0,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 0,99 €
»Ich habe schlechte Nachrichten. Ein paar Touristen haben ein totes Mädchen gesehen. Sie soll in einer Biegung des Flusses in einer Wurzel hängen.« »Verdammt! Wir haben jedes Jahr ein paar tote Touristen. Der Wald frisst sie, der Wald spuckt sie wieder aus.« Vanessa überredet ihre Freundinnen Katja und Nicoletta zu einem Campingurlaub und einer Fahrt mit dem Kanu durch die wildromantische Tara-Schlucht. Susanna reißt von zu Hause aus und will zu ihrer Tante, die in einem kleinen Dorf in den Bergen lebt. Myra hat sich nach dem Tod ihres Vaters eine Auszeit genommen, um den Sommer in den Wäldern der Tara-Schlucht zu verbringen. Noch ahnen die fünf jungen Frauen nicht, dass sie dort mehr erwartet als die Stille der Wälder, türkis-grünes Wasser und ein Sommer abseits von Menschenmassen.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2022
Marc de Sarno
Verschollen in der Tara-Schlucht
Lesen ist Kino im Kopf
Marc de Sarno
Verschollen in der
Tara-Schlucht
Roman
Texte: © Copyright by Marc de Sarno
Umschlag: © Copyright by Marc de Sarno
Lektorat: Fredy Daxboeck
Verlag: Marc de Sarno, 2070 Retz
www.marc-de-sarno.info
Imprint: Independently published
Dieses E-Book ist auch als Taschenbuch erhältlich
ISBN: 9798408409099
Das Gesamtwerk, inklusive seiner Daten und aller Teile, ist urheberrechtlich geschützt.
Jede Verwertung ohne Zustimmung des Verlages und des Autors ist unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung,
Verbreitung, die Einspeicherung in elektronische Systeme und öffentliche Zugänglichmachung.
»Ich habe schlechte Nachrichten. Ein paar Touristen haben ein totes Mädchen gesehen. Sie soll in einer Biegung des Flusses in einer Wurzel hängen.«
»Verdammt! Wir haben jedes Jahr ein paar tote Touristen. Der Wald frisst sie, der Wald spuckt sie wieder aus.«
Vanessa überredet ihre Freundinnen Katja und Nicoletta zu einem Campingurlaub und einer Fahrt mit dem Kanu durch die wildromantische Tara-Schlucht.
Susanna reißt von zu Hause aus und will zu ihrer Tante, die in einem kleinen Dorf in den Bergen lebt.
Myra hat sich nach dem Tod ihres Vaters eine Auszeit genommen, um den Sommer in den Wäldern der Tara-Schlucht zu verbringen.
Noch ahnen die fünf jungen Frauen nicht, dass sie dort mehr erwartet als die Stille der Wälder, türkis-grünes Wasser und ein Sommer abseits von Menschenmassen.
Februar 2022
Covergestaltung: Marc de Sarno
Die Handlung dieses Buches ist frei erzählt. Etwaige Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Begebenheiten sind meinen persönlichen Erfahrungen und Erlebnissen geschuldet.
Etwaige Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.
www.marc-de-sarno.info
Als die Götter die Menschen erschufen
wussten sie nicht,
dass sie eines der grausamsten Wesen auf diesem Planeten erschaffen hatten.
Oder doch?
Herbst 2018
K
alter Nieselregen fiel aus tiefhängenden, grauen Wolken, die über den Hügeln lagen. Danica warf einen gehetzten Blick über die Schulter. Im trüben Licht der Dämmerung konnte sie deutlich den Mann sehen, der rasch auf sie zukam. Er war groß, muskulös und hatte feuchtes, schwarzes Haar, das tief in sein Gesicht hing. Mit sicheren Schritten eilte er die Böschung hinauf. Fast so, als lief er auf trockenem Gras statt über schlüpfrigen Waldboden. Die eisigen Tropfen durchweichten Danicas Weste aus dunkelgrünem Vlies und ihre Jeans, während sie sich durch die nassen Heidelbeeren, die hier überall wuchsen, mühsam den steilen Hang hinaufkämpfte. Sie richtete ihren Blick nach vorn, rutschte aus und krallte die Hände in die kurzen, harten Zweige. Hinter sich konnte sie das Knacken der Tritte hören, kroch verzweifelt auf allen Vieren weiter, überwand die Steigung und rappelte sich schwankend auf.
Vor ihr teilte sich der Wald, endete links an einer Steilwand und mündete rechts in eine Lichtung, die sich flach vor ihr erstreckte, allmählich abfiel und ein paar Hundert Meter weiter in den Wald überging. Hastig schätzte sie die Chancen ab und entschied nach rechts zu laufen. Über die offene Wiese war sie ein leichtes Ziel und für den Steilhang zu schwach. Sie rannte auf den Waldrand zu, um im Dickicht zwischen jungen Eichen und Sträuchern unterzutauchen. Die Schreie des zweiten Mannes, der irgendwo linker Hand von ihr sein musste, hallten von den felsigen Hängen wider. Er hatte sie entdeckt und rief seinem Freund ihre Position zu. Damit hatte sie nicht gerechnet. Die Kerle jagten sie wie ein verwundetes Tier. Fauchend sog sie die Luft ein, schlug einen Haken und duckte sich unter die Bäume. Sie musste in Richtung Steilwand laufen, im Wald einen Bogen gehen, um dem zweiten Mann zu entgehen und dann bergab, das war leichter, als den Berg weiter hinaufzuklettern.
Danica sprang über umgestürzte Bäume, Felsen und wich im schwächer werdenden Licht tiefhängenden Ästen aus, die sie in die Seite stachen oder ihr ins Gesicht schnellten. Wenigstens haben sie keine Hunde, dachte sie, trat in ein fußgroßes Loch vom Bau eines kleinen Tieres und schlug der Länge nach hin, als ein Schuss fiel. Ein scharfkantiger Felsen bohrte sich in ihren Oberschenkel und sie schrie laut auf. Der Schmerz raste das Bein hoch, bis unter die Schädeldecke.
»Ich bin getroffen«, keuchte sie, und hielt einen qualvollen Augenblick inne. »Die haben auf mich geschossen, die Scheißkerle.« Sie rollte herum, tastete instinktiv das Bein ab, konnte aber nur einen Riss in der Hose und eine schmerzende Schramme spüren. Mit wildem Blick schaute sie um sich, weil sie erwartete, dass jeden Moment einer der beiden Männer aus dem Dickicht stürmte und über sie herfiel. Aber außer den Geräuschen des Waldes, die für einen Atemzug verstummt waren, war nichts zu hören.
Mühsam erhob sie sich auf alle viere und kroch davon. Der Kerl hatte offenbar auf gut Glück in den Wald geschossen und wartete auf ihre Reaktion. Wartete, dass sie in Panik auf die Lichtung rannte oder sich anderweitig verriet. Diesen Gefallen würde sie ihnen nicht tun. Danica richtete ihren Blick starr nach vorne, rappelte sich auf und lief humpelnd tiefer in den Wald hinein, getrieben von der Angst vor ihren Verfolgern.
»Sie ist dort drüben zwischen den Bäumen verschwunden«, deutete der Große, mit der Mündung seines Gewehres in die Richtung, in der er das Mädchen vermutete. »Deshalb dachte ich, ein Schuss vor den Bug kann nicht schaden. Vielleicht kommt sie raus, vielleicht verkriecht sie sich auch da drüben. Dann finden wir sie leichter und brauchen nicht weiter hinterherzulaufen.«
»Die ist zäher, als sie aussieht, verdammt.« Der zweite Verfolger wischte mit dem Unterarm Schweiß und Regen vom Gesicht. »Hätte nicht gedacht, dass uns ausgerechnet sie entwischt.« Plötzlich lachte er auf. »Macht zumindest die Jagd interessant. Auch wenn wir keine Trophäe von ihr mit nach Hause nehmen und an die Wand hängen können.«
Befremdet musterte ihn sein Freund. »Du bist wohl nicht bei Trost? Was, wenn sie entkommt? Sie könnte uns ans Messer liefern. Ich habe nicht vor, wegen der Schlampe ins Gefängnis zu gehen.«
»Reg dich ab, Herr Politiker«, lachte sein Freund und wurde schlagartig wieder ernst. »Niemand will für das bisschen Spaß, den wir hatten, ins Gefängnis. Wir finden die Kleine und erledigen sie. Es wird bald dunkel, dann kann sie nicht weiter. Bei der Kälte kommt sie ohnehin nicht weit. Sie ist entkräftet, hat nichts zu essen und zu trinken. Wir hören sie und wir sehen sie. Sie hat keine Chance.«
Er verstummte, schien die Äste der Eichen zu mustern, deren Silhouetten sich im Grau des feinen Regens abzeichneten, drehte sich einmal im Kreis herum und rief laut: »Du hast keine Chance, hörst du. Also komm raus, verdammt, und lass uns reden! Niemand will, dass du stirbst!«
Aber nur die Stille eines menschenleeren Waldes antwortete ihm.
Irgendwo weit hinter sich hörte Danica jemand rufen. Die Stimme klang gedämpft durch die eng stehenden Bäume, die Worte unverständlich. Überrascht verharrte sie ein paar Atemzüge und lauschte, ob noch mehr kam. Möglicherweise waren andere Menschen in der Nähe, Jäger, Wanderer oder Leute aus der Gegend, die den Schuss gehört hatten. Die Wälder waren riesig, aber es musste trotzdem jemand geben, der hier lebte.
