Verschwörung im Zeughaus - Petra Schier - E-Book
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Verschwörung im Zeughaus E-Book

Petra Schier

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Beschreibung

Ein spannender Kriminalroman, eingebettet in das farbenprächtige Gemälde des mittelalterlichen Köln. Im frühen Dämmerlicht, als die Stadt zum Leben erwacht, nähert sich verstohlen eine Gestalt dem Haus von Apothekerin Adelina: ihr Bruder Tilmann – schwer verwundet. Der Hauptmann der Kölner Stadtgarde kann nur noch ein paar Worte stammeln, bevor er zusammenbricht. Die zweite Begegnung an diesem Morgen ist nicht weniger verstörend für Adelina: Ihr Bruder wird wegen Mordes gesucht. Von einer Verschwörung ist die Rede, im Zeughaus wurde eine Leiche gefunden, neben ihr Tilmanns Dolch. Was ist geschehen? Während Tilmann mit dem Tode ringt, kämpft Adelina ihren eigenen Kampf: Soll sie den ungeliebten Bruder verraten, um ihre Familie zu schützen? «Ein Genuss, den Abend in Petra Schiers historischer Romanwelt zu verbringen!» (Buechertitel.de)

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Seitenzahl: 528

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Petra Schier

Verschwörung im Zeughaus

Historischer Roman

Rowohlt E-Book

Inhaltsübersicht

PROLOG1. KAPITEL2. KAPITEL3. KAPITEL4. KAPITEL5. KAPITEL6. KAPITEL7. KAPITEL8. KAPITEL9. KAPITEL10. KAPITEL11. KAPITEL12. KAPITEL13. KAPITEL14. KAPITEL15. KAPITEL16. KAPITEL17. KAPITEL18. KAPITEL19. KAPITEL20. KAPITEL21. KAPITEL22. KAPITEL23. KAPITEL24. KAPITEL25. KAPITEL26. KAPITEL27. KAPITEL28. KAPITEL29. KAPITEL30. KAPITELNACHWORT DER AUTORINPERSONEN IN DIESER GESCHICHTE
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PROLOG

Die Nacht hatte sich bereits über die Dächer und Kirchtürme von Köln gesenkt, als der Hauptmann das Zeughaus betrat. Er hängte den Kienspan, den er mit sich trug, in eine der Wandhalterungen, dann rieb er die Hände aneinander, die beim Ritt durch die kalte Herbstluft gefühllos geworden waren. In der kleinen Eingangshalle stapelten sich Holzkisten; vermutlich enthielten sie die neuen Bolzen für die Armbrüste und Büchsen, die Johann van Spele, der Büchsenmeister, diese Woche zu liefern versprochen hatte.

Kurz hob er einen der Kistendeckel an und nickte sinnierend. Noch schien die Lieferung vollständig zu sein. Am besten zählte er gleich heute noch die Anzahl der Bolzen und Büchsen und hielt sie schriftlich fest. Es erschien ihm als eine Schande, dass dies überhaupt notwendig geworden war. Jemand betrog die Stadt Köln, und das konnte man nicht auf sich beruhen lassen. Die gesammelten Beweise wogen schwer, und solange sie nicht vor die Schöffen gebracht worden waren, konnte er niemandem trauen. Niemandem – bis auf einem Mann, einem Freund und langjährigen Waffengefährten. Gemeinsam waren sie den Vorgängen hier im Zeughaus und der Verschwörung gegen die Stadt auf die Spur gekommen. Gemeinsam würden sie auch dagegen vorgehen, deshalb wollten sie sich heute hier treffen.

Entschlossen, die Wartezeit nicht ungenutzt verstreichen zu lassen, legte er die lederne Umhängetasche, die er über der Schulter trug, auf einer der Kisten ab und ging in den Nebenraum, um sich Wachstafel und Griffel zu holen. Sobald die gelieferten Waffen gezählt waren, würde er einen Schreiber alles auf Papier übertragen lassen.

Als er in die Eingangshalle zurückkehrte, spürte er einen Luftzug. Die Tür stand einen Spalt weit offen. Überrascht blickte er sich um. War sein Freund hereingekommen, ohne dass er ihn gehört hatte? Das wäre allerdings peinlich, bildete er sich doch so viel auf sein gutes Gehör und seine flinken Sinne ein.

Ein Rascheln hinter ihm ließ ihn herumfahren und dann erheitert auflachen. «Liebe Güte, hast du mich erschreckt! Ich werde anscheinend alt, wenn du dich jetzt schon so leicht an mich heranschleichen kannst.»

«Möglich», antwortete sein Gegenüber grinsend und trat näher. «Fest steht allerdings, dass du nicht noch älter werden wirst.»

«Wie bitte?» Verblüfft hob er die Brauen. «Soll das ein Scherz sein?»

«Keineswegs.»

Im Schein des Kienspans blitzte eine Dolchklinge auf. Ehe er sich’s versah, stand der dunkelhaarige Hüne dicht vor ihm.

«Was soll das?», brachte er gerade noch hervor. «Bist du verrückt gew…» Keuchend brach er ab, als sich die lange Klinge mit einem schnellen Stoß tief in seinen Körper bohrte und dabei seine Eingeweide tödlich verletzte.

Seine Augen wurden groß, unsäglicher Schmerz durchfuhr ihn. Verständnislos starrte er seinem Gegenüber ins gleichgültige Gesicht. Er versuchte, etwas zu sagen, röchelte jedoch nur noch und taumelte rückwärts. Sein Mörder zog den Dolch mit einem Ruck aus seinem Leib und stach gleich darauf noch einmal zu.

Blut schoss durch seine Kehle in den Mund. Er rang verzweifelt nach Atem, wehrte sich gegen das Unvermeidliche. Doch das Leben floss bereits aus ihm heraus. Er ging in die Knie, dann schwanden ihm die Sinne, und er kippte vornüber. Das Letzte, was er vernahm, war ein abfälliges Schnauben und die Worte: «Das ging ja leichter als gedacht.»

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1. KAPITEL

Was ist das denn? Pfui, wie eklig!» Kopfschüttelnd stand Adelina vor dem Verkaufstresen in ihrer Apotheke und blickte auf die tote Maus, die in einer der Schalen ihrer Waage lag. «Colin?», rief sie streng. «Wo steckst du? Ist das dein Werk?» Sie stemmte die Hände in die Seiten und blickte zur Hintertür, durch die ihr sechsjähriger Sohn jetzt seinen schwarzen Lockenkopf streckte und sie grinsend ansah.

«Was denn, Mama? Oh, die Maus hab ich ganz vergessen.»

«Vergessen? Auf meiner Waage?»

«Ich wollte wissen, wie viel sie wiegt.» Der Junge zuckte unschuldig die Achseln. «Weil Magda gestern gesagt hat, dass sie reich sein könnte, wenn sie die toten Mäuse, die Fine neuerdings anschleppt, in Gold aufwiegen würde.»

«Aha.» Stirnrunzelnd betrachtete Adelina ihren Sohn. «Wolltest du sie denn tatsächlich in Gold auszahlen?»

«Nein, ich war nur neugierig.» Colin zögerte. «Soll ich sie rauswerfen?»

«Ich bitte darum. Und dann reinigst du die Waage. Gründlich!», setzte sie scharf hinzu.

«Aber sie ist doch gar nicht schmutzig geworden.» Colin nahm die tote Maus am Schwanz und warf sie aus dem Fenster. Als er sich umdrehte, blickte er direkt in Adelinas strenges Gesicht und zog den Kopf ein.

«Schon gut, ich mach’s ja.» Vorsichtig nahm er die Waage vom Tresen und trug sie ins Hinterzimmer.

Adelina seufzte, musste sich aber gleichzeitig ein Lächeln verkneifen. Ihr Sohn wurde von Tag zu Tag frecher. Wenn das so weiterging, würde sie es schwerhaben, ihm bei einem ihrer Zunftkollegen eine Lehrstelle zu vermitteln. Seit einigen Wochen erhielt er Schulunterricht bei den Benediktinern von Groß St. Martin, damit er für seine Lehre, die in ein, zwei Jahren beginnen konnte, das nötige Grundwissen im Lesen und Schreiben erwarb. Auch das Rechnen brachte man ihm dort bei. Sie hoffte nur, dass er sich dabei anstelliger zeigte als sein Vater. Neklas Burka war zwar ein angesehener Medicus, aber mit Zahlen hatte er seine Probleme, zumindest, wenn es über die einfachsten Rechenoperationen hinausging. Das war einer der Gründe gewesen, weshalb sein Vater ihn auf eine Lateinschule geschickt hatte, anstatt ihn zum Tuchhändler ausbilden zu lassen, wie es für die Söhne seiner Familie üblich war.

Prüfend sah Adelina sich in der Apotheke um. Drei Seiten des Raumes wurden von Regalbrettern beherrscht, in denen sich Dosen, Kisten, Säckchen und Glasbehälter mit den verschiedensten Arzneien und Ingredienzien säuberlich geordnet aneinanderreihten. Der schon sehr alte, jedoch gepflegte und stets sauber gewischte Verkaufstresen aus Eichenholz glänzte ein wenig im Schein ihrer Öllampe. Den Fußboden hatte sie selbst noch am Vorabend gekehrt. Alles war so ordentlich, wie sie es liebte.

Es war noch sehr früh am Morgen, draußen begann es gerade erst zu dämmern. Dennoch waren im Haus bereits Geräusche zu vernehmen, die von geschäftigem Treiben zeugten. Ludowig, ihr hünenhafter Knecht, hatte bereits Holz gehackt und hereingetragen, die alte Magda war dabei, den Ofen anzuheizen, da heute Backtag war. Die jüngere Magd Franziska kümmerte sich um Adelinas dreijährige Tochter Katharina, die gerade wegen irgendetwas lautstark protestierte.

