Verschüttete Milch - Nis Petersen - E-Book

Verschüttete Milch E-Book

Nis Petersen

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Beschreibung

Nis Petersen (22. Januar 1897 in Vamdrup – 9. März 1943) war einer der beliebtesten dänischen Dichter und Schriftsteller seiner Zeit. Er war Kaj Munks Cousin. Sein Debüt gab er 1926 mit der Gedichtsammlung Nattens pibere. Seine größten Romane sind „Die Straße der Sandalenmacher“, die im multiethnischen antiken Rom spielen, und „ Spildt Melk“, der im vom Bürgerkrieg zerrissenen Irland spielt. Beide wurden ins Englische übersetzt und schnell in mehreren Auflagen verkauft.

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Nis Petersen

Verschüttete Milch

The sky is the limit

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Inhaltsverzeichnis

Vorspiel

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebentes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Zehntes Kapitel

Elftes Kapitel

Zwölftes Kapitel

Dreizehntes Kapitel

Vierzehntes Kapitel

Fünfzehntes Kapitel

Sechzehntes Kapitel

Siebzehntes Kapitel

Achtzehntes Kapitel

Neunzehntes Kapitel

Zwanzigstes Kapitel

Einundzwanzigstes Kapitel

Zweiundzwanzigstes Kapitel

Dreiundzwanzigstes Kapitel

Nachspiel

Vorspiel

Das Leben, das heilige Leben, der hohe Herr, den die Unwissenden Gott nennen, erhob das Haupt und preßte den Nacken gegen die Rückenlehne seines Thrones. Dabei streifte sein Blick eine Gestalt, eine hagre und herrische Gestalt, die auf einem Stuhl am Fenster saß und mit der knochigen Rechten einem Hund übers Fell strich. Als dieser Mann den Blick seines Herrn auf sich ruhen fühlte, erhob er sich hastig, schob den Hund beiseite, beugte sich zum lautlos ausgehenden Fenster hinaus und pfiff durch die Zähne.

Unter dem Fenster lag ein kleiner Hof. Durch das offene Tor, das auf die breite Landstraße hinausführte, warf die Sonne ihre letzten Strahlen. In der Tiefe des Hofes standen in welliger Reihe dreißig gesattelte Pferde, denen der Schaum grasgrün von den klirrenden Trensen troff. Vor jedem Pferd aber hockte am Boden ein Mann in weißem Rock, und als ihnen nun der hagre Alte vom Fenster aus zupfiff, sprangen die weißen Männer empor und bestiegen die Gäule. Die Tauben stotterten auf, zogen einen Kreis über dem Hof und flogen davon, der Haufe aber jagte dröhnend zum Tor hinaus. An jedem Sattelknopf funkelte eine Trompete, und an jeder Trompete baumelte eine Quaste in der weißen Farbe des Todes. Und als der Mond seine halbe Runde beendet hatte, trompetete ein Reiter an der Bucht von Sligo, und ein Reiter am Aransund, und einer bei Ballycroneen, und von Arklow, Drogheda und Downpatrick antworteten andre. Den Anfang machte ein schmetterndes «Zur Attacke», ihm folgten andere Signale: grollende, klagende, jubelnde. Und da sie verstummt waren, schwang der Sturm die Peitsche über seinem tausendfachen Gespann, und das Verderben nahm wieder einmal seinen Weg über Irland. Denn der hagre Mann mit dem herrischen Antlitz war der große Kondottiere Tod. Er wendete sich zu seinem Herrn und fragte: «Wer hat mich diesmal gerufen?» – «Eamon de Valera!» antwortete das Leben. «Und warum jetzt wieder?» fragte der Tod. «Er lädt das irische Volk zu dem großen Fest, wo es seine vollendete Freiheit grüßen soll mit Bechern, voll von dem Blut seiner Söhne.» Da trieb der Tod seine Hunde in ihre Hütten und jagte dröhnend über das Pflaster.
Aber von den Vorgebirgen und den Sunden – von Bloody Foreland bis Carnsore Point schwoll klagend und lockend der Klang der Trompeten, und von Bantry bis zur Insel Rathlin wurde es kund, daß Eamon de Valero zu einem neuen blutigen Feste lud, prächtiger, als man je eines gesehen. Die Geladenen aber begannen sich zu entschuldigen. Einer sagte: «Ich habe einen Acker gekauft und muß hin, ihn zu besehen; bitte, entschuldige mich!» Und ein anderer sagte: «Ich habe ein Paar Stuten gekauft, die muß ich zureiten.» Und ein Dritter sagte: «Ich habe grade geheiratet und will nun auf die Hochzeitsreise nach der Riviera.» Und einer hatte einen vorteilhaften Bankerott gemacht, und einer wollte lieber Brot als Blut, und viele wollten lieber ihre Männer, Söhne und Brüder zurückhaben, die bei den früheren Festen geblieben waren.
Da erhob sich der Festgeber weiß vor Zorn und begab sich mit seinen Getreuen hinaus in die Wüste, und dort setzte er noch einmal den Scheiterhaufen des Hasses in Brand. Doch zu viele waren es satt, die Hölle auf Erden zu sehen, und zu viele waren des Mordens müde, und zu viele sagten einer zum andern: «Was frommt es, immerfort zu beweinen, was nun einmal vertan ist!»
So geschah es, daß die weißröckigen Reiter des Todes bald wieder vor ihren Pferden im Hof saßen, der vom Sonnenlicht überflutet war, und daß ihr Herr hineinging und vor das Leben hintrat, den hohen Herrn, den die Unwissenden Gott nennen, und sagte: «Erins Kinder sind des Streites müde.» Aber das Leben ließ seinen Blick langsam über Irland schweifen, von den Poteentrinkern im Norden südwärts bis zu den Palmen von Killarney, und lachte ungläubig.

Erstes Kapitel

Der englisch-irische Krieg war beendet. Am Dienstag, dem 3. Januar 1922, nahm das Dail Eireann, das irische Parlament, wieder seine Sitzungen im großen Saal der Dubliner Universität auf. Michael Collins empfahl der Gegenpartei, den Vertrag mit England anzunehmen und darnach im Lande selbst für die Republik zu arbeiten. «Im Vertrag steht nichts, was uns hindern könnte, am Aufbau des gälischen Staates zu schaffen, der unser aller Ideal ist!» sagte er. Am zehnten Verhandlungstag, einem Mittwoch, sprachen acht Abgeordnete für die Unterzeichnung, acht dagegen. Oberst Eoin O'Duffy sagte unter anderm, den Vertrag ablehnen, hieße die Katholiken in Ulster kaltblütig dem Mord ausliefern. John O'Mahony sprach gleich mehreren andern gegen den Vertrag, aber da stand Arthur Griffith auf und sagte: «Als ich nach London ging, warst du es, der mich bat, den Frieden mitzubringen um jeden Preis – das geht doch nicht, John!» Andere wieder wendeten sich mit unerklärlicher Plötzlichkeit gegen die Männer, die sie selber zu Verhandlungen mit Lloyd George nach London geschickt hatten. An eben jenem Mittwoch schrieb der «Irish Independent», es sei«unmöglich, eine Erklärung für diesen plötzlichen Stimmungswechsel zu finden.» Als sich dann von neuem Gewölk über Irland zusammenzog, gab sich allenthalben der Unwille kräftiger kund, und der Kardinal Logue sagte im Dome zu Armagh, er bitte die Gemeinde, sich mit ihm in dem Gebet zu vereinen, Gott der Allmächtige möge Irland gnädig sein und es vor dem Unglück bewahren, das die Ablehnung des Vertrages bedeuten würde. Die Welt, die noch unter den Folgen des Krieges stöhnte, erwartete sich Wunder von der Konferenz in Cannes und dem Geddes-Bericht. Heute ist es leicht, darüber zu lächeln. In Irland schrieb eine Zeitung: «Der bloße Gedanke an eine neue Spaltung kann einem das Herz krank machen.» Eine Welt wartete gespannt auf die Abstimmung in Dublin. An dem einzigen Mittwoch, dem u. Januar, wurden auf dem Haupttelegraphenamt Depeschen mit insgesamt hundertsiebzigtausend Worten aufgegeben.