Eine gespenstische Stille legte sich über den Wald. Danica duckte sich und lief weiter, ihr wurde kalt ums Herz. Sie hatte sich noch nie so einsam gefühlt, in die Enge getrieben.
Ich muss durchhalten, dachte sie. Meine einzige Chance, wenn ich überleben will. Sie werden keine Gnade kennen, wenn sie mich erwischen. Immerhin kann ich sie identifizieren und damit ins Gefängnis bringen, aber es müssen doch auch Menschen hier leben, die mir helfen können.
Allmählich wurde es dunkler. Nicht mehr lange, dann würde die Nacht vollends über sie hereinbrechen. Sie musste vorsichtiger laufen und nach einem Versteck Ausschau halten. Der Boden unter ihren Füßen wurde steiniger, rutschiger, hatte sich unmerklich vom weichen Nadelpolster in Sand und Kies und feuchtes Laub verwandelt, als sie plötzlich den Wald hinter sich hatte und sich auf einem schmalen Bergpfad wiederfand. Über ihr drang das silbrige Licht des Mondes durch die Wolken und vor ihr breiteten sich nassglänzende Wiesen mit kurzem, harten Gras aus, die glitzerten, als ob sie mit winzigen Perlen bedeckt wären. Es hatte aufgehört zu regnen. Die Hügel, deren sanfte Formen das Blickfeld durchzogen, schimmerten im hellen Grau. Hier und da glühten Lichtpunkte von einsam gelegenen Gehöften, weit entfernt von Danicas Standort. Es hätten genauso Sterne eines anderen Universums sein können. Mit zunehmender Dunkelheit flackerten immer mehr Lichter auf. Die funkelnden Punkte bildeten in der weiten Landschaft ein unregelmäßiges Muster, das aussah, als hätte ein riesiges Wesen wütend die glühenden Kohlen seines Lagerfeuers verstreut. Den Bergpfad entlangtaumelnd, konnte Danica den aus den nassen Wiesen emporsteigenden Geruch von Gräsern, Lupinen und anderen Blumen, die sie nicht beim Namen nennen konnte, wahrnehmen. Wacholder und kleinwüchsige Kiefer sprenkelten die felsigen Berggipfel links und rechts von ihr und die Abhänge mit dunklen Flecken, die in der einbrechenden Nacht wie Tintenkleckse wirkten.
»Los jetzt, lauf!«, befahl sich Danica energisch. Die Anspannung hatte tiefe Falten in ihr sonst weiches Gesicht gegraben. Feuchter Dreck und nasse Blätter klebten an ihren Hosenbeinen. Im trüben Zwielicht sahen die Schmutzspuren wie getrocknetes Blut aus. Ohne auf die Schmerzen in ihren erschöpften Beinen zu achten, besonders das Linke, vom Sturz verletzte, setzte sie sich in Bewegung. Sie hastete den Pfad im müden Lauf entlang, während ihr Tränen aus den Augen liefen. Die Strähnen ihrer langen blonden Haare legten sich wie ein Netz auf ihr ovales Gesicht und verfingen sich in den Wimpern. Sie hatte nicht die Kraft, sie aus dem Gesicht zu streichen. Danica war klein, mollig und wusste, dass ihr keine Reserven mehr blieben. Sie warf einen Blick auf die Lichter vor ihr und wünschte sich dort drüben zu sein. In einem der Häuser, in dem die Bewohner beim Abendessen saßen und keine anderen Sorgen hatten, als das tägliche Leben, als urplötzlich ein Mann zwischen den Bäumen hervorsprang und wie ein Stück fleckiges Totholz in einer Säule aus Nebelschleier und Mondlicht verharrte.
Ihr Kopf ruckte herum. Seine Haare standen wirr vom Kopf ab, es war der Jüngere der beiden. Er blieb mit dem Rücken zu ihr stehen, um sich zu orientieren und hielt sein Gewehr schussbereit. Instinktiv warf sich Danica zur Seite und stürzte mit einem kleinen Schrei den Abhang zu ihrer Rechten hinunter. Sie landete zwischen Sträuchern, rappelte sich auf und hastete weiter, ohne auf die Zweige zu achten, die ihr Gesicht und Arme zerkratzten. Ihre Brust brannte, als wüte ein Feuer in ihren Lungen. Sie hatten sie den ganzen Tag gehetzt und sie hatte von Anfang an gewusst, dass sie ihr praktisch keine Chance ließen, zu entkommen. Trotzdem wollte sie leben. Sie rutschte über eine steile Böschung, verlor den Halt, fiel vornüber, konnte sich im letzten Augenblick an einer Wurzel festklammern.
Unter ihr rauschte ein Fluss. Danica spuckte Blut und Erde, scharrte mit den Füßen nach Halt suchend im Fels, schaute nach unten und spürte, wie die Finger unaufhaltsam von der Wurzel glitten.
»NEIN! Ich kann mich nicht mehr halten.« Mit einem dumpfen Schrei fiel sie in die Dunkelheit vier Meter unter ihr und landete im Fluss, der sie sofort mit sich riss. Sie tauchte unter, kam strampelnd und hustend hoch, schnappte verzweifelt nach Luft und wurde wieder nach unten gezogen. Der Fluss rollte sie herum, spielte mit ihr, tauchte sie unter, hob sie hoch und spuckte sie aus, zerschlagen vom felsigen Untergrund. Er spülte sie an ein steiniges Ufer, wo sie sich an einem tiefhängenden Ast festhalten konnte. Weinend und unkontrollierbar zitternd kroch sie auf Händen und Füßen aus dem Wasser, das kalt genug war, um jeden Gedanken auf der Stelle einzufrieren. Kein Schmerz, den sie je gehabt hatte, und sie hatte in den letzten beiden Tagen mehr durchgemacht, als sie sich jemals hatte vorstellen können, kam dem jetzigen gleich.
Ihr Körper, der sie zunehmend im Stich lassen wollte, war ihr zum Feind geworden. Die entsetzliche Kälte hatte jedes Gefühl in Armen und Beinen abgetötet. Sie zwang sich aufzustehen, doch die Beine glitten unter ihr weg, als wären sie völlig kraftlos. Danica ließ den Kopf hängen und schluchzte kraftlos.
Sollte hier das Ende der Flucht vor ihren Peinigern sein.
»Bitte, lieber Gott, hilf mir!«
Sie sah keinen Ausweg. Selbst wenn ihre Hände erfroren wären, hätte sie immer noch weglaufen können.
Aber ihre Beine ... sie spürte ihre Beine nicht mehr!
Für einige Minuten war sie vor Panik wie gelähmt, ließ sich im Gefühl der Hoffnungslosigkeit treiben. Doch schließlich raffte sie all ihre Kraft zusammen und stemmte sich auf Hände und Knie. Sie hätte schreien können vor Freude und Schmerz, als sie es geschafft hatte. Jetzt musste sie nur noch das Ufer hoch klettern und vielleicht einige Schritte laufen. Dann würde ihr wärmer werden. Sie musste eine Hütte finden oder eine Straße und einen Wagen, aus den Kleidern raus. Wenn ihr das nicht gelang, war ihr der Tod sicher. Die Kälte würde in ihr Herz eindringen und sie würde müde werden, sorglos und sterben. Ihre Zähne klapperten vor Kälte wie spanische Kastagnetten, als sie sich Stück für Stück über Geröll, niedrige Sträucher, die sie zerkratzten und zurückhalten wollten, auf nassem Gras die Uferböschung hinaufkämpfte.
»Dem Himmel sei Dank. Ich habe eine Straße gefunden«, rief sie und stolperte auf den grauen Asphalt, der den Wald mittendurch schnitt. Sie hörte, wie das Blut in ihren Ohren rauschte und dahinter das Dröhnen eines Motors, das näherkam. Schluchzend legte sie den Kopf in den Nacken, fühlte das Schreien, das sich in ihrer Kehle staute und fiel auf die Knie.
Der Fahrer des Holztrucks, der sich durch die unendlichen Wälder Montenegros bewegte, war seit zwölf Stunden unterwegs. Die einzige Pause, die er sich bis jetzt gegönnt hatte, war auch schon wieder fünf Stunden her. Der Weg war anstrengend zu fahren, voller Kurven und die Straßen nass glänzend und schmal. Er schätzte, dass er noch gut drei Stunden Fahrt vor sich hatte, bevor er wieder auf normale Straßen traf.
Interessiert warf er einen Blick auf sein Handy, das im Sekundentakt zwitscherte. Vor ihm musste sich ein größerer Ort oder eine kleine Stadt befinden, er hatte nach langer Zeit endlich Empfang. Drei WhatsApp Nachrichten waren hereingekommen. Seine Hand tastete nach dem Gerät und er schaute auf das Display, als er im Augenwinkel einen Schatten am Waldrand registrierte. Instinktiv stieg er auf die Bremse, warf das Handy neben sich und zog das Hydraulikventil am Steuer, um den Bremsschub auf den hinteren Reifen zu verringern. Er war zu schnell unterwegs.
