen abgehalten, zu denen die von den Inselbewohnern gewählten Räte geladen waren, um über das Schicksal von Andobras mit zu entscheiden.

Barat und Erbukas fand Rai wie üblich in der Studierstube, die an Barats Quartier angrenzte. Dort waren sie mit der Planung neuer Gebäude in der Schmiedesiedlung beschäftigt, was dieser Tage einen Großteil ihrer Zeit in Anspruch nahm. Nur ungern ließen sie ab von ihren Zeichnungen und Karten und folgten Rais Wunsch, sich für ein kurzes Treffen im Versammlungsraum einzufinden. Seinen Freund Kawrin entdeckte Rai im Burghof, wo er zusammen mit Meatril einige neue Rekruten der Stadtmiliz trainierte. Am längsten musste Rai nach Targ Ausschau halten, den er schließlich in einem der hinteren Wehrtürme aufspürte, wo der einzige noch Lebende der drei Soldarinbrüder gedankenverloren aufs Meer hinaus starrte. Ohne ein einziges Wort zu sagen, folgte der Ecorimkämpfer dem kleinen Tileter auf dessen Bitte hin, bemühte sich aber noch nicht einmal, Interesse an der bevorstehenden Zusammenkunft vorzutäuschen.

Als sich endlich alle in dem engen Versammlungszimmer an dem kleinen runden Tisch eingefunden hatten, ergriff Rai, ohne weitere Zeit zu verlieren, das Wort:

„Ich habe euch alle hierher gebeten, weil ich heute Belena“, er wies auf die Seewaitherin, die mit versteinerter Miene neben ihm saß, „etwas versprochen habe. Ich gab ihr mein Ehrenwort, dass ich sie auf ihrem Weg nach Hause begleiten werde, um dafür zu sorgen, dass sie dort wohlbehalten ankommt. Sie beabsichtigt, in Seewaith ihre Tochter wiederzufinden, die sich, soweit ich weiß, in der Obhut einer Ecorimkämpferin namens Tarana befindet.“

„Du willst nach Fendland reisen?“, fragte Barat und zog die Stirn in Falten. „Ich halte das für keine gute Idee. Es wird dir kaum gelingen, die Seeblockade bei Tilet zu überwinden.“

„Ja, ja, ich weiß schon, dass es nicht leicht wird“, räumte Rai ein, „aber ich habe es nun mal versprochen. Aus diesem Grund wollte ich euch um Vorschläge bitten, wie man am einfachsten nach Fendland gelangen könnte, ohne unbedingt auf die Seeblockade zu treffen.“ Er wandte sich erwartungsvoll an Targ und Meatril. „Vor allem auf eure Hilfe hatte ich gezählt, da ihr ja wohl ebenfalls früher oder später in eure Heimat zurückkehren wollt, oder nicht?“

Die beiden Angesprochenen sahen überrascht in die Runde.

„Ich wüsste nicht, was ich dort soll“, lautete Meatrils knappe Antwort. Targ senkte hingegen nur wortlos seinen Blick.

Rai hob erstaunt die Augenbrauen. „Ich dachte, in Seewaith befindet sich eure Kriegerschule? Und habt ihr nicht auch einige Gefährten dort zurückgelassen, die ihr gerne wiedersehen wollt?“

Meatril nickte ausdruckslos. „Ja, Tarana und Daia sind noch in Seewaith, das nehme ich jedenfalls an. Aber zumindest bei einer der beiden kann ich nicht behaupten, dass es mich sonderlich nach einem Wiedersehen verlangt. Und was die Kriegerschule betrifft, die ist dank Megas abgebrannt.“

„Aber ihr habt doch damals bei eurer Ankunft auf Andobras erzählt, dass Tarana ein Kind von Arton erwartet.“ Rai rechnete nach. „Das müsste doch mittlerweile schon über ein Jahr alt sein. Macht euch noch nicht einmal der Nachwuchs eures ehemaligen Lehrmeisters neugierig genug, um wieder in die Heimat zurückzukehren?“

Beide Ecorimkämpfer schwiegen hartnäckig, doch Rai wollte noch nicht aufgeben. „Ihr könntet dann auch euren Schwertschwestern persönlich berichten, was auf Andobras vorgefallen ist. Sicher werden schon ein paar Geschichten bis nach Fendland durchgedrungen sein, aber sie haben bestimmt noch keine Gewissheit darüber, dass ihr beiden die Schlacht überlebt habt und wohlauf seid. Sie werden sich ziemliche Sorgen machen, glaubt ihr nicht?“ Er zögerte, um dann etwas leiser hinzufügen. „Und vielleicht sollten sie auch erfahren, wie heldenhaft Eringar und Deran in den Tod gegangen sind.“

Wieder folgte ein langer Augenblick der Stille, bis schließlich Targ ruckartig den Kopf hob und mit fester Stimme zu Meatril sagte: „Rai hat recht. Wir sind es ihnen schuldig.“

„Ich weiß“, erwiderte Meatril tonlos. „Ich hätte nur noch gerne ein wenig gewartet.“

„Wir sind jetzt schon über ein Jahr hier“, meinte Targ. „Ich weiß immer noch nicht, was zwischen euch steht, aber irgendwann musst du Daia schließlich gegenübertreten.“

Meatril blickte auf, so als wäre es ihm unangenehm, dass dieses Thema im Beisein der anderen angesprochen wurde. Er nickte nur.

