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Euphorie über ein Großereignis wie den Fall der Berliner Mauer, weckt tiefe Erinnerungen. Aber es ist keineswegs nur heile Welt, die Karl Rodenberg in seinen Erzählungen darstellt: immer wieder bricht Störendes, Verstörendes oder gar Zerstörendes in das Idyll ein. Ja, es gibt das Paradies aber wir leben gefährlich nah an den Klippen. In Versäumter Augenblick und unverlorenes Paradies wird das Berlin der vergangenen Jahrzehnte wieder lebendig, vor allem in den Schilderungen von Menschen und ihren unterschiedlichsten Erlebnissen und Schicksalen, aber auch in der Wahrnehmung historischer Momente. - Die Erzählungen werden ganz besonders von der subtilen Sprache des Autors getragen.
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Seitenzahl: 253
Veröffentlichungsjahr: 2023
Karl Rodenberg
V e r s ä u m t e r A u g e n b l i c ku n d u n v e r l o r e n e s P a r a d i e s
E r z ä h l u n g e n
Literki Verlag
Die Herrschaft über den Augenblick ist
die Herrschaft über das Leben.
Marie von Ebner-Eschenbach
Teil IVon Knackfröschen und Kirschen
Pueblo
„Horch mal!“ – „Was is‘n das?“ – „TheUniversal Soldier, ein Song aus den Sixties.“ – „Und die Frau mit der schönen Stimme?“ – „Das ist Buffy Sainte-Marie, USA.“ – „Starker Song … hast du noch mehr?“ – „Klar!“ Er dirigierte die Nadel in eine andere Zwischenrille. Wieder knisterte die Vinylplatte; ein anderer Song aus den sechziger Jahren: Now that the buffalo‘s gone. Ein paar Takte ihrer Gitarre, dann begann Buffy zu singen, melancholisch-anklagend von ihren Vorfahren, denen von europäischen Abenteurern und Eroberern die Lebensgrundlagen genommen wurden oder gar das Leben. „Can you remember the times ...“sang sie und er begann zu träumen, fiel in einen Traum der Erinnerung.
Der schwarze Straßenkreuzer überfuhr die Brücke über den Rio Grande. Linksabbiegen. Noch einige hundert Meter die sandige Straße entlang, dann war der Wagen nicht mehr schwarz. Im Wagen Carmen aus Albuquerque, ihre achtjährige Tochter und Carmens Jugendfreund aus dem fernen Europa.
Der Fluss leuchtete. Sie waren gut gelaunt. „Da vorne sehe ich schon das Dorf!“, sagte Carmen. Schon lange lebte sie in den Staaten, hatte ihre Geburtsstadt vor Jahrzehnten verlassen. Ihr american accent hatte sich längst tief eingegraben, wie der Fluss in die karge Landschaft. Sie schlossen die Fenster, der Staub nahm zu.
„My first pueblo, I‘m a bit excited!“, lächelte Tim zu dem Mädchen nach hinten. Alex gab ihm ein Lächeln zurück.
Sie passierten die ersten der flachen Quaderhäuser. Drosselten das Tempo, nicht nur wegen des Sandstaubs. Der Wagen rollte aus, auf den Fluss zu. Sie waren nicht lange gefahren von zu Hause, vielleicht eine halbe Stunde, und doch in eine andere Welt geraten. Downtown Albuquerque war von neuen Bildern kaschiert.
Motor aus. Sie stiegen hinaus in die Stille. Ein Stein funkelte, enthielt viel Glimmer. Tim hob ihn auf, betrachtete ihn einen Moment lang.
„Don‘t take that with you! That belongs to us!!“ Das saß! Ein Indianer war eilig aus einem der Adobehäuser gestürzt und kam ein Stück auf sie zu. Tim ließ den Stein nicht fallen. Er beugte sich vor und legte ihn zurück in den Sand. Er hatte gleich nach Verlassen des Wagens zwei oder drei Fotos gemacht, vom Fluss und über den Fluss in die fernen Berge. Jetzt sollte eigentlich das Dorf drankommen; er zog sich den Riemen der Kamera über den Kopf, legte den Apparat in den Kofferraum zurück. Fast ein wenig demonstrativ. Der Indianer war verschwunden, die Lockerheit, die sie noch im Wagen empfunden hatten, auch.
Der Plan war ursprünglich, den Wagen am Ufer stehen zu lassen und das Pueblo zu Fuß zu erkunden. Sie zogen es vor, wieder ins Auto zu steigen und das Dorf von ihm aus zu besichtigen. Sie trafen diese Entscheidung nicht nur aus Sorge um den auffälligen Wagen. Die Kamera blieb im Kofferraum. Keine Fotos mehr. „That belongs to us! All here belongs to us!“
Sie starteten vorsichtig und ebenso vorsichtig fuhren sie die schmale Sandstraße entlang, die in den Kern des Dorfs führte. Sie passierten einige Frauen, Männer, Kinder. Allen war zweierlei gemeinsam: Sie hatten indianische Gesichtszüge und niemand von ihnen lächelte. Carmen saß am Lenkrad. Tim sagte: „Wir fahren wie auf Eiern, schlimm genug. Lass uns bloß nicht noch auf Hühnern fahren!“ Mit Leichtigkeit hätten sie eins erwischen können. Oder einen lahmenden Hund. Die Dorfstraße war hier, durchaus unamerikanisch, nicht nur zum Autofahren gedacht.
