Versprich mir, dass du tanzt - Dani Atkins - E-Book

Versprich mir, dass du tanzt E-Book

Dani Atkins

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Beschreibung

 Jetzt das eBook zum Einführungspreis sichern!   Ein furchtbarer Verlust, ein letztes Versprechen und zwei ergreifende Liebesgeschichten »Versprich mir, dass du tanzt« ist eine Achterbahnfahrt der ganz großen Gefühle von Bestseller-Autorin Dani Atkins, der Meisterin der tief berührenden Liebesromane mit ungewöhnlichen Twists. Es ist der erste Hochzeitstag, den Lily ohne ihren geliebten Adam verbringen muss. Sie sitzt im Garten ihrer Eltern und sieht Adams Hund zu, der durch die Äste eines gefällten alten Baumes tobt. In diesem Baum hat Lily schon als Kind gesessen – auch an dem Tag, an dem sie Josh kennengelernt hat, den Pflegesohn der Nachbarsfamilie. Lily betrachtet ihre Namen, die Josh in die Rinde geritzt hat, und erinnert sich: an den furchtbaren Streit mit Josh am Abend vor ihrer Hochzeit mit Adam; an die letzten Tage mit ihrem krebskranken Mann voller Liebe und wärmender Erinnerungen. Und an Adams letzten Wunsch: dass sie Josh suchen soll, um sich mit ihm auszusprechen – und um Adam und ihm zu vergeben … Zum Träumen, zum Weinen und zum Mitfiebern: ein dramatischer Liebesroman voller überraschender Wendungen »Es ist ein emotionales Drama mit ganz besonderen Figuren, in die sich die Leute hoffentlich genauso verlieben werden, wie ich es getan habe. Ich möchte nicht zu viel verraten, aber ich kann sagen, dass mich das Schreiben des ersten Kapitels zum Weinen gebracht hat, was mir noch nie passiert ist.« Dani Atkins im Frost Magazine Entdecke auch die anderen zu Herzen gehenden Romane von Dani Atkins über Liebe, Familie und Freundschaft: - Die Achse meiner Welt - Die Nacht schreibt uns neu - Der Klang deines Lächelns - Sieben Tage voller Wunder - Das Leuchten unserer Träume - Sag ihr, ich war bei den Sternen - Wohin der Himmel uns führt - Heller als alle Sterne (Kurzroman) - Bis zum Mond und zurück - Sechs Tage zwischen dir und mir - Was die Sterne dir schenken

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Seitenzahl: 533

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Dani Atkins

Versprich mir, dass du tanzt

Roman

Aus dem Englischen von Simone Jakob und Anne-Marie Wachs

Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.

Über dieses Buch

Als Kinder waren Lily und Josh beste Freunde, unzertrennlich. Doch am Abend vor Lilys Hochzeit mit Adam wendet sich Josh plötzlich von ihr ab. Seitdem hat sie ihn nie wiedergesehen.

Lily und Adam lieben sich von ganzem Herzen. Sie könnten nicht glücklicher sein – bis Adam krank wird. In seinen letzten Stunden bittet er Lily um ein rätselhaftes Versprechen: Sie soll Josh finden und ihnen beiden vergeben.

Josh ausfindig zu machen, ist nicht leicht, doch das Schicksal scheint entschlossen, sie zueinanderzuführen. Als ein Schneesturm sie in Joshs abgelegenem Haus in Schottland von der Außenwelt abschneidet, müssen sie sich ihren komplizierten Gefühlen füreinander stellen. Doch als Lily schließlich erfährt, welcher schockierende Grund hinter Adams unerwartetem letztem Wunsch steckt, bleibt ihr nur noch eines übrig: Um die Vergangenheit zu verarbeiten und nach vorn zu blicken, muss sie ihrem Herzen voll und ganz vertrauen.

 

 

Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de

Inhaltsübersicht

Widmung

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Danksagung

 

 

 

 

Für Cassidy

 

Willkommen, Kleines

Prolog

Die Glocke, die das Ende der Besuchszeit signalisierte, hatte schon vor einiger Zeit geläutet, doch ich hatte sie ignoriert. Fast wünschte ich, jemand würde kommen und mich deshalb zur Rede stellen, denn mir war nach Streit zumute. Ich war von einem schwelenden Zorn erfüllt, der jeden Moment auszubrechen drohte wie ein aktiver Vulkan.

