Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
In der stillen Dunkelheit einer namenlosen Stadt verschwinden Menschen spurlos. Keiner weiß, was die Schatten mit sich tragen, doch jeder spürt ihre bedrohliche Präsenz. Lina und ihre kleine Gruppe von Überlebenden kämpfen nicht nur gegen das, was im Dunkeln lauert, sondern auch gegen die wachsende Erkenntnis, dass die Dunkelheit mehr ist als ein Feind – sie ist ein Teil von ihnen. Mit jedem Schritt tiefer in die Finsternis stehen sie vor der Frage: Kann man das, was einen verschlingt, kontrollieren? Oder werden sie selbst zu dem, was sie am meisten fürchten?
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 197
Veröffentlichungsjahr: 2024
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Vorwort
In der stillen Dunkelheit einer namenlosen Stadt verschwinden Menschen spurlos. Keiner weiß, was die Schatten mit sich tragen, doch jeder spürt ihre bedrohliche Präsenz. Lina und ihre kleine Gruppe von Überlebenden kämpfen nicht nur gegen das, was im Dunkeln lauert, sondern auch gegen die wachsende Erkenntnis, dass die Dunkelheit mehr ist als ein Feind – sie ist ein Teil von ihnen. Mit jedem Schritt tiefer in die Finsternis stehen sie vor der Frage: Kann man das, was einen verschlingt, kontrollieren? Oder werden sie selbst zu dem, was sie am meisten fürchten?
Die Autorin
Die Autorin Mara Finsterwald wurde in einer kleinen Stadt in Deutschland geboren und wuchs umgeben von Wäldern und verwunschenen Orten auf, die ihre Fantasie schon früh beflügelten. Schon als Kind zog sie sich oft in ihre eigene Welt zurück, um Geschichten zu erfinden, die von dunklen Geheimnissen und unerklärlichen Ereignissen handelten.
In ihrer Jugend vertiefte sie sich in Bücher, die die Grenzen zwischen Realität und Albtraum verschwimmen ließen. Diese Leidenschaft inspirierte sie, eigene Erzählungen zu schaffen, die die Abgründe der menschlichen Seele erforschen und die Leser gleichzeitig fesseln und verstören.
Mara lebt heute zurückgezogen in einer kleinen Wohnung, wo sie oft bis spät in die Nacht schreibt, begleitet von einer Tasse schwarzem Kaffee und einer Playlist voller düsterer Klänge. Wenn sie nicht schreibt, erkundet sie alte verlassene Orte, die ihr als Inspiration für ihre Geschichten dienen.
Der Titel
Verschlungen im Dunkeln: Wenn die Schatten rufen
Kapitel 1: Die erste Nacht
Es war ein ganz gewöhnlicher Abend, zumindest auf den ersten Blick. Die Straßenlampen warfen ihr müdes, gelbes Licht auf die regennassen Gehwege, und vereinzelte Autos rollten über den Asphalt, der wie schwarzer Spiegel glänzte. Lina stand am Fenster ihrer Einzimmerwohnung im achten Stock und zündete sich eine Zigarette an. Der Rauch kringelte sich träge in die abgestandene Luft des Raumes, der genauso chaotisch aussah wie ihr Leben: ein überquellender Wäschekorb, leere Pizzakartons auf dem Couchtisch, und irgendwo unter einem Stapel Zeitschriften summte ein Handy, das sie seit Stunden ignorierte.
„Scheißtag“, murmelte sie und lehnte sich ans Fensterbrett. Es war fast Mitternacht, und wie immer hatte sie das Gefühl, dass die Welt stillstand. Nichts bewegte sich wirklich. Die Menschen hasteten durch ihr Leben, als gäbe es kein Morgen – als ob irgendetwas davon einen Unterschied machen würde.
Sie zog an ihrer Zigarette und starrte in die Lichter der Stadt. Irgendwo unten ging ein Streit los, ein Typ brüllte etwas von „Verpiss dich, du verdammter Penner!“ und dann das übliche Scheppern von Mülltonnen. Lina verzog den Mund zu einem zynischen Grinsen. Das war die Realität. Keine Happy Ends, keine heile Welt, nur ein Haufen gestresster Idioten, die sich gegenseitig fertig machten.
