Verschieben wir es auf morgen - Miriam Maertens - E-Book

Verschieben wir es auf morgen E-Book

Miriam Maertens

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Beschreibung

Sie hat sich nie als Kranke gefühlt, wollte nie jemand sein, bei dem man zuerst an die kaputte Lunge denkt. Deshalb beschloss die Schauspielerin Miriam Maertens, einfach so zu leben, als wäre sie gesund. Sie will so sein wie alle Kinder, nichts versäumen, überall mitmachen, auch auf Klassenfahrt gehen. Die auffällige Sorge ihrer Mutter versteht sie nicht. Sie fühlt sich körperlich schwach, aber nie krank. Und sie kann sich durchsetzen, weil ihr Bruder mitkommt, der ihr den Rücken abklopft und mit ihr inhaliert. Mit sechzehn bricht sie die Schule ab, weil sie unbedingt ans Theater will – wie ihr Vater und ihre beiden älteren Brüder. Nur wenige wissen, dass Miriam Maertens vor jedem Auftritt und in den Pausen inhaliert, um auf der Bühne nicht atemlos zu sein. Mit Anfang Dreißig wird sie gegen den Rat der Ärzte schwanger. Erst als sie kaum noch Luft bekommt, ist sie bereit, sich auf die Liste für ein Spenderorgan setzen zu lassen. Es erfordert viel Kraft und noch mehr Mut, den eigenen Weg so unbeirrt zu gehen – aber das Leben ist es allemal wert.

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Seitenzahl: 290

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Das Buch

Sie will so sein wie alle Kinder, nichts versäumen, überall mitmachen. Doch sie soll sich »schonen« und wird von ihren Eltern zum Inhalieren und Abklopfen der Lunge ins Haus gerufen. Miriam Maertens hat Mukoviszidose, eine unheilbare Erbkrankheit, die in den Siebzigerjahren einen frühen Tod bedeutet. Trotz düsterer Prognosen der Ärzte entschließt sich die Familie, den Kampf gegen die Krankheit aufzunehmen. Mit sechzehn geht Miriam von der Schule ab, weil sie unbedingt ans Theater will – wie ihr Vater und ihre beiden älteren Brüder. Ihre Krankheit gibt sie in dieser Welt nicht preis. In andere Rollen zu schlüpfen, lenkt sie ab und macht sie mental stark. Mit Anfang dreißig wird sie gegen den dringenden Rat der Ärzte schwanger, zu diesem Zeitpunkt ist ihre Lunge schon ziemlich schwach. Erst Jahre später, als sie kaum noch Luft bekommt, ist sie bereit, sich auf die Liste für ein Spenderorgan setzen zu lassen. Es erfordert viel Kraft und noch mehr Mut, den eigenen Weg so unbeirrt zu gehen – aber das Leben ist es allemal wert.

Die Autorin

MIRIAM MAERTENS wurde 1970 in eine Theaterfamilie hineingeboren. Seit ihrer Jugend ist sie Schauspielerin, seit 2005 ist sie festes Ensemblemitglied am Zürcher Schauspielhaus. Darüber hinaus war sie in zahlreichen Fernsehproduktionen zu sehen.

MIRIAM MAERTENS

VERSCHIEBEN WIR ES AUF MORGEN

Wie ich dem Tod ein Schnippchen schlug

Ullstein leben

Ullstein leben ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH

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ISBN 978-3-8437-1868-4

© 2018 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin Lektorat: Claudia Schlottmann Foto S. 6 (oben) im Bildteil: ©Toni Suter / T+T Fotografie Covergestaltung: zero-media.net, München Covermotiv: © Robin Hirsch

E-Book: L42 AG, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Für meine wunderbare Familie,

für Professor Harms und Frau Dr. Bertele,

für Joshua.

»Wehe dem Kind, das beim Kuss auf die Stirn salzig schmeckt, es ist verhext und muss bald sterben.«

INHALT

Prolog: 8. Juni 2012

Erster Akt: Kindheitserinnerungen

Diagnose

Der Diplomat der Familie

Eine Veddeler Deern

Geschwisterliebe

Unser Düpenautal

Familie Paetsch

Körpergefühl

Meine Kraftquellen

Ferien in Dänemark

»Spring ab!«

Sommerfestspiele

Zweiter Akt: Die Retter in der Not

»Ich nehme sie wieder mit«

Mehr als ein Beruf

Mia

Maria im Heuwinkl

Eine Familie von Schauspielern

Der Kampf um meine mittlere Reife

Hamlet

Janna

Der Mann fürs Leben

Neubeginn in München und der Wunsch nach einem Kind

Familienzuwachs mal zwei

Es ist so weit

Scheiden tut weh

Step by step

Bühnenjubiläum

Unter Kranken

Auf zu neuen Ufern

Drei auf einen Streich

George Bailey

Der Weg wird schmaler

Ohne George Bailey unterwegs

Todesangst

Erster Versuch

FaustIn and out

Ein Lichtstreif am Horizont

Die Listung

Fehlalarm

Die letzten Stunden meines ersten Lebens

Dritter Akt: Ich lebe noch

Sie ist bei mir

»Heute gehen wir bis nach Sylt«

Ein blonder Engel

Joshua kommt mich besuchen

Comeback

Epilog

Bildteil

PROLOG

8. JUNI 2012

»Hallo?«

»Guten Abend, spreche ich mit Miriam Maertens?«

»Ja.«

»Wir haben ein passendes Organ für Sie. Sie sind gerade in Berlin, nicht wahr? Geben Sie uns Ihre genaue Adresse, und packen Sie Ihre Sachen zusammen. Wir holen Sie in einer halben Stunde ab.«

ERSTER AKT

KINDHEITSERINNERUNGEN

Es ist Sommer. Ich spüre den Frotteebadeanzug an meiner Haut, die Wärme der Sonne, die macht, dass ich mich wohlfühle in meinem Körper. Ich stehe am Swimmingpool einer Hotelanlage, in der Hand ein Vanilleeis. Bis heute bin ich auf der Suche nach diesem Vanillegeschmack.

