3,99 €
Lokalreporter Jens Jahnke macht Urlaub auf der Sonneninsel Rhodos. Sein Chef bittet ihn, dort zum mysteriösen Tod eines Deutschen zu recherchieren. Es beginnt eine aufregende Suche nach der Wahrheit und einem unbekannten Söldner. Die Spur führt in einen Himmelstaler Saatzucht-Betrieb. Eine neue Kartoffel entpuppt sich als tödliche Saat. Jahnke und seine Kollegin Elske wollen verhindern, dass sie auf den Markt kommt und zusätzlich ein bis zwei Morde aufklären. Diesmal geht es um Machenschaften, die uns als Verbraucher und Verbraucherinnen, aber auch Landwirtschaft und Politik beunruhigen sollten. Genießen sie zu Beginn ein paar Tage Urlaub auf Rhodos und begleiten Sie dann den Reporter nach Himmelstal, einem kleinen Dorf in der Lüneburger Heide.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2025
Hermann Brünjes
vermehrt gestorben
Jens Jahnke Krimi
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
vermehrt gestorben
Prolog
Mittwoch, 21.5.
Donnerstag, 22.5.
Freitag, 23.5.
Montag, 26.5.
Dienstag, 27.5.
Mittwoch, 28.5.
Freitag, 30.5.
Montag, 2. Juni
Dienstag, 3. Juni
Mittwoch, 4. Juni
Donnerstag, 5. Juni
Freitag, 6. Juni
Samstag, 7. Juni
Mittwoch, 11. Juni
Freitag, 13. Juni
Mittwoch, 18. Juni
Freitag, 20. Juni
Samstag, 21. Juni
Sonntag, 22. Juni
Montag, 23. Juni
Dienstag, 24. Juni
Donnerstag, 25. Juni
Freitag, 26. Juni
Sonntag, 28. Juni
Mittwoch, 2. Juli
Sonntag, 6. Juli
Autor, Hinweise zum Buch und weitere Bücher
Impressum neobooks
ein Jens Jahnke-Krimi
von Hermann Brünjes
Gewidmet
jenen Menschen in Dorf und Region,
die dafür sorgen, dass wir uns gesund und schmackhaft
ernähren können. Dank an euch, die ihr hart arbeitet und
alles tut, damit Arten geschützt und erhalten werden.
Ob Regen oder Sonne, Hitze oder Kälte, Saat oder Ernte –
durch Gottes Gaben und eure Arbeit
werden wir satt.
Danke.
1. Auflage 07/2025
Verlag: neobooks/epubli
Kontakt: [email protected]
Info: www.hermann-bruenjes.de
Umschlag, Texte © Hermann Brünjes
Coverfoto © pickist
Wie ein Hase auf der Flucht schlägt er Haken um Haken. Scharfkantige Steine schneiden ihm in die Füße, die nur durch dünne Badelatschen geschützt sind. Wieder ein Schuss. Links neben ihm wirbelt verkrusteter Schlamm auf. Einige Brocken streifen seine Wade. Nur weiter! Er braucht Deckung, unbedingt. Also ins Gebüsch, ungeachtet der Dornen und Disteln. Ein weiterer Schuss. Ob er sich den Lufthauch am rechten Ohr nur eingebildet hat? Im Augenwinkel sieht er eine schlanke, dunkel gekleidete Gestalt. Es ist der Mann aus dem Auto. Sie haben ihn also doch gefunden. Aber wie? Egal wie, jetzt muss er sich und die Notizen retten.
Er wirft sich zu Boden, ungeachtet der Schrammen und Schmerzen. Hören kann er nichts, nur das Dröhnen der Brandung. Der Wind kommt vom Meer, macht aus dem sonnigen Badeparadies von gestern eine Hölle aus Gischt und tosenden Wassermassen. Es hilft nichts, er muss hinunter an den Strand. Zwar bieten die dichten Büsche der Phrygana einen gewissen Schutz, er kommt jedoch zu langsam hindurch. Sein Verfolger ist schneller und dessen Kugeln allemal.
Also doch über die Geröllhalde zum Strand. Vielleicht muss er sich ins Wasser retten, kann die Wellen überwinden und in einem Bogen zurück ans Ufer schwimmen. Er ist ein guter Schwimmer. Hier oben hat er jedenfalls keine Chance. Er duckt sich in eine der tiefen, von Wassermassen ausgespülten Rinnen. Ob sein Verfolger ihn verloren hat? Kaum. Er lauert vermutlich irgendwo und wartet auf eine Möglichkeit zum finalen Schuss.
Er kriecht in der Rinne gen Strand. Wenn er es ins Wasser schafft, wäre er vielleicht in Sicherheit. Der steinige Strand ist jetzt ungewöhnlich schmal. Dort, wo gestern noch feiner Kies und vom Wasser glatt und rund geschliffene Steine lagen, tosen nun die Wellen und brechen sich jäh am steil aufsteigenden, felsigen Ufer. Jetzt muss er Rinne und Gebüsch verlassen. Am Hang strauchelt er. Zwischen dicken Steinen knickt er um. Ein stechender Schmerz jagt ihm durch den Knöchel.
Er fängt sich wieder und sprintet über das nur etwa acht Meter freie Strandstück. Nur noch vier oder fünf lange Schritte, dann kann er sich ins Wasser stürzen. Ob er den Schuss überhaupt hört, bevor er tödlich getroffen wird? Nur Dröhnen, nur Gischt, nur Angst. Er hat totes, weiches Seegras unter den Füßen, dann stürzt er sich in die dunkle Gischt.