Ihr Bruder, Jonas, hätte das anders gesehen. Er war immer der Optimist, der Weltverbesserer. Immer am Lächeln, immer mit dem Versuch, Lina aus ihrem dunklen Loch zu ziehen. Aber heute war er nicht da. Seit ein paar Tagen war er untergetaucht, vermutlich wieder mit seinen Hippie-Freunden unterwegs, die irgendwelche Weltuntergangs-Theorien spannen und sich auf einem Campingplatz in den Wäldern versteckten.
„Idioten“, murmelte sie, während sie den letzten Zug ihrer Zigarette nahm und die Kippe aus dem Fenster schnippte. Der Regen hatte aufgehört, aber die Luft roch noch immer nach nasser Straße und Abgasen.
Plötzlich bemerkte sie, wie still es geworden war. Nicht das übliche nächtliche Murmeln der Stadt, keine fernen Sirenen, kein Rattern eines Güterzugs – einfach nichts. Sie runzelte die Stirn und drehte sich halb um, als ob die Stille ein physisches Gewicht hätte, das auf sie drückte.
Dann hörte sie es.
Ein Schrei.
Nicht der wütende oder betrunkene Schrei eines Nachbarn, sondern ein langgezogenes, klares Geräusch, das irgendwo in der Ferne begann und wie eine Welle durch die Stadt rollte. Es klang nicht menschlich. Zu hoch, zu schneidend, wie Metall, das über Glas kratzte. Lina fröstelte, obwohl die Heizung aufgedreht war.
„Was zum Teufel …?“ Sie trat zurück ans Fenster und spähte hinaus. Die Lichter der Straßenlaternen flackerten kurz, bevor sie mit einem leisen Summen ausgingen. Die Dunkelheit war plötzlich erdrückend, und in der Ferne sah sie, wie ein ganzer Wohnblock in Sekunden stockfinster wurde.
„Nicht schon wieder ein Stromausfall“, murmelte sie, aber ihre Stimme klang hohl in der Stille. Sie griff nach ihrem Handy, fand es endlich unter einem Stapel von Klamotten und drückte den Power-Button. Keine Verbindung. Kein Netz. Nichts.
Ein weiterer Schrei erklang, diesmal näher. Es war, als ob die Stadt selbst lebendig geworden war, ein gigantisches Wesen, das schrie, um seine Schmerzen herauszulassen. Lina drückte das Handy gegen ihre Brust und spürte, wie ihr Herz gegen das Gehäuse hämmerte.
Dann, aus dem Augenwinkel, sah sie etwas. Eine Bewegung auf der Straße unten. Sie presste ihre Stirn gegen das kalte Glas und versuchte, durch die Dunkelheit zu sehen. Es war eine Gestalt, oder vielleicht mehrere – schwer zu sagen. Sie bewegten sich nicht normal, eher wie Schatten, die sich losgerissen hatten und jetzt ohne festen Körper durch die Nacht huschten.
„Scheiße“, flüsterte sie, ohne es wirklich zu merken. Ihr Instinkt schrie, dass etwas nicht stimmte. Sie trat zurück vom Fenster, suchte blind nach einem Lichtschalter, doch der Klick der Sicherung brachte keine Erleichterung. Kein Strom. Kein Licht. Nur die Dunkelheit und das Geräusch ihres eigenen Atems, der plötzlich viel zu laut klang.
Dann war es wieder still.
Kein Schrei, keine Bewegung, nichts. Nur sie und diese erdrückende Stille. Sekunden wurden zu Minuten, und Lina stand da, unfähig, sich zu bewegen. Schließlich wagte sie einen weiteren Blick aus dem Fenster. Die Straße war leer, die Schatten verschwunden, aber die Dunkelheit blieb. Sie hatte das Gefühl, beobachtet zu werden, doch von wem – oder was – konnte sie nicht sagen.
Mit einem Zittern griff sie nach der Kette um ihren Hals, ein Reflex, den sie hatte, seit Jonas ihr den Anhänger geschenkt hatte. Ein billiges Ding aus einem Flohmarkt, aber es fühlte sich jetzt wie ein Schutzschild an.
„Reiß dich zusammen“, flüsterte sie und zwang sich, tief durchzuatmen. Vielleicht war es einfach nur ein Blackout, ein technisches Problem. Vielleicht drehte sie einfach durch. Aber irgendwas in ihr wusste, dass das eine Lüge war.