Ein Auge war auf das sandrote Kirchlein gerichtet, das andere auf den Fahrdamm konzentriert. „Schau mal, die Straße führt aus dem Dorf hinaus.“ „Das passt doch gut, Carmen! Wir können am Rio Grande entlang zurück nach Albuquerque fahren“, freute sich Tim. Bald konnten sie etwas entspannter sitzen als eben noch und auch das Fahrtempo etwas erhöhen. Alex freute sich schon auf ihre neue Puppe. Nach zwei oder drei Kilometern drosselten sie das Tempo. Die Sandstaubwolken wurden kleiner, die Straße kürzer als erhofft. Sackgasse! Sie mussten zurück, zurück zum Pueblo.
Tim löste Carmen am Steuer ab. „Okay, wir müssen also nochmal durchs Dorf“, konstatierte er, „but no problem, wir sind ja schon darin geübt!“ Am Dorfrand wurden sie von zwei Fünfzehnjährigen empfangen. Mit geballten Fäusten. Ihre Gesichter hatten einen ihren Händen vergleichbaren Ausdruck. Okay, wir haben ja verstanden, dass ihr uns nicht zum Five o‘clock-Tea einladen wollt, dachten die im Auto bei sich; wir sind ja gleich verschwunden.
Tim musste bremsen. Scharf. „O God, wo kam denn die Gans plötzlich her?!“ Die ist nicht mehr ganz, dachte Tim bei sich, sprach das Wortspiel aber nicht aus. Nach zwei Minuten war der Wagen von etwa zwanzig Indians umzingelt. Alexandria hatte Angst, träumte nicht mehr von ihrer Puppe. Auch Carmen und Tim hatten Muffensausen. Außer den vier Fäusten der Boys, die sie am Ortsrand bereits kennengelernt hatten, fuchtelten etwa zwanzig weitere Fäuste um sie herum. Tim wollte aussteigen, wegen der Gans, wagte es aber nicht. Auch Carmen klebte wie eine Sandsteinskulptur an ihrem Autositz. Alex war deutlich kleiner geworden als ohnehin schon.
Tim setzte den Wagen sehr vorsichtig zwei Meter zurück. Auch die fluchenden Indians wichen ein Stück zurück. Die Fäuste noch immer geballt. Tim beschleunigte behutsam. Als sie etwa zehn Meter von der toten Gans entfernt waren, gab Tim Gas. Durch die aufgeworfene Sandwolke hindurch trafen zwei oder drei der roten Steine den Wagen. Sie erwarteten einen größeren, der die Heckscheibe zertrümmern würde. Doch sie entkamen auf die Landstraße.
„Now that the buffalo‘s gone“ war längst zu Ende. Es war das letzte Lied auf der Platte. In der Stille träumte Tim weiter. Das Lied klang wieder in ihm auf: „Ah it's all in the past, you can say ... but it's still going on here today.”
Versäumter Augenblick
Alles lief gut. Das Abi seit wenigen Monaten in der Tasche; und auch mit der Freundin lief alles harmonisch. Zudem hatte er einen guten Stand in seiner Band. Vierköpfig. Einer davon also seiner; und wenn er ihn im Spiegel betrachtete, war er zufrieden mit sich, mindestens. Die Rosenknospe war längst aufgeblüht.
Das bemerkte auch der damalige Chefdesigner von Dior. Auf der Suche nach sehr schlanken Jungs durchstöberte er Berliner Discos und Kneipen. Irgendwo entdeckte er auch Kai Rothenburger. Er sprach ihn an, erläuterte ihm sein Vorhaben: Flug nach Paris, Unterbringung in einem Hotel; alles auf Kosten von Dior. Auch die Verpflegung ging weitgehend auf Rechnung des Unternehmens, das Luxusgüter produzierte wie Parfums und Bekleidung. Der Designer suchte junge, schlanke Staturen für seine schmal geschnittenen Sakkos. Kai passte ins Bild, und da auch ein lukratives Honorar lockte, entschied er sich für die mehrtägige Reise in die französische Metropole.
Natürlich war Kai nicht der einzige, der den Laufsteg betrat. Unter den Auserwählten waren noch andere Berliner, alle um die zwanzig oder knapp darunter. Kai und Steffen kamen bald ins Gespräch miteinander, empfanden rasch Interesse füreinander, zumal beide Mitglieder einer Rockband waren und dieselbe Stadt bewohnten. Man könne ja mal ‘was gemeinsam machen in Berlin!