Von schmutzigen Algenresten und wütendem Dröhnen erfüllte Wassermassen umschließen ihn. Er hört weder einen Schuss noch sonst etwas. Er sieht, spürt, hört und schmeckt nur salziges Wasser in Mund und Nase und das Donnern der Brandung. Er kämpft. Wenn ich die Brandung überwinde, denkt er, wird es ruhiger, leichter. Aber die Brandung scheint kein Ende zu nehmen. Er versucht, die mächtigen Wellen zu durchtauchen. Zwei, dreimal verliert er die Orientierung, weiß nicht mehr, wo oben und unten ist. Jetzt umgeben ihn nicht mehr Gischt und Schaum, sondern nur noch grünes Wasser in mächtigen Wellen. Bin ich schon durch? Er ist erschöpft, legt sich auf den Rücken, versucht Kraft zu sparen. Seine Augen suchen das Ufer, um zu sehen, ob sein Verfolger noch da ist. Er sieht weder Ufer noch Feind, nur Wasser und Wellen. Mehrmals wird er von Wellenkämmen überspült. Ist er doch noch nicht in ruhigerem Wasser? Bleibt es so, mit Sog nach draußen, mit Wellenbergen, die in die Tiefe ziehen? Hat es ihn schon wieder in die Brandung gezogen? Er will Kraft sparen. Es geht nicht. Den Wellen ausgeliefert wie das tote Seegras, wird er hin und her, auf und ab gewirbelt.
Wäre er doch nur nicht ins Meer geflohen … Erschossen oder ertrunken. Eigentlich ist es auch egal, denkt er. Ich hatte ein gutes Leben. Allerdings hatte ich noch einiges vor. Er will um Hilfe rufen. Wer jedoch sollte ihn hören? Sein Feind am Ufer? Sonst ist selbst bei gutem Wetter kaum jemand an diesem Strand. Ob Gott ihm helfen kann? Sicher. Aber wie? Dass er jetzt an Gott denkt, ist ihm fast peinlich. Nun, da er vielleicht sterben muss, erscheint es ihm zu spät.
Er spürt einen Stein unter dem linken Fuß. Eine Welle saugt ihn sofort wieder hoch und wirft ihn zurück ins Meer. Ein heißer Schmerz an seiner Schläfe. Gehört hat er nichts.
Ständig am Pool zu liegen, ist mir zu langweilig. Marens und meine Urlaubswünsche gehen weit auseinander, leider. Sie genießt die südliche Sonne, badet darin bis zur Erschöpfung und schwimmt im klaren Wasser des Pools, ich sitze daneben im Schatten unter einem Olivenbaum und lese Krimis oder versuche, mal selbst einen zu schreiben. Ich fahre gern Rad, mache Touren in die Umgebung und sie will einfach nur relaxen. Sie genießt die Zeit mit Buch im Sonnenstuhl, ich mache lieber eine Autotour durch die faszinierende Bergwelt der griechischen Insel, für die wir uns diesmal entschieden haben. Immerhin sind wir in der Lage, Kompromisse einzugehen.
Einer davon ist, dass wir nicht unbedingt allein in Urlaub fahren. Waren auch schon Marens Tochter Caren und ihr inzwischen elfjähriger Sohn Bruno aus Berlin mit, so sind es diesmal meine Kollegin Elske mit ihrem neuen Freund Gewi. Da Maren und Elske dicke Freundinnen geworden sind, beide machen Yoga und dumme Bemerkungen über mich, hat Maren vorgeschlagen mit meiner Lieblingskollegin Urlaub zu machen. „Ich kenne doch ihren Freund noch gar nicht!“ hatte ich eingewandt. So ganz stimmte es nicht. Ja, Gewi hatte ich bisher nur einmal Ende letzten Jahres getroffen. Er leitet die Tafel in der Kreisstadt und ist ein sympathischer, kluger, sportlicher und hübscher Mann vom Typ Tanzlehrer. Zwar hatte ich nichts gegen ihn, gestehe jedoch, dass ich damals kurzzeitig ein wenig eifersüchtig wurde. Obwohl bei Maren in festen Händen, finde ich meine jüngere Kollegin Elske nicht nur attraktiv, sondern ich mag sie sehr. Sie ist Mitte dreißig, hat viel Temperament, hat aus Ostfriesland eine gute Portion christlichen Verstandes mitgebracht und ist zudem eine blonde Schönheit mit strahlend blauen Augen.
Zunächst habe ich also gezögert, Marens Vorschlag zuzustimmen. Auch wollte ich vermeiden, meine Liebste durch allzu auffällige Blicke in Richtung Elske zu verletzen.
Allerdings weiß Maren genau, dass ich um den Altersunterschied und das zwischen uns vereinbarte „Gucken erlaubt, Anfassen verboten“ genau Bescheid weiß und mich entsprechend verhalte.
Nun also sind wir zusammen in Urlaub geflogen, dreieinhalb Stunden von Hamburg nach Rhodos. Gewi ist ein wirklich umgänglicher Typ. Er passt gut zu Elske, nicht nur äußerlich. Er ist witzig wie sie und man kann mit ihm gut diskutieren. Als ich ihm erzählte, dass ich ihn zuerst für einen Tanzlehrer hielt, lachte er. „Gut, dass du prinzipiell keine Vorurteile hast! Wie sieht denn ein Tanzlehrer aus?“ „Na, wie du!“ hatte ich geantwortet. „Mann, Jens, ich bin Sozialarbeiter und habe vom Tanzen soviel Ahnung wie du vom Fallschirmspringen!“ Ich hatte irgendwann erzählt, dass ich niemals aus einem Flugzeug springen würde, weder mit noch ohne Fallschirm.
Gewi hat jedenfalls Humor. Selbst seinen Namen lacht er einfach weg: Gerhard Windhose. Auch wenn die Witze darüber etwas schlüpfrig werden, kann er noch lachen. „Ich weiß,“ hat er sich selbst veräppelt, „nur Wind in der Hose. Besser als nur Wind im Kopf! Im Übrigen dürft ihr mich gerne bei meinem Kürzel ‚Gewi‘ nennen und ‚hart‘ und ‚hose‘ einfach weglassen.“
Weit im Süden der Sonneninsel haben wir ein Haus gemietet, eine kleine Villa mit Pool und Zugang zum Meer. Es ist traumhaft, wenn ich hier auch nicht auf Dauer leben wollte. Gewi hat im Internet gestöbert und Häuser und Villen gefunden, die verkauft werden sollen. „So teuer sind die gar nicht!“ hat er festgestellt. „Vielleicht können wir im günstigen Griechenland ja mal unsere Rente verprassen!“ Unsere Fantasie war zwar angeregt, das Ergebnis allerdings dann doch eher ernüchternd. Nein, zu weit weg, zu sonnig, zu fremdsprachig, zu einsam. Besser lebt es sich in Deutschland! Zudem kam am dritten Tag unseres Aufenthaltes ein scharfer Wind auf, zuerst von Land her. Die tatsächlichen 25° konnte man nur im Windschatten genießen. Außerhalb fühlte es sich fünf Grad kälter an. Nach zwei Tagen drehte dann der Wind und kam von See her.