Irgendwas hatte begonnen. Und sie war sicher, dass die Nacht nicht so enden würde, wie sie begonnen hatte.
Kapitel 2: Der Geschmack von Schicksal
Lina saß am Boden ihrer Wohnung, den Rücken gegen die kalte Wand gelehnt, und starrte ins Dunkel. Die Kette um ihren Hals fühlte sich plötzlich schwer an, wie ein kleines Stück Hoffnung, das gegen die erdrückende Angst ankämpfte, die sich in ihrer Brust eingenistet hatte. Ihr Atem ging flach, aber sie zwang sich, ihn unter Kontrolle zu bringen.
„Beruhig dich, verdammt nochmal“, flüsterte sie in die Leere, als ob ihre eigene Stimme sie retten könnte. Sie griff nach der halb zerdrückten Packung Pringles, die auf dem Boden lag. Die waren nicht mehr frisch, schmeckten nach Pappe, aber das war egal. Sie stopfte sich eine Handvoll in den Mund, kaute mechanisch, ohne wirklich zu schmecken. Irgendwas zu tun war besser, als nur dazusitzen und zu warten, dass das Grauen zurückkam.
Ihr Handy lag vor ihr auf dem Boden, ein nutzloses Stück Metall und Plastik. Kein Signal, keine Hilfe. Sie überlegte, ob sie das alte Festnetztelefon ausprobieren sollte, aber wer sollte schon rangehen? Jeder, der hier in der Nähe wohnte, hatte wahrscheinlich dasselbe Scheißproblem. Sie griff nach dem kalten Kaffeebecher, der neben der Couch stand, und kippte den Rest des bitteren Gebräus hinunter. Es schmeckte widerlich, abgestanden, aber wenigstens hielt es sie wach.
Sie warf einen Blick zur Tür, die immer noch verriegelt war. Der Gedanke, hinauszugehen, machte ihr mehr Angst als die Dunkelheit in ihrer Wohnung. Draußen war… was auch immer das war. Schatten, Schreie, ein Gefühl, dass die Welt auseinanderbrach. Drinnen war es eng, beklemmend, aber irgendwie sicher. Zumindest redete sie sich das ein.
Ihr Magen knurrte, ein rebellischer Protest gegen die mickrige Mahlzeit. Sie erinnerte sich an die angebrochene Tüte Lakritz, die irgendwo in der Küchenschublade lag. Normalerweise mochte sie das Zeug nicht, Jonas hatte es immer gekauft. Aber jetzt war es besser als nichts. Sie zwang sich, aufzustehen, ihre Beine fühlten sich an wie Gummi, während sie durch den dunklen Raum tastete.
Die Schublade knarrte laut, als sie sie aufzog. Ein Geräusch, das in der Stille viel zu präsent wirkte. Ihre Finger fanden die klebrige Tüte, und sie stopfte sich ein Stück Lakritz in den Mund. Der süß-salzige Geschmack brannte auf ihrer Zunge, aber er fühlte sich real an, lebendig, als ob sie damit die lähmende Angst vertreiben könnte.
Sie dachte an Jonas, an seinen nervigen Optimismus, an die Art, wie er sie immer mit irgendeinem Unsinn aufmuntern wollte, wenn sie mal wieder am Boden war. Er hätte jetzt einen Spruch gebracht, etwas wie: „Na komm schon, Lina, die Welt geht nicht unter, nur weil’s mal finster wird.“ Sie hätte ihm den Vogel gezeigt, vielleicht die Augen verdreht, aber insgeheim wäre sie dankbar gewesen, dass er da war.
Doch Jonas war nicht da. Niemand war da. Nur sie, die Dunkelheit und die Angst, die sich wie eine Kralle in ihren Nacken gebohrt hatte.
Sie schluckte schwer, die zähe Süßigkeit blieb unangenehm in ihrem Hals stecken. Sie griff nach der Milch, die noch ungeöffnet auf der Arbeitsplatte stand, und trank direkt aus der Packung. Der kühle, cremige Geschmack spülte den Kloß in ihrem Hals weg, aber es half nichts gegen das nagende Gefühl, dass irgendetwas verdammt falsch war.
Ein leises Klopfen durchbrach die Stille.