Nach einer historisch gewordenen Abstimmung fiel am dreizehnten Tag die Entscheidung: für den Vertrag wurden vierundsechzig, gegen ihn siebenundfünfzig Stimmen gezählt. Fräulein Mac Swiney erklärte das für den größten Verrat in der Geschichte Irlands, und de Valero stand auf und begann: «Bevor wir auseinandergehen, möchte ich noch ein letztes Wort sagen. Bis zum heutigen Tag hatten wir hier im Land eine glänzende Periode untadeliger Disziplin. Die Welt blickt auf uns …» Er brach zusammen und begrub sein Gesicht in den Händen. Erwachsene Männer fingen zu schluchzen an. «De Valeras unersättliche Eitelkeit war aufs tiefste verletzt», schrieb damals einer der bekanntesten politischen Schriftsteller Irlands. Manch andrer aber war tief ergriffen durch den Anblick des gefallenen Riesen. Am Montag, dem 16. Januar, zog Michael Collins mit den übrigen Mitgliedern der Regierung auf dem Dubliner Schloß ein, wo während der englischen Besetzung die Pläne für Tausende von Gewalttaten geschmiedet worden waren. Bei den Bankplünderungen, die nunmehr in ganz Irland einsetzten, wurden Hunderttausende von Schillingen geraubt.
Der 17. März muß als der Tag genannt werden, an dem in Irland der Massen-Brudermord ausbrach. Dieser Tag ist der Festtag des irischen Nationalheiligen St. Patrick. Eamon de Valera wollte wieder Blut rauchen sehen, wieder Blut riechen, sich wieder am Anblick der Tränen eines Volkes werden, dessen Land ihn nicht geboren hatte. Ohne Erbarmen schirrte er ein zusammengebrochenes Pferd wieder ein, das die Ruhe so bitter nötig hatte, um im Stall seine Wunden zu heilen.
2
An diesem 17. März geschah es, daß Peadar Phelan spätabends starb, auf dem Weg in sein hundertundsechstes Jahr. Die Uhr ging auf zehn, da begann sein kleiner schwarzer Esel draußen auf dem Feld an der Landstraße unter den fünf Birken zu schreien, die wie die Marmorsäulen eines Tempels aufragten und das leise zitternde Dach aus mondbeglänztem Laub trugen. Es fing damit an, daß der kleine Eselsleib sich wie ein Blasebalg zusammenzog, aufblies und wieder zusammenzog, und dabei Töne ausstieß, die Seufzern der Verzweiflung glichen; bis schließlich der richtige Jammer losbrach und in der Finsternis da draußen eine lebendige Ziehharmonika stand, die sich selbst mißhandelte. Es klang lächerlich und traurig zugleich. Der kleine Esel zog den Hals ein und reckte ihn wieder zu seiner äußersten Länge aus und heulte vor Einsamkeit. Zum Trost für ihn antwortete ihm aus einem kaum zweihundert Schritt entfernten Pferch ein andrer kleiner schwarzer Esel mit weißen Beinen und einer weißen Brille um die Augen – er gehörte der alten Frau O'Hegarty –, und gleichzeitig begann Schmied Gardiners lahmes Ponny teilnahmsvoll zu wiehern. So schlang sich ein Band von Herz zu Herzen und machte die Nacht etwas weniger kalt.
Obwohl Peadar Phelans Gehör den nahezu hundertsechs Jahren seinen Tribut entrichtet hatte, drangen doch alle diese Laute zu ihm, vom ersten verzweifelten Seufzer des kleinen Esels an, der ihm seit dreißig Jahren schon diente. Damit kam das Bild der Landschaft zu ihm herein, die er, wie er wußte, nie mehr sehen sollte. Er sah die Farben und Formen des Gesträuchs vor sich, das seinen Acker umgab – dieser Hecke, die so wirkte, als hätte sich hier alles zusammengerottet, was es in Irland an Stachligem und Dornigem gab, um sein Eigentum zu beschützen. Brennesseln, Weißdorn, Ginster und Brombeeren waren zu einem undurchdringlichen Dickicht verfilzt, zusammen mit Heckenrosen und anderen, sonst dornenlosen Pflanzen, die sich hier aber um des besonderen Zweckes willen bewaffnet zu haben schienen. Und drinnen auf den Ackern selber tummelte sich ein ganzer Schwarm von Disteln, so üppig wie sonst nirgends in diesem Bezirk. «Aber nur gutes Land trägt viel Disteln!» tröstete sich Peadar Phelan aus alter Gewohnheit.
Und wie der Iren Felder, so der Iren Sinn – zu allem fähig, was ein guter Verstand ersinnen mag, und von allem Unnützen erfüllt, was eine üppige Phantasie erfinden kann. Ein Überfluß an Armut, ein großartiger Aufwand an Sinnlosigkeit. Peadar Phelan kannte das alles und wünschte es sich nicht anders. Peadar war weise; und hatte er auch nicht lesen gelernt, weil es in seiner Jugend nur Buschschulen gab – gut vor den Engländern versteckt! –, so war er doch bis in sein hohes Alter ein guter Sprecher. Auf das Ziel, dem er sich näherte, sah er ohne Bitterkeit. «Man kann seinen Kuchen nicht gleichzeitig essen und in der Speisekammer behalten!» sagte er zu seiner Verwandten, die ihm den Haushalt führte. Und als eine Dame aus der benachbarten Stadt einige Tage vor seinem Ende ein paar teilnehmende Worte an ihn richtete, weil sie ihn mit den Beinen baumelnd auf der Friedhofmauer sitzen sah, übersprudelnd von dem Katarrh, der ihm dann das Lebenslicht ausblasen sollte, deutete er mit einer Kopfbewegung nach den Grabsteinen hinter seinem Rücken und sagte: «Dort drinnen liegt mancher, der gern meinen Katarrh hätte!»