Es ist Winter. Ich werde von meiner Mutter so dick eingepackt, dass meine Arme wie bei einem Pinguin zur Seite abstehen, ich kann mich kaum noch bewegen. Mit meinem Spielzeugelefanten, den man auf Rädern hinter sich herziehen kann, stapfe ich durch unsere Nachbarschaft, die Kälte, die ich einatme, kommt mir wie eine Wand entgegen, egal, ich ziehe weiter.

Am helllichten Tag wird das Rollo runtergezogen. Ich liege im Bett und schaue auf einen dunkelblauen Himmel mit Sternen. Am unteren Ende des Rollos sind Tiere abgebildet, die ich mir in meiner Fantasie lebendig mache, um mich abzulenken. Ich fühle mich schwach, mein Kopf, der andauernd etwas erleben will, muss sich meinem Körper unterwerfen. Ich liege unter dem Sauerstoffzelt und darf nicht raus. Ein bisschen Tageslicht dringt von der Seite in meine Dunkelheit hinein. Ich höre, dass die Kinder unserer Siedlung draußen spielen. Ich möchte mitspielen, nichts versäumen.

Das Meerwasser überall an meinem Körper. Wie eine Katze, die sich mit der Zunge reinigt, lecke ich das Salz von meiner Haut. Ein Gefühl von Leichtigkeit ist in mir. Ich tauche ein paar Züge unter Wasser und fühle mich frei. Ich wäre gerne eine Meerjungfrau.

Hamburger Dom im Winter. Ich steige in die von mir geliebte Achterbahn, die Turbo-Maus. Meine Mutter stülpt mir eine weiße Fellmütze über, die mich vor allem schützen soll, was ihr gefährlich erscheint. Während ich die Maus rauf- und runterrase, reiße ich mir das Kunstfell vom Kopf, in der Hoffnung, dass es auf den Schienen liegen bleibt und von der nächsten »Maus« vernichtet wird, doch als ich unten ankomme, steht meine Mutter schon wieder mit der Mütze in der Hand da.

Besuch bei meiner Urgroßmutter in der schleswig-holsteinischen Heide. Ihr kleines, karg eingerichtetes Häuschen erscheint mir wie das Hexenhaus bei Hänsel und Gretel. In dem Wald vor ihrer Tür falle ich in ein Wespennest. Innerhalb kürzester Zeit habe ich einen Schwarm um mich rum und werde gestochen, viele, viele Male. Auch das noch, denke ich, so viel Pech kann nur mir passieren.

Ich sitze mit einer roten Plastikmundharmonika in unserem Garten. Meine Freundin Piedel ist bei mir und fragt mich, ob sie auch mal darauf spielen darf. Sie hat Husten. Instinktiv gehe ich auf Distanz. Um unsere Freundschaft nicht zu verraten, gebe ich ihr die Mundharmonika dann doch. In dem Moment, als ihre Lippen das kleine Instrument berühren, springt meine Mutter panthergleich herbei und schnappt es ihr aus der Hand. Meine Freundin schaut verwirrt. Als sie kurz darauf abgeholt wird, zischt meine Mutter ihrer Mutter zu, sie wisse doch Bescheid, wie gefährlich es für mich sei, wenn jemand in meiner Nähe huste.

Wie oft ich das in meinem Leben gehört habe, diese Formulierung, dass jemand »Bescheid weiß«. Manchmal ging es so weit, dass irgendwelche Bekannten meiner Eltern, die ich noch nie gesehen hatte, mich fragten, wie es mir denn gehe, und wenn ich »Gut« sagte, kam immer dieses: »Ja, aber wir wissen ja Bescheid.«

Ich verstand diese große Sorge um mich nicht. Ich fühlte mich nie ernsthaft krank, auch wenn mir meine körperliche Schwäche – eine gewisse Atemlosigkeit, die ich ab und zu spürte, und der Schleim, der manchmal unkontrolliert aus mir herauskam – natürlich nicht verborgen blieb. Der andere Teil von mir, mein Kopf, war jedoch von Anfang an positiv, sodass sich die Krankheit mental nicht durchsetzen konnte. Mein Leben war zu gut, zu schön, ich fühlte mich stark und war neugierig auf alles, was kommen mag.

DIAGNOSE

Aufgewachsen sind meine beiden älteren Brüder und ich in einer kinderfreundlichen Siedlung in Osdorf, einem etwas außerhalb gelegenen Stadtteil von Hamburg. Unser kleines, feines Reihenhaus war ein Geschenk meines Großvaters an seinen Sohn, also meinen Vater, für seine fünfköpfige Familie nebst Hund. Das sogenannte Düpenautal. Eine fast schon ländliche, ruhige Gegend mit Wasser, dem Flüsschen Düpenau, und einem Feldweg, der zu einem nahe gelegenen Wäldchen führte.

Im Frühling, wenn der Fliederbaum im vorderen Garten zu blühen anfing, rannte ich mit dem Ruf »Mekkerling! Mekkerling!« zu meiner Mutter und wollte partout nicht mehr vor die Tür. Die auf den Fliederblüten sitzenden Schmetterlinge mit den Augen auf den Flügeln und ihrem Flattern versetzten mich in Angst und Schrecken. Außer dieser Schmetterlingsgefahr gab es aber nichts, was uns Kinder davon abgehalten hätte, hinauszustürmen und uns frei in unserer Siedlung zu bewegen. Die nächste größere Straße, wo auch der Bus zur Schule fuhr, war weit genug weg.

In der Nähe gab es zwei kleine Lebensmittelmärkte, in denen ich ein und aus ging. Schon als ganz kleines Mädchen habe ich das Einkaufen von Lebensmitteln geliebt. Bei dem einen Laden handelte es sich um einen A&O, dessen Besitzer schnell überfordert war, wenn wir Kinder alles durcheinanderbestellten. Herr Oberüber hatte die besten Süßigkeiten in Plastikdosen, sogenannte Einzelware. »Gummels«, wie ich sie nenne. Die süßen Teufel waren meine absoluten Favoriten. Fünf Pfennig kostete einer. Bei uns im Haus fand man immer irgendwo ein Zehnpfennigstück, manchmal sogar eine Mark, sei es unter einem Teppich, sei es in einer Schublade oder Jackentasche, sodass ich mir fast täglich neue Teufel genehmigte, eben auch heimlich, so groß war diese Sucht.