„Kann ich also davon ausgehen, dass ihr mich und Belena dabei unterstützen werdet, die Seeblockade zu umgehen?“, erkundigte sich Rai vorsichtig.

Meatril räusperte sich ein wenig unbehaglich und setzte sich umständlich auf seinem Stuhl zurecht. „Nun, um die Wahrheit zu sagen, ich erhielt schon vor beinahe zwei Wochen eine Nachricht von Shyrali, dass Jorig Techel mit einem groß angelegten Gegenangriff auf Ho’Neb, die Heimatinsel von Megas, begonnen hat. Daher wurde die gesamte ho’nebische Flotte zurück zum Haupthafen in Lechia beordert und die Passage bei Tilet ist aller Wahrscheinlichkeit nach wieder frei.“

Sprachloses Staunen blieb nach dieser Eröffnung im Raum zurück. Selbst auf Targs Gesicht ließen sich deutliche Zeichen von Überraschung ablesen.

„Verzeih, Meatril, wenn ich es ganz unverblümt ausdrücke“, entrüstete sich Barat, „aber ich finde, dass es ziemlich gedankenlos von dir war, diese Information nicht mit uns anderen zu teilen. Wenn Megas angegriffen wird und seine Kontrolle über die Seewege auf dem Quasul schwindet, dann ist das doch etwas, das uns alle angeht, oder?“ Er trommelte mit den Fingerspitzen ärgerlich auf der Tischplatte herum.

„Ich hätte es euch bei entsprechender Gelegenheit schon noch mitgeteilt“, erwiderte Meatril ruhig, „aber ich war nicht der Meinung, dass diese Meldung für euch sonderlich bedeutsam ist. Es wird sich dadurch für die Insel Andobras kaum etwas ändern. Wir …“, er korrigierte sich, „ihr werdet nach wie vor gezwungen sein, mit Schmugglern Handel zu treiben. Denn die Citkirche wird ebenso wie Megas ein Auge darauf haben, dass ihre Feinde auf Andobras nicht noch mächtiger werden. Daher dachte ich, Shyralis Information beträfe hauptsächlich Targ und mich.“

„Mir hast du es aber auch nicht gesagt“, wandte Targ ein.

„Es ist gerade Winter“, versetzte Meatril ungeduldig, „auch wenn hier auf Andobras kein Schnee fällt. Die Häfen in Fendland liegen ein ganzes Stück weiter nördlich und sind wahrscheinlich alle zugefroren. Wir hätten also ohnehin frühestens in dreißig oder vierzig Tagen aufbrechen können. Somit gibt es keinen Anlass zur Eile.“

Targ musterte Meatril eindringlich. „Ist das der wahre Grund, warum du nichts gesagt hast?“, hakte er nach. „Wenn du befürchtet hast, dass du mir mit dieser Neuigkeit einen weiteren Anlass liefern würdest, Hals über Kopf loszustürmen, um Megas zu stellen, kann ich dich beruhigen. Ich habe schon begriffen, dass es keinen Sinn macht, Megas nachzujagen, solange er von seiner gesamten Flotte geschützt wird.“ Seine Kiefermuskeln spannten sich bei diesen Worten. „Oder hast du etwa deshalb geschwiegen, weil du überhaupt nicht mehr nach Seewaith zurück willst?“

Meatril zuckte mit den Schultern. „Mein Pflichtgefühl sagt mir, dass wir so bald wie möglich zurückfahren sollten, allein schon, um die Fortschritte bei der Wiedererrichtung der Schule zu kontrollieren. Wenn du aber wissen möchtest, ob ich das auch tun will, dann kann ich nur mit ‚nein‘ antworten. In Seewaith werden zu viele Wunden wieder aufgerissen, die sich gerade erst halbwegs geschlossen haben. Das ist wahrlich nichts, was ich gerne auf mich nehme. Trotzdem werde ich euch begleiten, wenn ihr nach Seewaith wollt.“

Targ sah seinen Freund nach dieser offenen Antwort mitfühlend an und begann dann wieder, abwesend zu Boden zu starren.