Verdammt! Er hatte nicht aufgepasst! Aus der Kurve heraus würde der Truck sich querstellen oder der Anhänger ausbrechen. Eine grauenhafte Vorstellung, mit dem Truck über die Böschung in den angrenzenden Fluss zu fallen, dem er seit geraumer Zeit folgte. Er konzentrierte sich auf die rechte Seite der Straße, an der die Felswand aufragte, um sein Gefährt mit Gefühl aus der Gefahrenzone zu bringen und hoffte inständig, dass es funktionierte. Blendend grelles Licht riss einen grauen Umriss aus der Dunkelheit. Er zog an der Hupe, konnte nicht erkennen, welches Tier die Straße überqueren wollte und ihm in den Truck lief, aber es war für ihn in diesem Moment das kleinste Problem.
Für einen Atemzug hob Danica den Kopf, der Schimmer einer Hoffnung lag über ihrem Gesicht. Dann war der Truck da, die Lichterbündel erfassten den Körper in der dunkelgrünen Weste, die sie mitgenommen hatte, um sich zu tarnen, damit sie leichter entkommen könnte, tauchten ihn in weißes Scheinwerferlicht. Das unheimliche Schaben der Reifen, die über den nassen Asphalt rutschten, hallte in ihrem Kopf wider, vermischt mit dem zischenden Geräusch der Bremsen und dem durchdringenden Ton des brüllenden Horns, bevor das kalte Blech ihren Körper hoch in die Luft schleuderte und ihn zwischen die Bäume zurückwarf. Ihre Knochen brachen mit einem hässlichen Knirschen, wie dünne Stöckchen unter harten Stiefelabsätzen und ihr Blut spritzte heiß über die kobaltblaue Kühlerhaube. Die Welt war für einen Moment in rotes Licht getaucht. Dann überschwemmte schwarze Finsternis ihr ganzes Empfinden, spülte die Schmerzen hinweg und nahm ihr jegliche Angst.
Ein Stück weiter den Berg hinauf standen zwei Männer vor einem Abhang über dem Fluss und starrten fasziniert auf das Drama, das sich unter ihnen abspielte. »Fast wäre die Schlampe entkommen«, murmelte der Größere und stützte sich auf sein Gewehr.
»Da hatten wir wohl das Glück des Tüchtigen«, grinste der andere, setzte sein Gewehr ab, mit dem er auf das Mädchen gezielt hatte, als sie die Böschung hochkam und beobachtete, wie der Fahrer ausstieg, eine Runde um den Truck ging, zwischen die Bäume spähte und schulterzuckend wieder einstieg. Die beiden Männer warteten, bis die roten Rücklichter hinter der nächsten Kurve verschwunden waren. Dann setzten sie sich in Bewegung. Fünf Minuten später standen sie vor dem zuckenden Leib des Mädchens. Ihre Beine scharrten über den Boden, als würde sie weiterlaufen wollen. Sie gab kleine fiepende Laute von sich.
Heimo überlegte, ob er ihr den Fangschuss geben sollte, beschloss dann aber zu warten, bis der Truck weit genug weg war. Seltsam erregt betrachtete er den Todeskampf des Mädchens. Die Jagd hatte ihm größeren Spaß gemacht, als der Sex mit der Kleinen. Gut, der Sex war auch nicht schlecht, sie hatte sich immerhin brav gewehrt, aber die Jagd war die Krönung.
Das Mädchen hatte es ihnen nicht allzu schwer gemacht und der Truck war glücklicher Zufall.
»Man müsste das Ganze besser steuern«, sagte er mehr zu sich selbst als zu seinem Freund. »Die Jagd als Bestandteil des Projekts.«
Seine Gedanken überschlugen sich und neue Ideen flatterten durch sein krankes Hirn wie schwarze Krähen.
D
ie Sonne stand noch über den Dächern der Stadt, aber die Kiefern an der Böschung des Flusses lagen bereits tief im Schatten. Die Felder waren in weiches Licht getaucht, fast wie grüner Dunst, der über dem Gras hing. Stefan Kovacic rückte den Stuhl an die Wand, lehnte sich zurück und ließ seine Blicke über den Schreibtisch durch die geöffneten Fenster wandern. Von draußen fiel gelbes Licht in den Raum. Er hatte langes, zotteliges Haar, einen Bart, ein Stirnband und trug ein T-Shirt und Levis.
Auf dem Computerbildschirm vor ihm wechselten sich Bilder vom Meer und Sandstrand mit blauem Himmel und schnittigen Booten ab. Seine Gedanken gingen zurück, an das einzige Mal da er an einem Sandstrand gesessen war. Der Tag war windig, die brechenden Wellen gelb vom Sand und über ihm waren krächzende Möwen gekreist. Der Himmel von grauen Gewitterwolken durchzogen und am Wasser kein einziges Boot zu sehen. Aber das war lange her.
Alles Mögliche geht einem im Kopf herum, wenn der Tag lang ist, dachte er. Meist nicht jene Erinnerungen, die man mit ganz bestimmten Gedanken aufzufrischen versucht, aber manchmal holen selbst die ungewollt tapsenden Gedanken Gefühle herbei, locken sie hervor oder lassen zumindest eine Ahnung davon zurück.
Er blickte in Richtung Tür. Auf dem Flur waren die schweren Schritte seines Partners zu hören, als der auch schon die Tür aufstieß und hereinpolterte.
»Ich habe schlechte Nachrichten. Ein paar von diesen Kanutouristen haben ein totes Mädchen gesehen. Zwanzig Kilometer weiter oben. Sie soll in einer Biegung des Flusses an einer Wurzel hängen. Die Strömung war ihnen dort zu stark, sie konnten nicht an sie ran und sie haben keine Ausstiegsstelle in der Nähe gefunden. Außerdem hatten sie Kinder dabei. Vielleicht wollten sie sich das auch deshalb nicht antun.«
In Sekundenbruchteilen zersplitterte das Bild in Stefans Kopf und verschiedene Überlegungen zuckten wie Blitze durch sein Hirn. Mit verschränkten Armen und einer tiefen Traurigkeit in den Augen starrte er auf den Mann vor ihm.
»Zwanzig Kilometer?«, erwiderte er, und kratzte sich im Nacken. »Das ist eine weite Strecke auf der Tara. Was ist, wenn sie noch gelebt hat? Die waren möglicherweise ihre letzte Chance.«
»Die hat nicht mehr gelebt. Nicht, wenn die Geschichte stimmt, die sie mir erzählt haben.«
Zoran Novak war ein riesiger Kerl mit borstigem braunem Haar, hatte scharf geschnittene Gesichtszüge, von Falten durchzogen und trug einen breitkrempigen Hut. In der Brusttasche seines Hemds steckte eine Zigarettenschachtel. Er ging zum Wasserhahn bei der Spüle, ließ sich ein Glas volllaufen und trank es in einem Zug leer.
»Verdammte Hitze«, brummte er, nahm seinen Hut ab und strich mit dem Handballen über die Stirn. Seine Nasenflügel blähten sich, als er tief einatmete. »Da ist schon was dran an der Klimaerwärmung. Wir haben Anfang September und es ist heiß, wie im Juli.« Unter der Decke drehten sich die hölzernen Blätter eines Deckenventilators und sogen warme Luft von draußen herein, ohne merkliche Abkühlung zu bringen.
Er drehte sich halb herum, klopfte mit dem Hut auf den Schenkel und betrachtete seinen Freund Stefan mit versteinerter Miene.
»Sie sitzen drüben in Rosies Hotel. Du kannst sie gerne fragen. Die Frau ist ziemlich bedient. Sieht aus, als ob sie ein Gespenst gesehen hätte. Was dem Anblick vermutlich nahekommt. Sie sagt, das Mädchen wäre schlimm zugerichtet und hat sie mit weißem Gesicht angestarrt. Sie hatte keine Augen mehr im Kopf.«
Stefan warf ihm einen finsteren Blick zu, schaute zu Boden und scharrte mit dem Fuß an der Kante des Tisches.
»Also schon einen Tag tot oder wie soll ich das verstehen?«
»Einen Tag mindestens, besser noch drei Tage. Wer weiß, wie lange sie im Wasser liegt. Unter der Woche kommen nicht so viele Kanufahrer die Tara herunter oder haben sie vielleicht nicht gesehen.«
»Und die Kinder?«
»Der Junge ist mit dem Vater gefahren. Er hat sie auch gesehen. War ganz still. Dem sitzt der Schock tief in den Knochen. Das Mädchen konnte die Frau ablenken, hat sie auf die andere Seite schauen lassen. Die Kleine ist sauer, weil sie denkt, etwas versäumt zu haben.«
Stefan wischte sich mit dem Handrücken über die Augen und schaute blinzelnd aus dem Fenster, sagte aber nichts.
Zoran ließ sich auf den Stuhl neben dem Fenster fallen, warf den Hut auf den Tisch.
»Die Kids sind heutzutage abgehärtet, von Fernsehen und Internet. Der Junge wird das verkraften.«
»Ich weiß nicht. Filme und Bilder aus dem Internet sind etwas anderes als eine echte Leiche im richtigen Leben, an der du vorbeifährst. Vielleicht zum Anfassen nah.«
»Wir müssen das melden. Ich gehe zur Polizeistation, bevor die Touristen dort anklopfen. Ist besser, sie erfahren es von uns.«
»Klar müssen wir das melden.« Stefan wischte aufbrausend mit der Hand durch die Luft.
