Verrat - Pascale Robert-Diard - E-Book

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Pascale Robert-Diard

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Beschreibung

1977 verschwindet Agnès Le Roux, die Tochter einer wohlhabenden Familie an der Côte d’Azur in Frankreich. Bald geht man von einem Verbrechen aus, und der Anwalt der Familie, Maurice Agnelet, gerät in Verdacht, ihr etwas angetan zu haben. Er ist Agnès’ verheirateter Liebhaber, ein Verführer, der es meisterhaft versteht, Menschen für seine Zwecke zu benutzen. Guillaume Agnelet ist noch ein Kind, als ihm sein Vater einen Mord gesteht, für den es keine Beweise gibt. Fast dreißig Jahre lang schweigt der Sohn und verteidigt den Vater sogar vor Gericht. Bis er nicht mehr kann. Pascale Robert-Diard hält auf unheimlich fesselnde Weise fest, wie eine Familie vor den Augen der Öffentlichkeit an ihren Geheimnissen zerbricht. Eine wahre Geschichte.

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Seitenzahl: 175

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Guillaume Agnelet ist noch ein Kind, als ihm sein Vater einen Mord gesteht, für den es keine Beweise gibt. Fast dreißig Jahre lang schweigt der Sohn und verteidigt den Vater sogar vor Gericht. Bis er nicht mehr kann. »Ich bin gekommen, um Sie über eine Gewissensentscheidung im Prozess meines Vaters in Kenntnis zu setzen …«

1977 war Agnès Le Roux, die Tochter einer wohlhabenden Familie an der Côte d’Azur, verschwunden. Bald schon ging man von einem Verbrechen aus, und der Anwalt der Familie, Maurice Agnelet, geriet in Verdacht, ihr etwas angetan zu haben. Maurice war Agnès’ Liebhaber, ein verheirateter Mann mit Charisma, ein Verführer, der es meisterhaft verstand, Menschen zu manipulieren und für seine Zwecke zu benutzen.

Die Gerichtsreporterin der Tageszeitung Le Monde, Pascale Robert-Diard, hat auf unheimlich fesselnde Weise festgehalten, wie eine Familie vor den Augen der Öffentlichkeit an ihren Geheimnissen zerbricht.

Zsolnay E-Book

Pascale Robert-Diard

VERRAT

Das dunkle Geheimnis der Familie Agnelet

Aus dem Französischen von Ina Kronenberger

Paul Zsolnay Verlag

Jean-Marc Théolleyre gewidmet

Am heutigen Montag, dem 7. April 2014, um 7:09 Uhr im TGV von Paris nach Rennes, Ankunft 9:12 Uhr, fühlte ich mich wie an einem ganz normalen Verhandlungstag. Am Abend zuvor hatte ich mir noch einmal Raymond Depardons Dokumentarfilm 1974, une partie de campagne über den Präsidentschaftswahlkampf von Valéry Giscard d’Estaing angeschaut. Ich konnte mich an dem Bild des Kandidaten nicht sattsehen, der eingezwängt auf der Rückbank eines Wagens saß und mit dem Kamm die wenigen Haare zu bändigen suchte, die ein frecher Windstoß durcheinandergewirbelt hatte. Das Frankreich um ihn herum war jung, die jungen Männer trugen taillierte Sakkos, und unter den T-Shirts der Mädels zeichneten sich die nackten Brüste ab. Sie sahen aus wie Agnès Le Roux.

Die junge Frau war im Herbst 1977 verschwunden. Eine Leiche wurde nie gefunden.

In Rennes stand ein alter Mann vor Gericht, wächserne Gesichtsfarbe und ein kräftiger weißer Backenbart, der fast das gesamte Gesicht überwucherte, die Anklage lautete auf Mord. Ich wartete nur auf den Moment, wo ich den Gerichtssaal betreten und das pulsierende Leben hinter mir lassen konnte, um mich ganz auf das zu konzentrieren, was sich dort abspielen würde, in dem engen und zugleich riesigen Sitzungssaal.