Nach einigen Augenblicken des verlegenen Schweigens rang sich Rai endlich dazu durch, wieder das Wort zu ergreifen. „Also gut, dann fehlt uns eigentlich nur noch ein geeignetes Schiff.“ Er richtete seine dunklen Augen fragend auf Barat. „Ich hatte gehofft, dass wir einen der Segler des Cittempels nehmen könnten. Unter dem Sonnenbanner zu reisen, wäre auch gleich eine gute Tarnung. Ein paar fähige Matrosen und einen einigermaßen erfahrenen Kapitän können wir ja mit dem verbliebenen Tempelgold anheuern.“

Barat jedoch fuhr unvermittelt auf, stieß wütend seinen Stuhl nach hinten und verließ mit den Worten „Hier macht ja doch jeder, was er will“ das Versammlungszimmer.

Die Zurückgebliebenen warfen sich ob dieser unvermutet heftigen Reaktion des Soldaten verwunderte Blicke zu. Rai bedankte sich eilig bei allen für ihr Kommen und verabschiedete sich von Belena mit dem Versprechen, ihr den Abreisetermin mitzuteilen, sobald dieser feststünde. Dann machte er sich auf die Suche nach seinem aufbrausenden Gefährten, um dessen Missstimmung auf den Grund zu gehen.

UNVERSÖHNLICH

Der Gefangene hielt ein Stückchen Brot zwischen den Fingern und schwenkte es zitternd vor einem kleinen Riss in einer Mauerfuge. Sein Gesicht war fahl und fleischlos, beinahe wie ein Totenschädel. Verfilztes, dunkles Haar rahmte dieses Bild der Entbehrung ein, das zwischen spitzen Schultern an einem in Lumpen gehüllten Leib hing. Zerbrechliche Gliedmaßen ragten aus den Kleidungsfetzen, als wären es dürre Äste.

In diesem Moment streckte eine kleine schwarze Maus ihre Nase aus dem Loch, vor dem der Gefangene mit seinem Brotbröckchen lockte, und schnupperte misstrauisch nach draußen. Als der winzige Nager keine Gefahr feststellen konnte, trippelte er zaghaft zur ausgestreckten Hand des Kerkerinsassen, nahm das Brotstück manierlich zwischen die Vorderpfoten und begann, ohne Scheu genüsslich daran herumzuknabbern. Ein seliges Lächeln erhellte das knochige Gesicht des in Ketten geschmiedeten Häftlings, als er dem Tier bei seiner Mahlzeit zusah. Er schien dabei die bedrückende Wirklichkeit der meterdicken Steinmauern um sich herum, die ihn von Tageslicht, frischer Luft und Freiheit abschnitten, völlig zu vergessen.

Megas schüttelte voller Verachtung den Kopf. Wie konnte jemand, in dessen Adern dasselbe Blut floss wie in den seinen, nur so gänzlich anders sein als er, so verweichlicht, so schwach und so empfindsam. Er beobachtete seinen Bruder schon eine ganze Weile durch das Gitterfenster der Zellentür, ohne dass dieser etwas davon bemerkt hätte. Seit ihn Megas des Mordes an ihrem Vater bezichtigt hatte, um den Verdacht von sich selbst abzulenken, fristete sein jüngerer Bruder sein klägliches Dasein in dieser Kerkerzelle tief unter dem schillernden Palast von Lechia. Hier unten war von der herrschaftlichen Pracht in den oberen Stockwerken freilich nichts zu bemerken. Es gab nur dunkle, kalte Steine, die von einem schmierigen Feuchtigkeitsfilm überzogen wurden. Weit über eineinhalb Jahre saß sein Bruder Nagas nun schon in diesem zwei mal zwei Schritt messenden Verlies im Schoß der Felsen seiner Heimatinsel.

Megas fragte sich unwillkürlich, was er an seines Bruders Stelle getan hätte. So machtlos der Willkür eines anderen ausgeliefert zu sein, erschien Megas als eine der schlimmsten Strafen überhaupt. Ein schnelles, blutiges Ende war einem solchen Dahinsiechen bei Weitem vorzuziehen, dachte er. Wenn es wirklich keinen Ausweg mehr gab, dann stellte auch der Freitod immer noch eine Alternative dar. Und wenn er dafür seinen Schädel so lange gegen die Steinmauern hätte schlagen müssen, bis er zerbrochen wäre, hätte dies immerhin ein selbstbestimmtes Ende bedeutet. Aber sich seinem Schicksal einfach auszuliefern, ohne eigenen Antrieb alles mit sich geschehen zu lassen, das wäre ganz sicher nicht der Weg gewesen, den Megas gewählt hätte. Was Megas erstaunte, war, dass sich Nagas trotz seines Elends noch an etwas erfreuen konnte – auch wenn es bloß etwas so Unbedeutendes wie dieses Ungeziefer war. Er hatte das Tier während seiner langen Haft durch dauerndes Auslegen von Futter an sich gewöhnt, sodass es ihm nun aus der Hand fraß und sich sogar streicheln ließ. Auf einen solch absurden Gedanken wäre Megas niemals gekommen. Die Mahlzeiten, die sein Bruder im Kerker erhielt, waren bestenfalls als spärlich zu bezeichnen. In einer ähnlichen Situation hätte Megas die Maus vielleicht noch getötet und gegessen, wenn sein Hunger groß genug gewesen wäre. Aber ihr von dem Wenigen abzugeben, was er zum Leben benötigte, nur um sich ihrer Gesellschaft zu erfreuen, erschien ihm als die dümmste aller möglichen Verhaltensweisen.