»Ich hasse dich für das alles!«, sagte ich zu einem Gott, an den ich nicht glaubte, nur für den Fall, dass er sich wider Erwarten auf der anderen Seite des wasserfleckigen Spiegels in der Damentoilette befand.

Es kam keine Antwort, und aus dem Spiegel blickte mir nur eine Frau entgegen, die etwa ein Jahrzehnt älter wirkte als die gut dreißig Jahre, die in ihrer Geburtsurkunde vermerkt waren. Ich sah sogar noch schlimmer aus als auf meinem Passfoto, was ich bisher für unmöglich gehalten hatte.

Meine Augen waren zwar nicht mehr rot gerändert, weil man sich irgendwann ausgeweint hat, aber von einer schmerzlichen Trauer über etwas erfüllt, das noch gar nicht eingetreten war.

Doch heute Nacht würde es so weit sein.

Meine Haare waren frisch gewaschen – nicht weil es mir wichtig war, wie ich aussah, sondern weil Adam es immer geliebt hatte, das Gesicht in den langen kastanienbraunen Strähnen zu vergraben und den Apfelduft meines Shampoos einzuatmen. Zumindest dazu war er noch in der Lage, obwohl er mich schon seit Wochen nicht mehr in die Arme schließen und küssen konnte, bis ich kaum noch Luft bekam, ganz zu schweigen davon, mich hochzuheben, in unser Schlafzimmer zu tragen, mich auf die kühlen, frischen Laken zu werfen und …

»Lass das«, befahl ich meinem Spiegelbild energisch. »Denk bloß nicht daran, Lily.«

Hinter mir ging die Tür auf, und ich senkte den Blick, als ich eine andere regelmäßige Besucherin des Hospizes erkannte. Sie war älter als ich, und wir nickten uns im Aufzug oder auf dem Flur immer zu. Nach dem heutigen Tag würde ich sie wohl nie wiedersehen.

Ich nahm mir eine Handvoll Papiertücher, da ich es zu eilig hatte, um knapp zwanzig Sekunden mit dem elektrischen Händetrockner zu verschwenden. Als ich wieder in Adams Zimmer schlüpfte, fiel mein Blick automatisch auf die Uhr an der Wand. Ich war sechs Minuten weg gewesen. Sechs Minuten, die ich nie zurückbekommen würde.

Adams Augen waren geschlossen, doch sie öffneten sich flatternd, als ich den Stuhl zum Bett zog und er dabei über den Boden schabte. Adam wandte mir langsam den Kopf zu. Als er dabei zusammenzuckte, spürte ich seinen Schmerz wie meinen eigenen.

»Hallo, du Schöne«, sagte er mit einer Stimme, die klang wie die eines Hundertjährigen.

Ich lächelte traurig. »Das bin ich nur noch in deinen Augen.«

Er schluckte mühsam, und im Nu war ich wieder auf den Beinen und griff nach dem Glas Wasser mit Strohhalm. Ich schob die Hand unter seinen Nacken und hob seinen Kopf vom Kissen, weil er nicht mehr die Kraft hatte, es selbst zu tun. Noch vor wenigen Wochen hatte er einen zwei Meter hohen Weihnachtsbaum drei Stockwerke in unsere Wohnung hinaufgetragen, und heute konnte er nicht einmal mehr den Kopf heben, um aus einem verdammten Plastikbecher zu trinken.

Ich schaute kurz zum Fenster hinüber, weil ich nicht wollte, dass er die Wut in meinen Augen sah. Adam war der beste Mensch, den ich kannte – der beste Mensch, den alle kannten, die ihn je getroffen hatten, und die Tatsache, dass nach dem heutigen Tag niemand mehr die Chance haben würde herauszufinden, wie fantastisch er war, war nichts weniger als ein Skandal.

Ich erkannte an seinem Blick, dass er genug getrunken hatte, und bettete seinen Kopf zurück aufs Kissen.

»Hast du Schmerzen? Soll ich jemanden rufen?« Ich hatte den Finger schon fast auf der Ruftaste. Er schüttelte den Kopf. Die Medikamente machten ihn schläfrig, und seit man uns vor ein paar Tagen mitgeteilt hatte, dass seine Zeit bald ablief, hatte er sich geweigert, sie zu nehmen.