Das Verfahren gegen Maurice Agnelet ging in seine letzte Woche. Die Pressebänke, auf denen wir uns anfangs noch gedrängt hatten, hatten sich gelichtet. Wir waren nur noch eine Handvoll Personen, die sich für diesen Fall mit seinem speziellen Mittelmeerflair, der unberechenbaren Persönlichkeit des 76-jährigen Angeklagten, der sich zum dritten Mal vor Gericht verantworten musste, und für das mysteriöse Verschwinden seiner Geliebten interessierten, deren flehentliche Stimme auf einem alten Tonbandgerät – Klack und Pscht, wenn die Tasten heruntergedrückt wurden, waren deutlich zu hören – im Gerichtssaal erklang. Eine Stimme ihrer Zeit, stilecht, wie man bei einem Möbelstück sagen würde, mit Schlaghose, gestricktem Wollschal, Kajalstrich auf den Lidern, Berlioz auf den Zehn-Franc-Scheinen, Racine auf den Fünfzigern und Corneille auf den Hundertern.

Ich würde mich zu der verbliebenen Gruppe der Gerichtsreporter gesellen. Ich wusste, dass einer von ihnen wie an jedem Verhandlungstag früh in den Saal käme, ganz außen in der ersten Reihe Platz nehmen und seinen Spiralblock mit kariertem Papier zücken würde, um sich Notizen zu machen, er würde oben links das Datum und die Uhrzeit, auf die Minute genau, des Beginns der Verhandlung eintragen. Für nichts auf der Welt würde er diesen Moment missen wollen, diese Zwischenzeit, bevor die Anwälte in ihre Roben schlüpften, die Protokollführerin ihre Akten auf den Schreibtisch legte und man sich zu beiden Seiten der Gerichtsschranke vorbereitete, bisweilen auch Scherze machte, bevor der Gong das Eintreten der Richter ankündigte und jeden in seine Rolle zwang.

Gerade hatte er mir eine Nachricht geschickt, ich solle ganz schnell kommen.

Ich sehe wieder die gebannten Gesichter vor mir, die mich beim Betreten des Gerichtssaals erwarteten. Der Vorsitzende Richter des Geschworenengerichts, Philippe Dary, hatte soeben verkündet, dass der ältere Sohn des Angeklagten, Guillaume Agnelet, am gestrigen Tag den Staatsanwalt seines Wohnorts Chambéry (Savoyen) aufgesucht habe, um eine Zeugenaussage zu machen. Den Blick auf die beiden Blätter geheftet, die vor ihm auf dem Pult lagen, las der Vorsitzende Folgendes vor:

»Ich bin gekommen, um Sie über eine Gewissensentscheidung im Prozess meines Vaters in Kenntnis zu setzen. Ich bin davon überzeugt, dass er Agnès Le Roux ermordet hat. Zu dieser Schlussfolgerung bin ich infolge von Enthüllungen gelangt, die mir vonseiten meines Vaters wie vonseiten meiner Mutter gemacht worden waren.«

Es folgte die minutiöse Beschreibung dreier schrecklicher Momente.

Dann die Worte: »Mein heutiger Schritt kostet mich sehr viel Überwindung. Ich weiß, dass meine Aussage den Bruch mit meiner Familie besiegeln wird, genauer gesagt mit meiner Mutter und meinem Bruder. Auch fürchte ich mich vor der Reaktion meines Vaters, der womöglich auf die eine oder andere Weise versuchen wird, Rache zu nehmen. Ich bin bereit, in den kommenden Tagen im Geschworenengericht von Rennes persönlich auszusagen.«

Was folgte, war ein einziger Knall. Eine Familie und ihre Geheimnisse zerbarsten live vor den Augen der Öffentlichkeit. Wir in den hinteren Reihen der Zuschauerbänke warteten nun darauf zu sehen, was die Explosion anrichten würde. An diesem Tag habe ich in den Abgrund geschaut. Kalter Schweiß, eine unmenschliche Erschütterung, ein nicht enden wollendes Beben.