Und doch konnte Nagas immer noch lächeln, das wunderte Megas am allermeisten. Nach fast zwei unendlichen Jahren ohne Sonne, in Ketten für einen Vatermord, den er nicht begangen hatte, bereitete es ihm solches Vergnügen, irgendwelchem schäbigen Getier einen Leckerbissen zu schenken, dass er lächelte. Es war schon bemerkenswert, dachte Megas, wie viel Kraft ausgerechnet sein Bruder aus einer unbedeutenden Freundschaft mit einer Maus schöpfen konnte.

Erstaunlicherweise hatte es der schwächliche Nagas auch noch fertiggebracht, trotz seiner mehr als unkomfortablen Unterbringung am Leben zu bleiben, was bei seiner von Beginn an kränklichen Konstitution kaum zu erwarten gewesen wäre. Megas pflegte gefühlsbetonte Bindungen an ein anderes Lebewesen eigentlich als hinderlich, wenn nicht gar gefährlich einzustufen, aber er konnte nicht leugnen, dass sich in seltenen Fällen auch ein gewisser beiderseitiger Nutzen daraus ziehen ließ. So schienen die Treuebande zwischen Freunden oder Liebenden auch große Kraft verleihen zu können, eine Erkenntnis, die er allerdings nur aus der Beobachtung anderer gewann. Er selbst war das Risiko, jemanden zu lieben oder auch nur zu schätzen, niemals wieder eingegangen, seit seine Mutter viel zu früh dahingerafft worden war und dabei alles mit sich genommen hatte, was er und ebenso sein Vater an liebevollen Gefühlen aufzubringen vermochten.

Nagas schien da anders zu sein. Obwohl auch er ohne Mutter aufgewachsen war und sein Vater ihn nach ihrem Tod wie einen Aussätzigen des Hofes verwiesen hatte, war ihm der Glaube an das Prinzip Freundlichkeit nicht abhandengekommen. Selbst aus geringfügiger Zuneigung vermochte er noch so viel Kraft zu schöpfen, dass ihm sogar die Gesellschaft dieses unscheinbaren Nagetiers genügte, um in seiner Kerkerzelle nicht den Lebenswillen zu verlieren. Damit wurde Nagas Stärke aus einer Quelle gespeist, deren Ergründung sich Megas umso weiter entzog, je mehr er sie zu finden versuchte. Sein schwächlicher Bruder hatte die Kerkerhaft überlebt und damit, so erstaunlich es auch scheinen mochte, etwas vollbracht, das sich Megas selbst nicht zugetraut hätte. Megas respektierte Stärke, vielleicht das Einzige, dem er überhaupt eine Bedeutung beimaß. Und zumindest in diesem Punkt hatte Nagas seine Anerkennung verdient, sosehr Megas dessen augenfällige Verweichlichung auch störte.

Er schob den Dolch, den er bereits aus dem Gürtel gezogen hatte, wieder dorthin zurück. Vielleicht war es ein Fehler, Nagas heute am Leben zu lassen, aber Stärke verdiente es, erhalten zu werden. Oder erlag er, Megas Arud’Adakin, Beherrscher des glorreichen Ho’Nebs und der mächtigste Inselherr von Jovena, etwa gerade derselben Schwäche, für die er andere so sehr verachtete? Empfand er etwa Mitleid mit Nagas?

Nein, das war nicht der Grund, sagte sich Megas entschlossen. Er sah nur einfach keine Notwendigkeit mehr darin, Nagas umzubringen. Was sollte denn dieser Hänfling dort, mit einer Maus als einzigem Verbündeten, schon gegen ihn ausrichten? Seine Worte hatten kein Gewicht, sein Arm keine Kraft, sein Wille keine Festigkeit. Megas musste von ihm nichts befürchten. Er konnte es sich leisten, seinen Bruder für dessen Lebenswillen zu belohnen.

Er schloss die Kerkertür auf, worauf die Maus augenblicklich in der Tiefe eines Mauerspalts verschwand und Nagas voller Furcht an die hintere Wand zurückwich.

„Ich dachte mir“, richtete Megas das Wort an ihn, „dass du vielleicht lieber ein wenig trockener und wärmer wohnen würdest, Nagas.“

Nagas starrte seinen älteren Bruder mit einer Mischung aus Schrecken und Abscheu an, aber kein Wort kam über seine blassen Lippen.