Die gemeinsamen Aktivitäten begannen bereits in Paris; nicht nur auf dem Laufsteg, der für beide ein bis vor kurzem völlig unvermutetes Terrain bedeutete. Sie erkundeten die so reizvolle Stadt, saßen auf dem buntbevölkerten Wiesenhang unterhalb der Sacré Cœur, Kai in leuchtendgelbem T-Shirt, poppig bunt bedruckt, weit vor ihnen der brückenumschmeichelte Fluss, die Kathedrale, sommerlich besonnt und in noch vollkommen gesunder Verfassung. „Paris – ein Fest fürs Leben“! – das also hatte auch Hemingway bereits gespürt. Als Kai und Steffen zurück nach Berlin flogen, waren sie längst Freunde geworden.
Steffen lebte damals in einer Wohngemeinschaft, zusammen mit zwei ehemaligen Schulfreunden und seiner Freundin. Aber die Beziehung zu ihr zerbrach und Steffen wollte die WG verlassen, um eine neue, eine kleinere an anderem Ort anzustreben. Steffens Favorit unter den Wunschkandidaten war Kai. Doch er fand nicht den Mut, ihn zu fragen; vermutlich war die Angst vor einer Absage zu groß. Nach mehreren vergeblichen Anläufen entschied sich Steffen dafür, Kais Freundin seinen Wunsch zu offenbaren. – „Oh, wie gut, dass du mir das sagst“, sprudelte es aus ihr heraus, „er wartet schon lange darauf, traute sich nur nicht, dich zu fragen!“
Steffen jubelte und auch Kais Freundin war froh, die wunderbare Botschaft an Kai weiterreichen zu können. Schon bald fand Steffen eine kleine Zweizimmerwohnung an einem ruhigen Platz mit alten Laubbäumen. Er fühlte sich vollkommen sicher und unverletzbar, doch blieb ein Lindenblatt an seiner Schulter haften. Erst in der neuen Wohnung entdeckte er es, nachdem er sie zum Renovieren betreten hatte. – Das Refugium zweier Freunde war in wenigen Tagen vorbereitet.
Noch den scharfen Geruch der frisch gestrichenen Kassettentür in der Nase, mischte sich ein vollkommen anderer hinzu: Dior rief ihn wieder nach Paris. Und wunderbar die Planung: Steffen flog voraus, suchte das Zimmer eines Hotels im Marais-Viertel auf, das er mit Kai zusammen bewohnen wollte. Kai würde erst am nächsten Tag nach Paris kommen, so war es geplant, denn er wollte an dem Tag, an dem seine Mutter sechzig Jahre alt wurde, unbedingt dabei sein, sie umarmen, ihr sein Lächeln schenken und einen Strauß roter Rosen.
Er schnallte sich seinen Rucksack über, unten ein Geschenk, vielleicht ein verhülltes Buch, oben die Rosenblüten. In ihm, Kai, die Freude auf die Begegnung mit seiner Mutter, seiner Familie, seiner Freundin. Und die Freude auf die herrliche Stadt, den ersehnten Freund, der in Paris mit freudiger Ungeduld auf ihn wartete, Freude, ach Euphorie, endlich den Eiffelturm gemeinsam zu besteigen, um von dort oben die hingeblätterte Schönheit zu betrachten, die gotischen Türme und filigranen Kuppeln, den längst liebgewonnenen Fluss, die unzähligen Gassen, die breiten Boulevards. Die breiten Boulevards.
Kai war mit seinem Fahrrad schon fast bei seiner Mutter angelangt. Er hatte nur noch eine breite Straße zu überqueren. Er stoppte. Als die Straßenbahn ihn fast passiert hatte, trat er wieder in die Pedale, vom Glück beschwingt. Nur kurz. Dann riss ihn die Straßenbahn, die, die von der anderen Seite gekommen war, mit sich.
Der Rucksack, die Rosen noch darin, bordeauxrot. Blutrot.
Die Boulevardpresse war rasch zur Stelle.
Auf dem Titelblatt sein Turnschuh, ganzseitig.
„Endlich kommt auch Kai!“, rief die Mutter freudig-aufgeregt, als es klingelte. Sie öffnete die Wohnungstür. Sie starrte in das dunkelernste Gesicht eines Polizisten.
Noch bevor Steffen sich in den Schlaf freudigen Erwartens wiegen konnte, verbreitete sich die Nachricht aus Berlin auch in Paris. Drang bis zu ihm vor, per Telefon. Die Gänge über den Laufsteg waren von Entsetzen begleitet. Die Tränen auf der Tour Eiffel weinte Steffen allein.
In der Trauerhalle stand ein Klavier. Darauf spielte die Freundin ihrem geliebten Kai ein Wiegenlied.
Auch die Band war dabei. Dreiköpfig. Dann trat ein Vierter hinzu, an Kais Stelle: Steffen. Auch sie wiegten ihn ein – in sanfter Amplitude, dem Namen seiner Band.