Was in Frankreich Mistral und in Kroatien Bora heißt, wird hier Meltemi genannt: Ein scharfer Wind aus Nordwest. Keine Ahnung, ob auch der Wind aus Süden so heißt, er war jedoch extrem heftig und trieb die See vor sich her. Wir waren gemeinsam am Strand und wollten in den Wellen baden. Daraus wurde nichts. Brecher von ein bis zwei Metern donnerten bis an die mit dicken Steinen bedeckte Schilf- und Buschkante im oberen Uferbereich. Vom sonst zwanzig bis dreißig Meter breiten Uferstreifen, dem sanften Kiesstrand und den lieblich plätschernden Wellen der blauen See war nun nichts mehr zu sehen. Alles war nur laut, stürmisch und mächtig. Zudem war der Wind kalt und im T-Shirt konnte man es kaum aushalten.
Am Tag darauf hatte sich das Meer beruhigt und der Wind wieder gedreht. Am Strand lag eine dicke Schicht Seegras, vermutlich aus fernen Regionen vom Sturm angespült – jedenfalls war ich gleich zu Beginn unseres Aufenthaltes mit meinem Schnorchel unterwegs und hatte kein Seegras gesehen. Es war auch sonst enttäuschend gewesen. Das Meer hier ist tot, nur Steine, Sand, Felsen und kein Fisch zu sehen. Nach zweimal Schnorcheln habe ich es aufgegeben. Das Wasser ist klar, auch warm genug – aber es lebt hier nichts. Oder doch? Im Boden gibt es kleine Löcher. Ich vermute, wie im Watt ist auch dieser Meeresgrund belebter als man es mit bloßem Auge erkennt.
Vorgestern sind wir mit dem Mietwagen gemeinsam in Rhodos City gewesen. Maren hat tatsächlich länger als einen halben Tag auf ihren Pool verzichtet. Es war ein anregender Stadtspaziergang. In der modernen Einkaufsstraße sind die Frauen gleich losgestürmt und haben zwei Bekleidungsgeschäfte durchstöbert. „Sie müssen erst einmal ihre vermutlich genetisch bedingte Sucht befriedigen,“ hatte Gewi gemeint, während wir zwei Männer beim Cappuccino auf unsere Frauen warteten. Nach dem Kaufrausch unserer Liebsten zogen wir zu viert durch die aus meiner Sicht deutlich interessantere Altstadt um den Großmeisterpalast herum.
Die alte Festungsanlage mit der mittelalterlichen Ritterstraße, Häusern aus der osmanischen und italienischen Epoche der Stadt, einer Moschee, einer Kirche, eindrücklichen Befestigungen und tollem Ausblick auf den Hafen von Rhodos ist zurecht UNESCO Weltkulturerbe. Heute ist dies alles allerdings fest in touristischer Hand. Im Hafen liegen nicht nur Superjachten, Fischerboote und Verkaufskähne für Muschelkunst, sondern auch die ‚Blue Saphir‘, ein einst in Bremen gebautes mittelgroßes Kreuzfahrtschiff für 600 Gäste und 300 Besatzungsmitglieder, wie ich es später google.
In den unzähligen Gassen der Altstadt mit ihren kleinen Läden und Butiken blühten die Frauen dann wieder sichtbar auf und zusammen mit tausenden Touristen durchstöberten sie Auslagen, Kleiderständer und Regale. Vor allem Taschen und Kleider hatten es ihnen angetan. Gewi und ich trugen es mit Fassung, jedenfalls äußerlich. Ich habe Maren eine aus dünnem Bambus geflochtene runde Handtasche, von der sie sich gar nicht lösen konnte, geschenkt. Elske bekam von Gewi ein besticktes Shirt. Die Hoffnung, dass nun Ruhe einkehren würde und wir uns auf die Geschichte, das Weltkulturerbe und die Baukunst vergangener Zeiten konzentrieren konnten, erfüllte sich allerdings auch nicht, als wir unsere Einkaufstüten auf Stühlen eines Restaurants abstellten und gemeinsam zu Abend aßen. Wir alle waren müde und k.o. „Wollt ihr wirklich noch bis zur Akropolis latschen?“ fragte Elske und schlürfte an ihrer Apfelschorle. „Ich bin echt fix und fertig.“ Maren hatte zugestimmt: „Stimmt, ich auch. Die sehen sowieso immer ähnlich aus, so wie die Akropolis in Athen. Steine, Steine, Steine. Ich habe auch schon Fotos gesehen!“ Wir Männer hatten uns kurz angeschaut, genickt und jeden Kommentar vermieden. Unsere Frauen hätten vermutlich sogar auf den legendären ‚Koloss von Rhodos‘ verzichtet, würde er noch existieren.
Gestern sind Gewi und ich ein Stück über Land gefahren, in die Berge. Wenn die Küste hier schon einsam ist, die Bergwelt im Inneren der Insel ist es allemal. Nicht ein einziges anderes Auto ist uns unterwegs begegnet.
Wir haben uns einige der kleinen orthodoxen Kapellen angeschaut, sind durch das Bergdorf Mesanagros gefahren, haben uns dort den Friedhof angeschaut und waren kurz im Kloster Skadi.
Welch eine andere Welt als die der Küste und Touristenzentren! Viele der kleinen Kapellen wirken zunächst verlassen, sind aber alle geöffnet und wenn man hineingeht sieht man, dass sie genutzt werden. Ein Licht brennt, Ikonen und Heiligenbilder hängen an meist weiß getünchten Wänden, das Kreuz steht im Raum des Priesters, österlich ausgerichtet gen Osten. Es sind Orte, an denen ich irgendwie automatisch zu beten beginne. Was schon etwas heißt, da ich alles andere als der ‚spirituelle Typ‘ bin. Auf dem Gelände vieler dieser Kapellen stehen Bänke und Tische. Man begegnet sich hier offenbar an Festtagen.