Lina erstarrte, die Milchpackung in der Hand, während ihr Herzschlag schmerzhaft in ihrer Brust hämmerte. Es war kein Klopfen an ihrer Tür. Es war leiser, dumpfer, als käme es von der Wand, vielleicht aus der Wohnung nebenan. Ihre Nachbarin war eine alte Dame, die kaum das Haus verließ. War sie es? Oder… etwas anderes?
„Hallo?“ Ihre Stimme klang dünn, fast erstickt, und sie hasste sich dafür, wie schwach sie klang. Keine Antwort. Das Klopfen verstummte. Sekunden vergingen, die sich wie Stunden anfühlten. Lina blieb stehen, der Atem ging flach, die Milchpackung rutschte aus ihrer Hand und landete mit einem dumpfen Plopp auf dem Boden.
Sie wollte nicht hinsehen. Wollte sich einreden, dass es nur Einbildung war, dass sie sich alles ausmalte, weil sie zu viele Horrorfilme gesehen hatte. Doch irgendwas in ihr zwang sie, sich zu bewegen, zum Fenster zu gehen, hinauszusehen.
Der Regen hatte wieder angefangen, Tropfen prasselten gegen die Scheibe, aber die Straße war leer. Keine Schatten, keine Bewegung. Sie zwang sich, den Kopf zur Seite zu drehen, zur Wand, von der das Klopfen gekommen war. Alles war still.
Dann kam es wieder, diesmal lauter, näher. Direkt hinter der Wand.
„Verdammte Scheiße“, murmelte Lina, ihre Hände zitterten, als sie sich an der Fensterbank festhielt. Sie dachte daran, die Tür zu öffnen, hinauszugehen, nachzusehen. Aber was, wenn das Klopfen nicht von ihrer Nachbarin kam? Was, wenn es… von diesen Dingern war? Sie schüttelte den Kopf, biss sich auf die Lippe, bis sie den metallischen Geschmack von Blut auf der Zunge spürte.
Ihr Blick fiel auf den Schreibtisch, auf die kleine Taschenlampe, die Jonas ihr vor ein paar Wochen geschenkt hatte. „Man weiß nie“, hatte er gesagt, mit diesem dämlichen Grinsen im Gesicht. Sie griff danach, fühlte das kühle Metall in ihrer Hand. Es gab ihr ein bisschen Mut, aber nicht viel.
Sie ging zur Wand, setzte das Ohr dagegen, ihr Atem stockte. Stille.
Lina wollte schon aufatmen, sich zurückziehen, als plötzlich ein Schrei durch die Wand hallte. Es war kein menschlicher Schrei, kein Hilferuf. Es war etwas, das ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ. Hoch, unnatürlich, wie ein Echo aus einer anderen Welt. Ihre Beine gaben nach, und sie sank auf die Knie.
In diesem Moment wusste sie, dass es keine gewöhnliche Nacht war. Es war Schicksal, das gegen die Wand ihrer Welt klopfte. Und es würde nicht aufhören.
Kapitel 3: Die Schreie der Anderen
Lina saß immer noch auf den kalten Fliesen in der Küche, das Licht der Taschenlampe zitterte in ihrer Hand, als ob sie die Kontrolle über ihre Muskeln verloren hätte. Der Schrei, den sie gerade gehört hatte, hallte immer noch in ihren Gedanken nach. Es war, als hätte er sich in ihre Haut eingebrannt, eine kratzige, raue Spur, die sie nicht abschütteln konnte. Ihr Atem ging flach, ihr Mund fühlte sich trocken an, und der Geschmack von alter Milch klebte immer noch in ihrer Kehle.
„Reiß dich zusammen“, murmelte sie, aber es klang nicht überzeugend, nicht mal für sie selbst. Ihre Hände waren schweißnass, die Taschenlampe glitt ihr fast aus den Fingern. Sie zwang sich aufzustehen, die Knie knackten protestierend. Ihr Blick wanderte zur Wand, von der das Geräusch gekommen war. Es war immer noch still, aber die Stille fühlte sich jetzt an wie eine Falle.
Plötzlich klopfte es laut an ihrer Tür. Lina fuhr zusammen, ein Fluch entfuhr ihr, bevor sie die Taschenlampe auf die Tür richtete. Das Klopfen kam wieder, diesmal energischer. Sie konnte den Atem in ihrer Kehle spüren, einen Kloß aus Angst und Adrenalin, der sich einfach nicht lösen wollte.