Die Blütenblätter, dunkelrot und weich wie das Haar seiner Mutter, deckten seine zwanzig Jahre zu.
Nordkurve
Schweden ist schön, soviel ist klar! – Aber Norwegen? Man hört und liest ja dies und jenes über fremde Länder, auch über Norwegen. „Eines der schönsten überhaupt“ etc. Nun übertreibt’s mal nicht, Leute!
Wir waren einige Tage in Südschweden, zwischen Blumen und Katzen, Wiesen und Stille. Diesmal jedoch blieben wir nur wenige Tage, wollten zwar nach Schweden zurückkehren, jedoch eine Woche Norwegen dazwischenschieben. Nach wenigen Tagen also rollte unser Wagen in ein Land, das wir beide zuvor nie betreten hatten. Eine Grenze war kaum zu spüren und so konnten wir ungehindert das köstliche Gefühl schwedischer Freiheit nach Norwegen tragen.
Wir hatten kein Quartier vorgebucht, gingen davon aus, dass wir ein „Bed&Breakfast“ oder eine Ferienwohnung finden würden, in der Umgebung von Oslo. So sehr wir die Landschaft auch genießen konnten, das Gefühl der Entspanntheit wich zunehmend einem anderen: Nervosität. Denn was wir suchten, ließ sich nicht so leicht entdecken wie erhofft. Die innere Unruhe wuchs mit der sich allmählich ausbreitenden Abenddämmerung. Klar, es war Sommer und somit lange hell, aber wenn du nicht weißt, ob du vor Mitternacht ein Privatquartier findest und nicht letztendlich in einem unerwünschten Hotel übernachten willst, trägt das nicht zur Entspannung bei, zumal Norwegen kein Land des tolerierten Schnellfahrens ist.
Da wir uns Bergen als Endziel gesteckt hatten, fuhren wir in etwa dieser Richtung weiter. Und wir gelangten an ein sich breit hinlagerndes Gewässer: den Tyrifjord, weit über ein Kilometer breit. Dämmerblau in grünen Hügeln. Es war schon fast dunkel, als wir zwischen unserer Uferstraße und dem Fjord drei oder vier Häuser oder Hütten entdeckten. Wir rollten den kurzen Weg zu dem besiedelten Fleckchen hinunter. Ein größeres steinernes Haus mit Licht hinter den Fensterscheiben. Hoffnung. Wir klingelten. Eine junge Frau erschien an der Haustür. Wir begrüßten uns freundlich. „Do you have a room for us or something like this?“ – Sie sagte, es gäbe eine hytte, ein Holzhaus, das sie uns vermieten könne. Was es denn für eine Nacht koste, fragten wir sie. Sie nannte einen norwegischen Preis, also einen ziemlich hohen. Wenn wir für zwei weitere Nächte einen deutlichen Rabatt bekämen, würden wir drei Nächte bleiben. Sie ging auf den Kompromiss ein, schlug uns einen moderaten Gesamtpreis vor.
So, nun einrichten, etwas essen und dann raus ans Ufer! Mittlerweile war es dunkel. Der Fjord des großen Binnensees, an dem wir nun wohnten, lag im Mondschimmer. Völlige Stille, nur Natur. Die Luft nun deutlich kühler als noch zur Ankunft. Müdigkeit fiel uns an nach langem, ereignisreichem Tag. Die Hütte rief. Zum Glück war sie beheizt. Dass auch auf dem Bildschirm des Fernsehers ein Lagerfeuer zu flimmern und zu knistern schien, hatten wir nicht erhofft. Es lief ja gerade eine Fußball-Europameisterschaft; die blieb nun anderen vorbehalten. Aber halb so schlimm, denn die Müdigkeit zerrte uns mit Macht ins Kiefernholzdoppelbett. Ich lag bereits drin, ein Buch in den Händen, als meine Frau die andere Betthälfte bestieg. – Krrakkk!! – Umgehend lagerte sie etwa vierzig Zentimeter tiefer als angedacht. Na toll, todmüde und jetzt noch werkeln! Das Leichtholzbett, stellten wir pfiffig fest, war in der Mitte durch einen ehemals aufgerichteten Hartholzklotz gestützt worden, der nun den Fußboden wärmte. Also: einer hebt die gekenterte Betthälfte auf Normalniveau an, während der andere den Hartholzklotz wieder in Vertikalausrichtung bringt, und zwar natürlich so, dass ein idyllischer Schlaf gesichert wäre. – Es gelang. Die Bücher klappten bald zu, während das Schwedenbett nicht wieder zusammenklappte.