Griet, Adelinas Stieftochter, und die frischgebackene Gesellin Mira hatten bereits Wasser vom Marktbrunnen geholt und sich bereiterklärt, den Morgenbrei aufzusetzen. Adelina hoffte, dass Mira dabei den Löwenanteil der Arbeit übernehmen würde. So lieb ihr die mittlerweile fünfzehnjährige Griet auch war – von ihr zubereitete Lebensmittel rührte sie lieber nicht an. Das Mädchen stand mit der Kochkunst eindeutig auf Kriegsfuß. Meist ließ sie den Brei anbrennen oder das Brot hart wie Stein werden. Auch das Würzen klappte selten so, wie es sollte. Merkwürdig eigentlich, sinnierte Adelina, denn wenn es sich um alchemistische Rezepturen handelte, die Griet so gern zusammen mit ihrem Vater ausprobierte, gab es niemals unschöne Zwischenfälle. Im Laboratorium bewies sie sogar ein ausgesprochenes Talent – leider nicht ganz passend für ein junges Mädchen, das allmählich ins heiratsfähige Alter kam. Neklas freute sich natürlich, dass seine Tochter seine Begeisterung für die Alchemie geerbt hatte. Adelina bezweifelte jedoch, dass das zu etwas Gutem führen würde.

Sie schob den großen Riegel der Eingangstür zurück und prüfte, ob das Glöckchen, das eintretende Kunden ankündigen sollte, auch am richtigen Platz war. Sie wollte heute schon früh ihre Apotheke öffnen, denn nachdem es in den vergangenen Tagen viel geregnet und danach zum ersten Mal in diesem Herbst ordentlich gefroren hatte, erwartete sie einen Ansturm von Leuten, die nach Erkältungsarzneien verlangten. Glücklicherweise hatte sie ihre Vorräte rechtzeitig aufgefüllt.

«Meisterin, das Frühstück ist fertig», vermeldete Mira, die in diesem Moment in der Hintertür erschienen war.

«Ich komme.» Adelina nickte ihr zu. «Wer hat gekocht?»

Mira lächelte. «Ich. Griet hat das Brot aufgeschnitten und den Tisch gedeckt.»

«Gut.» Adelina folgte dem hübschen, schlanken Mädchen in Richtung Küche. Mira war von adeliger Geburt, jedoch die jüngste Tochter eines jüngeren Sohnes und deshalb ursprünglich für ein Leben im Kloster bestimmt gewesen. Ihre Mutter hatte jedoch durchgesetzt, dass sie stattdessen eine Lehre in der Apotheke beginnen durfte – mit einigem Erfolg. Vor zwei Monaten hatte Mira ihre Gesellenprüfung abgelegt. Da Adelina das Mädchen inzwischen trotz dessen frechen Mundwerks sehr ins Herz geschlossen hatte, behielt sie sie nun auch als Gesellin. Zumindest vorerst. Schon einmal hatte Miras Vater versucht, sie günstig zu verheiraten, ausgerechnet an Adelinas Bruder Tilmann Greverode. Mira hatte sich gesträubt, und Tilmann war schließlich vom vereinbarten Vertrag zurückgetreten, doch bedeutete das sicher nicht, dass der Graf von Raderberg von seinen Plänen bezüglich seiner Tochter inzwischen abgerückt war. Wenn sich ein anderer Bräutigam fand, würde er zugreifen, ob Mira wollte oder nicht. Hübsch, wie sie war, und nunmehr neunzehn Jahre alt, würde es an Interessenten ganz sicher nicht mangeln.

Ehe Adelina die Küche betreten konnte, kam ihr jüngerer Bruder Vitus aus seiner Kammer, ein zerfetztes Stück Lederriemen in Händen haltend.

«Lina, guck mal!», rief er anklagend. «Mein Gürtel ist entzwei. Was mach ich denn jetzt?»

Adelina blieb stehen und nahm dem hochgewachsenen jungen Mann mit dem leicht schiefen, aber dennoch recht anziehenden Gesicht den Riemen ab.

«Wie ist das denn geschehen?», fragte sie, wartete aber nicht auf eine Antwort. «Nimm den breiten braunen Gürtel, den du von Frau Benedikta geschenkt bekommen hast, als sie das letzte Mal hier war.»

«Aber der ist doch viel zu fein für alle Tage.»

«Mag sein, aber ohne Gürtel kannst du ja wohl nicht herumlaufen», erklärte sie. «Ich werde dir einen neuen anfertigen lassen. Franziska muss sowieso mit einem Korb voll Schuhe zum Flickschuster, dann kann sie auch gleich zum Riemer gehen.»

«Darf ich mit? Ich passe auch auf Ziska auf.» Hoffnungsvoll blickte ihr Bruder sie an. Er war kräftig, besaß jedoch leider nur den Verstand eines kleinen Kindes. Adelina ließ ihn so gut wie nie allein hinausgehen, aus Angst, er könne in seiner Tolpatschigkeit ein Unheil anrichten oder – fast noch schlimmer – von seinen Mitmenschen geschmäht werden. Doch in Franziskas Gesellschaft würde so etwas nicht passieren. Ihre junge Magd war nicht auf den Mund gefallen und sehr beherzt, wenn es darum ging, die ihr Anvertrauten zu verteidigen.

«Also gut, Vitus, meinetwegen. Aber benimm dich anständig und tu, was Franziska dir sagt.»

«Mach ich doch immer!», rief Vitus begeistert und drehte sich rasch um. «Ich hol meinen Mantel!»

«Halt!» Adelina bekam ihn gerade noch am Ärmel seines Hemdes zu fassen. «Du suchst jetzt erst einmal deinen anderen Gürtel, und dann wird gefrühstückt. Franziska bricht erst am späten Vormittag auf.»

«Muss ich wirklich etwas essen?», fragte er enttäuscht.

«Hast du denn keinen Hunger?»

«Doch.»

«Na also. Geh und zieh dich fertig an.» Nachsichtig gab Adelina ihrem Bruder einen Klaps auf den Arm und betrat nun endlich die Küche, in der es angenehm nach Ofenfeuer und Hirsebrei duftete. Der neue Brotteig, den sie vorhin angesetzt hatte, stand auf drei Schüsseln verteilt in dem deckenhohen Holzregal neben der Tür. Magda, mittlerweile sechzig Jahre alt, ließ es sich trotz der schmerzenden Knoten in ihren Fingern nicht nehmen, Holzscheite nachzulegen und mit dem schweren Schürhaken zu hantieren.

Unter der Ofenbank hockten Fine, die schwarz-weiße Katze, und Moses, der sandfarbene, wuschelige Hund, der Adelina vor sieben Jahren in einer Gewitternacht zugelaufen war und seither Haus, Hof und vor allem seine von ihm angebetete Herrin bewachte. Die beiden Tiere teilten sich eine Mischung aus Speckresten und Brei und eine Schale Wasser.

«Soll ich Vater von dem Hirsebrei aufheben?», fragte Griet, die gerade dabei war, das Essen in die Holzschalen auf dem Tisch zu verteilen. «Bestimmt ist er hungrig, wenn er vom Wachdienst zurückkommt.»

«Ja, stell ihm etwas davon beiseite», stimmte Adelina zu. «Obwohl er vermutlich erst einmal ins Bett fallen und bis zum Mittag schlafen wird. Die Nachtwache an der Ulrepforte ist immer besonders anstrengend.»

«Er hat gestern Nachmittag noch einen neuen Versuch angefangen», erzählte Griet, während sie die Portion Brei für ihren Vater abmaß. «Ich könnte ihn nachher weiterführen, damit wir –»

«O nein, Griet, das lässt du schön bleiben.» Entschieden schüttelte Adelina den Kopf. «Ich möchte nicht, dass du allein im Laboratorium hantierst, es sei denn, du stellst Aqua Ardens her. Und das kannst du auch mit der Destille im Hinterzimmer tun.»

«Aber …»

«Kein Aber, Griet. Ich will nicht, dass dir so ein Experiment mal danebengeht.»

«Das ist mir noch nie passiert!» Enttäuscht zupfte Griet am Ende ihres langen, schwarzen Zopfes. «Ich gehe immer ganz planvoll und vorsichtig vor, so wie Vater es mir beigebracht hat.»

«Das weiß ich, aber trotzdem möchte ich, dass er dabei ist, wenn du da unten herumwerkelst. Abgesehen davon brauche ich dich heute in der Apotheke. Bei diesem Wetter werden wir bestimmt …» Sie brach ab, als ein kurzes, aber lautes Pochen am Hintereingang zu vernehmen war. «Nanu, wer ist das denn so früh?»

Ehe sie reagieren konnte, erschien Ludowig aus seiner und Franziskas Kammer. «Ich geh schon, Herrin. Bestimmt ist das der Karl mit einer neuen Fuhre Holz. Hat gesagt, er käm heute ganz früh.» Während er sprach, war er bereits zur Tür gegangen und hatte sie geöffnet.

Adelina nickte und wandte sich dem Tisch zu, hielt aber inne, als sie Ludowig einen erschrockenen Laut ausstoßen hörte. «Herrin? Herrje, kommt schnell!»

«Was ist denn?» Sie machte auf dem Absatz kehrt und eilte zur Hintertür. Wie angewurzelt blieb sie stehen, als sie ihren Bruder Tilmann erkannte, der sich mit beiden Händen am Türstock festklammerte und sich offenbar kaum aufrecht halten konnte. Ludowig versuchte, ihn zu stützen, doch in dem engen Flur hatten die beiden großen Männer kaum Platz.

«Heilige Muttergottes, was ist denn passiert?», rief Adelina und drängte sich an Ludowig vorbei. «Tilmann, warum …?»