„Außerdem wollte ich dich wissen lassen, dass es mir gerade gelungen ist, Techels Flotte in die Flucht zu schlagen, die ziemlich überraschend vor Lechia aufgetaucht ist. Es war ein harter Kampf. Sie wollten mich stürzen und dich an meiner Stelle auf den Thron setzen, aber daraus wird nun wohl leider nichts. Dennoch bin ich der Meinung, dass du lange genug hier unten schmoren musstest. Es ist an der Zeit zu vergessen, was war, und sich darauf zu besinnen, dass wir beide dem stolzen Geschlecht Arud’Adakin angehören. Ein Arud’Adakin verdient es nicht, in solch einem Loch zu hausen.“ Er schwieg für einen Moment, um Nagas’ Antwort abzuwarten, doch eine Erwiderung seines Bruders blieb aus.

„Ich werde noch einige Tage zu tun haben mit der Verfolgung und Vernichtung von Techels Flotte, aber danach kann ich dich vielleicht besuchen, in dem neuen Quartier, das ich dir zuweise. Natürlich darfst du es nicht verlassen, aber es wird dir dort an nichts mangeln, das verspreche ich dir. Ich denke, es wird auch langsam Zeit, dass wir uns besser kennenlernen – schließlich sind wir Brüder.“

Nagas öffnete den Mund, doch nur ein heiseres Krächzen drang daraus hervor. Ein Hustenanfall beutelte seinen geschundenen Leib. Er versuchte es noch einmal und tatsächlich brachte er dieses Mal ein paar einzelne Worte zustande: „Du … bist … du bist nicht …“

Er räusperte sich noch einmal und unternahm einen weiteren Anlauf: „Du bist nicht mein Bruder!“

Megas stutzte. „Was soll das heißen?“, wollte er wissen. „Natürlich bin ich dein Bruder, auch wenn uns weder äußerlich noch geistig viel verbindet.“

„Du bist …“ Nagas’ gequälter Blick bohrte sich in sein Gegenüber, während er die Worte wie rostiges Eisen aus seiner Kehle presste: „… wie ein böser Geist … ein Fluch. Ich will nicht … mit dir reden, ich will dich nicht sehen, ich will nichts von dir wissen. Geh weg. Ich kann dich nicht ertragen.“

Megas wollte voller Zorn etwas erwidern, doch es fiel ihm nichts Passendes ein. Die Worte seines Bruders kamen einer Ohrfeige gleich und das, nachdem er ihm die Hand zur Versöhnung gereicht hatte! Wutentbrannt warf er die Kerkertür hinter sich zu und lief zur Treppe, die in den oberen Teil des Palastes führte. Sollte Nagas doch hier unten verfaulen. Megas war auf niemanden angewiesen, erst recht nicht auf einen undankbaren und verweichlichten kleinen Bruder.

Rai fand Barat draußen bei den Katapulten. Der Veteran gab vor, die hölzernen Geschütze auf ihre Funktionsfähigkeit zu prüfen, aber die Art, wie er über die aufgewickelten Seile strich, verriet sofort, dass er in Gedanken ganz woanders war.

„Was ist denn los?“, erkundigte sich Rai geradeheraus. „Hab ich etwas falsch gemacht?“

„Du? Nein, niemals“, antwortete Barat sarkastisch.

Rai rümpfte die Nase. „Ich weiß jetzt wirklich nicht, was das soll. Ich habe doch einen ganz vernünftigen Vorschlag gemacht und außerdem tue ich das ja noch nicht einmal für mich, sondern für Belena, damit sie ihre Tochter wiedersehen kann. Ich fühle mich verantwortlich für sie.“

„Ja, für sie fühlst du dich verantwortlich“, rief Barat aufgebracht, „und was ist mit dieser Insel? Ist dir das, was wir hier geschaffen haben, etwa egal?“

„Natürlich nicht“, entgegnete Rai, bemüht, die Ruhe nicht zu verlieren, „und das weißt du auch ganz genau. Bloß weil ich nach Seewaith reise, heißt das ja nicht, dass ich Andobras auf ewig den Rücken kehre.“

Plötzlich dämmerte Rai, um was es bei ihrem Streit wirklich ging. „Machst du dir etwa Sorgen um mich?“ Er konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Du willst nicht, dass ich gehe, weil du mich vermissen wirst, hab ich recht?“

Barat funkelte ihn böse an. „Bilde dir bloß nichts ein, du hochnäsiger Tileter Gossenwelpe. Ich werde hier bestens ohne dich klarkommen.“

Aber Rai hatte seinen Freund durchschaut. „Ich verspreche dir, dass ich gut auf mich aufpassen werde. Ich bin nicht mehr so wie früher. Die letzten zwei Jahre haben mich gelehrt, erst zu überlegen und dann zu handeln.“

„Ja, ja“, brummte Barat bärbeißig, „vergiss dabei nur nicht, dass zum Überlegen das runde Ding zwischen deinen Schultern da ist, das du so selten benutzt.“

Rai musste lachen. „Du willst mir den Abschied von dir wohl so leicht wie möglich machen, oder?“

„Als ob es dir schwerfallen würde zu gehen“, grummelte Barat.