Er starb um die Stunde, da die Nacht sich wie ein schwarzer Fittich hob und darunter die ersten kleinen Karren mit ihren zierlich zu Pyramiden gestapelten Kohlköpfen auftauchten und die ersten etwas überlasteten kleinen Kohlenwagen mit den Eseln armer Leute davor. Sie hoben seinen Sarg quer über die Friedhofmauer hinweg, denn man sagte, Peadar hätte sich, solange er noch auf einem Gaul sitzen konnte, niemals erst umständlich nach einer Zauntür umgesehen.
3
Eigentlich war nur Peadar Phelans Körper tot, denn solange sein Freund Patrick Walsh herumlief, war das Beste von ihm noch da: das, was inwendig in ihm und hinter seinen Narrenstreichen gesteckt hatte, nämlich sein warmes Herz und sein unerschütterlicher Glaube an die Zukunft Irlands. Ja, solange Patrick Walsh eine Pfeife rauchen konnte, würde das öfters hervorgeholt und abgestaubt werden, um wieder für ein paar Minuten lebendig zu sein. Erst wenn auch Patrick, das heißt: sein Körper, auf dem Friedhof eingescharrt wäre neben seiner Molly, die schon zwanzig Jahre dort unten auf ihn wartete, würde Peadar richtig tot sein. Und es war, als wüßte Patrick von dieser seiner Verantwortung und fühlte, wie hilflos Peadar wäre, wenn er – Pat – ihm nicht etwas zur Hand ging.
Darum nahm es auch niemand wunder, daß Patty, nachdem er seinem alten Freunde die Augen zugedrückt hatte – er selbst ging damals in sein sechsundsiebzigstes Jahr –, am frühen Morgen schon die vier Meilen nach der Bezirksstadt lief, um das Nötige mit dem Bestattungsinstitut zu ordnen und Whisky, Bier und alles das einzukaufen, was man bei solch einem Anlaß braucht. Die paar Leute, die er unterwegs traf, hielt er an und tauschte die üblichen Grüße mit ihnen. «Schöner Morgen!» sagte da der eine. – «Ja, fein!» antwortete der andere. Oder: «Schönes Wetter so früh schon im Jahr!», worauf der andre zurückgab: «Schön, aber frisch!» Nach dieser Einleitung fuhr Patty dann fort: «Peadar Phelan ist heute nacht gestorben!» Das verfehlte seine Wirkung bei keinem. Klang das doch so, als ob jemand des Weges gekommen wäre und gesagt hätte, der Kirchturm unten in der Stadt sei es müde geworden, dazustehen und die Stunden zu schlagen, und sei auf einem der Schiffe, die da am Kai zu seinen Füßen lagen, davongesegelt. – «Hundertundsechs Jahre alt ist er geworden!» fügte Pat hinzu, und jeder, mit dem er sprach, blieb in dem unklaren Gefühl stehen, als dürfe man an einem solchen Tag eigentlich nicht arbeiten.
In der Stadt besorgte Pat alles, was nötig war und es zu einer so heiklen Sache macht, bei schlechten Zeiten zu sterben: er verständigte das Bestattungsinstitut, kaufte die Getränke ein und sprach beim Kolonialwarenhändler und in vier oder fünf anderen Geschäften vor. Darüber wäre er beinah mit der Anzeige für die «Tribüne», das Tageblatt des Ortes, zu spät gekommen. Der bebrillte und rothaarige junge Mann dort machte zwar ein ziemlich bedenkliches Gesicht, aber dann regte sich doch sein Berufsinteresse, als er vernahm, daß Peadar fast hundertundsechs Jahre alt geworden war. Er führte Pat in die Redaktion und hätte beinah vergessen, sich die Anzeige bezahlen zu lassen, rettete aber doch im letzten Augenblick noch das Blatt vor dem Verlust von drei Schillingen. Der Redakteur (mit Brille und Flachsbart) war sehr freundlich und eifrig und versprach sogar eine redaktionelle Notiz in der nächsten Nummer, obwohl ihn kein Mensch darum gebeten hatte. Er ging in seiner Freundlichkeit so weit, daß er Pat fragte, ob er mit dem Verstorbenen verwandt sei. Als es sich zeigte, daß das nicht der Fall war, bedeutete dies das Ende der Audienz, und Pat stülpte seinen Hut, den er die ganze Zeit zwischen den Fingern gedreht hatte, erst auf den Kopf, als er rückwärts zur Tür hinausgegangen war und sie hinter sich zugemacht hatte. Draußen auf dem Treppenabsatz blieb er stehen und dachte nach, und da er nichts vergessen zu haben glaubte, ging er zur Brücke hinunter und erwischte gerade noch den Omnibus nach Dublin.
Der setzte ihn draußen bei Peadar Phelans Hof ab. Und dort zeigte sich's, daß er richtig vermutet hatte: Peadars Tochtersohn, der den Hof übernehmen sollte, war inzwischen eingetroffen, nur war er nicht allein gekommen, sondern hatte ein junges Mädchen mit, das überall herumlief und alles musterte, wie man's vor einer Auktion tut, um nicht am Ende zuviel zu bieten. Als sie sich die Hand gegeben und in feierlichem Ton gesagt hatten, was man in einem solchen Fall zu sagen pflegt, fragte Pat nach einigem Zögern: «Wie wär's mit einem Glas?» Der junge Barney Mac Cleary sah das Mädchen an, und da dieses nichts dagegen zu haben schien, griff er nach dem Glase und trank Pat zu.
Zwei Tage darnach hob man Peadars sterbliche Reste über die Friedhofsmauer und versenkte sie in ein Loch, das sich in nichts von anderen Grablöchern unterschied, woran Pat, der seit undenklichen Zeiten an keiner Beerdigung mehr teilgenommen hatte, im ersten Augenblick Anstoß nahm. Er war der einzige, der auf dem Friedhof weinte, wenn man von fünf, sechs Weibern absehen will, die da heulten, niemand wußte warum. Denn der Bezirk gehörte nicht zu denen, wo sich die alten Bräuche in ihrer ursprünglichen Form erhalten haben.