«Verletzt», röchelte ihr Bruder mit fast tonloser Stimme. «Du musst … ich kann nicht …» Seine Stimme brach, er machte taumelnd einen Schritt auf sie zu. Im nächsten Moment ging er in die Knie und fiel besinnungslos zu Boden.

«Um Himmels willen!» Adelina hockte sich neben ihm nieder und tastete zuerst über sein Gesicht und den Hals. An der Schlagader spürte sie seinen flachen Puls.

«Ludowig, hilf mir. Wir müssen ihn irgendwo auf ein Bett legen.»

«Vitus’ Kammer liegt am nächsten», stimmte der Knecht zu. «Ich muss nur –»

«O nein!», rief Adelina entsetzt. Sie hatte Tilmanns Mantel geöffnet und starrte nun auf einen riesigen Blutfleck, der sich über Hemd und Wams ihres Bruders ausgebreitet hatte. Offenbar hatte er versucht, die Blutung zu stillen, denn unter dem Wams beulte sich etwas, das Adelina für ein Stück verknäuelten Stoff hielt.

Rasch blickte sie sich um. «Magda, frisches Wasser, schnell! Mira, Griet – wo steckt ihr?»

Angezogen von dem Aufruhr waren die beiden Mädchen bereits aus der Küche gekommen und starrten sprachlos auf den bewusstlosen Mann.

«Holt saubere Tücher. Griet, geh zu Jupp und Marie. Jupp soll dir Bandagen geben und Wundsalbe und … am besten kommt er gleich mit herüber.»

«Sofort, Mutter.» Griet war ganz blass geworden, machte sich aber umgehend auf den Weg nach nebenan. Mira hingegen beugte sich über Tilmann.

«Was ist ihm geschehen? Wurde er überfallen?»

«Ich weiß es nicht. Nun lauf schon und hol mir Tücher!»

«Ja, natürlich.» Mira nickte hastig und rannte davon.

«Vitus, komm mal aus deiner Kammer», hörte Adelina ihre Magd Franziska sagen. «Ludowig muss den Hauptmann auf dein Bett legen.»

«Warum?», fragte Vitus erstaunt. «Er wohnt doch gar nicht hier. Ui!» Er war in den Flur getreten und entdeckte nun den Verwundeten. «Der blutet ja!»

«Ja, Vitus, der Hauptmann ist verletzt», sagte Franziska. «Nun komm, wir müssen Ludowig Platz machen. Geh schon mal in die Küche und fang mit deinem Frühstück an.»

Nachdem die Magd Vitus in die Küche geschoben hatte, half sie Ludowig und Adelina, den Hauptmann der Stadtsoldaten so vorsichtig wie nur möglich zu Vitus’ Bett zu transportieren.

«Was um alles in der Welt ist geschehen?», fragte sie, schien aber keine Antwort zu erwarten, denn sie eilte gleich wieder hinaus. «Ich kümmere mich um Colin und Katharina. Die beiden müssen Euch jetzt nicht auch noch zwischen den Füßen herumlaufen.»

Adelina war ihr von Herzen dankbar dafür. Vorsichtig versuchte sie, ihrem Bruder den Mantel auszuziehen. Dann blickte sie ratlos auf das blutige Wams.

Schritte wurden im Flur laut, und einen Moment später traten Jupp und Marie ein, dicht gefolgt von Griet, die ein Bündel Bandagen im Arm trug. Auch Mira tauchte mit den geforderten Leintüchern auf, und hinter ihr kam noch Magda mit einem Eimer Wasser dazu. Die kleine Kammer war heillos überfüllt.

Adelina richtete sich auf und griff zunächst nach den Bandagen. «Danke, Griet. Bitte geht jetzt alle hinaus. Nur Jupp und Marie nicht. Wir müssen feststellen, was Tilmann zugestoßen und wie schwer er verletzt ist, und dazu brauchen wir Platz.»

Das Gesinde gehorchte sofort, und auch die Mädchen verließen den Raum, wenn auch zögernd.

Jupp hatte sich indes über den Verwundeten gebeugt und ihn untersucht. Der Baderchirurg war ein Hüne von Mann mit braunem, kurzgeschnittenem Haar und sauber gestutztem Kinnbart. Vor Jahren hatte Neklas das Haus direkt neben der Apotheke gekauft und umbauen lassen. Die oberen Kammern vergrößerten den Wohnraum für seine Familie, die unteren Zimmer gehörten Jupp und dessen Frau Marie sowie den beiden inzwischen elfjährigen Zwillingen Bina und Malka. Auch Jupps Behandlungsraum befand sich dort.

«Wir müssen ihm die Kleider vom Leib schneiden», bestimmte er. «Anders geht es nicht. Marie?»

Seine Frau reichte ihm wortlos eine Schere, die sie samt einiger anderer Utensilien in einem kleinen Korb mit sich führte. Geschickt schnitt er Wams und Hemd auf und schälte dem Bewusstlosen beides vom Leib. Tatsächlich hatte sich Tilmann einen notdürftigen Verband aus Lumpen und einem zerrissenen Hemd angelegt. Auch diesen entfernte Jupp vorsichtig.

Adelina stieß einen entsetzten Laut aus. Offenbar war Tilmann an der rechten Seite gleich unterhalb der Rippen von einem Schwerthieb getroffen worden. Noch weit schlimmer jedoch als dieser Schnitt klaffte eine Wunde an seinem Bauch, die aussah, als stamme sie von einem Messer oder Dolch.

«Den Messstab», verlangte Jupp, ohne den Blick von den Wunden abzuwenden.

Wieder reichte Marie ihm das Gewünschte – einen unterarmlangen Metallstab, den Jupp nun vorsichtig zunächst in die Wunde an der Seite einführte.

«Nicht sehr tief», befand er, wischte den Stab mit einem der Tücher sauber und führte ihn dann in die Dolchwunde ein. Tilmann röchelte und zuckte zusammen. Offenbar war seine Bewusstlosigkeit nicht so tief, dass er keinen Schmerz empfand.

«Übel», urteilte Jupp, als er den Stab aus der Wunde zog. «Wahrscheinlich sind seine inneren Organe verletzt. Wie sehr, lässt sich leider nicht sagen. Aber bei einer so tiefen Wunde ist es fraglich, ob er es übersteht. Ich kann mir nicht vorstellen, wie er es überhaupt geschafft hat, damit herumzulaufen.» Er hob den Kopf und blickte Adelina an, die blass vor Entsetzen und Sorge seiner Tätigkeit zusah. «Ich säubere die Wunden und verbinde sie, aber wie gesagt …» Seine Stimme wurde sanfter. «Viel Hoffnung kann ich dir nicht machen. Er hat wahrscheinlich bereits Unmengen von Blut verloren. Hast du eine Ahnung, mit wem er aneinandergeraten sein könnte?»

«Nein.» Adelina schüttelte den Kopf und schluckte hart. «Ich habe ihn schon seit Monaten nicht mehr gesehen. Seit dem Schützenfest auf dem Neumarkt im Juli, um genau zu sein.»

«Auf jeden Fall hat er sich gegen den oder die Angreifer gewehrt.» Jupp deutete auf mehrere frische Schrammen und Blutergüsse an Tilmanns Schultern, Armen und Brust. «Wir sollten ihn ganz entkleiden, um nachzusehen, ob es noch mehr Wunden gibt, die versorgt werden müssen. Kann er hier liegen bleiben?»

«Natürlich.» Adelina nickte. «Vitus kann in Colins Kammer schlafen.» Sie trat neben Jupp und legte ihm eine Hand auf den Arm. «Du musst ihm helfen. Er ist mein Bruder!»

Jupp tätschelte sie kurz. «Ich tue, was ich kann, Adelina. Aber solche Verletzungen …»

«Bitte!» Sie verstärkte ihren Griff. «Das sind wir ihm schuldig.»

«Komm, Adelina, lass Jupp seine Arbeit machen.» Marie nahm ihre Freundin sanft bei den Schultern und schob sie zur Tür. «Lass uns in die Küche gehen und etwas essen. Bestimmt habt ihr alle noch nicht gefrühstückt.»

«Mir ist der Appetit gründlich vergangen», murmelte Adelina. Gerade als sie den Raum verlassen wollte, stieß Tilmann ein gequältes Stöhnen aus. Sogleich war sie wieder bei ihm, beugte sich über ihn und ergriff seine Hand. Seine Augenlider flatterten und hoben sich.

«Adelina …» Seine Stimme war nicht mehr als ein leises Röcheln. «Sag … ihnen … nichts.»

«Was? Was soll ich wem nicht sagen? Tilmann?» Sie beugte sich noch weiter zu ihm hinab.

«Ich … war nie … hier.» Sie konnte ihn kaum verstehen. «Nie … hier … wenn sie … suchen … sag … nichts.» Seine Augen, von denen Adelina nicht sicher war, ob sie sie wirklich wahrgenommen hatten, schlossen sich wieder. Sein Kopf rollte auf die Seite.

«Tilmann? O Gott!» Sie ließ seine Hand los und tastete nach seinem Gesicht. «Ist er …?»

«Er atmet», sagte Jupp ruhig und deutete auf Tilmanns Bauchdecke, die sich leicht hob und senkte. «Aber ich kann wirklich nicht voraussagen, wie lange noch.»

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2. KAPITEL

Nachdem Jupp den verwundeten Hauptmann verarztet hatte, war er wieder nach nebenan gegangen. Marie erklärte sich bereit, an Tilmanns Krankenbett zu wachen, damit sich Adelina um ihren Haushalt und die Apotheke kümmern konnte.