Der andere Laden war ein Edeka-Markt, und ich weiß bis heute, wie all die Waren in den Regalen angeordnet waren. Oft wurden wir Kinder dorthin geschickt, um noch etwas zu besorgen, was meine Mutter vergessen hatte. Meistens standen auf dem Einkaufszettel, den sie mir mitgab, Dinge wie Nivea-Creme, Zitronen, Ernte 23 und Amselfelder. Zu der damaligen Zeit war es völlig normal, dass ein siebenjähriges Mädchen Zigaretten und Alkohol einkaufte.

Ich hatte eine glückliche Kindheit. Das, was meine Eltern mir und meinen Brüdern über das Leben beigebracht haben – welche Bedeutung es für sie hat und welche unerschöpflichen Möglichkeiten es bietet, die Schönheiten dieses Planeten zu genießen –, hat mir geholfen, mein eigenes Schicksal nie zu hinterfragen, geschweige denn jemals aufzugeben.

Vor achtundvierzig Jahren mit Mukoviszidose geboren zu werden bedeutete etwas anderes als heute. Mukoviszidose war – und ist noch immer – eine unheilbare Krankheit, die unbehandelt zum frühen Tod führt. Die Stoffwechselerkrankung beruht auf einem vererbten Gendefekt. Träger des fehlerhaften Gens sind beide Elternteile, oft jedoch, ohne es zu wissen und ohne selbst Symptome zu zeigen. Die Krankheit, von Medizinern auch Zystische Fibrose genannt, geht mit einer Reihe von schwerwiegenden Symptomen einher, allesamt verursacht durch die gestörte Produktion von Körperflüssigkeiten. Da der Wassergehalt der Sekrete in manchen Organen zu niedrig ist und der Salzgehalt zu hoch, bildet sich in der Lunge, im Darm und in der Bauchspeicheldrüse zäher Schleim (Muko), der nicht automatisch vom Körper abtransportiert wird. Dieser Schleim setzt sich fest, was zu erheblichen Problemen führt, unter anderem zu immer wiederkehrenden Lungenentzündungen, die das Lungengewebe mit der Zeit zerstören. Folgeerscheinungen sind zunehmende Atemnot und Sauerstoffmangel im Blut. Durch die ständige Überblähung der Lunge und die damit verbundene Verschiebung der Rippen kommt es im Laufe der Jahre auch zu einer sichtbaren Verkrümmung des Rückens. Weitere Symptome sind chronischer Durchfall, Mangelernährung und Wachstumsverzögerungen. Früher starben viele Säuglinge mit Mukoviszidose wegen der zu zähflüssigen Darmsekrete an einem Darmverschluss. Vielfach konnte man sich das nicht erklären, weil die Krankheit zu dem Zeitpunkt oft noch gar nicht diagnostiziert war.

Da Mukoviszidose sehr unterschiedlich stark ausgeprägt und nicht immer eindeutig in ihrem Erscheinungsbild ist, kam es bis vor nicht allzu langer Zeit häufig zu Fehldiagnosen, wie beispielsweise Asthma. Ich selber habe später mal während eines Klinikaufenthalts eine Frau kennengelernt, bei der die Erkrankung erst im Erwachsenenalter festgestellt wurde, da sie aus einer Sportlerfamilie stammte und von klein auf täglich trainierte. Ihre Symptome waren bis dahin nur als chronischer Husten gedeutet worden.

Heute lässt sich die Krankheit anhand einer Blutuntersuchung und, im Verdachtsfall, eines anschließenden Schweißtests, bei dem der Kochsalzgehalt im Schweiß untersucht wird, bereits kurz nach der Geburt diagnostizieren, sodass frühzeitig mit einer gezielten Therapie begonnen werden kann. Nicht zuletzt dadurch ist die Lebenserwartung Mukoviszidose-Kranker in den letzten Jahrzehnten enorm gestiegen. Bis vor Kurzem gehörte das allerdings noch nicht zu den Routineuntersuchungen bei Neugeborenen.

Bei mir zeichnete sich schon früh ab, dass hauptsächlich meine Lunge betroffen war, weniger mein Darm und meine Bauchspeicheldrüse. Wobei ich auch unter starken Verdauungsproblemen samt den dazugehörigen Durchfällen litt und meine Mutter mich, als ich ein kleines Mädchen war, zwingen musste, täglich einen Naturjoghurt mit einem widerlich schmeckenden Granulat zu essen. Diese Enzyme für die Verdauung wurden aber von den Ärzten nicht richtig verordnet und halfen entsprechend wenig. Das Medikament muss nämlich nicht vor oder nach dem Essen eingenommen werden, sondern während der Mahlzeit. Noch heute brauche ich solche Enzyme, um normal essen zu können, zum Glück gibt es sie inzwischen aber in Tablettenform.

Zum Zeitpunkt meiner Geburt im Jahr 1970 tappte man auch im Hinblick auf Therapiemöglichkeiten noch ziemlich im Dunkeln; das Einzige, was feststand, war die Erwartung eines frühen Todes. Empfohlen wurde Ruhe – ähnlich den Liegekuren in Thomas Manns Zauberberg – statt wie heute Bewegung, und von der, wie man inzwischen weiß, lebensnotwendigen schleimlösenden Inhalation war keine Rede, außer dass man nachts unter einem Zelt schlafen sollte, in das Wasserdampf gesprüht wurde. Es sah aus wie ein Himmelbett, war aber keineswegs so romantisch. Und der Wasserdampf verschlimmerte die Symptome sogar, da sich, wie man heute weiß, durch die Feuchtigkeit aggressive Keime wie der Pseudomonas in die Lunge schleichen können, die man nie wieder losbekommt und die die ewige Entzündungsneigung des Organs noch fördern. Im Grunde war also alles falsch, was die Ärzte Mukoviszidose-Patienten und ihren Eltern zu der Zeit empfahlen. Man stand der tödlichen Diagnose ziemlich machtlos gegenüber. So auch meine Eltern.