Vom Friedhof gingen ein paar Leute, darunter Pat, in Jack Murphys Wirtshaus am Kreuzweg draußen vor dem Dorf, andere aber, darunter der junge Barney Mac Cleary, zogen in die Stadt, um eine Stunde in «Onkel Toms Hütte» zu verbringen, einem der wenigen Wirtshäuser mit originellem Namen, die es noch gibt. In der Buttermilchgasse gelegen, wird es von allen Schichten besucht, aber nur von Leuten, die sich in der Stadt auskennen, denn die Buttermilchgasse erfreut sich keiner großen Beachtung, und man stößt nicht von selber darauf.
4
Als Pat eine Woche später nach seiner Gewohnheit auf Peadars Hof hereinsah, saß Maggie Phelan müßig am Herd in der Küche. Maggie war mit einem der beiden verstorbenen Söhne Peadars verheiratet gewesen, war also die Tante des jungen Mac Cleary, der an der Beerdigung teilgenommen hatte. Sie war etwas jünger als Pat, sah aber ebenso alt aus. In der Jugend sitzen einem die Brauen über den Augenhöhlen, bei diesen beiden hatten sie sich über die Augen herabgesenkt. In der Jugend sind die Kinnladen wie von einer Feder zusammengehalten, bei diesen beiden hatte sich der Unterkiefer ein wenig gelockert und die Haut voll Falten und Runzeln gleichsam vom Fleische gelöst. Während Maggie so am Herd saß, starrte sie auf ein Holzscheit, das mit einem Ende in der Glut lag, einer leise atmenden Glut, deren Farbe zwischen einem hellen und einem dunkleren Rot rhythmisch wechselte, indes die Asche unmerklich weiterkroch und die Oberfläche zudeckte.
Pat, der sich bei aller Einfalt auf Menschen verstand, wußte, daß Maggies Seelenleben einer Gefängniszelle glich, die sich nur von außen öffnen läßt. Er wußte, daß ihre Gefühle da drinnen hinter Gitterstäben lauerten und sehnlich danach verlangten, von jemand herausgelassen zu werden. Also mußte er das besorgen. Er fragte ohne besondre Betonung: «Wann soll denn die Hochzeit sein?» Dabei sah er das junge Frauenzimmer vor sich, das mit bei der Beerdigung gewesen war. Er wußte auch, was diese bevorstehende Heirat für Maggie Phelan bedeutete, die gleich nach dem Tode ihres Mannes auf den Hof gekommen war. Er sagte sich: Sie weiß, daß sie vielleicht nicht sofort an die Luft gesetzt wird, wenn der Junge den Hof übernimmt, und daß die junge Frau anfangs vielleicht die besten Absichten haben und sich denken wird: Kitty, die alte Frau hat schließlich auch ein Recht, irgendwo zu bleiben; und wo soll sie denn hin, wenn wir sie bitten, ihre Siebensachen zu packen! Nein, wir wollen sie gut behandeln, dann haben wir auch größeren Nutzen von ihr. So kann das vielleicht einen vollen Monat lang gut gehn, obwohl so etwas selten vorkommt. Hat doch die alte Frau die Erfahrung eines ganzen Lebens; und da Erfahrung nicht dasselbe ist wie Weisheit und Sanftmut, wird es sie ab und zu brennend reizen, diese Erfahrung auch geltend zu machen. An solchen Tagen hängt gleich ein Wetter in der Luft, und es kann leicht einschlagen und zünden, doch enden solche Tage meistens mit der Aussöhnung bei einer Tasse Tee. – Schau, das alles weiß die alte Frau, weil sie alt ist und Geschlecht auf Geschlecht hat heranwachsen und immer wieder in die Fehler der Alten verfallen sehen, genau so wie drei Geschlechter von Gänseblümchen sich gleich bleiben. Sie weiß auch, daß die Stuben, wenn diese Scharmützel sich soundso oft wiederholt haben, leise nach einer stillen Übereinkunft zwischen der jungen Frau und ihrem Manne zu riechen anfangen. Sie fester zu machen, bedienen sich junge Frauen vor allem der Nächte, das macht ihre Stellung oft so unverhältnismäßig stark. Und die Jungen sind sowieso in der Überzahl und neigen zum Zusammenhalt, dazu haben sie sich eine bestimmte Denkweise zu eigen gemacht, der zufolge alte Leute mit den Jahren immer wunderlicher würden. So wird das Bündnis stärker und stärker, bis eines Tages die alte Frau allein draußen steht.
«Wann soll denn die Hochzeit sein?» fragte Pat.
Ohne den Blick von dem schwach glimmenden Feuer zu erheben, antwortete sie: «Noch vorm Herbst, wenn ich ihn richtig verstanden hab'! … Sie brauchen ja auf nichts zu warten … Wir haben mit weniger geheiratet, als wir jung waren.»
Er lachte leise in der Erinnerung an die Zeit und sagte: «Ich weiß noch gut, wie sich Bob, dein Mann, mit den andern aus der Stadt brav auf die Seite der Bauern schlug, damals beim Kampf um den Landbund. Nachher suchte er dann in seiner Verlegenheit nach Arbeit auf den Höfen hier draußen … bei einem Taglohn von einem halben Schilling und – Zutritt zur Pumpe im Hof, wenn er Hunger hatte. Jawohl – er hat mit weniger geheiratet!»
«Damals kriegte man aber auch mehr für sein Geld», bemerkte sie. «Da kostete ein Krug Bier noch keine acht Pence.»
«Und ein Fingerhut voll Whisky keine anderthalb Schilling!» ergänzte er. Und beide lachten.
«Von der Beerdigung ist sicher noch ein Glas übrig!» murmelte sie, und das stimmte. Sie tranken jeder ein Glas und saßen dann noch eine Weile beisammen, bevor sie sich trennten. Mit hastigen Schritten und etwas vornübergebeugt ging er heim. Draußen, ein paar Meilen entfernt, schimmerte der Atlantik, und ein Leuchtturm fegte den dunkeln Raum für die nahende Frühjahrsdämmerung.
«Kalt, keusch und sehr einsam lag das unendliche Meer.»