Adelina war nicht wohl dabei, doch da Tilmann offenbar nicht wollte, dass jemand von seiner Anwesenheit in ihrem Haus erfuhr, war es wohl das Beste, den alltäglichen Arbeiten nachzugehen. Sie schickte Mira in Begleitung Ludowigs los, um einige bestellte Arzneien auszuliefern, und wies Griet an, mit der Destille im Hinterzimmer Weingeist herzustellen. Franziska war derweil mit Vitus auf den Weg zum Flickschuster. Adelina machte sich daran, das Konfekt, das sie am Vortag bereits vorbereitet hatte, mit einem gleichmäßigen Zuckerüberzug zu versehen.

Es war gerade eine Stunde hell, und sie erwartete Neklas jeden Augenblick von seiner Nachtwache zurück, als jemand heftig an der Haustür pochte. Augenblicke später ertönte eine dunkle Männerstimme: «Magister Burka? Meisterin? Ist jemand zu Hause?»

«Natürlich, tretet ein!» Eilig ging Adelina zur Tür und öffnete sie. Zu ihrer Überraschung sah sie sich dem neuen Vogt, Gerlach Haich, sowie einem der städtischen Büttel gegenüber. Eine böse Ahnung beschlich sie, doch sie ließ sich nichts anmerken.

«Wie kann ich Euch helfen, Herr Vogt?» Fragend musterte sie den schlanken, hochgewachsenen Mann, dessen schwarzes Haar im Nacken kurz geschoren und an den Schläfen bereits ergraut war. Seine grauen Augen blickten streng, aber freundlich in ihre Richtung, doch er schien ein wenig zu schielen. Die lange Hakennase und das etwas spitze Kinn gaben ihm ein ziegenhaftes Aussehen.

«Guten Morgen, Meisterin Burka», grüßte er. «Verzeiht die Störung. Wisst Ihr, wo sich Euer Bruder aufhält?»

«Mein Bruder?»

«Der Hauptmann, Tilmann Greverode. Der ist doch Euer Bruder, oder etwa nicht? Ist er hier im Haus?»

«Tilmann ist mein Bruder.» Adelina nickte und spürte, wie sich die Härchen auf ihren Armen aufrichteten. Doch sie behielt weiterhin ein gleichmütiges Gesicht. «Leider weiß ich nicht, wo er sich gerade aufhält. Ich habe ihn schon seit einigen Monaten nicht mehr zu Gesicht bekommen. Es heißt, er sei zuletzt viel für den Rat auf Reisen gewesen. Aber auch wenn er in der Stadt ist, besucht er mich nicht oft. Warum glaubt Ihr, dass er hier sein könnte?»

«Weil er nicht so dumm sein wird, sich in seinem eigenen Haus zu verstecken», antwortete der Vogt mit einem dünnen Lächeln, das Adelina nicht gefiel.

«Was soll das heißen?», fragte sie. «Warum sollte er sich verstecken?» Ihr Herz begann unangenehm gegen ihre Rippen zu pochen.

«Weil er einen Mord begangen hat, Meisterin», sagte der Vogt ohne jegliche Regung. «Gestern Abend oder heute Nacht. Es kann nicht lange her sein.»

Adelina wurde blass und fühlte einen Schauer über ihr Rückgrat kriechen. «Was sagt Ihr da? Einen Mord?» Energisch schüttelte sie den Kopf. «Niemals. Mein Bruder ist ein Ehrenmann und Hauptmann der Kölner Stadtsoldaten. Kein Mörder.» Sie hielt inne. «Wen soll er denn angeblich umgebracht haben?»

«Clais van Dalen, den zweiten Kölner Hauptmann.»

«Mutter, wer ist denn da?» Griet hatte die Apotheke durch die Tür zum Hinterzimmer betreten. Als sie den Vogt sah, kam sie zögernd näher. «Stimmt etwas nicht?»

«Das ist vollkommen unmöglich!», rief Adelina erschüttert. «Clais und Tilmann sind … waren gute Freunde. Warum sollte Tilmann ihn umbringen?»

«Mutter?» Griet griff entsetzt nach Adelinas Arm. «Was hat das zu bedeuten?»

«Geh wieder zur Destille, Kind», murmelte Adelina und warf Griet einen vielsagenden Blick zu.

Doch das Mädchen schüttelte den Kopf. «Auf keinen Fall, Mutter.»

«Er ist also ganz sicher nicht hier im Haus?»

«Nein.» Adelina verschränkte die Arme vor dem Leib.

«Aber Ihr gebt mir oder dem Gewaltrichter Reese umgehend Bescheid, wenn er hier auftaucht?»

«Er hat niemanden getötet», beharrte sie anstelle einer Antwort. «Das ist verrückt.»

«Leider haben wir stichhaltige Hinweise, dass er es war», erklärte der Vogt und behielt noch immer diesen freundlich-kühlen Tonfall bei, der, gepaart mit seinem Lächeln, plötzlich feindselig auf sie wirkte. «Man hat seinen Dolch blutbesudelt neben dem Toten gefunden.»

 

«Adelina, nun beruhige dich endlich», sagte Neklas am späten Nachmittag. Adelina und er hatten sich den ganzen Tag bereits über kaum etwas anderes als Tilmanns Verwundung und den Besuch des Vogtes unterhalten. Neklas deutete auf die Ofenbank in der Küche. «Setz dich. Du machst mich ganz nervös!»

«Nein, ich beruhige mich nicht!», widersprach sie erregt. «Wie sollte ich auch? Der Mord an Clais van Dalen ist Stadtgespräch, und Tilmann liegt halb tot in Vitus’ Kammer. Aber ich weigere mich zu glauben, dass er ein Mörder ist.»

«Man hat nun einmal seinen Dolch bei dem Opfer gefunden. Und dass Tilmann offenbar bei einem Kampf schwer verletzt wurde, ist auch nicht ganz unverdächtig», wandte Neklas ein.

«Und wenn schon. Er hat Clais nicht ermordet. Es muss eine andere Erklärung für all das geben.» Adelina setzte sich nun tatsächlich auf die Bank und verschränkte die Arme vor der Brust. «Wenn er doch nur aus seiner Bewusstlosigkeit erwachen würde, dann könnte er bestimmt alles erklären.»

«Adelina …» Neklas seufzte und ließ sich neben ihr nieder. «Ich behaupte doch gar nicht, dass er schuldig ist. Aber irgendetwas ist vorgefallen, das steht fest. Tilmann war daran beteiligt, in welcher Form auch immer.»

«Vielleicht sind sie überfallen worden!» Erregt sprang sie wieder auf und ging in der Küche auf und ab. «Der Vogt hat ja nicht gesagt, was genau passiert ist. Es kann ja sein, dass sich alles ganz anders zugetragen hat, als er denkt. Bestimmt sogar! Wir müssen unbedingt herausfinden, was da wirklich geschehen ist. Ich gehe gleich morgen zum Gewaltrichter Reese und frage ihn, was er über die Sache weiß.»

Neklas neigte zustimmend den Kopf, dann lächelte er. «Es gab mal eine Zeit, da hast du dem Hauptmann der Stadtsoldaten die Pestilenz an den Hals gewünscht.»

«Ja, aber das war, bevor ich wusste, dass wir dieselbe Mutter hatten.» Zögernd ließ Adelina sich wieder auf die Bank sinken. «Ich kann nicht behaupten, dass wir ein Herz und eine Seele sind, aber er ist mein Bruder. Erinnere dich, wie er uns beigestanden hat, als man dich fälschlicherweise wegen des Mordes an der Schustersfrau in den Turm sperrte! Es ist das Mindeste, dass wir nun auch zu ihm stehen. Er wollte mir etwas Wichtiges mitteilen und hat gebeten, dass ich seine Anwesenheit hier im Haus geheim halte. Er ist ein Mann von Ehre und würde bestimmt nicht verlangen, dass ich ihn decke, wenn er einen Mord begangen hat. Ganz gleich, was man ihm vorwirft: Ich glaube kein Wort davon.»

«Wir erkundigen uns morgen», versprach Neklas und erhob sich. «Ich muss mich jetzt leider schon wieder auf den Weg zur Ulrepforte machen. Der Wachdienst fängt bald an.» Er verließ die Küche, doch nur Augenblicke später erschien er wieder in der Tür. In der rechten Hand hielt er seinen leichten Helm, über dem linken Arm trug er ein Kettenhemd und den Gürtel mit seinem Dolch.

Adelina half ihm, beides anzulegen, dann reichte sie ihm seinen Mantel und einen Schal. «Es wird gewiss wieder eisig kalt heute Nacht. Nicht, dass du dich erkältest.»

«Wenn es sich einrichten lässt, verrichte ich meinen Dienst in der oberen Wachstube. Dort bin ich vor Zugluft geschützt.» Er zog sie an sich und küsste sie auf die Lippen. «Viel lieber allerdings würde ich hierbleiben und mit dir gemeinsam unser Bett wärmen.»

Adelina lächelte verlegen. «Das hättest du wohl gern. Ist dir unsere Familie nicht bereits groß genug?»

Erneut küsste er sie und ließ seine Lippen dann sachte bis zu ihrem linken Ohrläppchen wandern. «Hat uns das bisher abgehalten?», murmelte er an ihrem Hals.

Adelina erschauerte. «Nicht, dass ich wüsste.» Dann machte sie sich jedoch entschlossen los. «So gern ich dies hier auch fortführen würde – ich fürchte, damit müssen wir warten, bis die Woche um und dein Wachdienst beendet ist.»

Neklas seufzte übertrieben. «Weiß der Stadtrat eigentlich, was ich hier opfere? Na gut, vermutlich wäre das sowieso nicht ganz passend, jetzt, da wir einen Verletzten im Haus verstecken.» Er klemmte sich den Helm unter den Arm, dann gingen sie gemeinsam zur Haustür. «Schließ hinter mir ab.»

«Natürlich.»

«Ich werde mich unter den Wachleuten umhören. Vielleicht erfahre ich ja etwas über den Mord oder über Tilmann.»