Noch vor dem Frühstück flitzte ich rüber zum großen Haus. Klingelte, wie gestern Abend. Diesmal stand ein junger Mann im Türrahmen. Ich bat ihn freundlich-eindringlich, das „Notbett“ zu stabilisieren, nachdem ich ihm das Malheur geschildert hatte. Es schien ihn nicht überrascht zu haben. – „Ach und ja, der Fernseher!“ – „I‘ll do my very best!“
Wir fuhren die etwa dreißig Kilometer nach Oslo. Da wir von Westen her kamen, wollten wir erst einmal den großen Frogner-Park besuchen, vor allem seiner grandiosen Granitskulpturen wegen. Wir verloren die Orientierung. Parkten in einer kleinen Straße. Wo isser denn?! Ein junger Norweger fummelte an seinem Motorroller herum. Den sprach ich an, Englisch. Auf meine Frage, wo der Park sei, zeigte er in die hilfreiche Richtung. Aber das war nicht alles. Er ließ seinen Motorroller stehen, seine Utensilien liegen und brachte uns um die Ecke, fast bis zum Frogner-Park. Hundert Schritte später hatten wir nur noch eine breite Straße zu überqueren, als uns jemand dezent anhupte; lächelnd und winkend fuhr er an uns vorbei. Es war der blonde Wikinger, der uns den Weg gezeigt hatte.
Ein anderer Mensch sollte uns bald darauf ebenfalls beeindrucken. Allerdings sprach er eher durch seine Gemälde und Wandmalereien in der historischen Universitätsaula zu uns: na klar, ich meine Edvard Munch. – Ich erspare mir, alle Edelsteine Oslos hinzustreuen, ist doch das ganze Zentrum voll ästhetischer Reize. Lebhaft, doch nicht laut – und von besonderer Atmosphäre.
Gegen Abend kehrten wir heim, freuten uns auf die Hygge unserer Holzhütte, das Licht der untergehenden Sonne in unserem Fjord. Etwas bang jedoch war uns schon: war das abenteuerliche Bett erfolgreich bearbeitet worden? – Yeah! Wir freuten uns auf einen stabilen Schlaf. Erst einmal nahmen wir jedoch einen erneuten Anlauf ins Fußballstadion: der Bildschirm noch immer ein einziger Grießbrei, ein nicht einmal schemenhaftes Spiel mit norwegischem Kommentar!! – Wir bevorzugten Sonnenuntergang und Bettbuch über festem Grund.
Der nächste Tag war nicht mehr der attraktiven Metropole gewidmet, sondern dem Erfahren landschaftlicher Reize. Wir hätten ziellos fahren können, denn wir waren von Schönheit in Fülle umgeben. Dennoch steuerten wir konkrete Ziele an, wie die riesige dunkle Stabkirche von Heddal. Sie duftete nach altem Holz und rührte mich zu Tränen.
Dass ich den Wagen mit besonderer Vorsicht zu steuern hatte in diesem Land, hatten wir längst registriert. Oft galt 60 als Höchstgeschwindigkeit, besonders auf Landstraßen, die sich durch Täler schlängelten. Es war durchaus sinnvoll, vor Kurven noch einige Stundenkilometer unter dem Limit zu bleiben, drohte doch dicht hinter der Kurve einer der riesigen „Starenkästen“, die bekannt waren als Sparbüchsen für großes Geld. Aber was sollte man denn rasen in dieser bezaubernden Region!
Wir fuhren durch ein grünes Tal. Für diese Reise hatte ich eine Tonbandkassette mit Musik von Grieg zusammengestellt, Lyrische Stücke für Klavier und einige seiner schönsten Orchesterwerke. Das Tal schillerte in der Sonne, das Himmelblau leuchtete durch die Laubbaumkronen über unserer schmalen Straße. Es begann der zweite Satz aus Griegs Klavierkonzert. Musik und Natur wurden eins. Es ging nicht schöner. Nicht anrührender. Doch hinter einer sanften Nordkurve erschien plötzlich, etwas abseits der Straße gelegen, eine Handvoll dunkler, bäuerlicher Holzhäuser, deren Schönheit durch den Strei-cherklang noch gehoben wurde. In diesem Moment empfand ich dies bewegte und bewegende Bild als ein wunderbares Gesamtkunstwerk. Die Häuser zogen uns zu sich, steigerten ihre Schönheit im Detail, in geschnitzten Ornamenten aus mittelalterlicher Zeit. Ich fühlte mich entrückt, war tief bezaubert.
Voll herrlicher Eindrücke fuhren wir nach Hause zu unserer hytte. Unterwegs, dicht bei unserem Fjord, entdeckten wir eine hölzerne Bude, die offenbar zu einem Campingplatz gehörte. Dort gab es Lebensmittel. Wir hatten uns Marmelade aus Schweden mitgebracht. Dafür kauften wir nun zwei schrippenartige Brötchen, schlichtes Gebäck für einen noblen Preis. Bald dampfte der Kaffee in großen Henkelbechern, und auch die Spätnachmittagssonne wärmte uns. Wir stellten zwei Lehnstühle auf die Holzlatten unserer Terrasse und drapierten vier Marmeladenbrötchenhälften auf einem kleinen Tisch.