Zweites Kapitel

1

Kann jemand leugnen, daß Wälder eine Seele haben? Und Flüsse? Flüsse vor allem! Frag einen Dubliner, ob der Liffey ein mechanischer Wasserlauf sei, oder einen Corker, ob er den Lee habe singen hören, oder einen Waterforder, was der Suir auf seinem Wege murmle, oder die Leute im Südwesten, ob der Shannon bloß ein gutes Fischwasser sei, das auch Elektrizität erzeugt. Sie wissen es besser und werden vermutlich auf solch törichte Fragen überhaupt keine Antwort geben. Der Fluß, der die Schiffe in die Stadt hinaufführt, wo Kitty und Barney Mac Cleary sich fanden, ist einer der mächtigsten und sein Lebensweg einer der seltsamsten. Mit einem Satz springt er aus einem Berghang tief im Innern des Landes hervor, um kurz darauf mit sich selbst in Streit darüber zu geraten, wohin er soll. Deshalb teilt er sich in drei Bäche, die sich in drei verschiedenen Betten zwischen den Bergen hindurchschlängeln. Auf ihrem meilenlangen Wege nimmt jeder von ihnen eine Menge kleinerer Zuflüsse auf, bis an dem Punkt, von dem aus man das Meer wie einen perlmutternen Streifen schimmern sieht, zwei von ihnen übereinkommen, das letzte Stück zusammen zu laufen. So brausen sie denn zum mächtigen Flusse vereint durch das Tal, das von alters her Jammertal heißt, vorbei an größeren und kleineren Städten mit Kirchen und Wirtshäusern, um endlich mit unwiderstehlicher Gewalt an der großen Stadt vorüberzuströmen, in der die beiden jungen Leute wohnten, worauf ein paar Meilen weiter unterhalb, bei einem Fischerdorf, das schlechtweg Überfahrn heißt, das Verwunderliche geschieht, daß sie auf ihren Schwesterbach stoßen, den dritten der drei Bergbäche. Der ist inzwischen auch zum gereiften Fluß erwachsen, voll von Schlamm und Lachsen, und nun wälzen sie alle sich in übermütiger Dreieinigkeit ins Meer hinaus, das zu Zeiten bei Landwind den Fluß zurückzudrängen versucht, dabei aber im Höchstfall erreicht, daß das Wasser auf dem Hafenplatz in der Stadt ein paar Fuß hoch steht. Doch geschieht das nur in den seltenen Wintern, wo die Berge allzu freigebig mit Regen sind. Draußen an der Mündung aber ist der Fluß so breit, daß man nur bei ganz klarer Luft zur Not das gegenüberliegende Ufer sieht. Doch hat das nicht viel zu sagen, da jene Seite zu einem andern Bezirk gehört, mit dem man außer ein paar Sportwettkämpfen kaum etwas Gemeinsames hat.
Niemand verläßt die Stadt, dem nicht das Bild des Flusses im Gedächtnis bliebe mit den Schiffen, die dort ihre Ladung löschen, und den bedächtig trottenden, sich im Wasser spiegelnden Rindern auf ihrem letzten Spaziergang vor dem Antritt der Reise über den Kanal in die englischen Schlachthäuser. Das letzte, was man in dieser Welt von ihnen sieht, sind dann ihre mächtigen roten, appetitlich zugerichteten Leiber, wie sie in dem oder jenem Metzgerladen von Kensington oder Soho hängen. Hier in der Stadt sagen sie Irland ihr letztes Lebewohl, während sie unter dem wegweisenden Zuruf der Treiber und dem Kläffen der Hunde in Herden den Kai entlang getrieben werden, vorüber an Bootswerften und Strohstapeln, an Hunderten von zusammengekarrten Fässern mit Dubliner Porter und am Glockenturm. An manchen Tagen ist es fast unmöglich, sich einen Weg durch die Rinder- und Schafherden zu bahnen, durch die Tausende von rot, grün oder blau gezeichneten Schafen, deren Eifer, wild auseinanderzulaufen, ebenso groß ist wie ihr Trieb, in der Masse unterzutauchen. Bemerkenswert ist die Gelassenheit und Geduld, mit der die Irländer den Tieren Platz machen oder einen Omnibus behutsam durch diese bewegte See von steigenden und fallenden zottigen Fellwogen steuern. Dies geschieht nicht aus einem Gefühl von Resignation oder in der Erkenntnis des Unabänderlichen, sondern weil man unbeholfenen Mitgeschöpfen aus dem Weg gehen muß, wie man Kindern ausweicht. Gleich dem Fluß bleiben diese Viehtriebe jedem im Gedächtnis, der die Stadt einmal besucht hat.
Will man aber das beste Bild von der engen Verbundenheit zwischen Stadt und Strom bekommen, so muß man flußaufwärts dorthin gehen, wo Peadar Phelan bis an sein Ende lebte und drei Menschenalter lang seiner Arbeit nachging. Wenn man dort am Südgiebel unter dem Strohdach steht, kann man das glänzende Band meilenweit gen Osten verfolgen, wie es hinter den Klippen rings um den großen Steinbruch verschwindet, der aus unbekannten Gründen «die Teufelsschmiede» heißt. Wo der Fluß dann wieder zum Vorschein kommt, hat er an Macht und Größe gewonnen und trägt Schiffe auf seinem Rücken. Und kurz darauf strömt er in die Stadt hinein, die Stadt, deren Wachsen er miterlebt hat seit der Zeit, als hier dänische Schiffe vor Anker gingen und Wikinger in aller Hast die erste behelfsmäßige Festung anlegten. Da droben von Peadar Phelans Hof sieht man so recht, wie liebevoll sich die Stadt in den Arm des Flusses geschmiegt hat, der hier eine Biegung macht, um dann wieder sehr gerade bis zum Fischerdorf Überfahrn weiterzulaufen. Ist er daran vorüber, so merkt man an den schäumenden Strudeln, daß er nun von Norden her den anderen Fluß aufgenommen hat. So weiten sich endlich in nebliger Ferne all diese Wasser zu einem breiten Fjord aus und vereinigen sich mit dem Meer.
2
Kitty stammte nicht aus diesem Bezirk. Sie war aus dem Westen herübergekommen, wo die alten Leute nur irisch sprechen und das Englische verachten. Wie viele echte Irländerinnen hatte sie schwarzes Haar und blaue Augen. Sie war schlank von Gestalt, ihre Hände waren klein und ihre Brüste zart, doch klar abgesetzt, ihr Mund hatte jenen Zug erwachender Reife, bei dessen Anblick junge Männer die Luft durch die Nase ziehen, wie junge Hengste es tun. Ihre Bewegungen waren von der linkischen Anmut eines jungen Tiers – der Himmel mag wissen, was für eines Tiers. Ihre Rede war nur anscheinend wie die andrer junger Mädchen ihres Alters, im Grunde war sie ganz anders: sie hatte Goldglanz an sich und Feuer in sich, eine schwelende Glut.
Barney Mac Cleary aber stammte nicht nur von hier, sondern hatte auch sein ganzes Leben in dieser Umgebung verbracht, mit Ausnahme eines kurzen Zeitraumes während der Schwarzbraunen-Zeit Schwarzbraune ( Black and Tans): eine von Lord French in Irland aus ehemaligen englischen Kriegsoffizieren gebildete, bei den Irländern verhaßte Polizeitruppe. Anm. d. Ü.. Da war er mit anderen jungen Leuten auf der Walze gewesen. «Auf der Walze sein» hieß bündig gesagt: nicht daheim schlafen, entweder weil das gefährlich gewesen wäre, oder weil es romantischer schien, anderswo zu übernachten. In den Adern von Menschen, die nicht durch Musikkorps, Fahnen und Fackelzüge vor die Tür gelockt werden, fließt sicher kein keltisches Blut. Wer keine Freude an doppelsohligen Stiefeln, an derben Ledergürteln, an Türen hat, die nur auf das Stichwort von Männern mit zusammengebissenen Zähnen und rollenden Augen aufgetan werden, wer nicht Lebenslagen, die es für ihn ratsam machen, sich durch finstere Seitengassen zu schleichen, höher schätzt als die Möglichkeit, vor aller Augen höchst prosaisch über den Marktplatz zu spazieren, der ist kein richtiger Irländer.