Adelina nickte und sah ihm mit gemischten Gefühlen nach, als er hinaus auf den Alter Markt trat. Er nahm eine der beiden brennenden Kienspäne, die den Eingang beleuchteten, aus seiner Halterung. Um diese Jahreszeit wurde es bereits früh dunkel; die Fackel würde ihm helfen, seinen Weg über die unebenen und vielfach mit Unrat bedeckten Straßen und Gassen von Köln zu finden.

 

«Mira, was tust du denn hier?» Verwundert betrat Adelina am frühen Morgen des nächsten Tages das Krankenzimmer. Tilmann lag noch immer in der gleichen leblosen Position wie am Vortag auf dem Bett. Er hatte das Bewusstsein noch nicht wiedererlangt, doch sein Atem ging einigermaßen gleichmäßig.

Die Gesellin hatte sich auf dem Strohsack, den Ludowig für die Krankenwache hereingebracht hatte, zusammengerollt. Als ihre Meisterin eintrat, schrak sie hoch.

«Oh, guten Morgen.» Sie rieb sich die Augen. «Ich muss wohl eingenickt sein. Ist er …» Sie sprang auf und beugte sich über Tilmann, dann atmete sie hörbar auf. «Ich dachte schon …» Sie drehte sich mit einem unsicheren Lächeln zu Adelina um. «Ich habe Franziska heute Nacht abgelöst, weil sie doch auch ihren Schlaf braucht. Sie muss sich ja um Colin und Katharina kümmern, da darf sie nicht müde sein.» Mira unterdrückte ein Gähnen. «Er hat sich die ganze Zeit nicht gerührt.»

«Es ist sehr freundlich von dir, dass du dich kümmerst», sagte Adelina. «Aber es wäre nicht nötig gewesen. Ich hätte auch …»

«Ach was, das ist schon in Ordnung», wehrte Mira verlegen ab. «Ihr und der Magister und alle hier im Haus seid doch fast wie meine eigene Familie. Da ist es selbstverständlich, dass ich helfe.»

«Danke, Mira.» Adelina war das Erstaunen über die Worte der jungen Frau anzuhören. Sie legte den Kopf schräg. «Dabei dachte ich, dass du Tilmann nicht ausstehen kannst. Ihr habt euch doch nie sonderlich gut verstanden, und meistens bist du ihm in großem Bogen aus dem Weg gegangen, seit er damals …»

«Ja, ich weiß.» Mira zuckte die Achseln. «Ich habe ihn gemieden, weil ich nicht ertragen mag, von ihm verspottet zu werden. Er hält mich für eine dumme, einfältige Gans mit losem Mundwerk.»

«Zumindest die zweite Hälfte dieser Einschätzung entspricht der Wahrheit», ergänzte Adelina lächelnd.

Wieder zuckte Mira die Achseln. «Kann sein, dass ich meine Zunge nicht immer gebührend im Zaum halten kann. Deshalb gehe ich ihm normalerweise ja auch aus dem Weg. Dann hat er keine Gelegenheit, mich zu provozieren und hinterher zu schelten, wenn mir eine ungezogene Bemerkung herausrutscht. Er ist immer so …»

«Missbilligend?» Adelina nickte. «Ja, darin ist er gut. Ich lege mich auch oft genug mit ihm an.»

«Ja, aber Ihr seid Meisterin und noch dazu seine Schwester. Euch nimmt er das nicht übel.»

«Nicht? Das wäre mir neu.»

«Er respektiert Euch», erklärte Mira mit Bestimmtheit. «Mich nicht – und warum auch? Dabei stehe ich doch von Stand her über ihm.»

«Nun fang nicht wieder davon an, Mira!»

«Ist doch so. Ich bin von adeliger Geburt, daran lässt sich nichts ändern. Und er wollte mich zur Ehefrau, damit ich ihm Zugang zu den höheren Kreisen verschaffe.»

Adelina seufzte. «Du nimmst ihm das noch immer übel.»

«Nein, es ist schließlich legitim. Aber ich hätte auf keinen Fall einen Mann wie ihn heiraten können. Ich halte es ja nicht einmal länger als ein paar Minuten in seiner Nähe aus, ohne ihm wegen seiner arroganten Art an die Kehle gehen zu wollen. Na ja, es sei denn, er ist bewusstlos.» Als ihr klar wurde, wie ungezogen ihre Worte waren, zog sie den Kopf ein. «Verzeihung, Meisterin.»

Adelina schüttelte milde tadelnd den Kopf. «Und trotzdem hast du die halbe Nacht an seinem Bett gewacht.»

«Weil er Euer Bruder ist und weil …» Mira zögerte und blickte auf den leblosen Körper des Hauptmanns. «Nicht einmal er hat so was verdient.»

«Geh hinaus und wasch dich, es gibt bald Frühstück», sagte Adelina und wechselte damit das Thema. «Später kümmerst du dich für eine Weile allein um die Apotheke, während ich zum Rathaus gehe und versuche, etwas über den Mord an Clais van Dalen herauszufinden.»

«Findet Ihr das nicht merkwürdig?»

«Was meinst du?»

Mira machte eine ausholende Geste. «Na, dass schon wieder jemand aus Eurer Familie in so etwas verwickelt ist. Man könnte fast meinen …» Sie brach verlegen ab. «Dabei war doch endlich ein bisschen Ruhe eingekehrt.»

Darauf konnte Adelina nichts Kluges erwidern, doch ähnliche Gedanken waren ihr in der vergangen Nacht auch schon gekommen. Offenbar zogen sie und ihre Familie solche Unglücke wie magisch an.

 

Adelina kam nicht dazu, zum Rathaus zu gehen, denn gerade, nachdem die Familie die Frühmahlzeit beendet hatte, traf der Gewaltrichter Georg Reese ein. Er war ein hagerer Mann mit braunem, von grauen Strähnen durchzogenem Haar. Wie so oft in letzter Zeit stützte er sich beim Gehen auf einen Stock, da ihn die Gicht plagte. Als er die Apotheke betrat, hatte Adelina just Mira und Griet letzte Anweisungen für den Vormittag gegeben.

Freundlich winkte sie den Gewaltrichter näher, der sie in den vergangenen Jahren schon so oft um Rat gefragt oder ihr in schwierigen Situationen beigestanden hatte.

«Guten Morgen, Herr Reese», grüßte sie. «Ihr nehmt mir den Gang in die Judengasse ab. Ich war gerade so gut wie auf dem Weg zum Rathaus.»

«Das habe ich mir schon gedacht, deshalb bin ich Euch zuvorgekommen», antwortete er ebenso freundlich. Doch an seiner ernsten Miene erkannte sie, dass er keine guten Nachrichten brachte.

Sie winkte ihn näher und zog einen gepolsterten Schemel hinter dem Tresen hervor. «Kommt, setzt Euch. Wie es scheint, leidet Ihr wieder einmal unter Schmerzen.»

«Ich danke Euch.» Mit sichtlicher Erleichterung ließ er sich auf die Sitzgelegenheit sinken und lehnte seinen Stock gegen sein rechtes Knie.

«Soll ich Euch, während wir sprechen, eine Arznei zusammenstellen? Nehmt Ihr die Kräutermischung, die ich Euch neulich verkauft habe, regelmäßig ein?»

«Ja, natürlich, aber sie ist schon fast wieder aufgebraucht, und leider ereilen mich die Schmerzen trotzdem immer wieder. Eine Linderung ist immer nur von kurzer Dauer.»

Adelina musterte ihn eingehend. Er war gealtert, um seinen Mund und die Augen lagen tiefe Falten. Das Amt des Gewaltrichters einer so großen Stadt wie Köln zehrte ganz offensichtlich an seinen Kräften. Ganz zu schweigen davon, dass er auch noch einen großen Tuchhandel zu führen hatte, selbst wenn ihm inzwischen seine Söhne viele Arbeiten abnahmen.

«Ihr solltet Euch hin und wieder ein wenig Ruhe gönnen», befand Adelina. «Haltet Ihr Euch an die Ratschläge, die mein Mann Euch bezüglich Eurer Mahlzeiten gegeben hat? Kein fettes Fleisch, nicht zu viele süße Speisen. Ihr solltet frisches Gemüse und Obst zu Euch nehmen, das täte Eurer Gesundheit gewiss gut.»

«Ach ja.» Reese seufzte. «Ihr habt recht, aber was hat ein Mann denn noch vom Leben, wenn er nicht einmal mehr ordentlich essen darf? Nur noch Hirsebrei und Grünzeug?»

«Ihr würdet Euch aber besser fühlen.»

«Ich bin doch kein armer Tagelöhner oder Bauer», protestierte er.

Adelina lächelte milde. «Vielleicht nicht. Aber ist Euch schon einmal aufgefallen, dass arme Tagelöhner und Bauern nicht an Gicht leiden?»

«Hm.» Reese brummelte etwas Unverständliches. Dann hob er den Kopf. «Weshalb ich eigentlich hier bin …»

«Es geht um Tilmann, nicht wahr?» Adelina bedeutete Mira und Griet, die bisher schweigend hinter den Tresen gestanden hatten, die Apotheke zu verlassen. Als die beiden gegangen waren, nahm sie deren Platz ein und begann, auf ihrer Waage Kräuter abzuwiegen. «Deswegen wollte auch ich Euch aufsuchen. Was wisst Ihr über den Mord an Clais van Dalen?», fragte sie geradeheraus. «Der Vogt kam gestern her und behauptete, Tilmann habe Clais getötet und dass es Beweise dafür gäbe. Aber ich kann das nicht glauben. Mein Bruder mag nicht der freundlichste und geduldigste Mensch sein, aber ein Mörder ist er ganz bestimmt auch nicht.»