Im Kloster zelebrierte ein bärtiger Prieser in vollem Ornat die Messe, ganz allein mit nur einem alten Mann als ‚Gemeinde‘. Die Anlage mit gastlichem Innenhof, Café und Kirche wirkte auf uns wie ein Paradies mitten in der Wüste. Kahle Berge drumherum, bewachsen mit gelb blühendem Ginster, Thymian, Salbei, Minze, Johanniskraut und anderen, teils sehr dornigen Büschen. Phrygana heißt solch Bewuchs in Griechenland. Ähnlich der Macchia auf Korsika sind es flache Büsche, Gräser und trockene, vom Wind zerzauste flache Koniferen.
Anders die Täler. Oft gibt es Olivenplantagen oder sogar Obstgärten. Pinien und andere Nadelbäume bringen Grün in das sonst meist triste Grau und Braun. Einige der Hänge sind mit leuchtend gelben Bergginster bewachsen.
Wir sind vom Kloster aus zur westlichen Küste hinuntergefahren. Die einspurigen Straßen winden sich in engen Serpentinen hinab. Maren hätte hier vermutlich einen Herzinfarkt bekommen. An der Seite liegen von den Hängen heruntergefallene Steine. Immer wieder hielten wir, genossen die fantastische Aussicht über Berge und Meer und machten Fotos.
Um die Südspitze der Insel herum kamen wir erfüllt zurück in unsere Villa – die beiden Frauen schienen ihre Sonnenbank am Pool nicht verlassen zu haben und jammern logischerweise heute herum, weil sie eher rot als braun geworden sind.
Heute nun sind auch wir Männer häuslich. Wir dösen in der Sonne, plantschen im Pool und genießen ein kaltes Mykos-Bier. Am Abend wollen wir alle zusammen nach Lachania, einem kleinen Dorf ganz in der Nähe und dort eine im Reiseführer empfohlene Taverne besuchen. Jetzt jedoch sind Sonne und Pool angesagt. Maren im dezent gestreiften Badeanzug, Elske im schwarzweißen Bikini, Gewi und ich beide in unabgesprochen hellblau gestreiften Badehosen. Elske döst in der Sonne. Sie hat sich ein Handtuch über ihre geröteten Beine gelegt. Gewi lässt die Füße in den Pool baumeln und scheint in Gedanken versunken. Maren ist ins Haus gegangen. Sie lag eben noch lesend neben mir unter einem der beiden Schatten spendenden Olivenbäume auf dem Gelände. Maren liest ein Buch über psychische Erkrankungen, ich den dreiundzwanzigsten John Milton Actionkrimi von Mark Dawson.
Mein Handy liegt meistens irgendwo herum, da ich es im Moment nur für Fotos nutze. Maren bringt es mir nach draußen.
„Jens, ich glaube, es hat gesummt. Es ist offenbar nicht der erste Anruf, den du überhörst!“
Sie hat recht. Sechs unbeantwortete Anrufe werden angezeigt. Immer ist es dieselbe Nummer, die der Redaktion unserer Zeitung.
„Ich weiß nicht, ob ich wirklich rangehen soll. Es ist die Redaktion!“
„Musst du entscheiden. Vielleicht wollen sie einfach nur etwas wissen.“ Maren setzt sich wieder auf ihre Liege neben mir unterm Baum und nimmt ihr schlaues Buch zur Hand.
Elske hat unser Gespräch mitgekriegt. „Wartet, vielleicht haben sie es auch bei mir versucht.“ Sie kramt in der Handtasche neben ihrer Liege, holt ihr Smartphone heraus, schaut aufs Display und nickt. „Ja, auch bei mir haben sie angerufen, zweimal sogar der Chef persönlich übers Handy.“
„Dann muss es dringend sein. Aber wir sind im Urlaub!“
Elske nickt. „Stimmt schon. Doch gerade das macht es seltsam. Florian nimmt sonst immer Rücksicht auf unsere Freizeit, jedenfalls bei mir.“
Sie hat recht. Elske ist Florian Heitmanns Liebling. Während unser Chefredakteur mich durchaus auch mal am freien Wochenende irgendwohin schickt, behandelt er Elske wie eine verwöhnte Tochter. Trotzdem, er weiß, dass wir zusammen auf Rhodos sind und nicht verfügbar.
„Ich rufe mal zurück. Er wird uns ja nicht gleich den Urlaub versauen! Vielleicht haben sie nur eine dringende Frage.“
Es läutet. Ich kann mir das Büro, den Schreibtisch und Florians massige Gestalt dahinter lebhaft vorstellen. Gleich wird er mit seinen Wurstfingern nach dem Hörer greifen und …
„Jens! Na endlich. Seid ihr in Afrika oder auf dem Mond? Hundertmal habe ich versucht, bei dir und auch bei Elske anzurufen.“
„Moin Chef. Sechsmal hast du es bei mir versucht. Ich bin im Urlaub und sitze am Pool. Da nehme ich mein Handy nicht mit! Was gibt es denn so Dringendes?“
„Auf Rhodos hat man einen Toten gefunden, einen Deutschen.“
„Okay. Woher hast du das? Und wieso ist das für ein Kreisblatt wie unseres von Bedeutung? Nicht dass ich herzlos bin, aber man findet immer irgendwo auf der Welt und sicher auch auf Rhodos irgendwelche Tote, auch Deutsche.“
„Das schon, Jens. Dieser Mann aber kommt nicht von irgendwo, sondern aus deinem schönen Himmelstal.“
Nun muss ich doch schlucken. Ausgerechnet aus unserem kleinen Heidedorf verschlägt es außer Maren und mich noch jemand nach Rhodos und der stirbt hier auch noch! Kein Wunder, dass Florian sofort an uns denkt.