Um zu verstehen, wie meine Familie all die Jahre mit meiner Krankheit umgegangen ist, muss man erst einmal ihre einzelnen Mitglieder kennenlernen.

DER DIPLOMAT DER FAMILIE

Da ist zunächst mein Vater, der Diplomat der Familie. Von Beruf: Schauspieler. Ein in sich ruhender Mensch, den man schon sehr reizen muss, um ihn aus der Reserve zu locken. Dann allerdings: Rette sich, wer kann. Mein Vater ist ein typisches, etwas verwöhntes Einzelkind. Zu ihm kam nicht nur der Weihnachtsmann, sondern meine jüdische Großmutter, Omi Charlotte, machte ihn glauben, dass ihm auch das Pfingstgeistlein Geschenke brachte. Sein Vater, mein Großvater Willy, war ebenfalls Schauspieler und später Intendant des Thalia Theaters. Der Beruf ist meinem Vater also schon in die Wiege gelegt worden. Er ist Familienmensch durch und durch und ein Hundeliebhaber sondergleichen. Außerdem aufmerksam im Detail. Manchmal lagen, wenn ich morgens aufwachte, an meinem Bett Gummels, die er mir aus der Theaterkantine mitgebracht hatte.

Wenn er keine Vorstellung hatte, stand er oft abends an meinem Bett und sang mir das Schlaflied »Guten Abend, gute Nacht« vor. Bei der Zeile »Morgen früh, wenn Gott will« versuchte er das Wort »früh« beim Ausatmen so lange wie möglich zu halten. Umso kräftiger war dann die Einatmung bei »wenn Gott will«. Aus heutiger Sicht ein seltsames Ritual, wenn man ein lungenkrankes Kind hat. Aber ich war damals beeindruckt von seinem buchstäblich langen Atem.

Mein Vater ist ein eher zurückhaltender Mensch. Sehr kontrolliert und sehr harmoniesüchtig. Ich habe ihn nie weinen sehen. Doch, einmal: als sein erstes Enkelkind auf die Welt kam. Das waren aber Tränen der Freude.

Über die Jahre erwarb er sich in unserer Familie den Spitznamen »Inspektor Clouseau«, nach der von Peter Sellers genial gespielten Figur aus den Pink-Panther-Filmen. Das Ungeschickte, der Inspektor Clouseau in ihm, zeigte sich auf unterschiedlichste Weise. Wenn er ans Telefon ging, fiel ihm immer als Erstes der Hörer aus der Hand. Der Anrufer musste sich gedulden, bis mein Vater die völlig verdrehte Telefonschnur gerade gezogen hatte. Wenn er nach einer gewissen Zeit dann endlich am Apparat war, sprach er ganz seriös in den Hörer: »Ja … Maertens.«

Er verwechselte auch gerne Menschen. Ging auf jemanden zu, der ihm bekannt vorkam, streckte ihm die Hand entgegen und merkte dann erst, dass er sich geirrt hatte. Meistens zu spät.

Mein Vater nahm das Äußere eines Menschen nicht wahr. Wie jemand angezogen war oder ob er einen neuen Haarschnitt hatte, registrierte er nicht. Auch wenn meine Mutter sich ein neues Kleid kaufte und ihn damit überraschen wollte, sah er nur sie, nicht das neue Kleid. Es interessierte ihn auch nicht. Er fand meine Mutter immer schön und sexy, egal, was sie trug.

Umso mehr wunderte ich mich, als mein Vater und ich vor nicht allzu langer Zeit einen Nachbarn auf der Straße trafen und er den Mann geradezu überschwänglich begrüßte: »Mensch, Ralf, was hast du denn für schöne neue Schuhe.« Neugierig blickte ich nach unten. Was mussten das für Schuhe sein, die selbst meinem für optische Auffälligkeiten fast blinden Vater ins Auge stachen? Ich sah einen normalen schwarzen Schuh und einen, nun ja, klumpfußartigen Schuh, den man sehr gut bei einer Aufführung von Kleists Der zerbrochene Krug für den Dorfrichter Adam gebrauchen könnte. In dem Moment schien es, als hätte mein Vater jegliches Taktgefühl verloren, dabei hatte er den auffälligen Schuh wahrscheinlich überhaupt nicht bemerkt. Ich musste mich jedenfalls sehr zusammenreißen, um nicht loszulachen.

Abgesehen von dieser ungewollten Komik hat mein Vater auch einen sehr eigenen Humor. Er dachte sich immer irgendetwas aus, um meine Mutter oder uns Kinder zum Lachen zu bringen. Wenn wir bei einem sonntäglichen Ausflug einen Stopp bei unserer italienischen Lieblingseisdiele eingelegt hatten und mit unseren Eistüten im Auto saßen, hielt mein Vater, sobald er einen Passanten sah, am Straßenrand an, setzte sich die Spitze seiner Eiswaffel auf die Nase und kurbelte das Fenster herunter, um sich ganz seriös nach dem Weg zu einer Adresse zu erkundigen, die er sich in dem Moment ausgedacht hatte. Er verlangte von seinem »Opfer« eine schnelle Antwort, was uns alle natürlich sehr amüsierte.

Am glücklichsten war ich immer, wenn der familiäre Lachkrampf ausbrach, wenn wir uns alle bogen vor Lachen, Tränen über unsere Gesichter liefen und wir überhaupt nicht mehr aufhören konnten, weil einer immer wieder von Neuem losplatzte. Bei meinem Vater dauerte es recht lange, bis es so weit war, aber wenn er einmal begann, war es seine Lache, die mich am meisten zu Fall brachte. Dann war es im positiven Sinne vollkommen aus mit mir.