»Wir sind bloß Ranger und zuständig für den Wald. Zwei Mann für das ganze Gebiet. Wir kümmern uns um die Touristen, die Wanderer, die Jäger und die Verrückten, die herumlaufen und sich verletzen, verirren oder im Fluss ertrinken. Wir suchen sie, wir holen sie heraus, wir melden das immer. Dann kommen die Typen aus der Stadt, laufen kreuz und quer, machen uns die Hölle heiß und verschwinden wieder, ohne dass irgendetwas rauskommt. Du kannst es zwei Tage in der Zeitung lesen und das war´s dann. Der nächste Mord, die nächste Messerstecherei, die nächste Vergewaltigung in der Hauptstadt und keinen interessiert mehr, was hier in der Provinz abgeht. Scheiße, wir haben ein echtes Problem, weißt du das!«
»Wir haben ein Problem?«
»Ja, verdammt! Wir haben jedes Jahr ein paar tote Touristen, Jäger oder Wanderer. Sie unterschätzen das Wetter, erschießen sich gegenseitig, überschätzen ihre Fähigkeiten oder verirren sich. Der Wald frisst sie, der Wald spuckt sie wieder aus. Das ist nichts Neues. Aber wir haben drei tote Frauen und einen Mann in den letzten beiden Jahren, die keine Touristen waren, die offenbar entführt und in unserem Wald ermordet wurden.«
Zoran holte eine Zigarette aus der Brusttasche und zündete sie an. Zog den Rauch tief in die Lunge und richtete seinen Blick an die Decke.
»Vier Tote, die keine Touristen waren. Du hast recht. Aber warum werfen die Kerle sie in den Fluss? Warum verscharren sie die Leichen nicht irgendwo im Wald?«
»Keine Ahnung, womöglich weil es einfacher ist, sie auf diese Art zu entsorgen. Der Boden ist zum großen Teil felsig oder von Wurzeln durchzogen. Ein Loch von der Größe eines Menschen zu graben, ist nicht so einfach. Für gewöhnlich ohnehin unmöglich. Vielleicht aber, und das macht mir wirklich Sorgen, vielleicht liegen weit mehr Leichen in unseren Wäldern, als wir ahnen?«
»Du denkst an die Jagdgruppe vom letzten Jahr, die das halb verweste Mädchen gefunden hat, von dem wir immer noch nicht wissen, wer sie war?«
»Unter anderem, ja.« Stefan schaute gerade aus und seufzte beim Ausatmen.
»Verflucht. Wir müssen hochgehen und das Mädchen bergen. Ich möchte nicht, dass sie noch mehr Touristen zu Gesicht bekommen, womöglich fotografieren und die Bilder ins Internet stellen, wo sie dann diese dämlichen Likes bekommen. Wenn sie erst die Typen aus der Stadt in die Hände bekommen, erfahren wir keine Einzelheiten. Die lassen uns wie immer dumm sterben. Für die sind wir Hinterwäldler, die keine Ahnung von der Materie haben.«
Zoran gab ein Geräusch von sich, das sich anhörte, als hätte er einen Schlag auf den Kopf erhalten. Seine Augen starrten ins Nichts.
»Sie werden das nicht gutheißen. Gar nicht gutheißen. Die denken doch, die sind die allwissenden Überlegenen und kommen bloß aus ihrer vertrauten Umgebung, um uns, die dummen Landbewohner, an ihrem Wissen teilhaben zu lassen. In der Annahme, dass wir ohnehin nicht verstehen, wovon sie reden.«
»Wir holen sie aus dem Wasser und erklären ihnen, dass wir uns von ihrem Tod überzeugen wollten. Wenn es in den Bergen regnet und der Wasserpegel steigt, kann es genauso gut sein, dass sie sich losreißt und weggespült wird. Wer weiß, wo wir sie dann wieder finden. Außerdem sind dann auch alle vorhandenen Spuren weg. Also tun wir ihnen einen Gefallen.«
»Ich gehe rüber und rede mit den Touristen, damit sie das Gefühl haben, wir kümmern uns darum. Ich möchte sie nicht allein lassen und mich dann morgen zu der ganzen Angelegenheit auf Facebook rechtfertigen müssen, weil die irgendwie beleidigt sind oder sich übergangen fühlen. Danach gehe ich zur Polizei und melde sie. Du packst ein paar Sachen, eine Plane, einen Bootshaken und Leinen ein. Ach ja, und vergiss die Lampen nicht, falls es später werden sollte. Ich hab sie dieser Tage zum Aufladen rausgenommen.«
Er sprang auf, streckte sich mit knackenden Gelenken und betrachtete Stefan von oben bis unten, nahm einen letzten Zug von seiner Zigarette, die er fest zwischen Daumen und Zeigefinger eingeklemmt hatte und schien dabei nicht ein einziges Mal zu blinzeln.
»Warum bist du eigentlich in Zivil unterwegs und hast deine Rangeruniform nicht an?«
»Weil ich nicht möchte, dass mir Touristen auf der Straße von irgendwelchen Leichen erzählen, die sie gefunden haben, weil sie denken, ich bin Polizist«, antwortete Stefan Kovacic, stand auf, ging aus der Tür und ließ seinen Partner mit offenem Mund zurück.
Eine halbe Stunde später fuhren sie mit dem Wagen aus der Stadt. Der Pick-up war ein alter Ford, dunkelgrün, mit einem wackligen Schalthebel, einer abgewetzten Sitzbank und dem Logo der Ranger auf beiden Türen. Sie fuhren schweigend nach Norden, bis Zoran meinte, dass sie hier ihre Suche beginnen sollten. Stefan überquerte eine Anhöhe, trat auf die Bremse und bog in den Wald. Die Straße ging in einen Schotterweg über, sie rollten in ein karges Tal, das sich auf einen Quellbach zu verengte und an einem versteckt liegenden Trampelpfad endete. Felsüberhänge aus moosgrünem Gestein überspannten den Grund des Tals, durch Jahrtausende von Wasser geformt. Die Überhänge ließen nur für ein paar Stunden das Sonnenlicht bis nach unten durch. Ein Bussard breitete seine Flügel aus und drehte geduldige Kreise hoch über dem Bachbett. Stefan stellte den Wagen ab und stieg aus.
»Ab hier gehen wir zu Fuß weiter. Ich denke ich weiß, wo wir sie finden«, sagte Zoran Novak und griff nach seinen Zigaretten. Er zündete sich eine an, sie packten ihre Sachen in die mitgebrachten Rucksäcke und zogen los.
Vor ihnen fiel das Gelände ab. Sie kletterten hinunter zum Ufer und folgten dem Bach, bis sie auf den Fluss trafen.
Das Wasser war in einem dunklen Türkis und tief. Auf den glitzernden Fluten tanzten vereinzelt Blätter von Eichen, die weiter oben das Ufer säumten. Die Felsen auf der anderen Seite des Ufers warfen das Licht zurück, Zoran setzte eine dunkelgrün getönte Pilotensonnenbrille auf und schaute auf den Fluss hinaus. Der Wind wehte über das Wasser, strich durch das dürre Gras auf ihrer Seite des Ufers, die Wolken, die sich im Westen auftürmten, waren zinnoberrot und wie von Flammen gesäumt.
»Wir müssen da hoch«, wies Zoran auf einen schmalen Pfad zwischen die Felsen über ihnen. »Da oben führt ein Weg entlang, an dem die Kanufahrer ihre Boote die Engstelle umtragen, wenn der Wasserstand zu hoch ist. Das sind gute zwei Kilometer, die für ungeübte Fahrer tödlich sein können. Von da oben haben wir außerdem gute Sicht auf die Tara.«
»Da sind die Leute mit Kindern entlanggefahren?«
»Jetzt im Oktober und nach der Trockenperiode ist die Strecke anspruchsvoll, aber ungefährlich. Es sind bloß einige Biegungen mit Felsen im Wasser zu umfahren. Erst im Frühjahr, wenn nach der Schneeschmelze das Wasser steigt, wird es unberechenbar. Wegen der Felsen, die dann unter Wasser liegen, gibt es Strudeln, Walzen und Umkehrströmungen, die jedes Jahr ihren Tribut fordern.«
Stefan schaute über den Fluss. Er hatte das Gefühl, den Duft von faulenden Blumen oder leckendes Erdgas im Wind riechen zu können. Er folgte seinem Partner, der mit großen Schritten vorauseilte.
Stefan Kovacic war seit fünf Jahren in diesen Wäldern als Ranger tätig. Er konnte sich mittlerweile im nördlichen Teil des Gebiets zurechtfinden, aber diesen Abschnitt der Tara und die Schlucht, war ihm größtenteils fremd. Das war Zorans Heimat. Er kannte hier jeden Stein und jeden Baum.
Sie gingen eine Stunde den Weg entlang, entfernten sich manchmal weiter vom Fluss und kamen dann wieder so nah, dass sie sein Rauschen hörten. Ab und an hob Zoran seinen Feldstecher an die Augen und suchte das gegenüberliegende Ufer ab. Plötzlich verharrte er in der Bewegung.
»Scheiße! Ich fürchte, wir haben sie gefunden«, brummte er, sog die Luft ein, als hätte er sich die Zunge verbrannt.