„Es kam über den Ticker. ‚Deutscher Urlauber aus der Lüneburger Heide auf Rhodos auf rätselhafte Weise ertrunken,‘ hieß es dort. Ich habe beim dpa angerufen und mir Namen und Adresse des Verunglückten besorgt. Er heißt Rüdiger Scheurer und er wohnt in einer der neuen Siedlungen bei euch im Dorf.“
Nie gehört den Namen. Dennoch geht es mich natürlich etwas an, wenn jemand aus dem Dorf meiner Wahl hier in der Nähe ums Leben kommt.
„Das ist ja schlimm!“
Elske hat ihre Liege verlassen und steht nun neben uns.
Sie stößt mich an. „Worum geht es? Stell doch mal auf laut, ich will mithören.“ Ich stelle den Lautsprecher an.
Florian hat Elskes Stimme erkannt. „Hallo Elske! Ich hoffe sehr, ich störe euch nicht allzu sehr!“
Aha, bei ihr entschuldigt er sich.
Sie lacht. „Na ja, ist schon besser, man darf in Ruhe Urlaub machen und der Arbeitgeber lässt einen in Ruhe! Aber was ist denn nun eigentlich passiert?“
Florian wiederholt, was er mir gesagt hat.
„Ich dachte nur, ihr solltet das wissen. Immerhin seid ihr zufällig auch auf Rhodos.“
„Wo genau soll es denn passiert sein? Die Insel ist ja nicht so klein wie Helgoland!“ Elske schaltet schneller als ich. „Vielleicht können wir ja mal versuchen, Einzelheiten zu erfahren.“
„Ja, genau deshalb rufe ich an. Der Ort heißt Gnadi oder so ähnlich.“ Elske und ich werfen uns einen erstaunten Blick zu.
„Gennadi meinst du? Das ist hier gleich um die Ecke.“
„Dann müsstet ihr ja etwas mitgekriegt haben, oder?“
„Chef, wir leben hier abgeschnitten vom Rest der Welt in einer Villa am Meer. Da hat man keinen Kontakt zur Umgebung. Und griechisches Radio verstehen wir nicht.“
„Ist ja gut, Jens. Ich gönne es euch. Die dpa-Meldung erwähnt eine Polizeistation in Lindos. Müsste ja auch bei euch in der Nähe sein.“
„In der Nähe ist übertrieben. Mindestens dreißig Minuten dauert die Fahrt schon ... Aber wir fahren morgen mal hin.“
„Danke. Wenn ihr etwas rauskriegt, bekommt ihr sofort ein paar Spalten mit Foto. Lasst euch aber nicht euren Urlaub verderben!“ Witzbold. Dabei hat er genau das gerade gemacht. „Elske, pass auf dich auf. Bis dann!“
Florian legt auf.
Hemmungslos raspelt er wie immer Süßholz bei meiner Kollegin. Entsprechend beleidigt muss mein Gesicht gerade auf die Frauen neben mir wirken.
„Jens, nimm es nicht so ernst. Unser Chef steht eben auf junge Frauen wie mich.“
„Und alte Knacker wie ich verdienen das Geld für ihn und sein Käseblatt, oder?“
Sie lacht und Maren stimmt ein. „Jens, du nimmst das alles viel zu ernst. Dein Chef liebt und achtet dich, was du längst bemerkt haben müsstest.“
„Ja, wenn ich eine tolle Story liefere und wir deshalb viele Leserbriefe kriegen! Dann bin ich der Größte, er jubelt mich zum Starreporter hoch und füllt mich mit seinem Dimple Whisky ab. Aber wehe, ich schreibe nur gewöhnliche Sachen wie alle andere auch. Dann stempelt er mich zum alten Eisen und nörgelt an allem herum.“
„Jens, wie alt bist du eigentlich? Fünfundvierzig und in der Midlife-Krisis?“ Elske schüttelt ihren blonden Schopf und lacht. „In deinem Alter müsste man doch eigentlich weit über solchen Dingen stehen.“ Sie hat mich wieder mal bei meiner Eitelkeit ertappt, zudem betont sie unseren Altersabstand – was mir ganz und gar nicht gefällt.
Immerhin versucht Maren jetzt, mich aufzubauen: „Manchmal, Jens, kapierst du es nicht. Ohne dich wäre euer Käseblatt eine langweilige Provinzzeitung. Mit dir dagegen gibt es Stories von Weltformat.“
Ich schaue Richtung Gewi. Der sitzt immer noch am Pool und hat nichts mitgekriegt. Ein Mann, der sich um die Ärmsten der Armen kümmert, Leiter der Tafel. Organisator der diakonischen Aufgaben im Kirchenkreis. Ein Mann mit sichtbarem Erfolg – wenn auch nicht im Milieu der Reichen und Schönen, so aber doch als Stütze der Gesellschaft. Er hat ein kleines Häuschen in der Nähe seines Arbeitsplatzes, verdient gut und wird als Vertreter der Tafel gerne zu öffentlich relevanten Veranstaltungen von Lions- und Rotary-Club, Kirche, Sparkassen und Behörden eingeladen. Sogar das Bundesverdienstkreuz hat er im letzten Jahr bekommen. Mit sechsunddreißig! Jens Jahnke im Vergleich: Er hat mit achtundfünfzig immer noch kein eigenes Haus, kein leistungsgerechtes Einkommen, keine Kinder, keinen Orden. Weder erscheine ich im Guinnessbuch der Rekorde, noch gehöre ich zu den Gewinnern von Journalistenpreisen. Ich bin und bleibe Provinzreporter, nicht mehr und nicht weniger.
Klar, einige aufregende Stories und investigative Artikel habe ich veröffentlicht. Durch sie sind einige Menschen glücklich und sogar gerettet worden. Andere haben alles verloren oder sind im Knast gelandet.
Aber Ruhm, Anerkennung oder gar ‚Weltformat‘? Oh Maren, das sehe ich aber ganz anders. Laut jedoch sage ich: „Danke Maren. Du hältst zu mir, auch wenn sich mein Chef nicht einmal von mir verabschiedet.“
Meine Liebste nickt, legt sich wieder auf ihre Liege und nimmt ihr schlaues Buch zur Hand.