Reese setzte sich etwas aufrechter. «Ich weiß, was Ihr meint. Der Hauptmann ist ein guter Mann, und ich halte große Stücke auf ihn. Aber tatsächlich ist es so, dass man seinen Dolch bei dem Ermordeten gefunden hat – mit dessen Blut an der Klinge. Wir wissen nicht, wie es sich zugetragen hat. Es gibt leider keine Zeugen. Zwar haben einige Leute vorgestern Abend van Dalen beim Betreten des Zeughauses an der Burgmauer gesehen, jedoch muss er sich dort zu so später Stunde allein aufgehalten haben. Etwas später wurde auch Tilmann Greverode beim Betreten des Zeughauses beobachtet. Die Stadtwache wurde kurz darauf auf die offenstehende Tür des Gebäudes aufmerksam und fand den Ermordeten und den Dolch. Von Greverode keine Spur.»

«Also hat niemand gesehen, dass er den Mord begangen hat.»

«Soweit ich weiß, nicht», gab Reese zu. «Aber der blutige Dolch und sein spurloses Verschwinden sprechen leider eine recht deutliche Sprache. Versteht mich nicht falsch, auch ich kann nicht glauben, dass er van Dalen kaltblütig ermordet haben soll – mit zwei Stichen übrigens. Soweit mir bekannt ist, waren die beiden recht gute Freunde.» Er hielt inne. «Vielleicht sind sie über irgendetwas in Streit geraten, der in einem Kampf geendet hat? So etwas soll ja vorgekommen. Greverode ist zudem für sein aufbrausendes Wesen bekannt.»

Adelina legte ein Kräutersäckchen, das sie gerade aus dem Regal genommen hatte, auf den Tresen. «Das mag sein, aber einen Mord traue ich ihm dennoch nicht zu. Abgesehen davon, dass er sich gestellt und für Aufklärung gesorgt hätte, wenn es sich so zugetragen hätte. Ihr kennt ihn – seine Ehre würde es ihm gebieten.»

«Vielleicht. Aber auch ein Ehrenmann kann in Panik geraten», gab Reese zu bedenken. «Vielleicht hat er einfach den Kopf verloren und … Nun ja, deshalb ist der Vogt wohl auch gleich zu Euch gekommen, Frau Adelina. Ihr seid die einzige Verwandte, die Greverode noch hat, abgesehen von seiner Tochter und den Eltern seiner verstorbenen Frau.» Er rieb sich über das glattrasierte Kinn. «Dabei fällt mir ein: Sagtet Ihr nicht, Ihr würdet die kleine Lucardis auf seinen Wunsch hin in die Lehre nehmen?»

Adelina nickte. «Ja, aber erst im kommenden Sommer, wenn sie acht Jahre alt ist. Ich halte nichts davon, ein Kind früher in eine Lehrstelle aufzunehmen.»

«Da habt Ihr recht. Kinder in diesem Alter sind schwer genug zu erziehen. Und wenn sie noch jünger sind, hat man meist nur damit zu tun, sie von ihrem Heimweh zu kurieren.» Reese lächelte kurz, wurde aber gleich wieder ernst. «Habt Ihr wirklich nichts von Greverode gehört? Der Vogt ist davon ausgegangen, dass er sich am ehesten an Euch wenden würde. Das heißt, falls er sich überhaupt noch in der Stadt aufhält.»

«Ist Euch schon einmal der Gedanke gekommen, dass er vielleicht verletzt sein könnte?», fragte Adelina. Sie öffnete die Verschnürung des Säckchens und gab mit Hilfe eines Löffels ein Quantum von dem getrockneten Inhalt in eine der Waagschalen. In die andere legte sie ein Gewicht.

«Verletzt?» Interessiert blickte Reese sie an.

Adelina überlegte, ob sie ihm verraten sollte, dass Tilmann in Vitus’ Kammer lag und mit dem Tode rang, doch dann entschloss sie sich dagegen. Solange sie nicht mehr über die Angelegenheit wusste, würde sie Tilmanns Bitte entsprechen und seine Anwesenheit im Haus verschweigen. Ein wenig tat es ihr leid, den Gewaltrichter belügen zu müssen, denn er war ihr und ihrer Familie immer ein guter Freund und Fürsprecher gewesen. Aber wer wusste schon, was geschehen würde, wenn sie jetzt die Wahrheit sagte?

«Ja, verletzt», antwortete sie schließlich. «Wenn es sich tatsächlich um einen Streit oder sogar Kampf gehandelt hat, ist doch zu vermuten, dass auch Tilmann Blessuren davongetragen hat.»

Reese zögerte. «Wie erwähnt, da es keine Zeugen gibt, können wir nicht mit Sicherheit sagen, was sich ereignet hat. Aber es würde der Sache helfen, wenn Greverode sich dem Stadtgericht und dem Vogt stellte. Nur so können wir die Geschehnisse aufklären.»

«Und meinen Bruder wegen Mordes hinrichten.» Adelina hob den Kopf und funkelte Reese herausfordernd an.

Der Gewaltrichter hob begütigend die Hände. «Nicht doch, Frau Adelina. So schnell wird ein Mann nicht verurteilt, geschweige denn hingerichtet.»

«Der Vogt schien aber recht überzeugt von Tilmanns Schuld zu sein», erwiderte sie verärgert.

«Der Vogt tut auch nur seine Pflicht.» Reese seufzte. «Ich verstehe ja, dass Ihr Euren Bruder verteidigt. Nichts anderes habe ich erwartet. Aber versteht auch mich. Wir haben einen Toten im Zeughaus gefunden und Eures Bruders Messer gleich daneben. Euer Bruder ist seither spurlos verschwunden. Was würdet Ihr darüber denken, wenn Ihr die Sache aus Sicht des Vogtes betrachtet?» Mit einem leisen Ächzen erhob er sich und stützte sich wieder auf den Gehstock. «Ich bitte Euch nur, die Augen und Ohren offenzuhalten, Frau Adelina. Und gebt mir Bescheid, wenn Ihr von Greverode hört. Vielleicht habt Ihr recht, und alles hat sich ganz anders zugetragen. Aber das können wir nur herausfinden, wenn er sich stellt und uns sagt, was vorgestern Abend im Zeughaus passiert ist.»

Schweigend sah er ihr dabei zu, wie sie die übrigen Ingredienzien für seine Arznei abwog, mischte und dann in ein kleines, hölzernes Kästchen abfüllte. «Legt bitte noch eine Handvoll von Euren kandierten Kirschen dazu», sagte er, nun wieder lächelnd. Als sie die Augenbrauen hob, ergänzte er rasch: «Für meine Gemahlin. Sie liegt mir schon seit Tagen damit in den Ohren.»

Adelina erwiderte sein Lächeln und legte das gewünschte Konfekt in eine zweite Schachtel. Einige Münzen wechselten den Besitzer, dann wandte sich Reese zum Gehen. Adelina kam rasch hinter dem Tresen hervor und hielt ihm die Tür auf.

«Weshalb sollten Clais und Tilmann derart in Streit geraten sein, dass einer den anderen umbringt?» Sie trat mit ihm vor die Tür. «Wie Ihr schon sagtet, die beiden waren gute Freunde.»

«Eine gute Frage», gab Reese zu. «Wenn ich die Antwort darauf wüsste, wäre uns schon sehr geholfen.»

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3. KAPITEL

Hast du etwas herausgefunden?», fragte Adelina anstelle einer Begrüßung, als Neklas von seiner Nachtwache an der Ulrepforte zurückkehrte.

«Nichts Gutes.» Er gähnte ausgiebig und ging ihr voran in die Küche. Adelina bedeutete Mira, sich um die Apotheke zu kümmern, und folgte ihm. Sobald Neklas auf der Bank saß, erhielt er von Magda eine Schüssel Hirsebrei und einen Becher Bier. Während er aß, berichtete er: «Es heißt, der Vogt habe sich bereits auf Tilmann als Mörder versteift. Er lässt ihn von den Bütteln und einem Trupp Stadtsoldaten in ganz Köln und Umgebung suchen.» Er blickte von seiner Schüssel auf. «Du weißt, was das bedeutet, Lina.»

«Dass er hier nicht sicher ist.» Sie nickte besorgt. «Aber was soll ich machen? Er ist zu schwer verletzt, als dass wir ihn transportieren können. Und verraten werde ich ihn auch nicht, solange ich nicht mit ihm gesprochen habe.»

«Er ist also noch nicht aufgewacht?»

«Nein.»

«Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie wieder hier auftauchen», gab er zu bedenken und versenkte seinen Löffel erneut in dem Brei. «Einen Grund für den Mord hat Haich übrigens auch schon gefunden.»

«Welchen Grund?» Überrascht blickte Adelina ihn an.

Neklas schob sich noch einen weiteren Löffel voll in den Mund, bevor er antwortete: «Clais und Tilmann sind … waren Konkurrenten um das Amt des Stimmeisters im Stadtrat. Du weißt selbst, wie begehrt dieser Posten ist.»

«Ich wusste gar nicht, dass sich Tilmann in den Stadtrat wählen lassen will.» Verwundert zog Adelina die Stirn kraus. «Deshalb also soll er seinen guten Freund umgebracht haben?» Sie ließ sich Neklas gegenüber am Tisch nieder. «Das kann ich nicht glauben. Er mag ja ehrgeizig sein. Aber er geht doch nicht über Leichen, um ein Amt zu erhalten!»

«Der Stimmeister bekleidet eine wichtige Funktion im Militärwesen», gab Neklas zu bedenken. «Dass sich Tilmann dafür interessiert, halte ich für absolut natürlich. Abgesehen davon wird wieder viel über ihn getratscht. So sagt man zum Beispiel, er habe seine selige Frau praktisch auf dem Grabe ihres ersten Mannes geheiratet.»