Wir genossen den Kaffeeduft wie den der norwegischen Luft, als plötzlich eine Frau martialischen Schrittes auf unserer kleinen Terrasse erschien. Grußlos. Bevor ich sie fragen konnte, ob sie ein Anliegen habe, verschwand sie in unserer hytte. Das empfanden wir als merkwürdig, weshalb wir ihr folgten. Sie kam uns entgegen, englisch schimpfend, mit norwegischem Akzent. Die Heizung sei viel zu weit aufgedreht gewesen, sie habe sie deshalb gedrosselt. – Wir hatten die Heizung niemals berührt. Stattdessen berührte uns ihre Aktion. Wir erbaten nun eine Erklärung, wer sie überhaupt sei. „I‘m the owner of this hytte“, verriet sie uns und schob sogleich die Frage hinterher: „What did you pay for it?“ Wir ahnten, dass sie die Ergänzung zum Vollpreis nachfordern wollte und gaben ihr zur Antwort, das wüssten wir nicht mehr genau; ihre Schwiegertochter wisse es sicherlich konkret, denn sie habe ja die Kronen gleich nach unserer Ankunft empfangen. Diese Auskunft befriedigte die Uncharmante wenig, weshalb sie sich zum Gehen umwandte. Wutschnaubend. Sie entfernte sich jedoch nur wenige Schritte von uns, steuerte nochmals unsere Terrasse an, schloss drei Blumentöpfe mit eigelbleuchtenden Tagetesblüten vom hölzernen Podest in ihre strafenden Arme, um sie uns zu entziehen. Lächelnd bedankte sich meine Frau; englisch, mit deutschem Akzent. Sie fand den Geruch der Studentenblumen ohnehin abstoßend. – Von der Furie befreit, genossen wir die Reste der schlichten Edelbrötchen.
Keine Fußball-EM, dafür ein weiteres Lesefest im festen Bett. – Am nächsten Vormittag brachen wir auf, um uns weiter in Richtung Atlantik zu bewegen. Unsere letzte Aktion auf dem schön gelegenen Areal am Fjord sollte die Übergabe der Schlüssel sein. Wir klingelten am großen Haus. – Keine Reaktion. Nochmals dasselbe. Nichts geschah. Auch diese Situation war merkwürdig. Die Schlüssel rollten wir in einen „Tusen takk!-Zettel“ ein und ließen sie in den Briefkasten rasseln.
Weiter nach Nordwesten, unser Endziel Bergen im Sinn! Natürlich genossen wir unterwegs einige Stabkirchen, auch die sehr schlichte bei Rollag, deren Baubeginn ins Mittelalter zurückreicht. Wir fuhren durch ein grünes Flusstal. Der Fluss erweiterte sich mehr und mehr zu einem Fjord.
Links von uns eine Brücke. Die Berghänge immer höher und steiler. Hier zu wohnen wäre herrlich! Wenige hundert Meter weiter ein Haus unten, direkt am Fjord gelegen.
„Wir fragen einfach mal, ob sie vermieten!“ Wir rollten den schmalen Weg sanft hinunter zum Haus. Klingelten. Eine vielleicht fünfzigjährige Frau öffnete. Wir fragten, ob sie ein Zimmer für uns habe. Das habe sie, entgegnete sie. Wir schauten uns die kleine Wohnung an, fragten nach dem Preis für eine Nacht. Sie nannte einen norwegischen. Die Szenerie wiederholte sich, diesmal allerdings am hellichten Tage. „Für die zweite und dritte Nacht hätten wir möglichst einen Rabatt.“ Anders als vor einigen Tagen, bat sie mich um einen Vorschlag. Ich nannte einen niedrigen Preis für die zweite und dritte Nacht, in der Hoffnung, dass wir uns in der Mitte treffen würden. Verblüffender Weise akzeptierte sie den Preis sofort und lachte. Überhaupt war es lustig, sie sprechen zu erleben, denn es war eine Mischung aus Englisch, Norwegisch und Deutsch; aber es klang noch etwas anderes mit. – „Nun richtet euch erstmal ein!“, bedeutete sie uns. Doch bevor wir dazu kamen, den Wagen auszuräumen, fesselte uns der Anblick der Landschaft. Gegenüber des immerhin etwa siebenhundert Meter breiten Fjords leuchtete eine begrünte Steilwand, von der ein schmaler Schleierwasserfall hinabstürzte. Außer dem fernen Rauschen nahmen wir weitere Naturgeräusche aus der Nähe wahr. Etwa acht Hühner gackerten dicht vor uns am Ufer. Plötzlich stürzte sich eines der Hühner ins Wasser. Das schien die anderen zu verwundern. Uns auch. Als das Gefiederwesen dem Fjord entstiegen war, entpuppte es sich als Ente. Der einzigen unter all den Hühnern. Wir fühlten, dass das Leben hier lustiger war als in dem Quartier, das wir am Vormittag verlassenen hatten.