Elske hatte sich während des Telefonats neben meine Liege in den Kies gehockt. Nun meint sie trocken: „Wenn wir mit dem Austausch von Befindlichkeiten fertig sind, können wir ja mal weiter über die Sache mit dem toten Himmelstaler reden. Kennt einer von euch beiden diesen Rüdiger Scheurer?“
Maren sieht nur kurz von ihrem Buch auf. „Ich nicht. Aber wir haben inzwischen drei Neubaugebiete im Dorf. Da kennt man nicht mehr jeden.“
Ich nicke. „Und wenn du ihn nicht kennst, Maren, dann ich schon lange nicht! Vielleicht, wenn ich sein Gesicht sehe – aber nur mit Namen, nee.“
„Dann werden wir uns ihn also ansehen müssen.“ Elske meint in der Regel, was sie sagt. Ich staune.
„Wie, ansehen? Wo denn? Wir kriegen doch bestenfalls ein Foto, oder?“
„Wenn er an dieser Küste ertrunken ist, vielleicht sogar hier an ‚unserem‘ Strand, dann muss er doch noch irgendwo auf der Insel sein. Es muss ja wohl letzte Woche passiert sein, vielleicht sogar, während wir bereits hier waren. Sie werden ihn noch nicht beerdigt haben. Im Übrigen wird sein Leichnam bestimmt nach Deutschland überführt.“ Wie immer analysiert Elskes Verstand messerscharf, wie es war, wie es ist und wie es sein kann. „Wir sollten also morgen früh dieses Polizeirevier aufsuchen und hoffen, dort mehr zu erfahren. Oder willst du dir diese Chance auf eine Story entgehen lassen?“
„Die traurige Meldung, dass jemand im Urlaub ertrunken ist, würde ich nicht als ‚Story‘ bezeichnen.“
„Rüdiger Scheurer sei ‚auf rätselhafte Weise ertrunken‘, hat unser Chef gesagt. Hat dich das nicht neugierig gemacht?“
„Du meinst, weil ich gerne Rätsel knacke? Ich hab‘ es ehrlich gesagt gar nicht gehört, nur ‚ertrunken‘ ist bei mir hängengeblieben.“ Komisch, ich werde wohl doch alt.
„Also fahren wir morgen?“ Ich nicke und stimme zu.
*
Das Dorf Lachania ist allemal einen Ausflug wert und das Restaurant neben der Dorfkirche ein mit gutem Grund berechtigter ‚Geheimtipp‘. Wir verlassen die Küstenstraße und fahren einige Kilometer bergauf. Je höher wir kommen, desto mehr lohnt sich ein Blick über die Schulter. Das Meer im Hintergrund präsentiert sich tiefblau unter noch hellem Himmel, an dem bereits der silberne Halbmond zu sehen ist. Der grüne Küstenstreifen mit hier nur vereinzelt oder in kleinen Gruppen stehenden weißen Häusern wirkt einladend. Auch die drei Villen, deren hintere unser Urlaubsquartier ist, sind von hier oben zu sehen – wenn man nicht gerade fahren und auf die kurvige Straße achten muss. Auch an dieser liegen einige Villen, meist mit Swimmingpool, und bieten einen grandiosen Blick aufs Meer und die vorgelagerten Olivenhaine.
Es ist noch etwas zu früh zum Essen. Wir parken beim Restaurant und erkunden das Dorf. Fast alles ist weiß getüncht, Türen und Fenster sind blau abgesetzt, manchmal auch in anderen frischen Farben. Einige der Wände sind künstlerisch bemalt, mit Motiven von der Insel oder mit naiv bebilderten Landkarten. Aus einigen Wänden ragen Rohre, aus denen frisches Quellwasser in Brunnen fließt. Die Gassen sind schmal, überall blühen Oleander, Lorbeer, Ginster und andere Büsche und Blumen. Zwischen den meist liebevoll hergerichteten Gebäuden gibt es auch verlassene und verwahrloste, darunter Ruinen. Reich sind die Leute hier vermutlich nicht. Viele der Häuser scheinen auch nicht ständig bewohnt zu sein. Oben an der Durchgangsstraße gibt es einen kleinen ‚Minimarkt‘.
Ich kaufe eine Flasche Wasser und werde von einer mürrischen, übergewichtigen Frau bedient. Auf dem Obstregal räkelt sich eine fette gelbbraune Katze. Die schnurrenden Vierbeiner gibt es hier und allerorts auf der Insel häufig. Sie streifen umher, liegen in Geschäften und auf Märkten zwischen den Auslagen, betteln am Tisch im Restaurant um Futter … Vorschriften zur Geburtenkontrolle bei Katzen scheint es nicht zu geben. Aber vielleicht denke ich da auch zu deutsch. Die Griechen scheinen mit Regeln und Gesetzen deutlich lockerer umzugehen als wir.
Unter der breiten Krone einer alten Platane und entlang der Mauer zur Dorfkirche sind Tische aufgestellt. Einladend präsentiert sich das Restaurant. Wir studieren die Speisekarte, bestellen Lamm, Huhn, Rippchen und viele Beilagen, dazu griechischen Wein, das schmackhafte Mykos-Bier und freuen uns auf köstliches Essen zu moderaten Preisen. Es wird hoffentlich ein anregender Abend – den ich mir allerdings etwas romantischer vorgestellt habe, als er zu werden scheint.
Am Nebentisch sitzen zwei Familien mit lebhaften Kindern. Sie laufen um Tische und Baum herum, streiten um eine Serviette und das kleinere Mädchen weint, weil sie sich nicht durchsetzen kann. Dass Kinder oft nerven, merke ich erst im Älterwerden. Die jungen Eltern der beiden scheinen sich über das Temperament ihrer Sprösslinge sogar noch zu freuen und feuern sie eher an, statt sie zu beruhigen.
Außerdem hätte ich vermutet, dass sich zwei befreundete Paare im Urlaub in solch romantischer Umgebung über etwas anderes unterhalten – vielleicht von sich selbst erzählen, oder sich eben besser kennenlernen, indem sie Erlebtes oder Meinungen zu aktuellen Themen austauschen. Wir jedoch kommen immer wieder auf die Wasserleiche zurück.
„Was meint Florian wohl mit ‚rätselhaftem‘ Ertrinken?“ Elske füllt eine der ersten Gesprächspausen mit ausgerechnet dieser Frage. Gewi steigt sofort darauf ein.