„Wer ist da?“ Ihre Stimme war schärfer, als sie wollte, aber die Worte hallten hohl in der Dunkelheit. Keine Antwort. Sie biss sich auf die Lippe, überlegte einen Moment, bevor sie langsam zur Tür ging. Ihre Hand zitterte, als sie die Kette löste und das Schloss drehte. Sie öffnete die Tür einen Spalt weit und blickte in zwei große, dunkle Augen.
„Endlich macht mal jemand auf“, sagte der Mann vor ihr. Er war vielleicht Mitte dreißig, mit Bartstoppeln und einer zerknitterten Lederjacke. Seine Augen huschten nervös über den Flur, bevor er sie wieder ansah. „Hast du das gehört? Das Geschrei?“
Lina nickte, ihre Stimme hatte sie plötzlich verlassen. Sie musterte den Mann, der sich sofort ein bisschen in den Türrahmen drängte, als hätte er Angst, dass sie ihm die Tür wieder vor der Nase zuschlagen würde.
„Ich bin Mark. Wohne zwei Stockwerke tiefer. Hab keinen Bock mehr, da unten allein zu sitzen. Es wird immer schlimmer. Die scheiß Schatten sind wieder da.“
„Schatten?“ Lina wollte ihn fragen, was er meinte, aber ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Mark nickte heftig und sah sich noch einmal um, bevor er die Tür weiter aufstieß und einfach reinkam. „Ja, die Schatten. Diese Dinger, die sich bewegen, als wären sie lebendig. Du hast sie doch auch gesehen, oder?“
Lina schloss die Tür hinter ihm, ihre Hände zitterten immer noch. Sie wusste nicht, ob sie erleichtert war, nicht mehr allein zu sein, oder ob die Anwesenheit eines Fremden die Situation nur noch schlimmer machte. „Ich hab… was gesehen“, murmelte sie schließlich. „Aber ich weiß nicht, was das war.“
Mark schnaubte, als hätte er etwas anderes erwartet. „Was das war? Ich sag’s dir: die Welt geht vor die Hunde. Und wir sind mittendrin.“ Er ließ sich auf ihren abgewetzten Sessel fallen und fuhr sich mit der Hand durch die Haare. „Hast du was zu trinken? Kaffee, Wasser, scheißegal, hauptsache irgendwas.“
Lina zuckte mit den Schultern und ging zur Küche, wo sie das Kaffeepulver aus der Dose schaufelte und den Wasserkocher einschaltete. Sie fühlte Marks Blick in ihrem Rücken, und irgendwas an seiner Präsenz machte sie nervös. Nicht, weil er bedrohlich wirkte, sondern weil er zu entspannt war. Als ob er wusste, was da draußen lauerte, und es ihn trotzdem nicht wirklich überraschte.
„Bist du hierhergekommen, weil du glaubst, dass es hier sicherer ist?“ Ihre Stimme war fester, als sie sich umdrehte, die Tasse dampfenden Kaffees in der Hand. Mark zuckte mit den Schultern, nahm die Tasse ohne ein Danke entgegen. „Sicher? Nein, ich glaub nicht, dass irgendwo sicher ist. Aber zumindest bist du nicht eine von diesen Arschlöchern, die die Tür nicht aufmachen. Das ist schon mal was.“
Bevor Lina darauf antworten konnte, klopfte es wieder. Diesmal lauter, aggressiver, als ob jemand die Tür einschlagen wollte. Beide erstarrten, Mark sprang auf und packte einen Metallrohrstock aus seiner Jacke, den Lina erst jetzt bemerkte. „Mach die Tür nicht auf“, flüsterte er.
Das Klopfen wurde zu einem Hämmern, und dann hörten sie eine Stimme. „Hey! Hey, mach auf, bitte! Ich will rein! Ich bin’s, Susanne!“ Die Stimme war verzweifelt, schrill, und Lina erkannte sie sofort. Susanne, die Frau von nebenan, die mit dem nervigen Chihuahua, der ständig bellte. Lina zögerte, aber Mark schüttelte den Kopf. „Warte. Lass sie reden.“
„Susanne? Alles in Ordnung?“ Linas Stimme zitterte, aber sie zwang sich, ruhig zu bleiben. Keine Antwort. Nur ein Kratzen, dann ein gedämpftes Wimmern, und schließlich ein weiteres Klopfen. „Bitte… ich will rein. Es ist so kalt.“
Mark hob die Hand, bedeutete ihr, die Tür nicht zu öffnen. „Das ist nicht sie“, sagte er, und seine Stimme war plötzlich schneidend kalt. Lina wollte etwas erwidern, doch dann kam ein lautes Knallen, als ob jemand mit aller Kraft gegen die Tür trat.