Im Glitzern der Wellen durchbrachen Schatten das Licht und es sah aus, als ob sich ein Körper im Wasser bewegte. Sie überquerten eine kahle Kuppe und stiegen hinunter in einen Wald voller Kiefern und Kiefernduft. Die Luft war erfüllt vom Rauschen des Wassers und dem Gesang der Vögel in den Bäumen. Der Wind war aufgefrischt, rüttelte am Wald und ließ die Äste gegeneinanderschlagen. Zoran streckte den Arm aus und zeigte auf eine Stelle zwischen den Stämmen. Dort zeichnete sich in der Flussbiegung ein ausgefranster, heller Schatten ab.
Sie gingen auf einem weichen braunen Teppich unter niedrigen Ästen langsam näher, traten auf einem schmalen Pfad mit Tierspuren aus dem Wald, standen plötzlich am Fluss und schauten das Ufer entlang. Vor ihnen zwängte sich die Tara schäumend zwischen hoch aufragenden Felsen hindurch.
»Da drüben«, sagte Zoran mit heiserer Stimme und wies mit dem Kopf voraus. Sie standen etwa zwanzig Schritte vom Wasser entfernt. Stefan schirmte die Augen gegen die tief stehende Sonne ab und starrte angestrengt auf die glitzernde Oberfläche der Tara. Er ging noch einige Schritte näher heran, dann sah er eine Bewegung.
Zwischen den Steinen verkeilt hing eine Baumwurzel. Knorrig und schwarz reckte sie ihre Arme in die Luft.
Das tote Mädchen hatte sich in der Wurzel verhakt, der Körper schaukelte in den Wellen. Vom Wasser sah es aus, als winkte sie Vorbeikommende heran.
Unmöglich nicht hinzuschauen.
Ihr Gesicht war dem Fluss zugewandt, doch man konnte nicht sagen, ob sie in den Himmel schaute oder den Neugierigen aus leeren Höhlen bis in ihr erschrockenes Herz blickte. Die Augen waren von Krähen herausgepickt.
Vorsichtig stieg Zoran in den Fluss. Vereinzelt ragten Felsbrocken aus dem reißenden Strom, er sprang von einem Stein zum nächsten, kam aber nicht näher heran als fünf Meter. Er stieg mit einem Bein in den Fluss und spürte, wie die eisige Flut über seinen Stiefelrand spülte. Das Wasser war so kalt, dass Zoran vor Schreck nach Luft schnappte.
»Scheiße. Wir müssen vorne über die Felsen runter und sie da herausholen. Vom Wasser aus komme ich nicht an sie heran.«
Stefan nickte und starrte auf die steile Wand, suchte und fand genügend Felsvorsprünge und Möglichkeiten.
»Ich gehe dort drüben hoch, sichere mich in der großen Kiefer und klettere hinunter. Wie ich sie am besten herausbekomme, entscheide ich vor Ort.«
Zoran nickte, froh, dass Stefan den Teil des Kletterns übernehmen wollte. Er folgte ihm stumm.
Zwanzig Minuten später hatte er den Leichnam so weit gesichert, dass sie ihn über die Wand bergen konnten.
»Die sieht aus, als ob sie von ´nem Güterzug angefahren wurde. Welches Untier könnte sie sonst so zugerichtet haben?« Stefan wischte sich die Hände seitlich an der Levis ab und trat zurück. Sein Gesicht hatte jegliche Farbe verloren. »Die Mädchen, die wir früher gefunden haben, sahen ebenfalls aus wie abgestürzt, auch wenn der Fluss sein Übriges dazu beigetragen hat, aber die hier sieht echt schlimm aus.«
»Sie kann nur von einem Auto angefahren worden sein. Alles andere möchte ich mir gar nicht vorstellen.«
»Sieh dir nur die Kratzer und Schrammen in ihrem Gesicht an. Die stammen nicht vom Fluss, auch wenn sie ausgewaschen sind. Die Felsen im Wasser reißen tiefere und breitere Wunden, so wie die am Rücken, obwohl die mit Sicherheit auch nicht vom Fluss ist. Ihr ganzer Körper ist mit Blutergüssen übersät.« Zoran betrachtete ihr zerrissenes Hemd und die tiefe Furche unter ihrer Schulter, vermied es aber das tote Mädchen zu berühren.
»Du hast recht. Der Fluss verursacht nicht solche Wunden. Sie ist gestürzt oder wurde verwundet, ist in undurchdringliches Dickicht geraten und hat sich vorwärtsgekämpft. Diese feinen Schrammen sind auch an ihren Händen zu sehen«, bestätigte Stefan und beugte sich über das Mädchen.
»Ich denke, jemand hat sie richtig schlimm verprügelt und wahrscheinlich vergewaltigt. Aber das müssen die Stadtmenschen feststellen. Sie hat es jedenfalls geschafft zu flüchten.«
»Und wurde letzten Endes erwischt und in den Fluss geworfen«, schüttelte Zoran den Kopf und kratzte sich im Nacken.
»Oder?« Stefan kniff den Mund zusammen und starrte in den Himmel.
»Da oben verläuft die Interstate, wenn ich mich nicht irre. Vielleicht ist sie in einen Wagen oder einen Truck gelaufen.«
»Die Straße verläuft zwar eine ganze Weile neben dem Fluss, aber da oben nicht direkt. Mit diesen Verletzungen konnte sie unmöglich so weit von der Straße bis zum Fluss laufen, um da ins Wasser zu fallen. Außerdem wissen wir nicht, an welcher Stelle sie in den Wagen gelaufen ist und wie weit sie abgetrieben wurde.«
»Wir sollten die Straße nach einer Unfallstelle absuchen«, erwiderte Stefan.
»In zwei Stunden ist es dunkel. Das schaffen wir heute nicht mehr und morgen sind die Stadtleute da«, winkte Zoran Novak ab. »Komm, packen wir sie ein und bringen sie zum Wagen. Wenn wir sie liegen lassen, kommen in der Nacht irgendwelche Tiere und fressen sie an. Das will ich ihr nicht antun.«
»Wir suchen nur die eine Seite der Straße ab, die Seite zum Fluss hin. Wenn sie auf der anderen Seite in den Wagen gelaufen ist, gehört sie den Stadtbullen.«
»Dann wird es zu spät, um sie heute noch in die Stadt zu bringen. Willst du sie bis morgen früh auf der Ladefläche liegen lassen. Wir müssten hier am Fluss übernachten, Totenwache halten und morgen früh zurückkehren.«
»Wir haben eine klare Nacht vor uns und einen beinahe vollen Mond über uns. Das heißt, wir finden den Weg auch in der Dunkelheit.«
Zoran schaute ihn an, ließ seinen Blick über das Wasser wandern, die Felsen hinunter, bis er schließlich brummte und mit den Schultern zuckte.
»Verrückter Hund«, murmelte er, hob das tote Mädchen hoch, wie eine lebensgroße Puppe und trug sie den ganzen Weg bis zu ihrem Pick-up.
Nach einer knappen Stunde hatten sie immer noch keine Spuren gefunden, die belegen sollten, dass das Mädchen in einen Truck gelaufen war und danach zum Fluss gebracht wurde. Dafür hatten sie eine breite Fährte entdeckt, wenn es denn eine war, mit der irgendjemand irgendetwas verwischen wollte.
»Die sind sich wohl richtig clever vorgekommen«, schüttelte Zoran den Kopf und zeigte Stefan eine kahle Stelle an einem Baum. »Sieh dir, dass an. Sie haben einen dicken Ast abgehackt, um irgendetwas zu verbergen, aber dabei eine Spur gezogen, als ob eine Rotte Wildschweine durchgewetzt wäre.«
»Das waren keine Leute aus den Bergen. Die waren aus der Stadt. Haben zu viele Wildwestfilme gesehen.«
*
»Mama bitte! Es sind bloß ein paar Tage. Ich will mit einem Freund in die Berge. Wir wollen wandern und vielleicht ein wenig jagen, wenn es da Wild gibt.«
»Bloß ein paar Tage. Bloß ein paar Tage. Ihr wollt euch betrinken, herumlungern, Mädchen begaffen und begrapschen. Erzähl mir doch nicht, dass ihr ganz allein in die Berge wollt. Ich bin nicht blöd. Ich weiß, was da los ist. Immer mehr Leute laufen die Berge hoch, haben sie dieser Tage erst gesagt. Da geht´s zu wie im Shopping-Center. Alles überlaufen. In Pantoffel gehen die da rauf, haben sie gesagt. Du hast nicht mal richtige Schuhe. Nein, du bleibst zu Hause!«
Verstört unterbrach Arno die Wanderung im Zimmer und betrachtete seine ungeputzten Lederschuhe. Er trug einen schlechtsitzenden Anzug, weiße Socken, hatte schmale Schultern, ein längliches Gesicht und war unrasiert. Seine Augen waren von hellem Braun, dazu eine gerade Nase und Falten auf der Stirn, die allein der Sorge geschuldet waren, dass ihm irgendwann die Haare ausgingen. Er zuckte mit den Schultern.