„Na, weil man vermutlich nicht weiß, wie der Mann ertrunken ist. Ist er absichtlich ins Wasser gegangen, um seinem Leben ein Ende zu setzen. Hat er einen Herzinfarkt bekommen?“
Wie immer sind Gewis Gedanken nachvollziehbar. Ihm fallen noch weitere ‚rätselhafte‘ Möglichkeiten ein: „Oder er ist mit dem Kopf auf einen Stein geknallt und es war ein Unfall. Oder er wollte schwimmen und hat sich schlicht überschätzt.“
„Das mit dem Überschätzen kann ich mir vorstellen. Wann war es nochmal, als Sturm aufkam? Ja, am Freitag. Wenn dieser Rüdiger da gebadet hat, könnte es böse ausgegangen sein.“
Elske gibt ihm Recht. Ich bleibe skeptisch.
„Aber wieso sollte jemand am letzten Freitag im Meer Schwimmen gehen? Es war im Vergleich zu sonst saukalt und der Sturm war ätzend. Maren, wir waren ja auch am Meer. Hättest du dich da in die Wellen gestürzt?“
Meine Liebste lacht. „Ich ganz sicher nicht. Das aufgewühlte Wasser war braun und die Wellenkämme teilweise schwarz von totem Seegras oder Algen. Nee, ich wäre da nie reingegangen und hätte auch Schiss vor den Riesenwellen. Aber dir traue ich das schon eher zu, Jens!“
„Aber ich hab’s ja definitiv nicht gemacht!“
„Ja, weil es dir zu kalt war. Aber hast du nicht sogar gesagt: ‚Oh, wenn es jetzt wärmer wäre, müsste man mal Wellenbaden probieren, oder surfen gehen …‘ Sowas jedenfalls habe ich noch im Ohr.“ Meine Liebste prostet mir schmunzelnd zu.
Elske vermittelt. „Gut, dass du es nicht ausprobiert hast, Jens. Gäbe es hier eine Badeaufsicht, hätten sie mit Sicherheit die rote Fahne gehisst und das Schwimmen verboten. Derart große Wellen haben einen starken Sog. Man kann sich mit Sicherheit nicht auf den Beinen halten, selbst im flachen Wasser nicht und wenn man erst einmal weiter draußen ist, wird man vermutlich ins Meer gezogen. Das zu verhindern, schafft selbst ein guter Schwimmer nicht.“
„So sehe ich es auch. Kürzlich ist jemand auf Amrum ertrunken, vor den Augen seiner Frau. Er kam in eine Strömung und nicht mehr zurück. Seine Frau konnte nichts tun.“ Gewi schaut Elske an, als wolle er sehen, ob auch sie verzweifelt wäre, wenn ihm so etwas passiert … sie jedoch geht nicht auf ihn ein.
„Wenn der Mann sich selbst überschätzt hat und deshalb ertrunken ist, erklärt dies noch nicht das Adjektiv ‚rätselhaft‘.“
Ich stimme ihr zu: „Genau. Ich vermute, dies hat sich nicht Florian ausgedacht, sondern er hat es wörtlich vom Pressedienst übernommen.“
„Vielleicht trug der Mann keine Badesachen, sondern war voll bekleidet mit Schuhen und so …“
„Oder er sollte eigentlich ganz woanders sein.“
„Er war jedenfalls kaum allein hier auf der Insel. Die Polizei hat doch sicher seine Mitreisenden aufgespürt und informiert.“
„Vielleicht haben erst sie die Rätsel um den Tod von Rüdiger aufgeworfen.“
Der Todesfall unseres Dorfgenossen hat uns alle betroffen gemacht. Besonders Maren ist emotional bewegt.
„Es muss schrecklich für sie gewesen sein. Plötzlich steht die Polizei vor der Tür und sie hören, dass ihr Mann, Freund, Vater oder wie immer sie zu ihm standen, tot ist.“
„Vielleicht haben seine Mitreisenden Rüdiger sogar selbst am Strand gefunden, oder? Wenn sie ihn vermisst haben, könnten sie nach ihm gesucht haben.“ Gewi spinnt den Gedanken weiter. „Dann liegt er dort tot am Strand … Welch ein Drama. Stellt euch vor, das passiert uns …!“
„Mal den Teufel nicht an die Wand!“ Elske gibt ihrem Freund einen Stoß in die Seite. „Ich finde, wir sollten lieber aufhören, ins Blaue zu fantasieren. So kommen wir nicht weiter.“
„Genau. Morgen versuchen wir, diese Polizeistation in Lindos zu finden und ich hoffe, sie geben uns Einzelheiten.“ Ich versuche, das Thema zu wechseln. „Nur gut, dass sich das Wetter wieder beruhigt hat. Der Wind ist fast weg und die Sonne scheint. Es kann kaum besser werden.“
Gewi scheint zu jenen Menschen zu gehören, die sich gerne mit Katastrophen befassen. Jedenfalls lässt er sich nicht vom Thema abbringen. „Das kann sich schnell wieder ändern, haben wir ja selbst gesehen! Im Übrigen: Wenn dieser Rüdiger Scheurer am letzten Sturm-Tag ertrunken ist, war das am Freitag, also am 16. Mai. Da waren auch wir schon einige Tage hier.“
Elske nickt. „Wenn es in der Nähe von Gennadi passiert ist, könnte es sogar in unserem Strandbereich gewesen sein.“
„Wir sind aber keinen Deutschen begegnet, weder in einer der anderen beiden Villen noch an unserem Strandabschnitt.“ Maren will also auch weiter über das Drama sprechen. „Aber Jens, du hast erzählt, dass du weiter vorn auch andere Villen in Strandnähe gesehen hast.“
„Ja. Ich bin gleich am Mittwoch beim Strandspaziergang dort gewesen. Die Häuser, alle mit Pool, stehen noch näher am Strand als unsere. Es sind insgesamt sieben. Von der Küstenstraße führt eine Stichstraße zu den ‚sieben Villen‘. Zwischen den weißen Villen steht ein älteres, rot verputztes Mehrfamilienhaus, auch mit Pool.“
„Waren dort Leute? Ist dir etwas aufgefallen?“