Ich bewundere meinen Vater für seinen Fleiß im Beruf. Wenn er nicht gerade in laufenden Proben war, hat er sich immer mit irgendeinem Text beschäftigt, einem Drehbuch, Gedichten oder einem Roman. Eine Zeit lang hat es ihm auch Spaß gemacht, Werbetexte fürs Fernsehen zu schreiben. Wenn ihm nachts eine Idee in den Kopf schoss, weckte er meine Mutter und trug ihr die genialen Zeilen vor. An einen Spruch kann ich mich noch erinnern, der ging folgendermaßen: »Bitburger Pils, wer‘s nicht hat, der will‘s, hat man‘s erst, ist man froh, und man trinkt es so: ahhhhh.« Mit dem »ahhh« war gemeint, dass man die Person im Fernseher dann genüsslich das Bier trinken sehen sollte. Wobei solche Texte eigentlich weit unter seinem Niveau waren, aber er verstand es eben, sich dem beworbenen Gegenstand anzupassen.

Wenn ich Texte vorbereiten musste, um an einem Theater vorzusprechen, ging ich vorher zu ihm. Er verschaffte mir den ersten Zugang zur Sprache. Wie man sich Texten nähert, wie man sie sich zu eigen macht, um sie später spielen oder erzählen zu können. Noch heute bereitet mein Vater sich akribisch auf jede Rolle vor, kann schon auf der Leseprobe jedes Wort auswendig und den Text des Spielpartners natürlich auch. Oldschool würde ich das nennen, so etwas findet man heutzutage kaum noch. Eine andere Generation Schauspieler.

EINE VEDDELER DEERN

Meine Mutter bewundere ich für die Fähigkeit, im Moment zu leben, für den Hang zum Genuss, die Liebe zum Leben, zur Natur. Sie ist ein impulsiver Mensch und absoluter Mittelpunkt unserer Familie, als Einzige keine Schauspielerin, aber wegen ihrer angeborenen Dramatik von uns Kindern oft »Suse« genannt (nach der großartigen Schauspielerin Susanne Lothar). Ihre Stärke und ihr gleichzeitig fast kindlich-naives Wesen haben mir geholfen, meine Krankheit stets gut zu bewältigen; allerdings weiß ich nicht, ob sie das alles ohne meinen Vater geschafft hätte. Ihr Mann stand für sie immer an erster Stelle. Kennengelernt haben sich die beiden auf Sylt. Zufall? Schicksal? Mein Vater musste jedenfalls zurück in den Dorfkrug, weil er glaubte, seinen Pensionsschlüssel dort liegen gelassen zu haben. Als er eintrat, sah er meine siebzehnjährige Mutter mit ihrer Cousine an einem Tisch sitzen. Es war wohl Liebe auf den ersten Blick, wie man so sagt. Der Beginn der für mich beeindruckenden Lebens- und Liebesbeziehung meiner Eltern.

Meine Mutter wuchs als älteste von drei Töchtern in einfachen Verhältnissen im Hamburger Stadtteil Veddel auf. Sie ist eine richtige »Veddeler Deern«. Einerseits war sie stolz darauf, andererseits konnten wir Kinder sie aber auch beleidigen, wenn wir sie mit ihrer einfachen Herkunft aufzogen. Intendantensohn aus Harvestehude und Maschinenbautochter von der Veddel, eine wunderbare Mischung. Ein verrücktes Paar, wenn auch ganz anders als Harald Juhnke und Grit Boettcher.

Die Mutter meiner Mutter, unsere Omi Trudel, war eine ungeheuer fleißige Person, die stets gut für ihre Töchter sorgte. Bevor sie unseren Großvater Joachim heiratete, ging sie oft mit ihrer besten Freundin tanzen und entwickelte dabei anscheinend ein Faible für Bad Guys, wie man heute sagen würde. Das entsprechende Aussehen hatte ihr späterer Mann, mein Großvater, auch, aber vom Charakter her war er sensibel und fein. Wobei er regelmäßig gefährdet war, seinen ganzen Wochenlohn gleich am ersten Abend in der Kneipe loszuwerden, da er in seiner Großzügigkeit alle »Kneipeninsassen« mit einlud. Wovor Omi Trudel immer zitterte, weil sie ja ihre drei Töchter ernähren musste.

Da meine Großmutter zwei Kriege erlebt hatte, sorgte sie in puncto Lebensmitteln stets gut vor: Auf ihrem Kleiderschrank im Schlafzimmer standen noch in den Siebzigerjahren Konservendosen, damit Vorräte im Haus waren, falls wieder ein Krieg ausbrach und sie die Wohnung nicht mehr verlassen konnte.

Alle ihre Geburtstage feierte unsere Großmutter bei sich zu Hause, mit sämtlichen Tanten und Onkels, Cousinen und Cousins, und jedes Mal gab es Frankfurter Kranz, wobei ich mir von meinem Stück immer nur das abkratzte, was ich mochte: die Vanillecreme. Während der Alkoholpegel bei den Erwachsenen stieg, spielten wir Kinder meist Verstecken in dieser doch recht kleinen Wohnung.

Omi Trudel war eine bis zum Schluss schöne, in gutem Sinne auf sich achtende Frau. Ich habe sie auch als Erwachsene noch häufig besucht, und dann haben wir uns immer die neuesten Geschichten aus der Familie erzählt. Bis zu ihrem Tod blieb sie in der Wohnung auf der Veddel, versorgt von ihren Kindern.

Mein Großvater Joachim starb an Magenkrebs, als meine Mutter vierzehn Jahre alt war. Da die drei Töchter ihren Vater vergöttert haben, war sein Tod ein herber Schlag für sie. Auch für Omi Trudel, die fortan alles alleine stemmen musste, aber das schaffte sie, denn sie war stark und diszipliniert.

Bei meiner Mutter schlichen sich über die Jahre viele Ängste ein, die sie nicht mehr verließen, was wahrscheinlich auch mit dem frühen Verlust ihres Vaters zu tun hat. Als Kind war sie hingegen eine sehr mutige Person gewesen. Eng verbunden mit der Natur und eine leidenschaftliche Schwimmerin. Sie sprang sogar von den Elbbrücken ins Wasser, denn damals war die Elbe noch sauber. Ein echter Kumpel muss sie gewesen sein, fantasievoll und sehr beliebt bei den Jungs.