Kaum in die Ferienwohnung eingetaucht, kam Katharina, als die sie sich nun vorstellte, nochmals zu uns, beladen mit Kaffee, Teeund Hühnereiern. Willkommensgeschenke! – „Ach, ein Fernseher ist auch da! Dann können wir wenigstens hier mal ein EM-Spiel anschauen!!“ – Denkste, er war neu und noch nicht angeschlossen, wie uns Katharina verriet. „Wann wolltet ihr denn gucken?“, fragte sie. „Heute abend wär‘s schön gewesen!“, erwiderten wir ihre Frage. – „Na dann kommt ihr einfach hoch zu uns!“ – Was, kaum angekommen und dann sowas?!
Um acht Uhr betraten wir zögerlich ihr Wohnzimmer. Auf dem großen Ecksofa saß bereits Katharinas norwegischer Mann, im Rücken ein riesiges Panoramafenster: Der Fjord, der Steilhang, der Wasserfall. Vor uns ein Tisch, dahinter der Fernseher. Rechts von uns das Naturbild, vor uns das belebte Fußballstadion. Von links kam mit Schwung Katharina auf mich zu. Sah mich auf der Sofakante sitzen. „Mach‘s dir mal gemütlich!“, rief sie mir dynamisch entgegen, während sie mich mit beiden Händen nach hinten an die gepolsterte Rückenlehne stieß. Ich lachte verblüfft und gelockert. Meine Frau lehnte sich prophylaktisch ebenfalls zurück. Eine Wolldecke schmiss Katharina uns auch noch entgegen, stellte sprudelnde Limonade auf den Tisch. Bis zum Spielbeginn war noch Zeit. Ihr Mann gab sich eher zurückhaltend, Katharina öffnete sich umso mehr. Sie erzählte uns, dass sie eine gebürtige Polin sei und ehemals in der polnischen Handballnationalmannschaft gespielt habe. Aha, daher der vorhin noch ungedeutete slawische Akzent! Aha, daher die Stoßkraft!!
Das Spiel begann, mit deutscher Beteiligung. Es dauerte nicht lange, bis klar wurde: der nette Norweger neben uns verstand soviel von Fußball wie der Wasserfall in seinem Rücken. Nicht nur in brenzligen Torraumsituationen, sondern auch bei fast jedem Ball, der über die Seitenlinie ins Aus flog oder rollte, und sei die Situation noch so harmlos, stieß er ein vollkommen stereotypes „O-o!“ aus, zwei offene Stakkato-Os, leicht bedrohlich intoniert. – Katharina bereitete währenddessen einen Kuchen vor, da am nächsten Tag ihre Tochter aus Krakau erwartet wurde. Hin und wieder schaute sie um die Ecke, mehr nach uns als nach dem Spiel.
Wir genossen noch zwei Tage zwischen Wald und Wasser, sammelten noch eine Handvoll Stabkirchen und besichtigten alte Bauernhäuser. Von Katharina Abschied zu nehmen, fiel uns schwer und endete in einer warmen Umarmung. Ach, ich hätte auch noch die Hühner umarmen wollen, die in kurioser Eintracht mit ihrer Ente lebten wie so viele Norweger mit ihrem herrlichen Land, das wir nur behutsam verließen, nicht nur der bedrohlichen Blitzer wegen. Bergen hatten wir nie erreicht. Was machte das schon?! Wir waren so bereichert, dass es wohl nicht mehr notwendig war.
Munch und Grieg im sonnenwarmen Nacken, entfernten wir uns, zurück nach Südosten über eine kaum spürbare Grenze, ins vertraute Schweden.
„Eines der schönsten Länder überhaupt, dieses Norwegen“ – Mmh, vielleicht ist ja doch was dran!
Geteilte Freude
„Ein Heft ist noch übrig“, sprach der Lehrer. Oliver sah ihn mit erstarrter Mimik und weit geöffneten Augen an. „Ich musste eine Fünf unter das Diktat setzen“, sagte der Lehrer, nun Oliver anschauend, mit besorgtem Ausdruck. Während ein behutsames allgemeines Bedauern durch den Raum klang, brachte der Lehrer Oliver sein Heft, der es energielos öffnete. – Kurz darauf tönte ein Jubelschrei durch das Klassenzimmer. Vielleicht hatte Oliver die kleine Fünf wahrgenommen, die über die Anzahl der Fehler Auskunft gab, mit Sicherheit aber die große leuchtendrote Drei, die zusammenfassende Zensur unter seinem königsblauen Schreibtext.
Dann verstummte er plötzlich, schaute zu seinem Lehrer auf und sagte ihm inniglich lächelnd und ohne jedes gesprochene Wort: Ich danke Dir, während der Lehrer dem Jungen ebenso wortlos erwiderte: Das hast Du geschafft, Du ganz allein – wobei, kaum merklich, ein wenig Feuchtigkeit in seine Augen trat.
Der Ausklang war eine silberne Fortissimo-Fanfare aus fünfundzwanzig Kindermündern.