Nun, was das anbelangt, ging Barneys Paß schon in Ordnung. Aber nachdem er die zumindest nötige Anzahl Bomben geworfen und ein paar Edinburger Jungen kaltgemacht hatte, war seine gesunde Vernunft nach einigem Widerstreben gefühlsmäßig dahin gelangt, die bunten Schimmel seiner Phantasie vom Streitwagen abzuspannen und sie für bürgerliche Zwecke in Gebrauch zu nehmen. Nach reiflicher Überlegung hatte er es so weit gebracht, daß er Mal auf Mal mit Nachdruck zu wiederholen vermochte, was er Kitty bei einer der ersten Gelegenheiten gesagt hatte, wo sie richtig miteinander sprachen: «Wenn wir de Valera jetzt nicht mehr folgen können, liegt das nicht daran, daß wir ihn weniger, sondern daran, daß wir unser Vaterland mehr lieben.» Kitty war damals mit dem hundertfünfzigprozentigen irisch-irischen blutdürstigen Amazonen-Korps in Verbindung getreten, das unter dem Namen Cumann na mBan bekannt ist. Sie schüttelte den Kopf und erwiderte auf gälisch: «Soll ich dir sagen, warum du in der Mehrzahl sprichst? Weil das bequemer ist! Zählst du dich da überhaupt mit? Es ist vergleichsweise leicht, zu sagen: Wir Menschen sind geborene Lügner. Viel schwerer ist es, zu sagen: Ich bin ein verdammtes Lügenmaul, das jeden Tag sein halbes Hundert nackte oder mehr oder weniger drapierte Lügen von sich gibt. Wahrhaftig, Mary Mac Swiney hatte recht, als sie hier in der Versammlung erklärte, wir könnten schon seit Jahren eine richtige Republik haben, wenn wir nicht so an unseren heimischen Fleischtöpfen hingen … das heißt, ihr hängt dran … du hängst dran!» Das übersetzte sie dann noch, um ihn zu verhöhnen, ins Englische und empfahl sich.
Er hatte ihr antworten wollen: «Ich sage: wir, weil unser viele sind.» Aber er war nicht schlagfertig und von Natur schweigsam. Er war der geborene Zauderer und wirkte in der Gesellschaft junger Leute leicht als Außenseiter, weil er wußte, daß er das, was die andern sagten, zehnmal besser hätte sagen können, wenn man ihm nur Zeit dazu gelassen hätte. Er kannte seine Langsamkeit, wußte aber auch den Grund dafür: er schickte keinen Satz in die Welt, bevor der richtig laufen konnte. Solche Leute bringen es nicht zu gesellschaftlichen Erfolgen, denn die Gesellschaft verlangt flinkere Burschen, frischere Burschen, mundfertigere Burschen. Ob sie klug sind, ist weniger wichtig, denn niemand macht sich die Mühe, das nachträglich festzustellen.
Solche kleinen Plänkeleien, wie hier Kitty und Barney, führen junge Leute in einem Lande, wo hinter dem betäubenden Lärm des Tages und dem einförmigen Sang der Arbeit unablässig das nervenerregende Summen eines großen ungelösten Problems hörbar bleibt. Im übrigen waren ihre Zusammenkünfte rein kameradschaftlich, und zuzeiten «gingen sie miteinander». Sie hatten sich zum erstenmal im Jahr zuvor kurz nach Neujahr getroffen, als Barney von seinen Streifereien für eine Weile nach Hause gekommen war. Um einiges zu besorgen, hatte er mit dem alten Patty zusammen die Stadt aufgesucht, und während er sich mit einem Kameraden unterhielt, sah sich Pat Daniel Holdens Manufakturwarenauslage an. Für ihn waren die Schaufenster, vor allem die der großen Warenhäuser, eine Art Kinoersatz. Ganz begeistert rief er Barney heran und sagte: «Schau, sind diese Wachsdamen nicht fabelhaft gemacht!» Namentlich die eine war einfach ein Meisterwerk: schwarzes Haar, eine Haut, die fast zu natürlich war, und Augen, die zwei schwarzen, schattigen Höhlen glichen … bis sie plötzlich aufgingen und Pat vergißmeinnichtblau ansahen. Hätte Unsere Liebe Frau draußen vor dem Dom Pat unversehens gefragt, wie sein wertes Befinden sei, dann wäre seine Bestürzung auch nicht größer gewesen. Nun lachte die Dame sie beide an – zuerst Pat und dann, etwas zurückhaltender, Barney. Es war aber Kitty, und sie machte sich öfters das kleine Vergnügen, sich ins Schaufenster zu schmuggeln und mäuschenstill zu stehen, bis sie jemand verblüffen konnte.
Zum zweitenmal hatte Barney sie am 31. Januar bei der Netzweihe draußen im Fischerdorf Überfahrn gesehen. Mit seinem Kameraden Roddie Carroll zusammen fischte er gelegentlich da draußen an der Flußmündung, und er hatte seine geplante Abreise verschoben, um der Netzweihe beizuwohnen. Der Bootshafen von Überfahrn besteht aus zwei zementierten, durch eine kurze Mole getrennten Becken. Bei Ebbe liegen die Boote oft auf dem Trockenen, bei hohem Wasserstand aber strömt die Flut mit Gewalt hinein und füllt die Kammern bis zum Überlaufen. Wer also aufs Wasser will, muß darauf acht geben, zur rechten Zeit hinaus- und hereinzukommen, weil es sonst leicht zu spät ist und er dann sein Boot draußen vor dem Bollwerk vertäuen muß, wo es keineswegs sicher liegt.
Die Häuser des Fischerdorfes erfüllen einen Kessel zu Füßen eines steilen Granitbuckels von ein paar hundert Fuß Höhe, und ganz oben auf dem Buckel liegt die Kirche. Nachdem sie dort die Messe gehört hatten, gingen die Leute, unter ihnen auch Barney, den Zickzackweg zum Hafen hinunter, und während der Bischof inmitten einer Priesterschar draußen am Molenkopf die bevorstehende Fangzeit einsegnete, knieten die Fischer entblößten Hauptes in ihren Booten, die in langer Reihe am Kai nebeneinander lagen. Nach Abbetung des Rosenkranzes hob Barney die Augen auf, und das erste, was er erblickte, war ein schwarzhaariges Mädchen mit Augen wie zwei dunkle Höhlen. Er gab Roddie einen Schubs und flüsterte: «Wer ist denn das Mädel da in der roten Kluft?»
«Was für'n Mädel?» fragte Roddie und sah auf.
«Die Schwarze da, die grade aufsteht!» sagte Barney ungeduldig.
«Ach die? Das ist Kitty.»
«Was für 'ne Kitty?»
«Kitty von Coleraine selbstverständlich. Cumann na mBan in Weißglut. Nach ihrem Rezept kocht man Irish Stew aus Dynamit und dem Blut von Schwarzbraunen.»
«Kennst du sie?»
«Nur mit der Ruhe! Ich stell dich ihr vor. Übrigens kannst du sie jeden Mittwoch abend bei Jimmy Malone treffen, dem kleinen Photographen.»
«Ist das sicher?»
«So sicher, wie der Esel graue Haare hat.»
Sie waren aufgestanden und aus dem Boot gesprungen. Nachdem jeder ein paar Bekannte begrüßt hatte, trafen sie wieder an der Schenke eines der drei Wirtshäuser des Ortes zusammen, die an diesem besonderen Tage jedem billigen Anspruch Genüge tun konnten.