Es gibt ein Tagebuch, das noch immer bei uns zu Hause liegt und in dem ich als Kind gerne gelesen habe. Darin beschreibt sie, wie sie auf einer Klassenreise nach Sylt zum ersten Mal das Meer gesehen hat. Dass sie auf derselben Insel nur ein paar Jahre später in einem Tanzlokal zufällig ihren Mann fürs Leben treffen würde, konnte sie damals natürlich nicht ahnen. Die Tagebucheintragungen waren mit feinen Zeichnungen ergänzt, die mir besonders gefielen. Sie hatten so eine naive Schönheit, dass ich Sylt förmlich spürte, das Meer, die Möwen und Robben, die dort zu Hause sind.

Auch als erwachsene Frau hat meine Mutter noch gezeichnet und gemalt. Mich hat es als Kind immer beruhigt, wenn sie sich mit ihren Bildern beschäftigte. Leider hörte sie irgendwann damit auf und versuchte sich stattdessen als Tänzerin in der Lola-Rogge-Ballettschule im Hirschpark in Blankenese, was aber nicht lange anhielt, da es ihr für das harte Training ein wenig an Disziplin und Ausdauer fehlte.

Das Lesen war und ist noch heute eine große Leidenschaft meiner Mutter. Mindestens einmal am Tag nahm sie sich die Zeit, sich mit einem Buch zurückzuziehen. Dafür ließ sie alles im Haushalt stehen und liegen und war für uns Kinder nicht mehr ansprechbar. Die Kraft, die sie aus den unzähligen Geschichten schöpfte, machte sie stark und half ihr vielleicht auch, die ständige Sorge um mich besser auszuhalten. Sie war dann in einer anderen Welt, in der sie loslassen konnte.

Meine Mutter ist für alle kulinarischen Genüsse dieser Welt empfänglich. Wobei sie heute viel besser kocht als früher. In meiner Kindheit hatte Tiefkühlkost Hochkonjunktur bei uns, und vieles von dem, was es zu essen gab, stammte von Iglo. Meine Leibspeisen waren das Hühnerfrikassee und Fisch à la Bordelaise, meine beiden Brüder waren den Steaklets mit »Grillstreifen« verfallen. Aus heutiger Sicht ein fieser Fraß, aber damals dachte man sich nichts dabei. Unsere Mutter versuchte auch nicht, den Süßigkeitenkonsum von uns Kindern zu begrenzen, sodass wir dem Zucker komplett ausgeliefert waren. Sprite, Lift, Mezzo-Mix, das waren unsere Getränke. Mein Bruder Michael aß Kinderschokolade immer so, dass nur das Weiße übrig blieb, ein Trick, der mir persönlich nie gelang. Und natürlich Gummels, ich hatte immer eine Tüte in der Hand, egal, wo ich mich befand.

Auch unser Fernsehkonsum wurde nicht streng reglementiert. Dementsprechend gut kannten wir uns mit den diversen Fernsehsendungen aus: von »Einer wird gewinnen« über »Dalli Dalli« bis zu »Spiel ohne Grenzen«, von »Fantomas« bis »Detektiv Rockford« mit James Garner, den Michi verehrte. Oft war es allerdings eher Glückssache, ob man unserem Schwarz-Weiß-Fernseher eines der damals nur drei verfügbaren Programme entlocken konnte. Die lose Antenne wurde in der Hoffnung auf ein klares Bild in einer ganz bestimmten Position auf das Gerät gelegt. Wenn sich die ideale Lage der Antenne nicht fand, also nur Flimmern und Rauschen erschien, wurde das Gerät zusätzlich noch geschlagen. Manchmal nützte das, manchmal aber auch nicht, sodass wir Kinder heulten vor Wut, wenn wir uns auf eine bestimmte Sendung gefreut hatten. Ich glaube, das ist der Grund, weshalb mein Bruder Michi so ein Fernsehapparate-Fanatiker geworden ist und nur die besten der besten Modelle bei sich zu Hause stehen hat. Es lebe die moderne Zeit.

Für alle Rechnungen, die ins Haus kamen, war meine Mutter zuständig. Mein Vater wollte sich mit Geld nicht beschäftigen. Sie stapelte die »blauen Briefe« von der Deutschen Bank auf dem Schreibtisch, so lange, bis sie sich nicht mehr stapeln ließen, um dann, manchmal erst Wochen später, in Wehklagen über den aktuellen Kontostand auszubrechen. Mein Vater beruhigte sie dann immer mit den Worten: »Nur, wenn man Geld in hohem Maße ausgibt, kommt wieder neues rein.«

Auch für Waschmaschine und Heizung war meine Mutter verantwortlich. Beides lief nicht immer bei uns, was im Winter natürlich eine Katastrophe war. Für solche Fälle wurde ein Bekannter meiner Eltern gerufen. Ein Mann mit Latzhose, der auch jedes Jahr den Weihnachtsbaum aufstellte, da mein Vater sich damit ebenfalls nicht befassen wollte. Er konnte und wollte ja nicht mal eine Glühbirne eindrehen.

Einmal ging dieser Mann allerdings zu weit. Er rief meine Mutter zu sich in den Keller, damit sie ihm kurz half. Als sie unten ankam, zog er seine Latzhose aus und wollte wohl mehr als die handwerkliche Unterstützung beziehungsweise eine andere, als meine Mutter gedacht hatte. Er ward nie wieder gesehen. Und mein Vater musste von nun an am 24. Dezember den Baum selber aufstellen.

Meine Mutter ist sehr emotional, ein richtiger Bauchmensch. Zusätzlich zu »Suse« verpassten wir ihr auch noch den Spitznamen »Nili«, wegen ihrer Leidenschaft für Nilpferde. »Das Nilpferd ist das gefährlichste Tier Afrikas«, diese Beobachtung lässt sich durchaus auch auf den Charakter meiner Mutter übertragen. Ungeheuer impulsiv und wechselhaft. Und mein Vater war immer ihr Wärter.