»Ich will keine Sekunde damit verschwenden, umnebelt zu sein. Wenn uns nur noch so wenig Zeit bleibt …«, hatte Adam gesagt.Da konnte ich mich nicht mehr beherrschen und schluchzte los, und er nahm meine Hand, ehe er fortfuhr: »Wenn uns nur noch so wenig Zeit bleibt, dann will ich ganz hier sein, in diesem Moment, bei dir, bis zu meinem letzten Atemzug.«

»Wir werden noch wesentlich länger zusammen sein! ›Für immer‹, hatten wir uns versprochen, weißt du nicht mehr? Wir haben es sogar in unser Ehegelöbnis geschrieben. Da kannst du dich jetzt nicht mehr rauslavieren, Kumpel.«

»Ich bin mir nicht sicher, ob man Sterben als ›Rauslavieren‹ bezeichnen kann«, erwiderte er sanft. »Aber ich bin leider nicht imstande, das Versprechen einzuhalten. Es tut mir unendlich leid, dass ich dir das zumute, Lily. Du solltest mich verklagen.«

Adam war fest entschlossen gewesen, mich zum Schmunzeln zu bringen, auch wenn es mir das Herz zerriss.

»Ist Fletcher noch da?«, fragte er jetzt unerwartet.

Ich schluckte, ehe ich antwortete. Adams Kurzzeitgedächtnis war neuerdings unzuverlässig wie ein Radiosignal, das immer wieder auf eine andere Frequenz umsprang.

»Nein, mein Schatz. Raegan hat ihn vor ein paar Stunden mit zu sich nach Hause genommen. Weißt du nicht mehr?«

Ich sah zu, wie der Mann, den ich liebte und der einen IQ auf MENSA-Niveau hatte, die Bruchstücke seines fragmentierten Gedächtnisses zusammenzusetzen versuchte.

Fletcher war Adams Hund. Er war sogar noch länger Teil von Adams Leben als ich, und ich weiß wirklich nicht, was ich getan hätte, wenn das Hospiz mir die Bitte, ihn für einen letzten Besuch hierherzubringen, abgeschlagen hätte.

Die Krankenschwester, die ich danach fragte, hatte tief Luft geholt, ehe sie antwortete, und ich wappnete mich schon dafür, all die überzeugenden Argumente ins Feld zu führen, die ich mir in der Nacht zuvor zurechtgelegt hatte.

»Ja, natürlich ist das möglich«, hatte die Schwester jedoch erwidert. »Am besten, Sie bringen ihn gleich morgen mit.« Und statt ihr für ihre Freundlichkeit zu danken, war ich in Tränen ausgebrochen, denn ich wusste, was dieses Zugeständnis bedeutete. Die Uhr, die die Zeit anzeigte, die uns noch blieb, tickte plötzlich immer lauter.

Fletcher war kein besonders kluger Hund. Er hatte die Angewohnheit, Hausschuhe, die Post und manchmal sogar Socken anzuknabbern. Es war schwer zu sagen, wie er in der fremden Umgebung mit so vielen ungewohnten Geräuschen und Gerüchen reagieren würde.

Heute hatte er auf der Fahrt zum Hospiz neben mir auf dem Beifahrersitz gesessen, und ausnahmsweise war er nicht unruhig, kratzte nicht an der Tür oder versuchte, auf meinen Schoß zu klettern. Als wir den Parkplatz erreichten, setzte er sich auf und blickte zu dem niedrigen roten Backsteingebäude hinüber, in dem sein Herrchen seit einiger Zeit untergebracht war.

Dann hatte er ein sehnsüchtiges Winseln von sich gegeben.

»Spürst du es, Fletcher? Ahnst du, dass er da drin ist?«

Fletcher schaute mich mit einem Blick an, der mir plötzlich wissend vorkam.

»Du musst heute ganz brav sein«, sagte ich, als ich ihn anleinte. »Nicht, dass sich jemand aufregt.«

Adams Hund blickte mir ins tränenüberströmte Gesicht, als wollte er sagen, dass es dafür ohnehin zu spät sei.