„Scheiße!“ Lina wich zurück, während Mark näher an die Tür herantrat, das Rohrstock in der Hand. Das Hämmern wurde lauter, unbarmherziger, und schließlich hörten sie, wie die Stimme wieder sprach. „Mach auf. Mach die verdammte Tür auf.“
Lina stockte der Atem. Die Stimme klang nicht mehr wie Susanne. Sie war zu tief, verzerrt, fast so, als ob mehrere Stimmen gleichzeitig sprachen. Dann hörten sie ein lautes, kratzendes Geräusch, wie Fingernägel, die über Metall glitten, und plötzlich verstummte alles.
Lina und Mark standen da, die Dunkelheit zwischen ihnen wie eine unsichtbare Mauer, die die Luft zum Schneiden brachte. Schließlich sagte Mark leise: „Das war erst der Anfang.“
Kapitel 4: Die Nacht frisst sich durch
Lina ließ sich gegen die Wand sinken, die Knie angezogen, die Taschenlampe auf ihre Füße gerichtet. Das grelle Licht blendete, aber das war ihr egal. Die Dunkelheit fühlte sich an wie ein lebendiges Ding, das näher kam, wenn sie es zuließ. Mark stand immer noch vor der Tür, sein Metallrohr in der Hand. Seine Haltung war angespannt, die Knöchel an der Hand, die die improvisierte Waffe hielt, weiß vor Anstrengung.
„Das war… nicht sie, oder?“ Linas Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Sie hasste, wie klein und zerbrechlich sie klang, aber die Worte kamen einfach nicht lauter heraus.
Mark drehte den Kopf langsam zu ihr, seine Augen schmal und voller etwas, das sie nicht recht greifen konnte. „Nein, das war nicht sie. Ich hab diese Scheiße schon mal gesehen. Sie nehmen die Stimmen von Leuten, die wir kennen. Versuchen, dich dazu zu bringen, die Tür zu öffnen. Aber sobald du das tust…“ Er ließ das Ende des Satzes in der Luft hängen. Er musste ihn nicht beenden. Lina konnte sich lebhaft vorstellen, was passierte.
„Scheiße.“ Lina schlug mit der Faust gegen den Boden, nicht besonders stark, aber es half, die wachsende Panik in ihrem Inneren irgendwie in Schach zu halten. „Was sind das für Dinger? Schatten? Monster? Geister?“
Mark zuckte mit den Schultern, als wäre das alles keine große Sache. „Was auch immer sie sind, sie sind hier, um uns zu holen. Vielleicht sind wir tot, und das hier ist die Hölle. Vielleicht hat Gott die Schnauze voll von uns. Vielleicht…“ Er hielt inne, schaute zu Boden. „Vielleicht gibt es einfach keine Regeln mehr.“
Seine Worte waren wie ein kalter Schlag ins Gesicht. Keine Regeln. Keine Logik. Kein Sinn. Lina spürte, wie sich ihre Brust zusammenzog, ihr Atem schneller wurde. Die Panik kroch zurück, sie griff nach ihrem Hals, als könnte sie das beklemmende Gefühl einfach wegdrücken. „Das kann doch nicht alles sein! Wir können doch nicht einfach… hier sitzen und warten, bis sie uns holen!“
Mark wandte sich von der Tür ab und ließ das Metallrohr sinken. „Willst du rausgehen? Schau dich an. Du zitterst schon bei der Idee, dass sie da draußen sind.“ Seine Worte waren hart, fast spöttisch, aber irgendwie wirkten sie nicht feindselig. Eher wie die Wahrheit, so scheiße sie auch war.
Lina biss die Zähne zusammen, ballte die Hände zu Fäusten. „Ich bin kein Feigling.“
Mark hob die Augenbrauen. „Nein? Dann geh raus. Zeig mir, wie mutig du bist.“
Sie hasste ihn in diesem Moment. Hasste die Art, wie er sie ansah, als hätte er längst beschlossen, dass sie nichts drauf hatte. Doch sie blieb sitzen, die Beine wie Blei, ihr Herzschlag wie ein Trommelfeuer in ihrem Kopf. Die Wahrheit war, dass sie es nicht konnte. Nicht nach dem, was sie gesehen hatte. Nicht nach dem Schrei.