Vier Tage später verurteilte das Geschworenengericht von Ille-et-Vilaine Maurice Agnelet wegen Mordes zu zwanzig Jahren Freiheitsstrafe. Siebenunddreißig Jahre nach dem Verschwinden der jungen Frau erlebte der Fall Le Roux seinen juristischen Epilog. Eine andere Geschichte hatte alles ins Wanken gebracht. Sie hatte sich nebenbei abgespielt, fast ebenso lange angedauert, und wir hatten nichts davon mitbekommen, nichts geahnt.

Der Sohn, der seinen Vater beschuldigte, war mir nicht unbekannt. Ich hatte erlebt, wie er an der Seite seines Vaters gekämpft hatte, um dessen Unschuld zu beweisen. Ich wollte verstehen. Ich kannte die Bühne ohne die Kulissen. Das Licht ohne den Schatten. Den Augenblick ohne den Zeitverlauf.

Ich schrieb Guillaume Agnelet einen langen Brief. Er antwortete.

Als ich ihn das erste Mal auf einem Bahnsteig wiedersah, erkannte ich auf den ersten Blick, dass er ebensolche Angst hatte wie ich. Wir genossen nicht länger den Schutz der Gerichtsmauern, die Rolle, die sie jedem von uns zuwiesen. Er, Sohn des Angeklagten, Zeuge, der vor Gericht die Fragen des Vorsitzenden, des Generalstaatsanwalts und der Anwälte beantwortete. Ich, Journalistin, stumm, die zwischen anderen saß, auf einer Bank in seinem Rücken. Der Ort wirkte plötzlich zu groß, zu hell. Es gab keine Gerichtsdienerin mehr, nicht die undurchdringliche Stille, die eine Verhandlung begleitet, auch nicht die Umgebung aus Stein und altem Holz, nicht das Gefühl einer Tragödie, bedrückend und erhebend zugleich. Es gab nur einen Bahnhof voller Menschen, die es eilig hatten. Und mittendrin Guillaume Agnelet, einen Rucksack auf dem Rücken, der mir die Hand hinstreckte.

Weitere Treffen sollten folgen. Jedes Mal spürte ich dieselbe unverminderte Spannung, mich den Abgründen zu nähern, die er durchlebt hatte. Gemeinsam mit ihm die Jahre zurückzugehen, dann die Tage und schließlich die Stunden vor seiner Aussage.

Er ist der mittlere Sohn. Der älteste war ein brillanter Kopf und imponierte seinem Vater. Der jüngste war körperlich eingeschränkt und forderte die volle Aufmerksamkeit seiner Mutter. In den ersten Jahren wohnte die Familie gedrängt im ersten Stockwerk eines ockerfarbenen Gebäudes am Blumenmarkt, Cours Saleya Nr. 13, in dem sich sowohl die Wohnung wie auch die Kanzlei des Rechtsanwalts Maurice Agnelet befand. Der Anwalt besah sich gern im Spiegel, seine langen Beine, die in Hosen aus Feincord steckten, der edle Pullover mit Römerkragen, der ihn an die Zeit erinnerte, als er noch davon träumte, Seminarist zu werden, und das erstaunte und entrüstete Schlucken, das er auslöste, wenn er an sonnigen Tagen mit Sandalen an den nackten Füßen, die unter seiner Robe hervorschauten, im Gericht erschien. Er zog die Blicke der Männer an und gefiel den Frauen, hatte große Erwartungen an seine Freimaurerfreundschaften, liebäugelte mit dem Vorsitz der hiesigen Liga für Menschenrechte und wusste es zu schätzen, dass Anne, seine Frau, vor seinen nächtlichen Eskapaden die Augen verschloss.