»Mama. Entspann dich! Wir gehen nicht auf einen dieser Berge, die von den Touristen überrannt sind. Wir fahren ins Gebirge. Dort sind weite Wälder. Da sind auch Touristen, aber die verlaufen sich in dem Gebiet.«
»Willst du dich etwa auch verlaufen. Willst du irgendwo in den Wäldern herumirren. Soll man dich dann suchen, über Wochen? Davon habe ich eine Reportage gesehen, über die armen Schweine, die sich verirren. Sie laufen über Tage und Wochen herum, haben nichts zu essen und zu trinken, und wenn man sie findet, sind sie abgemagert, verwahrlost, nicht mehr richtig im Kopf. Manche sind bis heute nicht zurückgekehrt.«
Seine Mutter hatte nichts Entspanntes an sich. Ihre Wange zuckte nervös und in ihren Augen flimmerte eine Reizbarkeit, die einen Glauben machte, man selbst sei die Ursache ihres Leids. Die Finger ihrer linken Hand kamen nicht zur Ruhe, der Daumen wanderte ständig über die einzelnen Fingerspitzen. Außerdem hatte man in ihrer Gegenwart unablässig das Gefühl, sich erklären zu müssen. Sie hatte kastanienrot gefärbtes Haar und trug ein schwarzes Kleid, das ihr bis zu den Knöcheln reichte. Sie schaute ihn mit strengem Blick an. Ihre Augen waren von einem dunklen Braun, ihre Gesichtszüge von einer unnatürlichen Blässe.
»Mit verlaufen meinte ich, sie treten sich nicht auf die Füße. Das Gebiet ist groß genug. Man sieht sich und geht seinen Weg, das ist alles.«
»Warum willst du überhaupt in die Berge? Was gibt es dort, was es bei uns nicht gibt? Wir leben in diesem wunderschönen Ort, jeder kennt dich, jeder mag dich. Du kannst deinen Urlaub doch hier verbringen, wie all die Jahre davor. Was treibt dich von zu Hause fort.«
Arno Daniels senkte den Kopf und wich dem Blick seiner Mutter aus. Er spürte eine Schwere, die sich auf ihn herabsenkte und ihn nach unten drückte, als ob die Schwerkraft zugenommen hätte, an ihm zerrte.
Er fragte sich, warum er ihr nicht einfach die Wahrheit sagen konnte. Wusste aber natürlich, dass es unmöglich war. Weil es eine schändliche, armselige, jämmerliche Wahrheit war.
Er hasste sie. Hasste seine Mutter mit einer Inbrunst, die er sich nicht eingestehen durfte. Er kam sich allein vor, verloren in einem Sumpf aus hasserfüllten Verpflichtungen ihr gegenüber. Es würde keine schnelle Lösung geben, keine Antwort, keine Hilfe. Ihm war nach Schreien zumute, aber das tat er nicht.
Hass und Liebe gehen stets Hand in Hand, also war es nur natürlich, dass sie ihn liebte.
Und das machte sie. Immer schon. Hatte ihn mit ihrer Liebe erdrückt, als er noch ein kleiner Junge war. Hatte ihn eingeengt, festgehalten und umklammert, ihn dem Spott der anderen Kinder in der Schule ausgesetzt, ohne auch nur zu ahnen, wie schlimm sie ihm damit zusetzte. Arno war zu schwach, sich dieser Liebe, die mehr ein Besitzen war, zu widersetzen.
Er hatte nachgegeben, wo andere ausbrachen, war bei ihr geblieben, wo andere davonliefen.
Sie hatte zeit seines Lebens mit seinen Gefühlen gespielt, ihn manipuliert, gelenkt und an sich gekettet. Der Vater war verschwunden und hatte die Familie verlassen, als er klein war. Arno hatte keine Geschwister, weil seine Mutter nie wieder geheiratet hatte und weder Ehefrau noch Kinder. Neben seiner Mutter hatte keine andere Frau Platz. Für sie war er sowohl Kind als auch Ansprechpartner und Eigentum. Sie akzeptierte keine Schwiegertochter.
Arno sah sie an. Er war kurz davor, die Geduld zu verlieren und wünschte sich, die Finger um ihren Hals zu legen und zuzudrücken. Ihr die Worte zurück in den Hals zu stopfen. Er sah aus dem Fenster und atmete tief ein und aus, im Begriff, etwas zu tun, was eigentlich unmöglich war. Seine Gesichtszüge fielen zusammen.
»Ich will einfach mal raus«, presste er mit gequälter Stimme hervor. »Eine andere Perspektive sehen. Ich war noch nie in einem anderen Land. Ich war noch nie am Meer. Einmal vor Jahren an diesem See, für drei Tage, weil du es nicht mehr ausgehalten hast und wir vorzeitig heimfahren mussten. Und zwei Mal auf ein Wochenende zum Skifahren. Ich muss einmal andere Luft atmen, sonst ersticke ich. Reinhard hat mich eingeladen. Er fährt die letzten Jahre jeden Sommer und Herbst in die Wälder von Montenegro, um auszuspannen und zu jagen.«
»Willst du dort etwa auch Tiere erschießen? Hast du eigentlich irgendeine Ahnung, wie gefährlich das ist? Da laufen die Kerle herum und erschießen sich gegenseitig, weil sie sich für Hirsche halten.«
»Das ist in Amerika«, entgegnete Arno, fuhr sich mit den Händen ins Gesicht und verwünschte seine hilflose Geste. »Dort ist alles anders. Da gehen sie auch mit orangefarbenen Warnwesten zur Jagd, um das zu verhindern. Reinhard geht im Herbst zur Jagd. Im Sommer ist er bloß zur Entspannung in Montenegro. Da ist es nicht heiß in den Bergen, sondern angenehm kühl, sagt er. Außerdem kann ihn niemand erreichen. Dort hat er Ruhe.«
»Ich will aber nicht in die Berge!«
»Mama! Ich fahre mit Reinhard in die Berge. Du bleibst hier«, stellte Arno klar und verabscheute den hohlen Klang seiner Worte.
Er hatte das Gefühl, wie ein gefangenes Raubtier hinter seinem Käfiggitter auf und ab zu laufen, ohne jemals die Freiheit zu spüren. Eine Freiheit, die seine Mutter ihm verwehrte, weil sie Reinhard Frost und andere nicht mochte.
Ihre Menschenkenntnis war nur auf eines ausgerichtet, wie bei einem Hund, der darauf trainiert war, Drogen zu erschnüffeln. Ständig glaubte sie Herablassung zu wittern, und deren üblen Geruch hatte sie schon vor Langem in den Ansichten von Reinhard und seinen Freunden wahrgenommen. Die Politiker dieser Welt bildeten sich ein, ihr Studium mache sie zu einem besseren Menschen als sie und ihre Ansichten seien gewichtiger.
»Kommt gar nicht in Frage! Willst du mich etwa allein hier zurücklassen? Wer wird für dich kochen? Wer wird für dich sorgen? Wer räumt hinter dir her, legt deine Sachen raus, damit du weißt, was du anziehen sollst? Du kommst ohne mich doch gar nicht zurecht?« Sie wedelte mit der Hand vor seinem Gesicht herum, kniff zornig die Augen zusammen.
»Mama. Ich bin neunundzwanzig. Ich bin stellvertretender Filialleiter im Baumarkt. Ich schaffe das!«
Entrüstet wandte er sich ab.
»Spar dir diesen gekränkten Blick«, blaffte sie ihn an. »Du schaffst es eben nicht. Gibt es dort überhaupt ein richtiges Hotel oder ein Gasthaus?« Ihr Tonfall warnte ihn, sie bloß nicht noch weiter zu verärgern.
»Nein. Ja. Gibt es sicher. Aber wir schlafen in einer Berghütte.«
Die Frau verschränkte die Arme, presste die Lippen aufeinander und blieb so lange stumm, bis die Stille Arno bedrohlich vorkam. Er wich ihrem Blick aus, sah zu Boden, schien in seiner Hilflosigkeit in sich zusammenzufallen.
»Das wird ja immer schlimmer«, schimpfte sie endlich, drehte sich abrupt um, ließ ihn ihre Ablehnung spüren. »Du wirst dich aus Dosen und Fertigfutter ernähren. Ihr werdet euch betrinken, nicht waschen und völlig verwahrlosen. Wie kommt der Kerl an eine Berghütte? Gibt es dort fließendes Wasser und Strom? Ich sag´s ja. Kocht ihr dort über einem Lagerfeuer oder mit Gas? Das ist mir auch nicht geheuer. Ihr wärt nicht die Ersten, die wegen eines defekten Ofens ersticken.«
»Mama. Bitte. Mach dir doch nicht ständig Sorgen. Reinhard ist immer noch zurückgekommen. Gesund und munter. Nicht verhungert und nicht verwahrlost. Er ist Politiker. Sieh ihn dir an, er ist stets gepflegt und sauber oder etwa nicht?«
»Warum willst du mich allein lassen? Sorge ich etwa nicht gut für dich? Bin ich nicht immer für dich da?« Seine Mutter schrie fast, besann sich dann aber, und ihre Stimme wurde weich und klein.
»Ich habe auf so viel verzichtet, damit du alles hast. Ich halte dir alles vom Leib, damit es dir an nichts fehlt. Dein Vater, der Nichtsnutz, hat uns verlassen, als du noch keine fünf Jahre alt warst. Ich habe Tag und Nacht geschuftet, um dir ein angenehmes Leben zu ermöglichen.«
»Ja Mama. Das weiß ich doch alles. Das haben wir oft genug besprochen«, erwiderte Arno resigniert, legte die Hand auf ihre Schulter. Sie drehte sich herum und schaute ihn an, so als wolle sie ihn für die Zukunft prüfen.