Nilpferde brauchen Wärter, sonst sind sie verloren.

Entsprechend wimmelte es bei uns zu Hause nur so von Nilpferden – als Tasse, als kleine Gummifigur, als Stofftier, als Aschenbecher und vieles mehr. Eines dieser Tiere hatte eine besondere Funktion in der Familie: das finnische Mumin, ein nilpferdartiges Trollwesen. Unser Reisemumin. Wenn mein Vater auf Gastspiel ging oder es eines von uns Kindern in die Ferne zog, legte unsere Mutter es in den Koffer. So war immer ein Stück von ihr bei uns.

Für mich waren meine Eltern immer ein Vorbild in Sachen Liebe. Alle Hindernisse haben sie gemeinsam zu überwinden versucht; manchmal ging das auch ohne Worte. Als Kind habe ich mir oft Fotos von ihnen angeschaut, auf denen sie, blutjung, mit meinem Bruder Kai abgebildet waren. Ein echt heißes, bildschönes Paar, innerlich und äußerlich. Das hat sich für mich als Tochter bis heute nicht geändert.

Natürlich gab es auch Streit in unserer Familie. Sogar zwischen meinen Eltern kam es bisweilen zu erbitterten Kämpfen. Ziemlich heftig, dramatisch und laut. Wenn ich mich nicht täusche, hat mein Vater meiner Mutter einmal aus Wut versehentlich fast den Arm gebrochen. Sie war schon immer eine sehr eifersüchtige Person, und bei so manch einer Schülerin, die mein Vater aufs Vorsprechen vorbereitete, um die Familienkasse aufzubessern, wurde er von meiner Mutter verdächtigt, sich mehr zu amüsieren als zu arbeiten. Was natürlich Unfug war.

Uns Kinder haben sie beide mit sehr viel Selbstbewusstsein gefüttert: Wir waren die schönsten, lustigsten, intelligentesten Kinder der Welt. Was sich später, als wir rausgingen in die Welt, schnell relativierte, da es von den Schönen, Intelligenten und Lustigen noch mehr gab als uns drei.

Ich habe meine Mutter über alle Maßen geliebt. Ich wollte immer, dass es ihr gut geht und dass nicht ich der Auslöser für ihre Sorgen war.

Vor jedem anstehenden Arzttermin war uns beiden gleichermaßen bange. Wobei meine persönlichen Ängste weniger mit irgendwelchen Piksern oder Spritzen zu tun hatten als vielmehr mit der Befürchtung, dass neue niederschmetternde Informationen im Hinblick auf meine Gesundheit meine Mutter aus der Bahn werfen könnten und der familiäre Alltag dadurch getrübt würde.

Bei Schüben, wenn die Krankheit wie aus dem Nichts so richtig loslegte, wenn meine Atemlosigkeit nicht mehr in den Griff zu kriegen und die Grenze des Erträglichen für uns alle überschritten war, blieb meine Mutter aber ganz klar und vor allen Dingen ganz ruhig. Selbst wenn wir notfallmäßig ins Krankenhaus fuhren.

Dabei hatte das Schicksal sie schon vor meiner Geburt mehr als einmal auf eine harte Probe gestellt. Meine Mutter hat nicht nur viel zu früh ihren geliebten Vater verloren, sondern auch ihr zweitgeborenes Kind, ein Mädchen namens Catrin. Sie starb mit nur einem halben Jahr an einem Darmverschluss. Nach heutigem Kenntnisstand hatte unsere Schwester auch Mukoviszidose, was man damals aber nicht wusste. Wirklich präsent hatten Ärzte diese Diagnose vor fast fünfundfünfzig Jahren ohnehin noch nicht, geschweige denn, dass irgendjemand diesen seltsamen Namen aussprechen konnte.

Wenn man damals der Todesursache unserer Schwester auf den Grund gegangen wäre und nachträglich Mukoviszidose diagnostiziert hätte, wären mein Bruder Michi und ich wahrscheinlich nie auf die Welt gekommen. Was ja schon alleine für die heutige Theaterlandschaft ein großer Verlust wäre. Nein, im Ernst, den Schmerz, den der Tod ihres Kindes für meine Eltern bedeutet haben muss, kann ich nur erahnen. Und das Risiko, noch einmal ein Kind zu verlieren, diesen Schmerz noch einmal zu erleben, wären sie sicher nicht eingegangen. Da stellt sich die Frage, ob die moderne Genetik, das Ideal des gesunden Menschen, nach dem wir alle streben, wirklich immer so erstrebenswert ist.

Es gibt zwei Fotos, auf denen meine Mutter unsere Schwester im Arm hält, aber mehr weiß ich nicht über sie. Nicht einmal, wo ihr Grab ist. Ein Kapitel im Leben meiner Mutter, über das sie nicht spricht, das sie wohl für immer verdrängt hat, um weitermachen zu können.

Zum Glück kam mein Bruder Michi völlig gesund auf die Welt, und nach einer kurzen Phase der Unsicherheit, ob auch mit ihm womöglich etwas nicht in Ordnung sein könnte, fand meine Mutter ihr Urvertrauen wieder.

Umso größer muss sechs Jahre später der Schock gewesen sein, als bei mir im Alter von knapp einem Jahr Mukoviszidose festgestellt wurde. Da ich auffallend blass war und unter ständigem Durchfall und Husten litt, wurde ein Schweißtest durchgeführt, die bis heute einzige Möglichkeit, die Stoffwechselerkrankung zweifelsfrei nachzuweisen.

Nachdem das Ergebnis bei mir eindeutig war, prophezeite der zuständige Professor im Eppendorfer Krankenhaus meinen Eltern, mit dieser üblen Krankheit könne ich höchstens fünf Jahre alt werden. Als persönlichen Tipp gab er ihnen mit auf den Weg, sie sollten mich lieber gleich weggeben, um sich und meine Geschwister nicht unglücklich zu machen.