Adelina runzelte verärgert die Stirn. «Du weißt selbst, dass das nicht ganz stimmt. Er hat uns die Geschichte doch erzählt. Seine Gemahlin war bereits über ein halbes Jahr Witwe, bevor er um sie angehalten hat. Manch eine Frau kommt nach dem Tod ihres Mannes viel schneller wieder unter die Haube.»

«Vor allem, wenn es im Interesse ihrer Familie ist», bestätigte Neklas und schob die leere Schüssel von sich. «Leider sind es genau solche Gerüchte, die jetzt wieder die Runde machen und ein schlechtes Licht auf deinen Bruder werfen werden. Du weißt, wie die Menschen sind, Lina.»

«Ja, leider.» Sie schaute auf die Tischplatte. «Das weiß ich nur zu gut. Wir haben es ja oft genug selbst erlebt.» Als sie den Kopf wieder hob, erblickte sie ihre Gesellin in der Küchentür. «Was gibt es, Mira? Hatte ich nicht gesagt, du sollst dich um die Apotheke kümmern?»

«Ja, Meisterin.» Mira trat ein. «Aber Griet ist in der Apotheke. Ich … Verzeiht, dass ich gelauscht habe. Es ist nur …» Sie zögerte.

Adelina winkte sie näher. «Was, Mira? Nun sprich schon!»

«Euer Bruder wird überall gesucht, ja?»

«So ist es», antwortete Neklas.

«Dann ist er doch hier nicht sicher.» Auf seine einladende Geste hin setzte sich die junge Frau ebenfalls an den Tisch.

«Und weiter?» Adelinas Miene zeigte deutlich ihre Ungeduld.

«Na ja, ich hätte eine Idee, wo wir ihn –»

«Herrin, kommt schnell! Der Hauptmann wacht auf!» Ludowig, der im Augenblick die Krankenwache übernommen hatte, war in der Küchentür erschienen und winkte hektisch.

Sogleich sprang Adelina auf und eilte zu Vitus’ Kammer. Neklas folgte ihr auf dem Fuße, und auch Mira gesellte sich dazu. Tilmann lag noch immer beinahe reglos auf dem Rücken, doch sein Brustkorb hob und senkte sich etwas kräftiger, wenn auch ungleichmäßig. Besorgt beugte Adelina sich über ihn.

«Eben hat er einmal kurz die Augen geöffnet», berichtete Ludowig aufgeregt.

Adelina berührte ihren Bruder an der Wange und spürte dabei die rauen Bartstoppeln unter ihren Fingern. Sie sagte zu Ludowig: «Lauf und hole Meister Jupp her. Beeile dich!» Sie wandte sich wieder Tilmann zu, dessen Augenlider flatterten, sich kurz hoben aber sogleich wieder schlossen.

«Tilmann!», drängte sie in beschwörendem Ton. «Wach auf, Tilmann! Sieh mich an! Es ist alles gut. Du bist hier in Sicherheit. Komm schon, wach auf.»

Wieder flatterten seine Lider. «Adelina?», kam es röchelnd über seine Lippen. «Sag … nichts …»

«Nein, ich habe niemandem gesagt, dass du hier bist.»

«Gefahr … muss … Clais … warnen …»

«Clais ist tot, Tilmann.» Adelina spürte, wie ein Zucken durch den Körper ihres Bruders ging. Im nächsten Moment öffneten sich seine Augen. Entsetzt starrte er sie an. Sofort tat es ihr leid, dass sie es ihm gesagt hatte, doch nun ließen sich ihre Worte nicht mehr zurücknehmen.

«Tot?»

«Er wurde ermordet, Tilmann. Der Vogt glaubt, du hast das getan.» Sie strich ihm das lange, dunkle Haar aus der Stirn. «Was ist geschehen? Wer hat dich verletzt?»

Tilmann versuchte zu sprechen, brachte jedoch nur mit Mühe ein paar Worte heraus. «Angreifer … Zeughaus.» Er rang nach Atem, und Schweiß bildete sich auf seiner Stirn. «Weiß nicht … Beweise … wollten … reden …» Sein Blick wurde glasig. «Kann … niemandem … trauen …»

Adelina griff nach einem frischen Leintuch, tauchte es in den Wassereimer, der neben dem Bett stand, wrang es aus und tupfte damit über die Stirn ihres Bruders. «Schsch … schon gut. Das Sprechen strengt dich zu sehr an.»

«Adelina? Ist er wach?» Meister Jupp betrat die Kammer und beugte sich über den Verletzten. «Guten Morgen, Herr Hauptmann», sagte er betont heiter. «Ihr habt also beschlossen, Euch noch nicht ins Jenseits davonzumachen? Hoffen wir, dass es so bleibt.» Er wandte sich an Adelina. «Mach bitte ein wenig Platz, damit ich mir seine Wunden ansehen kann. Und Ihr untersteht Euch, wieder ohnmächtig zu werden, Hauptmann! Ihr müsst mir sagen, wo der Schmerz sitzt.»

Adelina sah schweigend zu, wie Jupp ihren Bruder untersuchte. Neklas war ebenfalls an das Bett getreten und ging seinem Freund zur Hand.

Als Tilmann unter den kundigen Händen des Chirurgen gequält aufstöhnte, schauderte Adelina. Dabei fiel ihr auf, dass Mira noch immer in einer Ecke des Raumes stand und den Männern ebenfalls zusah.

«Was tust du denn noch hier?», fragte sie ruppiger als beabsichtigt. Das Stöhnen ihres Bruders zerrte an ihren Nerven.

Mira war ein wenig blass, machte aber ein entschlossenes Gesicht. «Ich möchte helfen, das habe ich doch gesagt.»

«Du kannst hier nichts tun», erwiderte Adelina. «Geh wieder an deine Arbeit und –»

«Ich weiß, wo wir den Hauptmann verstecken können», unterbrach Mira sie hastig. Bevor Adelina darauf etwas sagen konnte, fuhr sie fort: «Der Vogt vermutet ihn irgendwo in der Stadt, nicht wahr?»

«So sagte Neklas.» Adelina nickte.

«Aber er wird ihn nicht unter der Stadt suchen.»

«Unter der Stadt?», echote sie verblüfft.

Mira nickte heftig. «Ja, Ihr wisst, was ich meine: in der Unterwelt. Es gibt doch diesen kleinen Lagerraum unterhalb Eures Kellers, von dem aus man in die alten römischen Gänge unterhalb Kölns gelangt. Auf diesem Weg habt Ihr doch damals heimlich das Haus verlassen, als Ihr nach dem Teufelsanbeter suchtet.» Mira machte eine ausholende Geste. «Da unten wird ihn bestimmt niemand vermuten. Und man kann auch von außen an das Versteck herankommen, wenn es sein muss.»

«Also, ich weiß nicht …» Skeptisch sah Adelina ihre Gesellin an.

«Mira hat nicht ganz unrecht», mischte sich Neklas ein. Er wischte seine Hände an einem Tuch sauber. «Wenn du Tilmann verstecken willst, muss es ein sicherer Ort sein. Das Kellerverlies ist der sicherste Ort, der mir einfällt.»

«Aber wie sollen wir ihn dort hinunterbringen?» Zweifelnd blickte Adelina von ihrem Mann zu Mira und dann zu Jupp, der sich ebenfalls umgedreht hatte. «Können wir ihn transportieren?»

Jupp hob die Schultern und schüttelte gleichzeitig den Kopf. «In diesem Zustand eigentlich nicht.» Prüfend blickte er über eine Schulter auf den Verwundeten. «Wollt ihr das wirklich tun? Ihr beide könntet in Teufels Küche kommen, wenn sie erfahren, dass ihr ihn versteckt. Er steht immerhin unter Mordverdacht.»

«Er ist mein Bruder!» Adelina funkelte ihn verärgert an.

Neklas legte ihr begütigend eine Hand auf den Arm. «Adelina hat ihm ihr Wort gegeben. Wir verstecken ihn, bis wir wissen, was sich wirklich zugetragen hat.»

Jupp kräuselte die Lippen, nickte dann aber. «Also gut. Ich verstehe euch. Er hat euch in einer schweren Zeit beigestanden. Ich wäre der Letzte, der das nicht anerkennen würde. Aber transportieren …» Wieder schüttelte er den Kopf. «Das könnte ihn das Leben kosten.»

«Ich … gehe … unten», kam vom Krankenlager überraschend deutlich Tilmanns Stimme. «Lieber tot … als … habe Clais nicht …»

Adelina eilte zum Bett. «Du willst, dass wir dich in das Verlies hinunterbringen?»

Tilmann nickte. Sie wischte ihm noch einmal den Schweiß von der Stirn und blickte dabei zu Jupp hoch. «Er beginnt zu fiebern.»

«Das war zu erwarten.» Jupp stellte sich neben sie und blickte mit besorgter Miene auf den Hauptmann hinab. «Er ist noch lange nicht über den Berg, Adelina. Im Gegenteil – ich fürchte, das Schlimmste steht uns noch bevor. Er ist kräftig, aber …» Er zuckte die Achseln.

«Bringt mich hinunter.» Tilmann versuchte sich aufzurichten und ächzte vor Schmerzen.

«Halt, mein Freund! Nicht so schnell.» Jupp drückte ihn mit Leichtigkeit wieder zurück auf die Matratze. «Stur wie ein Esel.» Er schüttelte grimmig den Kopf. «Kommt mir bekannt vor.» Er warf Adelina einen bezeichnenden Seitenblick zu. «Komm, Neklas, wir holen von nebenan meine Trage. Adelina, öffne die Luke zu dem Verlies. Und jemand muss auf den Hauptmann aufpassen. Nicht, dass er noch einmal versucht aufzustehen.»

«Das mache ich», bot Mira rasch an und trat an das Bett. «Ich gebe schon auf ihn acht.»

 

«Was macht ihr denn da?», fragte Griet neugierig. Sie war durch das Hinterzimmer in den Flur getreten und verfolgte mit großen Augen, wie Jupp und Neklas die hölzerne Trage hereinbrachten.