„Na, komm schon, jetzt sei nicht ungerecht.“ Rai wurde wieder ernst. „Natürlich gehe ich nicht gern, aber ich habe nun mal mein Ehrenwort gegeben. Und sieh es doch einmal so: Vielleicht kann ich in Fendland mit Meatrils und Targs Hilfe noch ein paar Verbündete gewinnen. Möglicherweise stellt mich Targ sogar seinem Onkel, dem Fürsten Soldarin von Nordantheon, vor. Das könnte doch eine äußerst wertvolle Bekanntschaft sein. Wir brauchen Verbündete, um auch in Zukunft gegen Megas und die Citkirche zu bestehen.“

„Rai, der Staatsmann“, bemerkte Barat mit einer Mischung aus Spott und Anerkennung. „Wirst du vielleicht doch endlich erwachsen? Ich bin mir gar nicht sicher, ob ich das so gut finde.“

„Tja“, erwiderte Rai mit einem Schulterzucken. „Dir kann man es eben nie recht machen.“ Er überlegte einen Moment, dann fügte er verschmitzt hinzu: „Aber vielleicht kannst du mir ja doch noch einen Rat geben, mein weiser Greis?“

„Hat dich schon mal jemand mit der Nase um einen Baum gewickelt?“, erkundigte sich Barat mit bedrohlich zusammengekniffenen Augen.

Rai schüttelte grinsend den Kopf.

„Wenn du nicht herausfinden willst, wie sich das anfühlt“, sprach Barat in aller Ruhe weiter, „dann treib keine Späße mit meinem Alter, du respektloses Fohlen eines Ödlandesels.“ Ein Schmunzeln huschte über das faltige Veteranengesicht. „Also, was willst du wissen?“

Das Lächeln verschwand aus Rais Gesicht und er begann unruhig, von einem Bein auf das andere zu treten. „Na ja“, begann er stockend, „du weißt doch, dass ich diese Xelitin Selira recht … nun, sagen wir mal … interessant finde.“

Ein Ausdruck von Belustigung schlich sich auf Barats Gesicht, aber er enthielt sich jedes spöttischen Kommentars. Das rechnete Rai ihm hoch an.

„Jetzt habe ich erfahren“, sprach der kleine Tileter weiter, „dass sie sich gerade mal wieder an der Oberfläche aufhält, weil sie im Wehrturm am Mineneingang zum Wachdienst eingeteilt wurde. Ich wollte sie schon lange fragen, ob sie sich nicht mal mit mir treffen will.“ Er warf seinem Freund einen verlegenen Blick zu. „Also, du weißt schon, nur sie und ich.“ Nervös zupfte er an seinen Ärmeln herum. „Aber ich hab mich noch nicht getraut, denn die paar Mal, die sie bisher an der Oberfläche war und wir miteinander sprechen konnten, sind wir immer in Streit geraten, obwohl ich das natürlich gar nicht wollte. Und jetzt, da ich bald für lange Zeit weg sein werde, läuft mir die Zeit davon. Ich will auf keinen Fall die Insel verlassen, ohne zu erfahren, wie sie über mich denkt.“

„Kurzum, du willst also wissen, ob Selira deine Gefühle erwidert“, fasste Barat nüchtern zusammen. Rai nickte.

„Dann geh zu ihr und frag sie.“ Der alte Soldat sagte dies, als wäre es das Einfachste von der Welt.

„Was soll denn das für ein Rat sein?“, empörte sich Rai. „Wenn das so einfach wäre, dann hätte ich das schon längst gemacht.“

„Ich habe nicht gesagt, dass es einfach ist“, erwiderte Barat. „In gewisser Weise ist es sogar schwerer, als einem Feind mit dem Schwert in der Hand gegenüberzutreten, denn es erfordert nicht nur Mut, sondern auch Aufrichtigkeit und Vertrauen. In diese Schlacht wirst du ohne Waffen und Rüstung ziehen müssen. Du kannst nur darauf hoffen, dass du unverletzt davonkommst, aber eine Garantie gibt es nicht. Und trotzdem musst du es wagen, denn tust du es nicht, hast du von vorneherein verloren.“

Rais gequälter Gesichtsausdruck verriet, dass dies nicht unbedingt der Ratschlag war, den er hatte hören wollen. „Das klingt, als müsste ich mich mit Selira duellieren.“

Barat hob eine Augenbraue. „Was ich bisher mitbekommen habe, entsprachen eure Treffen doch eigentlich ziemlich genau dem, was man gemeinhin als Duell bezeichnet – wenn auch glücklicherweise nur mit Worten. “