Eigentlich eine banale Geschichte, eine Situation, wie sie sich tausende Male ereignet – und doch ist sie es wert, anderen mitgeteilt zu werden.
Zu Beginn des 5. Schuljahrs kam Oliver in seine neue Klasse. Ein netter Junge ohne Zweifel, was die anderen bald spürten. Er fiel selten auf; eigentlich nur, wenn den Schülern die Diktathefte zurückgegeben wurden, fand er stärkere Beachtung. Die Beurteilung wurde von Oliver keineswegs mit Spannung erwartet, denn er ahnte sie bereits, wenn sein noch geschlossenes Heft vor ihm lag. Auch den anderen war nach wenigen Monaten bewusst, welche Note unter seinem Diktattext stehen würde. Es war die unterste in der Notenskala, wieder und wieder. Dabei war es nicht etwa so, dass er resigniert den Dingen ihren Lauf ließ. Er versuchte regelmäßig, oft mit Unterstützung seiner Mutter, seine orthografischen Kenntnisse zu verbessern. Dies verdiente Anerkennung, denn nach einer Fehlersumme von vierunddreißig oder neununddreißig war die Gefahr der Resignation nicht unbeträchtlich. So fiel es auch dem Lehrer schwer, ihn von Mal zu Mal betrüben zu müssen. Natürlich versuchte er, Oliver weiterhin zu ermutigen; auch gab es Gespräche mit der Mutter, die oft dem Verzweifeln nahe war und dankbar für jeden konstruktiven Rat. Niemals wurde Oliver von den anderen verlacht, eher versuchten einige von ihnen, ihm Zuversicht einzugeben.
Eines Tages erlaubte es die Fehleranzahl, Oliver eine 5 unter seinen Diktattext zu setzen – und auch ein berechtigtes verbales Lob. So sehr es auch wie Ironie anmuten konnte, so keimte doch eine bislang kaum entwickelte Hoffnung im Lehrer auf. Auch Olivers Mitschüler verstanden die Signale und ermutigten ihren Klassenkameraden zusätzlich. Der Lehrer versuchte mit Empathie und bestärkenden Worten, dem Jungen mehr und mehr Sicherheit zu geben.
Die nächste Prüfungsarbeit ergab ein knappes Ausreichend als Benotung; und somit hatte sich Oliver selbst den Beweis erbracht, dass er in der Lage war, seine Rechtschreibkenntnisse deutlich zu verbessern.
Einige Wochen später saß der Lehrer an seinem häuslichen Schreibtisch, um die gerade verfassten Diktate seiner Schüler durchzusehen. Plötzlich lag Olivers Heft vor ihm. Hoffen und Bangen mischten sich in seine Emotionen. Würde sich ein Rückfall in Olivers so lange Zeit ihn bedrängende Unsicherheit einstellen? Könnte man durch ein ähnliches Ergebnis wie dem des letzten Diktats ihn weiterhin motivieren? – Der Lehrer öffnete vorsichtig die neu beschriebene Doppelseite. Er überflog den Text und fühlte ein wohliges Behagen. Er ließ die erdbeerrote Tinte fließen, nicht unwillig, sondern als ob jeder markierte Fehler eine kleine Verbeugung vor dem Verfasser wäre. Waren es wirklich nur fünf Stellen, die er zu markieren hatte? Er ging die Wörter und Satzzeichen nochmals genau durch, mit der Absicht, nicht fündig zu werden. – Es blieb dabei, es waren fünf, nur fünf Fehlerstellen. Es machte ihm Freude, dem Jungen einen Kommentar unter den Diktattext zu schreiben. Die rote Tinte floss und leuchtete wie Blütengirlanden. Es war dem Lehrer wie ein Vorempfang des Glücksgefühls seines Schülers.
Am folgenden Tag trat der Lehrer mit einem Stapel Schreibhefte in den Klassenraum ein. Er hatte keinerlei Ordnung vorgenommen; allerdings hatte er Olivers Heft bewusst zuunterst gelegt. Natürlich bemerkte der Lehrer die bange Erwartung des Jungen, doch wusste er ja um den Effekt. Und so hielt er es gern aus, ihn warten zu lassen, warten auf ein für diesen Jungen bedeutsames Glück.
Achtundfünfzig
Vom frühen Nachmittag an saßen beide mit ihrer Freundin auf der Terrasse über der Blumenböschung, die zur Gartenwiese hinunterfließt.
Während die Frauen strickten, öffnete er ein schmales Skizzenbuch und begann, mit schwarzem Fineliner ein Gartenstück zu zeichnen. Da links auf der Doppelseite noch genügend Platz war, skizzierte er noch einen isoliert stehenden abgestorbenen Obstbaum, von dem nur noch ein Teil des Stammes übrig war, etwas mehr als drei Meter lang und im oberen Bereich bogenförmig gekrümmt, so dass er sich anbot, mit einem Vogelfutterhäuschen behängt zu werden.