«Geh rasch wieder in die Apotheke», wies Adelina sie an, «und schließ die Zwischentüren. Wir bringen Tilmann hinunter in den Keller.»

«In den Keller?» Verblüfft hob das Mädchen den Kopf, doch dann lächelte es verstehend. «Ihr versteckt ihn da unten! Das ist eine gute Idee. Da findet ihn so schnell niemand. Ich passe auf, dass keiner reinkommt.» Sie machte auf dem Absatz kehrt und war wieder in der Apotheke verschwunden. Augenblicke später streckte sie doch wieder den Kopf durch die Tür. «Mutter? Kommst du mal bitte? Magister van Stijn ist da und will dich sprechen. Er braucht Arzneien für die Universität.»

«Ach herrje, auch das noch!» Adelina blickte unsicher zu Neklas, der ihr mit einem Handzeichen zu verstehen gab, dass sie ruhig gehen sollte.

«Wir machen das schon, Herrin», sagte Franziska, die mit Katharina auf dem Arm gerade die Stiege herabgekommen war. «Ich lasse Katharina bei Magda und Vitus in der Küche und helfe den anderen beim Tragen.»

«Vitus!» Adelina wurde blass. «Er soll besser nicht wissen, was wir hier tun. Ein solches Geheimnis kann er sicher nicht bewahren.»

«Wir machen das schon, Meisterin», sagte auch Mira, die aus Vitus’ Kammer getreten war. «Franziska, kümmere dich ruhig um Katharina und Vitus. Ich helfe hier.»

«Ich bin auch noch da», kam Maries Stimme von der Hintertür. Sie krempelte die Ärmel ihres grünen Kleides hoch. «Zu viert werden wir Tilmann schon nach unten schaffen. Lass van Stijn nicht länger warten, Adelina.»

Trotz dieser vielen helfenden Hände wandte sich Adelina nur widerstrebend der Apotheke zu. Doch sie würde sich wohl oder übel um den Medicus der Universität kümmern. Der Alltag in ihrem Geschäft musste weitergehen, als sei nichts geschehen.

 

Der Schmerz wühlte in seinen Eingeweiden wie der Gottseibeiuns höchstselbst. Ein rötlicher Schleier hatte sich über seine Augen gelegt, und zugleich waberte etwas wie Nebel um ihn herum.

«Hauruck!», hörte er die Stimme des Baderchirurgen. Im nächsten Moment wurde er in die Luft gehoben und gleich darauf auf einer harten, glatten Unterlage wieder abgelegt. Der Schmerz, der zuvor schon unerträglich gewesen war, raubte ihm nun beinahe die Sinne.

«Verflucht!», hörte er erneut den Chirurgen. «Er blutet wieder. Tücher, Neklas! Und etwas Schweres, einen Stein am besten. Marie, hol einen Stein aus dem Hof. Und du, Mädchen, hältst den Kerl fest, damit er uns nicht von der Trage rutscht.»

Mädchen? Irritiert vergaß er für einen Moment seinen Schmerz und versuchte, den roten Schleier zu vertreiben. Ein blonder Haarzopf baumelte vor seinem Gesicht. Was hatte sie hier zu suchen? Das fehlte ihm noch. Er versuchte zu protestieren, als sie ihn an den Schultern festhielt, doch kein Wort kam über seine Lippen. Ihre blauen Augen erschienen ihm riesig in ihrem feingeschnittenen Gesicht. Sie starrte ihn an. Nein, sie blickte überraschend besorgt. Zumindest fiel sie beim Anblick seiner Wunden nicht gleich um.

«Ist er noch wach? Wie geht es ihm?»

Plötzlich verdoppelte sich das Gesicht vor ihm. Ein zweites paar blaue Augen richtete sich auf ihn. Noch mehr blondes Haar. Phantasierte er? Hatte der Schmerz ihn irre gemacht? Halt, nein, das zweite Paar Augen war heller, das blonde Haar unter der Haube ebenfalls – fast weiß sogar. Die Frau des Chirurgen, Marie Kornbläser. Die verstand wenigstens etwas von Krankenpflege. Verdammt, wie er das hasste! Er konnte sich nicht rühren, ohne zu riskieren, dass die Wunden noch weiter aufrissen und sein wertvolles Blut, sein Lebenssaft, in Strömen aus ihm hinausfloss. Beim Gedanken daran wurde ihm übel.

«Wir binden ihn fest», bestimmte Jupp. «Anders geht es nicht. Aber ich weiß immer noch nicht, wie wir ihn durch die Luke und die enge Stiege hinab befördern sollen.» Seiner Stimme war die Skepsis anzuhören.

«Werde … gehen», brachte Tilmann einigermaßen deutlich heraus.

Prompt wandten sich auch die Gesichter des Chirurgen und seines Schwagers ihm zu.

«Was sagt Ihr da?», fragte Jupp. «Ihr wollt laufen? Das macht mir mal vor in Eurem Zustand. Halt, nein, du liebe Zeit! Vergesst das sofort wieder, Hauptmann. Mira, halt ihn fest!»

«Finger weg», krächzte er und ärgerte sich, dass seine Stimme so wenig Autorität innewohnte.

«So liegt doch still, Hauptmann Greverode!», schimpfte Mira. «Wenn Ihr derart herumzappelt, kriegen wir Euch nie in den Keller hinunter.»

Er hustete. «Zappele nicht.»

«Und wie Ihr das tut! Seht Euch das an, die Seite blutet auch wieder. Nein, jetzt bleibt endlich ruhig liegen!» Sie drückte ihn an den Schultern nach unten. War er so schwach oder sie kräftiger, als er gedacht hatte? Und wie kam sie dazu, ihm Anweisungen zu geben?

Er spürte, wie er an Füßen, Beinen und Brustkorb mit ledernen Gurten an die Trage gefesselt wurde. Ärgerlich verdrehte er die Augen. Konnte er wirklich nicht laufen? Als wenig später Jupp und Ludowig die Trage anhoben, wurde ihm schwindelig. Rasch schloss er die Augen.

«Vorsichtig!», rief Jupp, dann kippten seine Füße nach unten.

«Ganz langsam jetzt», wies der Chirurg den Knecht an.

Tilmann spürte, wie es abwärts ging. Sein Gewicht zog ihn zusätzlich nach unten. Die Wunde am Bauch stach wie tausend Teufel. Übelkeit und noch mehr Schwindel überkamen ihn. Er konnte gerade noch hören, wie Jupp fluchte: «Da haben wir’s. Er verliert die Besinnung. Na, vielleicht ist es besser so. Dann hält er wenigstens still.» Im nächsten Moment hüllte ihn die Dunkelheit ein wie eine weiche Decke.

 

Adelina eilte in den Keller, kaum dass Magister van Stijn die Apotheke wieder verlassen hatte. Vorsichtig stieg sie die schmalen Steinstufen in das Gelass hinab, das sie erst vor drei Jahren zufällig unterhalb des Laboratoriums entdeckt hatte. Es handelte sich um einen fast quadratischen Raum, der an drei Seiten von hohen Eichenregalen gesäumt wurde. Eine Tür führte in einen Gang, durch den man bis zu einem alten, vergessenen Beinhaus gelangen konnte. Hinter dem Beinhaus gingen weitere Gänge in die Unterwelt von Köln – alte Ruinen von Römerbauten und -palästen, in denen sich allerlei Gesindel eingenistet hatte. Von ihren Vorfahren war der Raum vermutlich als Vorratskammer genutzt worden, denn Adelina hatte halbverrottete Kisten und Körbe, Zinngeschirr und sogar ein uraltes Weinfässchen gefunden. Die Töpfe, Teller und Becher hatte sie inzwischen in Gebrauch genommen, den Unrat aus den Regalen entfernt. Anfangs hatte sie überlegt, die Kammer ebenfalls für Vorräte zu benutzen, doch dann war das Vorhaben wieder in Vergessenheit geraten.

Tilmann lag inzwischen auf einer Strohmatratze, die Franziska und Ludowig aus der Gästekammer herbeigeholt hatten. Adelina beugte sich über ihn und fühlte seine schweißnasse Stirn.

«Er hat Fieber», sagte Jupp. «Und es steigt mit jeder Minute. Ich fürchte, wir haben ihm mit diesem Transport keinen guten Dienst erwiesen. Die Wunden sind noch zu frisch, und ich kann nicht einmal sagen, wie schlimm seine inneren Verletzungen sind. Vielleicht hatte er Glück, aber wenn die Wunden brandig werden, solltest du nicht zögern, einen Priester zu holen.»

Adelina nickte betroffen. So sehr sie sich in der Vergangenheit immer wieder über Tilmann Greverode geärgert hatte, so schlimm ihre Auseinandersetzungen mit ihm gewesen sein mochten – sie wollte nicht, dass er starb. Er war ihr Bruder. Es hatte eine Weile gedauert, bis sie diese Tatsache verarbeitet und das Handeln ihrer Mutter so viele Jahre zuvor akzeptiert hatte.

Sieglinde Merten hatte Tilmann außerhalb der Ehe empfangen und geboren und ihn gleich nach der Geburt der Familie seines Vaters überlassen, ohne sich jemals wieder nach ihm zu erkundigen. Adelina wusste nicht einmal, ob ihr eigener Vater eine Ahnung von der Existenz dieses Kindes gehabt hatte. Heute fragte sie sich manchmal, welche Geheimnisse ihre Eltern wohl noch vor ihr verborgen hatten. Vermutlich würde sie es nie erfahren.

«Hol einen Eimer frisches Wasser und saubere Tücher», wandte sie sich an Franziska. «Und einen Stuhl und …» Sie blickte sich in dem kargen Raum um. «Ein Kohlebecken. Es ist kalt hier unten.»