»Das kann ich gar nicht oft genug erwähnen, damit du nicht vergisst, wie gut es dir bei mir geht. Und nun? Sieh mich nicht so an! Du willst mich allein lassen! So wie damals, als du mit diesem Mädchen zusammen warst.«
Arno spürte, wie sein Unmut wieder wuchs.
»Für eine Woche, Mama. Sieben Tage. Nicht mehr. Ich war damals, vor neun Jahren, eine Woche mit ihr in Salzburg. Das ist beinahe ein Leben lang her.« Er senkte den Blick. »Danach hast du sie vertrieben.«
Seine Mutter zog einen Schmollmund, schüttelte langsam den Kopf und nickte trübsinnig.
»Die war nicht gut genug für dich. Sei froh, dass du sie losgeworden bist.« Sie wandte sich um, schaute aus dem Fenster, wo sich kleine Staubwirbel am Straßenrand erhoben und wieder in sich zusammenfielen, und ging aus dem Zimmer.
Arno war am Boden zerstört. Er fühlte sich getrieben wie ein Stück Zeitungspapier, das im kalten Novemberwind über die Straßen torkelte. Nervös wanderte er wieder auf und ab, bis er eine Entscheidung gefällt hatte, dann ging er zur Tür hinaus und verschwand, bevor er es sich anders überlegen konnte.
»Ich gehe in die Stadt zum Stammtisch. Ich treffe mich mit Reinhard. Wir besprechen das mit meinem Urlaub«, rief er über die Schulter und hörte noch, was sie ihm hinterherrief.
»Geh du nur. Geh und lass deine alte Mutter allein. Wirst schon sehen, was du davon hast.«
Die Nacht war erfüllt vom Geruch nach Düngemittel, Staub und dem Sprühnebel der Sprinklersysteme, die in den Gärten ringsum die vom Winter getrockneten Rasen bewässerten. Arno Daniels lief durch die Straßen der Stadt und beeilte sich in sein Lieblingsgasthaus zu kommen. Er war ohnehin spät dran.
Als er die Tür öffnete, schlug ihm lautes Gelächter entgegen. Zigarettenrauch waberte unter der geschnitzten Holzdecke aus dunklen Balken hin und her, wie verwundete Geister einer großartigen Schlacht. Er blinzelte in das helle Licht und war sofort von einem Gefühl überwältigt, das er nicht benennen konnte, dass seinen Unmut jedoch hinwegwischte und ein Strahlen in sein Gesicht zeichnete.
Denise, die hübsche Kellnerin mit der aufregenden Figur, die er nur zu gerne einmal nackt sehen würde, die aber jeden Mann auf Abstand hielt, stand hinter der Theke und winkte ihm freundlich zu. Sie nickte in Richtung des Tisches in der Ecke und verdrehte die Augen. Arno lächelte, seine Freude war unverkennbar. Die Freunde saßen zu acht um einen riesigen runden Tisch aus polierter Eiche, tranken Bier und unterhielten sich lautstark. Einige winkten herüber.
Arno streckte sich, ging auf sie zu, begrüßte die Runde, sie rückten zur Seite, klopften ihm auf die Schulter und Denise stellte ein Bier vor ihm hin. Aus der Jukebox im Retrolook neben der Tür kam leise Musik, die niemand beachtete, und an der Wand brummte ein Ventilator kaum vernehmbar vor sich hin, verteilte die warme Luft im Raum.
»Alles klar bei dir?« Reinhard Frost beugte sich nach vorn, die Stirn in Falten gelegt. Seine Haut war sonnengebräunt.
»Alles wunderbar«, grinste Arno und hielt sich an seinem Bierglas fest. Kühler Schaum lief ihm über die Finger.
»Ich freue mich auf den Trip in die Wälder. Als Jäger bin ich mit der Wildnis vertraut und das ist mal etwas anderes, als immer nur unsere Bäume zu sehen.«
Sein Freund lächelte böse und hob das Glas an den Mund, um seine Augen dahinter zu verstecken.
*
Am nächsten Morgen stand Reinhard Frost nackt vor dem Spiegel im Badezimmer. Er hatte lange geduscht, sich abgetrocknet und betrachtete sein schwaches, geisterhaftes Abbild in dem beschlagenen Viereck. Sein Puls war zu hoch, sein Atem unruhig. Er warf sich kaltes Wasser ins Gesicht, wischte über den Spiegel und beobachtete, wie die Wasserperlen an den Wangen hinunterliefen.
Seine Augen waren klar, das schwarze Haar hing ihm nass in die Stirn. Der dunkle Schatten des morgendlichen Bartes ließ sein Antlitz kantiger wirken.
»Du verdammtes Arschloch. Du hältst mich wohl für blöd?« Die Worte kamen langsam und gepresst aus seinem Mund.
»Nein. Du hältst mich nicht für blöd, du spielst dein Spiel für alle, die dich nicht gut genug kennen, nicht wahr? Aber ich habe dich durchschaut mein Freund. Ich habe dich schon durchschaut, als wir noch zur Schule gegangen sind.« Er spannte die Brustmuskeln an, die sich hart wie Eisen unter der Haut abzeichneten und betrachtete sich wohlgefällig. Seine Schultern und seine Brust waren von schwarzen Haaren bedeckt. Vereinzelt liefen glitzernde Wassertropfen zwischen den gekräuselten Haaren hinab.
»Ich weiß, dass du es warst, der die Katze vom Schulwart an das Tor seiner Gartenhütte genagelt hat. Er hat dich damals erwischt, als du dich bei den Mädchen in der Umkleidekabine versteckt hast, um sie heimlich zu filmen. Du hast einige Wochen gewartet, damit dich niemand mit der Sache in Verbindung bringt und verdächtigt. Du denkst, du bist ein Schlauer. Du warst es auch, der dem kleinen Hund deines Nachbarn Knallkörper an den Schwanz gebunden hat. Er ist in Todesangst in ein Auto gelaufen und überfahren worden. Ich kenne dich und deinesgleichen. Du bist ein Feigling. Tief in deinem Inneren bist du ein Feigling. Du quälst gerne andere, damit du dich stark fühlst. Ich denke, du bist genau richtig bei uns.«
Reinhard Frost hatte eine hohe Stirn, fast schwarze Augen, ein ausgeprägtes Kinn und einen, schmalen Mund. Er war breitschultrig, hatte einen flachen Bauch und war in bester Form. Er sah gut aus, wirkte vertrauenerweckend und roch meist nach teurem Rasierwasser.
Gereizt wischte er über den Spiegel, der sich sofort wieder beschlug, ihn nur schemenhaft wiedergab.
»Du darfst ein paar Mädchen quälen, das wird dich bestimmt freuen. Aber dann habe ich dich in der Hand und werde mein Spiel mit dir spielen«, fuhr er fort und beobachtete seine Miene beim Sprechen.
»Du hast mich einmal bei meinen Freunden lächerlich gemacht. Das hast du längst vergessen. Aber ich nicht. Ich habe ein Gedächtnis, wie ein Elefant und weiß, es wird dir Spaß machen, das Spiel mit den Mädchen. Aber danach, danach wirst du ständig in der Angst leben, dass deine Mutter dahinterkommt. Das wird dich zermürben, weil du nicht darüber reden kannst. Und wenn du am Ende bist, werde ich hinter dir stehen, mit dem Gewehr in der Hand.« Er lachte hässlich und wischte wieder über den Spiegel.
»Hast du mich gerufen?«
»Nein. Verschwinde! Ich übe eine Rede. Wenn ich etwas von dir will, lass´ ich es dich wissen.«
»Soll ich dir mit der Rede helfen? Soll ich dir zuhören?«
»Nein. Heute nicht. Ich hab´ doch gesagt du sollst verschwinden. Ich muss mich konzentrieren.«
Janine Frost stand reglos vor der Badezimmertür, hielt die Luft an, legte ihr Ohr auf das kühle Holz und horchte einen Moment. Hinter der Tür war kein Ton mehr zu hören, sein Reden verstummt. Die Stille machte die Spannung, die sich in ihr aufgebaut hatte, unheilvoller, wie die tückische Ruhe vor dem Sturm.
Sie ging den Flur zurück in die Bibliothek, dessen Boden mit einem flauschigen beigefarbenen Teppich ausgelegt war, der sich weich und warm unter ihren bloßen Füßen anfühlte und einen Hauch von Luxus verströmte. Blütenweiße Gardinen fielen wallend von den hohen Fenstern herab. Die Terrassentür stand einen Spaltbreit offen. Sie hielt inne, sog tief die Luft ein und atmete gepresst wieder aus.
Der Raum war in goldenes Licht getaucht, er war sein Aushängeschild, in dem er gerne Freunde und politische Wegbegleiter bewirtete, die ihn voller Stolz ihren Parteifreunden vorstellten, so als verkörpere er ihr eigenes Idealbild.