„Ja, eben“, bestätigte Rai bekümmert, „wir streiten immerzu. Woran liegt das nur?“

„Vielleicht solltest du einmal versuchen, Selira einfach Selira sein zu lassen und Rai einfach Rai“, schlug Barat vor. „Spiel nicht den Neunmalklugen, um sie zu beeindrucken, und versuche nicht, ihr deine Sicht der Dinge aufzudrängen. Lass sie ihre eigenen Entscheidungen fällen, auch auf die Gefahr hin, dass sie sich gegen dich und für ihren Glauben entscheidet.“

„Aber das schließt sich doch nicht aus“, protestierte Rai. „Ich würde doch nie von ihr verlangen, ihren Glauben an Xelos aufzugeben.“

Barat nickte verständnisvoll. „Und genau das solltest du ihr auch sagen – das versteht sich nämlich nicht von selbst. Du musst ihr zeigen, dass hinter deiner ungehobelten Fassade und deinem vorlauten Mundwerk ein kluger, mitfühlender und verantwortungsbewusster junger Mann steckt.“

Rai rollte mit den Augen. „Bei dir hört sich selbst ein Kompliment irgendwie tadelnd an.“ Er fuhr sich durch seine wirr abstehenden Haare. „Na gut, dann gehe ich eben zu ihr, ist ja eigentlich nichts dabei.“ Er schluckte. „Und wo soll ich mit ihr hingehen für den Fall, dass sie einem Treffen tatsächlich zustimmt? Wir können ja schlecht zusammen durch die Schmiedesiedlung spazieren.“

„Wandere doch mit ihr auf einen der nahen Berge“, empfahl Barat. „Du kannst ihr die wunderbare Aussicht über Andobras zeigen und vielleicht ergibt sich dann eine geeignete Möglichkeit, ihr deine Gefühle zu offenbaren.“

„Gut, das werde ich machen.“ Rai sah alles andere als zuversichtlich drein. Er blickte Barat prüfend an. „Warst du schon mal … so richtig …“

„… verliebt?“, vollendete der Veteran die Frage. „Ja, schon das eine oder andere Mal.“

„Und?“, bohrte Rai gespannt nach.

„Es war schön“, sagte Barat schlicht. „Aber meistens auch ziemlich kurz.“

„Wirklich? Warum?“

Barat seufzte. „Weißt du, als Soldat kommt man zwar viel rum, aber länger bleiben kann man nirgends. Das wollen die meisten Frauen nicht akzeptieren. Ist ja auch verständlich, dass sie nicht immer nur darauf warten wollen, bis man mal wieder zufällig mit seiner Truppe nahe ihres Heimatortes vorbeikommt und für ein paar Tage Freigang erhält.“

„Dann hättest du dir vielleicht eine Frau in deiner Einheit suchen müssen“, überlegte Rai.

„Ja, das habe ich auch gemacht.“ Barat lächelte wehmütig. „Aber es gab nicht viele Frauen in unserer Kompanie und dass eine davon mich zu ihrem Gefährten erwählt hatte, führte zu viel Neid und Missgunst unter meinen Kameraden. Deswegen hielt es auch nicht lange.“

„Das tut mir leid“, erwiderte Rai betroffen.

„Kümmere du dich lieber um deine eigenen Liebschaften und versuch, es besser zu machen als der alte Barat.“ Der Veteran setzte ein strenges Gesicht auf. „Worauf wartest du denn noch?“

Rai blinzelte ihn überrascht an. „Wie, jetzt gleich?“

„Ja, sicher“, gab Barat zurück. „Denk nicht lange darüber nach, sonst quälst du dich nur. Tu es einfach.“

Rai holte tief Luft, murmelte ein „Na gut“ und lief los.

Barat sah ihm mit einem milden Lächeln hinterher. Der junge Rai ließ ihn manchmal bedauern, dass er sich nicht irgendwo mit einer Frau an seiner Seite zur Ruhe gesetzt und selbst eine Familie gegründet hatte. Es stand außer Zweifel, dass ihm Rai sehr fehlen würde, wenn dieser sich auf seine Reise nach Seewaith begab. Ganz ähnlich muss sich wohl auch ein Vater fühlen, wenn die Kinder ihr Zuhause verlassen, um in die Welt hinauszuziehen, dachte er wehmütig.

Rai stand unschlüssig vor dem Wachturm am Eingang zu Andobras’ Mine. Wegen der schweren Schäden durch das Feuer, das bei der Eroberung des Gebäudes ausgebrochen war, hatte die Mauer im oberen Drittel abgetragen werden müssen. Um die Wachposten dennoch gegen die ausgiebigen Regenfälle der Insel zu schützen, war der Turm notdürftig mit einem hölzernen Dach versehen worden. Auf diese Weise gekürzt, wirkte der Wehrturm nun jedoch regelrecht untersetzt. Eigentlich hatte er keine Ähnlichkeit mehr mit einem Turm, sondern sah aus wie ein kreisrundes, einstöckiges Haus ohne Fenster, das nicht gerade einladend wirkte.