»Du bist hier, um dich von ihm zu verabschieden, mein Junge«, flüsterte ich mit brüchiger Stimme. Fletcher betrachtete mich mit einem fast menschlichen Ausdruck von Mitgefühl. »Aber ich glaube, das weißt du, nicht wahr?«

Zwei Stunden lang hatte Adams Hund neben dem Bett gesessen, in Reichweite der Hand, die seine weichen Ohren kraulte, so wie schon tausendmal zuvor. Doch diesmal war das letzte Mal. Und so herzzerreißend es auch war, ich glaube, die Anwesenheit seines vierbeinigen Freundes trug dazu bei, Adam zu beruhigen.

Gegen Ende des Besuchs hatte ich den Hund auf das Bett gehoben. Und trotz der unzähligen Schläuche und Kabel verhedderte sich Fletcher, der wahrscheinlich der tollpatschigste Hund der Welt war, in keinem davon. Er legte sich einfach aufs Bett und blickte mit einer Hingabe zu seinem Besitzer auf, die sich nur mit meiner messen konnte. Wir beide liebten diesen Mann aus tiefstem Herzen. Und heute Nacht würden wir ihn beide verlieren.

*

Die Hospizmitarbeiter gingen die ganze Nacht über unauffällig in Adams Zimmer ein und aus, kümmerten sich um ihn, kümmerten sich um mich, stellten die Maschinen richtig ein und verschwanden dann lautlos wieder im Dunkel. Jemand hatte die grelle Deckenbeleuchtung ausgeschaltet, sodass der Raum ins gedämpfte Licht der Lampe am Kopfende des Bettes getaucht war. Es war hell genug, um jedes Detail jenes Gesichts zu erkennen, neben dem ich die nächsten sechzig Jahre hatte aufwachen wollen. Der Gedanke traf mich unvorbereitet, und was auch immer ich hatte sagen wollen, ging in meinem erstickten Schluchzen unter.

»Ach, Liebling«, sagte Adam und schaffte es, seinen Arm vom Bett zu heben. »Komm her.«

Ich suchte mir in dem Gewirr aus Kabeln und Schläuchen einen Platz neben ihm, um den Kopf auf seine Brust zu betten. Das war immer mein Lieblingsplatz zum Schlafen gewesen, mit seinem beruhigenden, gleichmäßigen Herzschlag in meinem Ohr. Heute Nacht war er jedoch unregelmäßig. Auf ein paar schnelle Schläge folgten mehrere langsame mit quälend langen Pausen dazwischen.

»Adams Leben wird sich immer mehr verlangsamen«, hatte man mir gesagt. »Er wird benommen sein und vielleicht immer wieder für längere Zeit schlafen. Er wird nichts mehr essen und trinken wollen. Sein Körper wird nach und nach abschalten.«

»Wird er … wird er Schmerzen haben?«, hatte ich gefragt, das Gesicht voller Tränen, die abzuwischen ich mir nicht die Mühe machte.

»Das werden wir nicht zulassen«, hatte der Arzt sanft erwidert. »Er bekommt alles, was er braucht.«

Und diese Worte waren mir nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Denn was mein Mann wirklich brauchte, war das Einzige, was ihm niemand geben konnte: ein Wunder. Ein Heilmittel für die Krankheit, die ihn uns entriss.

»Leg dich mit unter die Decke«, sagte Adam jetzt mit leiser Stimme.

»Ich bin mir ziemlich sicher, dass das verboten ist«, flüsterte ich, streifte jedoch bereits die Schuhe ab und blickte besorgt zur Tür, als sie mit einem lauten Poltern zu Boden fielen.

»Sie werden mich wohl kaum wegen schlechten Benehmens rausschmeißen.«

»Werden wir uns denn schlecht benehmen?«, fragte ich in dem Versuch, ihn zum Lächeln zu bringen. Adam hatte das schönste Lächeln, das ich kannte.

»Schön wär’s«, sagte er voller Bedauern und sah mir tief in die Augen.

Es kam mir nicht richtig vor, dass ich mich nach all den Jahren immer noch an das erste Mal erinnern konnte, als wir miteinander geschlafen hatten, aber nicht ans letzte Mal.

Alles, was ich wusste, war, dass es irgendwann zwischen der vagen Besorgnis über Adams hartnäckige Symptome und dem Tag gewesen sein musste, an dem wir blass und verängstigt in der Praxis des Onkologen gesessen hatten.