Guillaume war fasziniert von der mächtigen Polstertür in der Kanzlei seines Vaters und von der krokodilledernen Aktentasche mit Zahlenschloss, die dieser aus der Schweiz mitgebracht hatte. Am meisten liebte er jedoch das Motorrad, eine alte 750er BMW, die Maurice Agnelet auf einer Polizeiauktion erstanden hatte und mit der er ihn bisweilen von der Schule abholte. Der Siebenjährige zog sich am Sattel hoch, da seine Beine nicht bis zu den Fußhaltern reichten. Das Gesicht an den Rücken seines Vaters gepresst, wartete er voller Ungeduld darauf, dass die Straße, die hinter den Vororten in die Berge führte, schmal und kurvig wurde. Während Guillaume den Geruch der von der Sonne versengten Kiefern in der Nase spürte und ihm der Wind um die Ohren pfiff, merkte er, sobald sie sich einer Kurve näherten, wie das Motorrad langsamer wurde und zur Seite kippte, als wollte es sich auf den Straßenrand legen, um dann wieder zu beschleunigen und sich aufzurichten. Ängstlich und vergnügt schloss er die Augen, umschloss die Taille seines Vaters etwas fester und zählte die Kehren, die noch vor ihnen lagen. Nie hat er sich ihm näher gefühlt als in diesen Momenten.

Ihr Haus stand am Ende der Straße zum Mont Macaron. Die Hütte des Straßenwärters, in der sie früher ihre Sonntage verbracht hatten, war mittlerweile zu einer großen Villa mit Terrasse angewachsen, von der aus man die ganze Bucht der Stadt Nizza überblicken konnte. Anne trug ihre langen Haare offen, sie goss Kerzen in farbigen Gläsern, hörte Jean Ferrat, Georges Moustaki oder Joan Baez und verbot ihren Söhnen, sich dem Webstuhl mit den zwei Pedalen zu nähern, der im Salon thronte. Bald sollte es auch ein Schwimmbad und Partys geben, zu denen Maurice Agnelet, der mittlerweile Meister vom Stuhl seiner Freimaurerloge sowie Stadtverordneter geworden war, jedes Jahr mehr Gäste einlud.

Im Garten spielten die drei Jungen, sausten laut schreiend die metallene Rutschbahn hinunter, deren Rot in der Sonne allmählich verblasste. Thomas dachte sich Witze aus, über die er laut lachen musste. »Was ist der Unterschied zwischen einem Flugzeug und einer Kartoffel? Antwort: Das Flugzeug fliegt in die Luft, die Kartoffel geht in die Erde.« Jérôme, der Älteste, genoss ein Privileg, um das Guillaume ihn beneidete. Einmal pro Woche nahm sein Vater ihn mit ins Kino, wo sie sich »Erwachsenenfilme« anschauten. Den beiden Kleinen versprach er, sie später ebenfalls mitzunehmen.

Aber später kam ihnen »die Sache« dazwischen. Guillaume war acht. Er konnte sich nicht daran erinnern, dass die lächelnde brünette Frau mit den schwarzen Augen, die ihm eines Morgens, als sie Maurice Agnelet nach Hause brachte, ein Eis spendiert hatte, Agnès hieß. Erst sehr viel später drang dieser Vorname in sein Leben ein.

Die junge Frau entstammte einer wohlhabenden Familie an der Côte d’Azur. Ihr Vater Henri Le Roux hatte der Familie bei seinem Tod seine Anteile am Palais de la Méditerranée vererbt, dem imposanten Art-déco-Gebäude an der Promenade des Anglais, in dem sich damals das zweitgrößte Casino Frankreichs befand. Getreu dem Versprechen, das sie ihrem Gatten gegeben hatte, nahm Renée Le Roux die Zügel der Spielbank in die Hand und verteidigte das Familienerbe gegen alle Angriffe seitens des Besitzers des Nachbarcasinos, Jean-Dominique Fratoni. Der Mann stand der Mafia nahe und genoss die Unterstützung des Bürgermeisters Jacques Médecin, der Nizza zum französischen Las Vegas machen wollte, und er war zu allem bereit, um sein Reich auszubauen.

Fratoni hatte in Maurice Agnelet, dem Logenbruder, einen idealen Verbündeten gefunden. Dem Anwalt war von Renée Le Roux gerade die Zusammenarbeit aufgekündigt worden, mit seiner Kanzlei ging es bergab, und seine Rachsucht war groß. Vor allem aber war er zum Liebhaber ihrer Tochter Agnès avanciert, seit diese ihn für ihre Scheidung angeheuert hatte.