Plötzlich hörten sie Schritte im Flur. Langsam, schwer, als würde jemand in Stiefeln durch Wasser laufen. Mark hob das Metallrohr wieder, ging ein paar Schritte zurück, bis er direkt vor Lina stand. Sie fühlte sich klein, eingeklemmt zwischen der Wand und seiner breiten Silhouette.
Die Schritte kamen näher, blieben vor der Tür stehen. Stille.
Dann ein leises Klopfen. Es war sanft, fast höflich. Drei rhythmische Schläge, wie ein Freund, der nach Einlass fragt. Doch keiner von ihnen rührte sich. Mark hielt den Atem an, und Lina konnte hören, wie ihr Herz in ihren Ohren dröhnte.
Das Klopfen wiederholte sich, diesmal ein bisschen fester. „Bitte… lasst mich rein.“ Die Stimme war brüchig, fast flehend. Eine Frauenstimme, jung. Sie klang echt. Menschlich. Und das war das Schlimmste.
Lina spürte, wie sich ihre Kehle zuschnürte. Sie wollte glauben, dass jemand da draußen Hilfe brauchte, dass sie nicht allein in diesem Albtraum waren. Aber Marks Blick ließ keinen Zweifel zu. „Nicht öffnen“, flüsterte er. „Das ist keine echte Person. Die tun so, als wären sie wie wir.“
„Aber… was, wenn doch?“ Ihre Stimme zitterte, und sie hasste sich dafür. „Was, wenn jemand wirklich—“
Mark drehte sich zu ihr um, sein Gesicht war kalt und hart wie Stein. „Es ist keiner. Und selbst wenn, können wir nichts tun. Also reiß dich zusammen.“
Die Stimme draußen wurde lauter, aggressiver. „Verdammt nochmal, macht die Tür auf! Ich weiß, dass ihr drin seid! Ich weiß es!“ Die letzten Worte kamen als Schrei, verzerrt und unnatürlich, wie ein kaputtes Tonband, das sich überschlägt. Lina presste die Hände auf die Ohren, wollte das Geräusch nicht hören, doch es kroch durch ihre Schädeldecke, bohrte sich in ihre Gedanken.
Mark war der Erste, der reagierte. Mit einem einzigen, schnellen Schritt schlug er die Taschenlampe aus Linas Hand. „Licht aus“, zischte er, als das Zimmer in völlige Dunkelheit getaucht wurde. „Sie kommen näher, wenn sie das Licht sehen.“
Lina war zu geschockt, um sich zu wehren. Sie konnte seine Atmung hören, schwer und kontrolliert, während sie selbst immer flacher wurde. Ihre Finger tasteten nach etwas – irgendwas –, das ihr ein Gefühl von Sicherheit geben konnte, aber da war nichts außer der kalten Fliese unter ihr.
Die Stimme draußen verstummte plötzlich, und die Dunkelheit um sie herum fühlte sich noch erdrückender an. Dann hörten sie ein Geräusch, das wie ein Schlurfen klang, als ob etwas Schweres über den Boden gezogen wurde.
Mark hielt das Metallrohr fester, sein Griff so fest, dass sie das leise Knirschen seiner Gelenke hören konnte. „Bleib still“, flüsterte er. „Atme nicht zu laut.“
Lina biss die Zähne zusammen, zwang ihren Körper zur Ruhe, obwohl alles in ihr schreien wollte, rennen wollte, einfach irgendwas tun wollte. Doch sie tat nichts. Sie wartete. Die Minuten vergingen in quälender Langsamkeit.
Dann war da nur noch Stille.
Kapitel 5: Die Stille ist schlimmer
Die Dunkelheit um Lina war so dicht, dass sie glaubte, sie greifen zu können. Ihr Körper fühlte sich fremd an, als ob er nicht mehr zu ihr gehörte. Die Stille nach den Schritten und dem Schlurfen draußen machte sie noch nervöser als die Geräusche zuvor. Es war, als ob die Luft in der Wohnung plötzlich eine andere Dichte hätte, schwer und giftig.