Doch die baulichen Veränderungen des Turmes waren Rai im Moment vollkommen gleichgültig. Sein Verstand kreiste einzig und allein um sein Vorhaben, Selira um ein privates Treffen zu bitten. Was für eine irrwitzige Idee! Seine Handflächen waren so feucht, dass er sie alle paar Augenblicke an seiner Hose abwischen musste. Er kaute nervös auf seiner Unterlippe herum und konnte nicht einen Moment am gleichen Fleck stehen bleiben.

Das ist nur ein Mädchen, Rai!, versuchte er sich gut zuzureden. Warum machst du dich so verrückt? Das wird schon klappen – also worauf wartest du noch?

Im gleichen Moment ging die Tür des Wachturms auf und Selira stand auf einmal kaum fünf Schritte vor ihm. So wie es aussah, war sie auf dem Weg zum Wasserholen, da sie einen leeren Wassereimer in der Hand hielt. Rai erstarrte so abrupt, als hätte er ein Gespenst gesehen. Als Selira den vor dem Turm postierten Tileter erkannte, zog sie verdutzt ihre dunklen Augenbrauen in die Höhe.

„Rai! Was machst du hier?“, fragte sie irritiert.

„Ich … warte“, antwortete er, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen.

„Auf wen oder was?“, erkundigte sich Selira.

„Das … das kann ich dir nicht sagen.“ Was war denn das für eine schwachsinnige Antwort?, schalt sich Rai gedanklich. Er hätte sich am liebsten selbst geohrfeigt.

Das Mädchen zuckte mit den Schultern. „Na gut, dann eben nicht.“ Sie machte sich auf den Weg zu einem nahen Bach, um ihren Eimer zu füllen.

„Kann ich dich begleiten?“, rief ihr Rai hastig hinterher.

„Meinetwegen“, erwiderte sie betont gleichgültig. „Hoffentlich verpasst du dann nicht, worauf du hier so gewissenhaft gewartet hast.“

Rai stellte fest, dass ihr Treffen schon wieder den gleichen bedenklichen Verlauf nahm wie immer, wenn sie sich begegneten – nämlich hin zu einem Streit. Er musste dringend gegensteuern.

„Ich kann dir ja deinen Wassereimer tragen, wenn er für dich zu schwer ist“, schlug er unter Aufbietung all seiner Liebenswürdigkeit vor.

„Nein, danke“, schmetterte sie seinen Vorschlag ab. „Das schaffe ich schon noch allein.“

Er lief eine Weile stumm hinter ihr her, bis ihm endlich wieder etwas einfiel, das er sagen konnte: „Und, gefällt es dir, wieder an der Oberfläche zu sein?“

„Fang jetzt bitte nicht wieder damit an“, stöhnte Selira. „Jedes Mal, wenn wir uns sehen, willst du mich davon überzeugen, die Feuerhöhlen des Xelos zu verlassen, um in der Stadt zu leben. Ich habe dir aber schon tausendmal erklärt, dass ich das nicht gegen den Willen meiner Glaubensgeschwister tun werde. Also lass dieses Thema endlich auf sich beruhen.“ Wütend beschleunigte sie ihre Schritte, sodass Rai ein wenig zurückblieb.

„Ich werde die Insel verlassen“, sagte er so leise, dass es für Selira kaum hörbar war.

„Was?“ Sie blieb stehen und drehte sich um.

„Ich werde Andobras für längere Zeit verlassen“, wiederholte er etwas lauter.

„Ach, wie schade“, sagte Selira. Es klang aufrichtig bedauernd. „Ich dachte immer, es gefällt dir hier.“

„Ja, schon, aber ich muss ein Versprechen einlösen“, erklärte Rai, den Seliras Reaktion neuen Mut schöpfen ließ. „Ich habe Belena, einer jungen Frau, mein Wort gegeben, dass ich sie zurück zu ihrer Tochter nach Seewaith bringe.“

„Das ist ja richtig selbstlos von dir“, bemerkte Selira anerkennend, fügte aber im gleichen Atemzug hinzu: „Hätte gar nicht gedacht, dass du den Wünschen anderer so viel Beachtung schenkst.“

Rai runzelte kurz die Stirn, weil er nicht recht wusste, ob er diese Bemerkung nun in erster Linie als Kompliment oder als Kritik verstehen sollte, entschied sich dann aber, einfach nicht darauf einzugehen. Er befand sich gerade auf einem guten Weg, schließlich hatte er jetzt endlich Seliras Interesse geweckt. Das durfte er nicht aufs Spiel setzen.

„Tja, und aus diesem Grund wollte ich dich fragen“, Rai nahm seinen ganzen Mut zusammen, „ob ich dich einmal unter vier Augen sprechen könnte.“