Von den vier Kindern der Familie Le Roux war Agnès das rebellischste. Sie hasste die Welt der Casinos und der Spieltische, der sie ihr Vermögen verdankte, und wollte sich davon befreien, indem sie ihr Erbteil einforderte. Sie träumte davon, eine Zeitung zu gründen, deren Namen sie bereits festgelegt hatte, Bleu, und hoffte, ihr Geld würde Maurice Agnelet dazu bringen, seine Frau und seine Kinder zu verlassen, um mit ihr zusammenzuleben. Als er ihr vorschlug, mit Fratoni zu verhandeln, folgte Agnès blind seinem Rat. Für einen Gegenwert von drei Millionen Franc trat sie ihm ihr Stimmrecht ab, das sie im Vorstand des Casinos innehatte.

Am 30. Juli 1977 stimmte die junge Frau gegen ihre Mutter, wodurch diese die Geschäftsführung des Casinos ihrem gehassten Rivalen überlassen musste. Drei Monate später verschwand sie spurlos. Die Machenschaften des sonderbaren und charmanten Anwalts sollten alsbald die Polizei und die Justiz interessieren.

Den drei Jungen dämmerte, dass etwas nicht stimmte, als ihnen ihre Mutter im Sommer 1979 eröffnete, sie würde mit ihnen ohne ihren Vater auf die andere Seite des Mittelmeers ziehen, nach Marokko. Aber in diesem Alter stellt man nicht allzu viele Fragen, und außerdem war Marokko für sie kein unbekanntes Land, ihre Mutter hatte ihnen oft davon erzählt, dort war sie geboren und bis zu ihrem fünfzehnten Lebensjahr aufgewachsen. Anne packte die drei Söhne in ein Auto voll mit Koffern, halbherzig verschnürten Spielzeugkisten und Hausrat und fuhr mit ihnen drei Tage durch Spanien. Thomas mit seinem kaputten Rücken saß vorn, Jérôme und Guillaume kauerten hinten auf dem Gepäck, sie hingen fast unter dem Dach und sangen aus Leibeskräften Lieder von Brassens.

Die Familie zog in die Rue Oukaïmeden im Weißen-Viertel von Rabat namens Agdal. Das schmale weiße Häuschen hatte Zugang zu einem Garten, der von Mispeln gesäumt war. Anne schlief oben, die drei Jungen teilten sich die zwei Zimmer im Erdgeschoss, Guillaume und Thomas das Zimmer zur einen Seite, Jérôme das zur anderen. Jeden Morgen gingen die zwei Großen zu Fuß zum Gymnasium Descartes, wo Guillaume in die sechste Klasse eingestuft worden war. Anne brach viel früher auf, sie hatte eine Anstellung als Französischlehrerin in einer Jungenschule in Kenitra gefunden, fünfzig Kilometer weiter nördlich.

Oft beschwerte sie sich bei den Kindern über deren Vater. Er sei schuld daran, dass sie Nizza verlassen mussten, behauptete sie, er bezahle nicht genug Unterhalt, habe nur widerwillig Thomas’ Korsett übernommen, das dieser nach der Operation brauchte. Er habe ihr Leben zerstört. Ihre Wut war so groß, dass die Jungen rasch lernten, in ihrer Gegenwart den Namen Maurice nicht in den Mund zu nehmen.

Guillaume und seine Brüder hatten ihn immer beim Vornamen genannt, »Maurice«, nicht »Papa«. Vermutlich hatte Maurice das von Jérôme verlangt, und die beiden anderen taten es ihm nach.

Dabei hatte er Charme, dieser Vater, der ihnen Ansichtskarten aus Kanada schickte. Da er aufgrund »der Sache« aus der Anwaltskammer ausgeschlossen worden war, hatte er sich dort mit einer anderen Frau, Françoise, ein neues Leben aufgebaut. Guillaume kannte sie gut, er hatte sie mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern früher oft in Nizza gesehen. Die beiden Familien waren sogar zusammen in Urlaub gefahren. Françoise Lausseure war sehr reich, genau wie Agnès. Vor allem hatte sie einen großzügigen Vater, der mit Pharmaprodukten ein Vermögen gemacht hatte. Sie war witzig, hatte ein spitzes Gesicht, war bekannt für ihre Lachsalven, besaß ein Cabriolet, mit dem sie gern durch die Gegend raste, und war bis über beide Ohren in Maurice Agnelet verliebt.