Barney fing wieder vom Gleichen an: «Wie ist sie denn sonst … abgesehen von der Politik?»
«Der Bruder ist Jesuit und eine Schwester in einem belgischen Kloster, und sie selber ist eins von den Mädeln, bei denen es ohne Pfarrerssegen nix gibt. Aber sowas weiß man ja nie ganz sicher, ehe man mal angeklopft hat.»
«Ach, halt den Mund!» sagte Barney fast zornig, und dann gingen sie wieder zum Hafen hinunter, um vor Abend noch das Netz unter Dach zu bringen.
Sie trafen Kitty und ein anderes Mädchen vor dem Altar mit dem übermannshohen Kruzifix westlich von den Geräteschuppen, und Barney bat Roddie unverweilt, ihn vorzustellen.
Sie hatte einen festen Blick und einen herzhaften Händedruck und sagte mit offenem Lächeln: «Wer war denn der alte Mann, mit dem Sie – es ist ein paar Wochen her – draußen vor unserem Schaufenster standen?»
Barney gab ihr Bescheid, und sie erklärte mit Nachdruck: «Er hat ein verteufelt gutes Geschau!»
«Himmel, da sollten Sie erst meinen Großvater sehen!» entgegnete Barney. «Er wird nächstens hundertundfünf Jahre und fährt noch immer mit Nelly allein in die Stadt.»
«Nelly ist wohl ein Esel?» sagte Kitty.
«Richtig geraten!» antwortete Barney. «Er wird im Sommer neunundzwanzig und steckt voller Narrenstreiche! Sie sollten kommen und sich unsere ganze Menagerie anschauen.»
«Gern. Aber dann müssen Sie auch kommen und unsere Menagerie anschauen. Aber die Begeisterung für Ladenbesuche wird bei Ihnen auch nicht größer sein als bei andern Mannsleuten.»
«Im allgemeinen nicht … besonders nicht für große Geschäfte. Da hat man so ein Gefühl, als ob einem der Körper zusammenschrumpft und die Arme und Beine ins Unendliche wachsen, bis man nicht mehr weiß, wo man sie lassen soll.»
«Aber die Auswahl ist größer als in den kleinen», bemerkte sie.
«Was kann das nützen, wenn man nicht mehr als den zehnten Teil sieht! Das ist grade wie bei den ganz großen Bibliotheken. Die machen mir keinen Eindruck – das heißt, in gewisser Weise schon. Ich krieg da nämlich ein Gefühl, als ob sich mir die ganze Sammlung auf die Brust legte und mich platt drückte, oder als ob sie zu einer Riesensäule wüchse, und ich sitze oben, so hoch, daß ich die Erde und die Menschen unter mir nicht mehr sehen kann.»
«Mein Gott, Sie sind doch nicht am Ende Dichter!» fuhr es ihr heraus. Das klang so erschrocken und komisch, daß beide lachen mußten.
«Im Augenblick bin ich mehr Fischer.»
«Ein guter?» fragte sie.
«Aufrichtig gesagt: nein! Sowas ist angeboren, sonst ist's ein Hundeleben. Ich schlängle mich so durch … das ist alles.»
Etwas unvermittelt machte sie ihn darauf aufmerksam, daß an dem aus seiner Tasche guckenden Zipfel des Taschentuches ein Wäschereizeichen eingenäht war. Gleich darauf fiel es den Mädchen ein, daß sie zum Tee heim mußten. Auf der andern Seite des Stromes hatte es geregnet, und ein Regenbogen spannte sein farbiges Band über den Himmel. Als die jungen Männer auf eins der Wirtshäuser zuschritten, um noch rasch vor der Abfahrt ihres Omnibusses in die Stadt ein Glas Porter zu trinken, war die Sonne schon untergegangen und der Himmel im Westen ein Flammenmeer.
3
Am nächsten Tag ging Barney wieder auf die Walze, und das keine Stunde zu früh. Denn um die Mittagzeit erschienen vier Mann von den Hilfstruppen, dem englischen Gentlemankorps, oben bei ihm, um ihm einen schönen Gruß auszurichten und ihn zu einer kleinen gesellschaftlichen Unterhaltung ins Hauptquartier mitzunehmen. Sie glaubten natürlich nicht, daß er fort war, da man ihn tags zuvor noch so spät in Überfahrn gesehen hatte. Also durchsuchten sie den Hof aufs genaueste, schnitten die Matratzen auf und wühlten darin nach Revolvern und Munition. Im übrigen waren sie höflich, spaßten mit dem alten Mann und versprachen wiederzukommen, ein Versprechen, das sie eine Woche lang jeden Tag gewissenhaft einhielten. Barney erfuhr das natürlich durch die I.R.A., die irische Revolutionsarmee, und sah infolge dieser ganzen Geschichten Kitty erst im Juni wieder. Sie hatte auf Umwegen erfahren, wo er sich aufhielt, und ihm einen kameradschaftlichen Gruß geschickt. Das machte ihm Mut, und er bat sie, doch auf dem Hof vorzusprechen, da er jetzt endlich auf Besuch heimkommen würde. Sie erschien auch gleich an einem der nächsten Abende nach Geschäftsschluß und fand sich gut in Peadar Phelans oder, richtiger gesagt, Maggies Stuben zurecht; denn Stuben sind schließlich mehr Sache der Frauen und mehr ein Bild ihrer Arbeit als der des Mannes.
Es war sauber in ihrer Stube – sauber bis in den letzten Winkel. Der steinerne Fußboden, der Kamin mit dem Kesselschwinger, die Blumentöpfe unter der Decke, das Spinnrad – alle waren Zeugen dafür, die gedämpft und ein wenig kühl von täglicher Ordnung und Pünktlichkeit sprachen. Obwohl nie müßig, war Maggie doch nie besonders geschäftig. Sie gehörte zu den Leuten, die viel vor sich bringen, weil sie jedes Ding zur rechten Zeit tun, und nie schlampig arbeiten, weil sie nie etwas auf später verschieben. Ihre Schürze war weiß, wenn die grobe Arbeit in der Frühe hinter ihr lag, und ihr Haar war weiß, auch ihr Gesicht war weiß, obwohl sich niemand erinnern konnte, daß sie je irgendwie krank gewesen wäre.
Auf Kitty wirkte es wunderbar beruhigend, Maggies magere und feste Hände zu beobachten, wie sie die Stricknadeln führten, ohne jede Hast und mit der Regelmäßigkeit einer guten Maschine. Bisweilen unterbrach sie die Arbeit für einen Augenblick, um sich mit einer Stricknadel am Kopf zu kratzen oder mit dem Handrücken unter der Nase durchzufahren – Bewegungen ohne besonderen Zweck oder vielmehr mit dem unbewußten Zweck, zu zeigen, daß sie keine Maschine war. Ihr Wesen war Freundlichkeit, aber eine verhaltene Freundlichkeit, die sie niemals zu übertriebenen Gefühlsäußerungen verleitete. Etwas Humor hatte sie auch. Als Vater Parker sie eines Tages bekümmert fragte, ob sie den Eindruck hätte, daß die arme Familie da droben, fünfhundert Schritt weiter die Straße hinauf, jetzt darauf bedacht wäre, den Fasttag einzuhalten, antwortete sie freundlich und ohne jeden Spott: «Am Freitag zu fasten, kann für die Leute keine Kunst sein, aber an einem Feiertag mal ein Stückchen Speck zu ergattern, das wäre für sie eine Kunst, um nicht zu sagen ein Mirakel!»