„Nein. Zwei der Villen schienen bewohnt, die anderen hatten ihre Rollos runtergezogen. Leute habe ich nicht gesehen, auch nicht am roten Wohnhaus.“
„Und der Strand? Ist er dort so ähnlich wie bei uns?“
„Genauso. Zuerst mit stachligen Büschen bewachsene Dünen, dann dicke, runde Steine, dann Kies.“
Elske nickt. „Also könnten dort auch deutsche Gäste gewohnt haben. Aber es gibt vermutlich noch viele andere Ferienhäuser und ja auch Apartment-Hotels hier in der Nähe.“
„Ich sag’s ja! Lass uns doch einfach abwarten, was uns die Polizei morgen erzählt – wenn sie überhaupt etwas preisgeben!“
„Du meinst, sie informieren die Presse nicht?“
„Den griechischen Medien haben sie ja offenbar berichtet. Sonst wäre es nicht über den Ticker gekommen. Aber wir als Ausländer haben hier keine Presserechte.“
„Vielleicht wäre es klüger, wir geben uns als Freunde dieses Rüdiger Scheurer aus. Oder als Verwandtschaft, die sehen wollen, wo er gestorben ist.“ Meine Maren überrascht mich immer wieder! „Oder noch besser: Wir beide begleiten Elske, die um ihren Onkel trauert.“
Ich muss lachen. „Das nehmen die uns ganz sicher nicht ab! Außerdem können wir dort nicht zu viert aufkreuzen. Am besten, ich gehe alleine.“
Maren und Gewi schauen sich an und Gewi meint: „Verstehe. Der Reporter will seine Story schützen! Aber dann nimm wenigstens Elske mit. Sie ist immerhin deine Kollegin.“
Elske lacht. „Außerdem ist mein Englisch besser! Oder willst du mit den Polizisten auf Griechisch kommunizieren?“
Natürlich hat sie wieder mal recht. Ich wollte eigentlich auch nur verhindern, dass Maren und Gewi mitkommen und es wie ein sensationslüsterner Familienausflug wirkt.
Das Essen kommt.
Endlich verlassen wir das leidige Thema Wasserleiche. Immerhin hat es niemandem am Tisch den Appetit verdorben, im Gegenteil – die Wartezeit kam uns allen kurz vor und die Kinder haben mich nur noch selten genervt. Jetzt sitzen auch sie vor ihren Pommes und haben sich offenbar ausgetobt. Erstaunlich, wie eine gute Mahlzeit die aufgewühlten Gemüter befriedet.
Verbranntes Land, soweit man blickt. Nur einige Pinien, Kiefern und Palmen haben das Feuer im Juli 2023 überstanden. Schwarze Baumskelette und verkohlte Ruinen von den Bergen bis zum Strand. Es muss ein Inferno gewesen sein. Fast 20.000 Touristen mussten von See her und aus der Luft gerettet werden. Elske hat sich vor unserer Reise kundig gemacht. Als wir jetzt an der Touristenhochburg Koitari vorbeifahren, berichtet sie über das Gelesene.
„Man vermutet fahrlässige Brandstiftung, kennt jedoch nicht die Verursacher. Das Feuer ist in den Bergen ausgebrochen. Es hatte monatelang nicht geregnet und die Temperaturen lagen bei über vierzig Grad. Der starke Wind trug die Funken von Berg zu Berg Richtung Südwesten. Bauernhäuser, Kapellen, Klöster und die für die Menschen so wichtigen Olivenhaine fielen den Flammen zum Opfer. Auch hier an der Küste, die deutlich besiedelter ist als das Innere der Insel, haben viele alles verloren.“ Elske deutet auf eine Bucht.
Dort unten am Strand liegen immer noch verkohlte Balken einer Strandbar. Die Hänge links und rechts der Straße sind mit schwarzen Baumskeletten bedeckt. Nur zögernd scheint sich die Natur wieder zu erholen.
„Kleine Strandbars, Kioske, Läden, Pensionen und Ferienhäuser … alles brannte lichterloh. Die Feuerwehr von Rhodos war völlig überfordert. Die Einheimischen haben fast ohne Ausrüstung gegen das Feuer angekämpft. Dann kam Hilfe aus dem Ausland. Das Feuerinferno hatte bereits die Küste erreicht. Zwischen Gennadi und Lindos brannte es an unzähligen Stellen. 18.000 Hektar, das sind 13 Prozent der Inselfläche, standen damals in Flammen.“
Wir kommen an einer großen Hotelanlage vorbei. Sie präsentiert sich in strahlendem Weiß, mit Palmen und Oleander davor. Weiter hinten sieht man bunte Sonnenschirme und glitzerndes Wasser in großen Pools.
„Hier scheint nichts passiert zu sein.“
Elske schüttelt den Kopf. „Wohl doch! Allein aus diesem Hotel mussten über tausend Gäste evakuiert werden. Aber hier sitzt das Geld. In den großen, reichen Anlagen hat auch der Staat besonders investiert. Die Insel lebt vom Tourismus. Da wurden diese Zentren als erstes wieder hergerichtet. Du siehst es ja: Inmitten verkohlter Hügel erstrahlt es hier in neuer Pracht. Trotzdem, ich bin froh, dass wir weiter im Süden Urlaub machen und nicht im Brandgebiet!“
Es stimmt. Auch nach zwei Jahren wirkt diese Gegend noch extrem mitgenommen. Bis die Bäume nachwachsen und es wieder grün wird, vergehen ganz sicher noch einige Jahre.
Wir fahren weiter an der Küste entlang, manchmal sehr nah am Ufer. Links der Straße steigen die Felsen teils steil empor und sind mit Maschendraht gegen Steinschlag gesichert. Irgendwann verlassen wir die Hauptstraße und biegen nach rechts ab. Kurz darauf sehen wir den riesigen kegelförmigen Berg mit der Akropolis von Lindos vor uns, umgeben von malerischen, weiß getünchten Häusern mehrerer Siedlungen. Eine wunderschöne Bucht mit kleinem Badestrand liegt unter uns.