Als Jugendlicher konnte Guillaume diesem weit entfernt lebenden Mann mehr abgewinnen als seiner allzu präsenten schwermütigen Mutter. Er fand, Maurice ähnle dem Helden in Rappeneaus Film Feuer und Flamme, der von Yves Montand verkörpert worden war, einem gerissenen, schwer erträglichen, anstrengenden und unwiderstehlichen Gauner.

Seine Mutter hielt ihn nicht ernsthaft zurück, als er zu seinem Vater nach Kanada ziehen wollte. Das war 1982, er war dreizehn, versteckte seine Pausbacken unter langen braunen Haaren und seine ersten Pickel hinter einem indianischen Stirnband. Alle Jungen seines Alters wollten wie Björn Borg aussehen, und Guillaume fand, dass sein Aussehen gut zu einem Leben in Quebec passte, zu Bootsausflügen auf dem Sankt-Lorenz-Strom und zu Spritztouren im Geländewagen, die stets in einer tiefen Wagenspur endeten. Maurice Agnelet arbeitete wenig bis gar nicht, er hatte sich vielmehr damit abgefunden, von Françoises Geld zu leben. Er hatte sie überredet, ihn zu heiraten, und sie bezahlte alles, sträubte sich ein wenig, als Maurice sie bat, ihm zusätzlich zu allem anderen seine Rückstände auf die Unterhaltszahlungen an Anne vorzustrecken, aber am Ende gab sie immer nach. Guillaume war der einzige Agnelet im Kreise von Françoises Kindern, fast ein Einzelkind also, und das war angenehm.

In Marokko hingegen machte Jérôme sein Abitur, er war fünfzehn und wollte später einmal Forscher werden, auch er hatte lange Haare und interessierte sich zunehmend für Jungen. Er war ein Exzentriker und Provokateur, und wenn Guillaume ihn in den Ferien sah, fand er, dass Jérôme Stil hatte mit seinem offen stehenden Hemd und zwei verschiedenfarbigen Schuhen an den Füßen. Thomas’ Rücken war immer noch nicht stabil, aufgrund seines Korsetts konnte er sich nicht selbst die Schuhe zubinden, bald sollte seine Wirbelsäule mit einem Eisengestell verstärkt werden. Anne forderte ständig Geld von Maurice, der zu zahlen versprach, aber nur selten etwas schickte.

Von Zeit zu Zeit tauchte »die Sache« in den Unterhaltungen auf. Sie schien Maurice Sorgen zu bereiten. Guillaume glaubte damals, es handle sich um eine dubiose Geldgeschichte aus der Zeit, als sein Vater noch Anwalt war, sie interessierte ihn daher kaum. Doch mitten im Sommer 1983 änderte sich auf einen Schlag alles. Maurice Agnelet wurde von der Polizei gesucht, der Untersuchungsrichter, der die Vorermittlungen im Fall der vermissten Agnès Le Roux leitete, hatte einen internationalen Haftbefehl gegen ihn ausgestellt. Guillaume packte seine Sachen und nahm Abschied von Saint-Laurent. Wenige Tage später, am 25. August 1983, wurde in Nizza gegen seinen Vater »Anklage erhoben«, er wurde des Mordes an seiner vermissten Geliebten bezichtigt und sofort in Untersuchungshaft gesteckt. Er sollte sechs Monate im Gefängnis bleiben.