Kitty hatte Maggie allein daheim getroffen, und die alte Frau hatte sie mit einem kurzen Abriß ihrer Erfahrungen auf dem Gebiete der Hühnerzucht unterhalten, und Kitty, die auch etwas von der Sache verstand, war mit Maggie durchaus darin einig, daß man den Hühnern die Eier direkt unterm Steiß wegschnappen muß, wenn sie die Bezeichnung «erstklassig» verdienen sollen. Auch sprachen sie von den Enttäuschungen, die man dabei in andrer Hinsicht erleben kann, denn nur wenige sind sich klar darüber, was für eine große Rolle Dinge wie Gesundheit, gute Laune, Futter und ähnliches bei den Tieren spielen. Da gab es Leute in Kittys Heimat, die fütterten die Hühner mit Fischen … rohen Fischen! Maggie bekreuzigte sich entsetzt und bemerkte, daß man wirklich sonderbare Sachen erleben könnte, und das veranlaßte Kitty, eine Geschichte von einem Jungen aus ihrer Gegend zu erzählen, der einen Bauernhof angezündet hatte, um tags darauf in der Glut Kartoffeln braten zu können.
«Das kommt von der Pfadfinderei, da kriegen sie alle den Koller!» sagte Maggie und fegte mit einer einzigen Handbewegung Baden-Powell und sein Werk zur Tür hinaus, fort aus jeder ehrbaren und anständigen Gesellschaft.
Inzwischen war Peadar Phelan hereingekommen. Der alte Mann war noch in seinen unglaublich hohen Jahren so schmuck, daß man sich wohl vorstellen konnte, welche Qualen er vor achtzig Jahren allen irischen Mädchen bereitet haben mochte, die das Pech gehabt hatten, ihm in den Weg zu laufen. Mit viel Humor erzählte er, wie man ihn behandelt hatte, als er das erstemal nach London kam. Als er nämlich dort einen Droschkenkutscher nach einem bekannten Gasthof in der Nähe des Eustonbahnhofs fragte, versprach ihm der Rosselenker, ihn sicher hinzubringen, und Peadar stieg ein. Als Peadar drei Viertelstunden gefahren und dabei von Minute zu Minute zappliger geworden war, hielten sie endlich vor einem hübschen kleinen Gasthof, und Peadar bezahlte. Drinnen fragte ihn der Portier, wo er herkäme, und als er hörte, daß Peadar vom Eustonbahnhof kam – was er übrigens seiner Sprache nach ohnehin nicht bezweifelt hatte – führte er ihn ans Fenster, zeigte auf ein häßliches Gebäude gerade gegenüber und fragte: «Siehst du das Haus da?» Und da Peadar an den Augen nicht das geringste fehlte, erklärte der Portier kopfschüttelnd: «Das ist der Eustonbahnhof … Ihr werdet auch nie gescheiter!» Der Alte lachte selbst laut über diese Geschichte und war den Engländern nicht im geringsten gram, eher klang etwas wie Bewunderung in seiner Stimme mit. Durch Kittys Beifall ermuntert, erzählte er noch einige von seinen seltsamen Erlebnissen in der großen Stadt, so die Sache mit dem Mann, den er gefragt hatte, ob er ihm nicht sagen könnte, wo die Westminster-Abtei sei, und der ihm mit geheuchelter Gekränktheit erwidert hatte: «Sie dürfen ruhig meine Taschen durchsuchen, Herr Nachbar!» Kitty wußte wohl, daß dieser Scherz viel älter war als die Westminster-Abtei, aber sie lachte doch, denn es war ihr wirklich ein Vergnügen, wie sich Peadar selbst freute.
Als endlich Barney von einem Besuch in der Nachbarschaft heimkam, entdeckte Kitty, daß sie ihn fast gar nicht vermißt hatte. Kaum daß sie ihn kannte, gefiel ihr der alte Mann schon so gut, daß sie ebenso gern bei ihm in der Stube geblieben wäre, statt mit Barney, der sie darum bat, zum Wasserholen aufs Feld hinauszugehen. Die Quelle lag ein paar Minuten vom Hause entfernt, nach dem Grundsatz: «Wenn Gott das Wasser dort hat entspringen lassen, ist es nicht unsere Sache, daran was zu ändern», weswegen denn auch die Leute in Irland ganz zwecklos jährlich Hunderte von Meilen hin- und herlaufen. Barney verhielt sich schweigsam, bis er die Kessel und einen Eimer gefüllt hatte. Dann bat er das Mädchen, das kleinste Gefäß zu nehmen, und fügte leise hinzu: «Wissen Sie schon, daß sie gestern gehenkt worden sind?»
«Das war ja zu erwarten», entgegnete sie halblaut.
«Sie starben wie Irländer!» fuhr Barney fort. «Sie versprachen, drüben, wo sie jetzt sind, für Irland zu beten.»
Er setzte die Gefäße nieder und wühlte in seinen Taschen: «Ich hab hier die Proklamation, die sie uns als letzte Botschaft schickten: … Kämpft weiter! … Laßt nicht nach im Kampf für Ruhm, Ehre und Freiheit unseres teuern alten Irlands!» Er las ihr die ganze Botschaft vor. Die hingerichteten Aufrührer waren Maher und Foley, die am Tag zuvor früh um sieben Uhr ihr Leben hatten lassen müssen.
«Das ist sonderbar», sagte Kitty nach einer Pause, «ich hatte nach dem, was ich über Sie hörte, den Eindruck, Sie wären für die republikanische Arbeit nicht recht geeignet, aber wenn ich Sie so anseh, scheinen Sie mir doch aus dem richtigen Stoff zu sein. Lassen Sie uns jetzt, wo es drauf ankommt, nicht sitzen! In kurzer Zeit ist die Sache vorbei. Wir werden die Henker bald über den Kanal heimgeschickt haben.»
Er entgegnete kurz: «Ich pflege niemand sitzenzulassen, aber … aber … aber es ist eine höllische Schweinerei!»
«Was ist eine höllische Schweinerei?» fragte Kitty überrascht.
«Dies Mörderhandwerk! Stellen Sie sich doch bloß einmal vor: zu liegen und zu warten, Minute um Minute, Stunde um Stunde, an der Stelle, wo wir wissen, daß sie früher oder später vorbeikommen müssen. Wir haben Befehl, zu schießen, sobald sie in der Falle stecken. Endlich kommen sie; und wie sehen sie aus, diese bluttriefenden Banditen? Ich werde Ihnen sagen, wie sie zum Beispiel bei mir aussehen: da um die Ecke vom Armenhaus, wo wir im Hinterhalt liegen – Hinterhalt, immerfort Hinterhalt! – kommen die ersten Reihen und singen: ‹ Daisy, Daisy …›» Er hielt einen Augenblick inne, bevor er fortfuhr: «‹ I am half crazy all for the love of you …› Sie kennen das ja … Aber es sind die reinsten Jungen, Spielkinder, die sich ihre Blechtöpfe am Riemen vor die Brust gehängt haben, weil man sie bei der Hitze nicht auf dem Kopf haben kann … warm war's an dem Tag wie in einem Hosensack … und nun kommen sie immer näher … ich glaube, dieser Gesang wird mich dreißig Jahre verfolgen. So … und jetzt sind sie da. Jetzt sollen wir schießen. Und ich, ich soll das Zeichen geben. Aber ich kann nicht. Schließlich fängt es aus dem Armenhaus zu knattern an, wo der Haupttrupp unserer Leute liegt. Die Jungen fahren zusammen, ein paar machen ihre Schießeisen fertig und ballern los. Sie sehen sich instinktiv nach einer Deckung um, obgleich sie ebenso instinktiv wissen, daß es keine gibt. Nein, ausgeschlossen! Rechts und links vom Weg sind hohe Mauern, und im Schutz der Bäume hinter diesen Mauern sitzen wir verhältnismäßig sicher und feuern. Ein paar von den Jungen schreien auf, die meisten aber singen … Sie wissen … Daisy, Daisy … Das ist's aber, was nicht in meinen Schädel hinein will, daß ich vielleicht für solche Taten von späteren Zeiten als Held gefeiert werde.»
Kitty lächelte finster: «Wer sagt denn, daß spätere Zeiten Sie als Helden feiern werden?»
Verletzt und unsicher sah er sie an: «Ich versteh nicht …»
Er hatte goldene Härchen auf den Händen. In der purpurroten Junidämmerung glichen ihre Augen mehr denn je zwei dunkeln samtenen Höhlen. Sie musterte seine Hände, und er forschte in ihrem Gesicht.