Erneut trat eine existenzielle Bedrohung, eine große Verlustangst ins Leben meiner Eltern. Umso mehr nahmen sie, ihrem starken Charakter entsprechend, mit mir zusammen den Kampf gegen die Krankheit auf. Insbesondere meine Mutter ließ sich nicht vom Pessimismus der Ärzte beeinflussen. Ihre Devise war: Wollen wir doch mal sehen, ob meine Tochter nicht älter als fünf Jahre wird.

Von da an kämpfte sie bei den Ärzten wie eine Löwenmutter um mich und wurde mein Coach für Körper und Seele. Als ich ein kleines Mädchen war, flehte sie mich an, die wenigen therapeutischen Übungen, die uns zur Verfügung standen, um die Lunge zu belüften, auch wirklich täglich auszuführen, nie nachzulassen. »Als junge Frau wirst du es bereuen, wenn dein Rücken krumm ist«, sagte sie, während ich bettelte, doch lieber draußen spielen zu dürfen als irgendwelche, wie ich fand, blöden Übungen mit dämlichen Namen wie »Giraffe«, »Hund« oder »Baum« zu machen. Damals verstand ich die existenzielle Notwendigkeit nicht.

Meine Mutter hat den Boden für die Disziplin bereitet, die ich brauchte, um dieser Krankheit zu trotzen. Sie hat nicht einen Tag lockergelassen. Mit ungefähr fünfzehn Jahren begriff ich dann, worum sie für mich kämpfte, sodass ich bis heute die Früchte ihrer Beharrlichkeit ernte.

GESCHWISTERLIEBE

Auch meine beiden Brüder haben einen großen Anteil daran, dass aus mir der Mensch geworden ist, der ich heute bin. Ohne ihre Liebe und Unterstützung, ohne ihre brüderlichen Ratschläge, dieses »Rezept fürs Leben«, wie sie es immer nannten, mit den allerbesten »Zutaten«, wären niemals diese innere Stärke und Sicherheit in mir. Wenn man solche Jungs an seiner Seite hat, dann kann einem nicht viel passieren.

Kai, der Älteste von uns dreien, kam schon mit einem Zahn auf die Welt und biss unserer Mutter beim Stillen die Brustwarze wund. Vor seiner Geburt, als er noch in ihrem Bauch weilte, war sie einmal mit ihrer Schwiegermutter versehentlich in einen falschen Kinosaal gegangen. Statt Lieben Sie Brahms? mit Anthony Perkins sahen sie Hitchcocks Psycho, ebenfalls mit Anthony Perkins. Völlig schockiert verließen sie das Kino. Meine Mutter fragt sich noch heute, ob Kai vielleicht wegen dieses Erlebnisses so ein eigener Charakter geworden ist. Ob irgendetwas von dem, was sie Schockierendes auf der Kinoleinwand gesehen hat, sich auf ihr Kind übertragen haben könnte. Ich gehe aber davon aus, dass sie das nicht ernst meint.

Kai ist jemand, der immer auf der Suche nach etwas ist, und wenn er es gefunden hat, genießt er es in vollen Zügen. Er ist zu allem bereit, kompromisslos und radikal. Meinen Eltern zufolge war er wohl sehr anstrengend in der Pubertät. Er hat auf Demos Steine geworfen, gegen das Bürgertum rebelliert, sich mit Lehrern gestritten, und der erste Liebeskummer hat ihn schwer umgehauen. Für meine Eltern war er eine echte Herausforderung. Schon mit achtzehn verließ er unser Zuhause, um sich die Welt anzuschauen. Afrika, Amerika, ganz Europa. Die Liebe zum Theater entdeckte er viel später als mein Bruder Michi und ich.

Da zwischen Kai und mir ein so großer Altersunterschied besteht, ganze zwölf Jahre, kann ich mich kaum noch daran erinnern, dass wir alle zusammen unter einem Dach gelebt haben. In meiner Kindheitserinnerung kommt er immer zu Besuch. Für ein paar Tage, von irgendwoher, in unser Düpenautal oder dorthin, wo der Rest der Familie gerade Urlaub machte. Weihnachten allerdings waren wir immer alle zusammen. Da Kai und meine Mutter einen ähnlich starken und sturen Charakter haben, gab es meistens am Heiligabend tagsüber einen Riesenkrach zwischen den beiden wegen irgendeiner Belanglosigkeit. Kaischi verließ türenknallend das Haus, meine Mutter warf vor Wut einen Teller an die Wand. Spätestens eine Stunde später, das war dem Rest der Familie jedes Mal von vornherein klar, lagen sich die beiden heulend in den Armen.

Oft spielte Kai Heiligabend den Weihnachtsmann. Kurz vor der Bescherung klopfte es an unserer Haustür. Ich sollte zur Tür gehen, um den längst erwarteten »Ehrengast« hereinzulassen. Und da stand auch wirklich der Weihnachtsmann mit seinem wunderschönen Kostüm, einer Leihgabe des Thalia Theaters, zu dessen Ensemble mein Vater gehörte. Seltsamerweise war Kai immer genau zu diesem Zeitpunkt verschwunden, und als ich dem Weihnachtsmann dann im Wohnzimmer mein eingeübtes Flötenspiel vortrug und dabei auf seine Füße schaute, dachte ich: Komisch, er hat genau die gleichen Cowboystiefel an wie Kai.

Für mich ist Kai ein Lebenskünstler. Mit seinem einzigartigen Humor und seiner Vitalität kann er Menschen unterhalten und beglücken. Was meine Krankheit betrifft, ist er aus der Familie derjenige, der am besten damit umzugehen versteht: relativ sachlich, möglichst unemotional, mit einem ähnlichen Durchhaltevermögen wie meine Mutter. Wegen des Altersunterschieds hat er den größten Abstand zu meiner Geschichte; meistens war er ja nicht da, wenn es mir schlecht ging.

Unsere Geschwisterbeziehung hat sich aber im Laufe der Jahre durch die Krankheit immer mehr verdichtet und ist immer inniger geworden, denn je älter meine Eltern wurden, desto weniger wollte ich sie mit dem Fortschreiten der Krankheit belasten, und umso mehr kam Kai ins Spiel.

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