Von da an lernte Guillaume mit aufdringlichen Gästen zu leben. Mit Richtern, Polizisten, Experten und vor allem einer Frau, Renée Le Roux, in der er eine böse Hexe sah, die seinen Vater unerbittlich verfolgte. Er erlebte sogar mit, wie ein Bulldozer auf dem Familienanwesen in Cantaron anrückte und die aufgeschüttete Erde um das Schwimmbad durchwühlte. Ein anonymer Hinweisgeber hatte angedeutet, Agnès Le Roux’ Leiche könne sich dort befinden. Der Richter hatte die Grabungen angeordnet, eine Gruppe Kriminaltechniker mit Handschuhen sammelte gewissenhaft alles ein, was auch nur im Entferntesten an Knochenreste erinnerte, und steckte es in eine sterile Plastiktüte. Der ganze Zirkus amüsierte Guillaume, er wusste genau, dass es sich um Knochen handelte, die von Motus und Belle beim Spielen im Garten vergraben worden waren.

Anne wurde vom Richter vorgeladen und zu Maurice Agnelets Terminen am Allerheiligenwochenende 1977 befragt, an dem Agnès Le Roux verschwunden war. Sie antwortete, sie könne sich nicht »zu hundert Prozent« an seine Anwesenheit zum fraglichen Zeitpunkt in Cantaron erinnern, diese sei jedoch »wahrscheinlich«, weil sie ihn damals gebeten habe, jeden Tag da zu sein, schließlich hatten die Kinder Ferien. Als der Richter nachhakte und versuchte, mehr über die Beziehung zu ihrem Exmann nach der Trennung in Erfahrung zu bringen, sagte sie, sie habe »vollstes Vertrauen in ihn«. Als Beweis führte sie an, dass sie Guillaume ein ganzes Schuljahr lang seiner Obhut überlassen habe.

Nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis fand Maurice Agnelet Unterschlupf bei einem Pariser Maler, den er achtzehn Jahre zuvor, 1968, am Strand an der Promenade des Anglais kennengelernt hatte, wo den beiden Männer ein Blick genügte, um sich gemeinsam davonzumachen. Seinem früheren Freund, der völlig abgebrannt war, überließ Patrick Poivre den Anbau neben seinem Atelier, ein Zimmer in einem düsteren und traurigen Hinterhof. Dorthin zog sich Maurice mit den vielen Bänden seiner Ermittlungsakte zurück. Tagelang versenkte er sich in die Dokumente. Hin und wieder ging er auf die Jagd, wie er sagte, kam mit persönlichen Papieren derjenigen zurück, die er getroffen hatte, legte Mappen mit ihren Namen an. Poivre, der ihn fragte, was er damit vorhabe, präsentierte Maurice seinen Lieblingssatz: »Es kann immer mal nützlich sein.« Poivre hatte einmal erlebt, wie er wutentbrannt von einem Prälaten zurückkam, um den er herumscharwenzelt war in der Hoffnung, eine Anstellung als Privatsekretär zu bekommen. Wie eine Trophäe präsentierte er einen Slip und ein Unterhemd, die angeblich dem Kirchenmann gehörten, und drohte damit, ihn damit bei seinen Vorgesetzten anzuschwärzen.

Im Sommer 1985 kamen Guillaume und Thomas zu Besuch. Die beiden Brüder schlugen in dem kleinen Zimmer die Zeit mit Fernsehserien tot, während Maurice sich die Stapel an Vernehmungsprotokollen vornahm und auf das Los schimpfte, das die Justiz für ihn ausersehen hatte. Während dieser Zeit hörte Guillaume seinen Vater einmal Folgendes murmeln:

»Egal, solange sie die Leiche nicht finden, habe ich nichts zu befürchten.«

Maurice Agnelet schaute seinem Sohn in die Augen und schob hinterher:

»Und ich weiß, wo die Leiche ist.«

Guillaume war vierzehn. Was fängt man im Alter von vierzehn Jahren mit so einem Satz an? Man sieht zu, wie er in einem nach unten sackt und in der Dunkelheit verschwindet. Man sagt sich, dass man sich vielleicht verhört hat. Oder geträumt. Man hält vor allem die Klappe. Man fühlt sich mies, weil man nicht widersprochen hat. Denn in dem Moment fiel Guillaume nichts anderes ein, als seinem Vater beizupflichten. Ihm hat sich vor allem eins ins Gedächtnis eingebrannt, die Versicherung seines Vaters, der sich selbst beruhigte. Anschließend hat er sich eingeredet, dass Maurice manchmal den größten Unsinn von sich gibt.