Über dem geschwärzten Kamin standen ein paar große Kerzen auf dem schlicht gehaltenen Kaminsims und links und rechts davon erhoben sich Bücher in raumhohen Regalen. Eine beeindruckende Sammlung von Klassikern, die keiner von ihnen je gelesen hatte, die nur Dekoration waren und je nach Bedarf, was gerade gefragt war, ausgetauscht oder umgeräumt wurden.
Sie öffnete die Bar, einen großen Globus aus polierter nordamerikanischer Eiche mit eingelegten Intarsien in Mahagoni, der sich aufklappen ließ. Sein Schmuckstück, bestückt mit verschiedenem Alkoholika. Von diversen Whiskeysorten aus Schottland, Irland und Österreich, französischem Cognac, Obstbränden bis Wodka und Likören für die Damen, die ihre Männer an den seltenen Gelegenheiten begleiteten, an denen sie mitkommen durften. Ließ zögerlich ihre Finger über den Flaschen schweben, goss sich einen doppelstöckigen Wodka ein und sank in einen der ledernen Polstersessel.
Ihr Blick wanderte durch den Raum, ohne allerdings die Einrichtung wahrzunehmen, blieb auf der gegenüberliegenden Glasfront hängen, die voller Kletterpflanzen waren. Ihr einziger Beitrag zur Einrichtung, die Pflanzen im Haus.
Sie trug einen fließenden braun gemusterten langen Rock, der ihr bis zu den Knöcheln reichte und eine lachsrosa Bluse. Ihr lockiges blondes Haar reichte bis über die Schultern. Sie hatte schmale Hüften und Glieder, ihr Gesicht war mit hellbraunen Sommersprossen übersät, unter den Augen, die tief in ihren Höhlen saßen, waren dunkle Ringe eingegraben.
Reinhard ging draußen vorbei, sie konnte ihn hören, er pochte mit der Faust an die Zimmertür, trat aber nicht ein.
»Geh nicht an den Schnaps, verdammt«, rief er. »Es ist noch zu früh und es gibt schon Gerede. Ich kann das nicht brauchen.« Janine biss sich auf die Zunge, um die scharfe Antwort hinunterzuschlucken, die sie ihm in einem Anflug von Trotz entgegenschleudern wollte. Die ihr wahrscheinlich nicht nur ein Gefühl flüchtigen Triumphs, sondern auch eine ordentliche Tracht Prügel von ihrem Mann eingebracht hätte. In der Stimmung, in der er im Moment war, wäre das ein Spiel mit dem Feuer. Seine Partei ging derzeit den Bach hinunter, er war immer öfter gereizt und ließ es an ihr aus.
»Ich trinke nicht«, sagte sie seltsam tonlos, und betrachtete die helle Flüssigkeit in ihrem Glas.
Er schlug sie nicht mehr so oft, wie früher und nie ins Gesicht, dazu war er zu schlau. Aber sie wollte trotzdem keine Prügel riskieren, dazu war sie zu kaputt. In den ersten Jahren ihrer Ehe hatte er sie oftmals geschlagen, in den Bauch, in den Rücken, die Nieren, bis sie zusammengekrümmt in einer Ecke lag und stöhnend und weinend versuchte, genug Luft zu bekommen, um zu überleben.
Dann, nach ihrer Fehlgeburt, weil er sie erst mit dem Kopf gegen die Küchenwand gestoßen und dann auf sie eingeprügelt hatte, bis sie bewusstlos zusammengebrochen war, war es leichter geworden. Im Krankenhaus hatte sie die Geschichte vom Sturz über die Treppe erzählt, die sie hier sicher schon Hunderte Male gehört hatten. Der Internist, der sie untersuchte, hatte einen Blick mit ihrem Mann, dem bekannten Politiker, gewechselt, aber keine unbequemen Fragen gestellt. Danach war Reinhard vorsichtiger geworden, bevor die Leute redeten, auch wenn die Frau den Mund hielt. Schlug nur noch zu, wenn ihm sein Job über den Kopf wuchs. Sie hob das Glas an die Lippen und trank in kleinen Schlucken. Der Wodka lief ihr brennend die Kehle hinab, schien wie ein Feuerwerk in ihrem Magen zu explodieren und legte einen angenehmen Nebelschleier um ihren Kopf, ihre Gedanken.
Sie hätte gerne Kinder gehabt, konnte aber keine bekommen. Vielleicht war es auch besser so. Kinder sollten nicht in einem Haus aufwachsen, in dem Gewalt die Regie führte und über alles ihre dunklen Schatten warf. Das Blut pochte ihr in den Schläfen, sie dachte kurz daran, sich noch einen Drink zu genehmigen, ließ es aber bleiben. Es war tatsächlich zu früh am Tag. Sie wollte nicht dem Alkohol verfallen und abstumpfen, wie viele andere, wollte nicht dem Leben in einem Zustand gelangweilter Resignation entgegenstehen, ohne Aussicht darauf, dass es je besser wurde. Ein Glas musste genügen, um bis zum Abend durchzustehen.
Am späten Vormittag ging sie in die Küche, um das Mittagessen vorzubereiten. Wie es aussah, würde Reinhard nicht außer Haus sein. Verdrossen ließ sie die Kühlschranktür aufschwingen, musterte den Inhalt, holte mit spitzen Fingern in Papier eingeschlagene Filetsteaks, nacheinander eine Zucchini, einen Salatkopf und gelbe Paprika heraus und machte sich an die Arbeit.
Eine Stunde später deckte sie den Tisch, ging zum unteren Treppenabsatz, rief nach ihm, er saß oben im Arbeitszimmer und kehrte in die Küche zurück, ohne auf Antwort zu warten.
Sie stellte die Salatschüssel, Folienkartoffel, die Pfanne mit den Steaks und ein Glas Wein für ihn auf den Tisch, als er zur Tür hereinkam und auf sie zutrat.
»Riechen.«
»Ich habe nichts getrunken, was soll das?«, antwortete Janine, wandte den Kopf ab, wischte ihre Hände an einem Geschirrtuch ab und griff nach einem Glas Wasser.
»Riechen!«
Widerwillig drehte sie sich herum, hauchte ihn an, er verzog das Gesicht.
»Ich fliege nächste Woche nach Brüssel. Eine Dienstreise für ein paar Tage«, verkündete er, setzte sich zu Tisch und schaufelte Salat auf seinen Teller.
»Kann ich mitkommen?«, kam ihre Frage über Schüssel und Pfanne, sie ließ sich auf den Sessel sinken, griff nach den Kartoffeln.
»Nein. Ich bin Teil einer Delegation, das ist nichts für dich.«
»Aber andere Frauen sind doch auch dabei.«
»Ich sagte Nein. Ich will kein Wort mehr davon hören. Ich sage es dir nur, damit du keine dämlichen Termine für mich einteilst oder Einladungen annimmst, die ich dann absagen muss. Und lass meine Sekretärin aus dem Spiel. Sie fährt auch nicht mit. Das wurde von ganz oben abgesegnet und darf nicht durchsickern. Die wollen keine Journalisten und Gesocks am Hals haben, die alles zerpflücken, sodass man sich ständig rechtfertigen muss.« Er wickelte eine Kartoffel aus der Folie, gab Sauerrahm dazu, hob sein Steak aus der Pfanne und bedeckte es mit reichlich grünem Pfeffer.
»Dein Freund Arno, du weißt schon, der vom Baumarkt hat angerufen. Er wollte irgendetwas wissen von dir. Ich habe nachgefragt, aber er wollte nicht mit der Sprache rausrücken. Sagte, es wäre nicht wichtig und er meldet sich wieder.« Angewidert schaute sie auf seinen Teller. Sie fand es unappetitlich, halb rohes Fleisch zu essen, aber er mochte seine Steaks blutig, also fügte sie sich seinem Willen.
»Ja, gut«, nickte er und schob sich ein Stück Kartoffel in den Mund. Sein Gesicht wirkte unbekümmert.
»Ich bin den Rest des Tages im Arbeitszimmer und will nicht gestört werden. Ruf mich nur, wenn es etwas wirklich Dringendes gibt.«
Abwesend strich er sich mit einem Fingerknöchel über die Nase und wandte seinen Blick zum Fenster. Auf dem Dach gegenüber hockte ein Vogel und sang in den höchsten Tönen.
Sie hob den Kopf und schaute ihn an, ohne zu antworten, brachte nicht die Kraft auf, das Schweigen zu durchbrechen, das sich um ihren Mann verfestigte. Fast schien es, als hätte er vergessen, dass sie auch am Tisch saß.
Als er fertig gegessen hatte, legte er Messer und Gabel auf den Teller, trank den Wein aus, erhob sich vom Stuhl und ging wortlos hinaus.
Sie war allein mit ihrem Frust, ihrem Ärger.
Soll er doch nach Brüssel fahren oder wo immer ihn sein Weg hinführt, dachte sie frustriert. Dann bin ich zumindest eine Weile allein.
*
Es war einer dieser warmen Tage Mitte Juni, die nach Frühling schmeckten, an denen die Menschen lächelten, ohne zu wissen warum, und verliebte Paare mit leuchtenden Augen in den Straßen flanierten. Die Jungen bis ins mittlere Alter zeigten Haut, vom Winter gebleicht. Leicht pubertierende Mädchen trugen Rock und Leggings und gingen im Park auf halb versteckten Wegen zwischen alten Bäumen spazieren, wo sonst nur Hundebesitzer ihre vierbeinigen Freunde ausführten.