»Bitte reden Sie Klartext mit mir«, hatte Adam ihn gebeten. »Ich will keine geschönte Version der Wahrheit. Wie schlimm ist es?«

Der Arzt hatte lange geschwiegen. Er brauchte keinen Blick auf die Untersuchungsergebnisse oder die Röntgenbilder zu werfen, die vor ihm auf dem Schreibtisch lagen, sondern blickte Adam direkt in die Augen.

»Schlimm«, sagte er leise. »Sehr schlimm.«

*

Minuten wurden zu Stunden. Es gab einen Schichtwechsel beim Personal, dann wurde es auf dem Flur vor Adams Zimmer wieder ruhig.

»Erzähl mir was«, sagte Adam, während ich mich immer noch an ihn schmiegte.

»Was denn?«

Der Anflug eines Lächelns spielte um seine Lippen. »Irgendwas. Ich will einfach nur deine Stimme hören. Sag mir, was du bei unserer ersten Begegnung über mich gedacht hast.«

»Das ist leicht. Dass du ein ziemlicher Idiot bist. Viel zu sehr von dir überzeugt.«

Er gab ein leises Kichern von sich, das in einen beunruhigenden Hustenanfall überging. Seine Lunge war ebenfalls befallen, und sein Atem wurde von einem schrecklichen Rasseln begleitet.

Ich tat, worum er mich bat, und erzählte ihm Geschichten, die alle mit den Worten »Weißt du noch« begannen. Sie brachten uns zum Lachen und zum Weinen, aber das war auch in Ordnung, weil wir es zusammen taten. »Zusammen« war ein Luxus, der uns nicht mehr lange bleiben würde.

Als würde Adam ahnen, welche düstere Richtung meine Gedanken eingeschlagen hatten, drückte er mich fester an sich. Es war inzwischen nach Mitternacht.

»Lily, ich habe eine Bitte an dich. Ich möchte, dass du mir etwas versprichst.«

»Noch mehrVersprechen?«, sagte ich und versuchte, unbeschwert zu klingen, aber etwas an seinem Tonfall verursachte mir Gänsehaut.

In den letzten Tagen und Wochen hatte er mir eine ganze Reihe von Versprechen abgenommen. Die meisten waren im Bereich des Machbaren.

»Versprich mir, dass du daran denkst, das Auto regelmäßig warten zu lassen«, hatte er zum Beispiel gesagt.

»Du machst dir Sorgen um das Auto?«, hatte ich ungläubig gefragt.

»Ich mache mir Sorgen um dich. Ich will mir meine Zeit im Jenseits nicht dadurch verderben, dass ich mich aufrege, weil du mit kaputten Bremsen durch die Gegend fährst.«

Neben Erheiterung lag echte Sorge in seinem Blick.

»Okay, Liebster. Ich verspreche dir, dass ich den Wagen regelmäßig in die Werkstatt bringe.«

Aber nicht alle Versprechen waren so leicht zu erfüllen.

»Und versprich mir, dass du nächstes Jahr trotzdem nach Australien fliegst, so wie wir es geplant hatten.«

Traurig hatte ich den Kopf geschüttelt. »Ich will das nicht ohne dich machen. Das war unser Traum.«

Adam hatte meine Hand in seine genommen und sie sanft gedrückt. »Es ist immer noch unser Traum. Und wenn du auf der Sydney Harbour Bridge stehst, werde ich an deiner Seite sein. Das ist mein Versprechen an dich.«

Die Vorstellung hatte mir irgendwie gefallen, und so sagte ich auch dazu Ja.

»Dann mal raus damit«, murmelte ich jetzt in die Stille des Hospizzimmers.

»Es ist eigentlich ein zweiteiliges Versprechen, aber es ist das wichtigste von allen.«

Ernst sah er mich an. Fast so, als wüsste er bereits, wie ich reagieren würde.

»Okay. Was auch immer es ist, ich verspreche dir, ich werde es tun«, sagte ich und strich sanft über seine gerunzelte Stirn.

»Gut.« Adam nickte langsam. »Denn ich möchte, dass du Josh aufsuchst und das mit ihm ins Reine bringst.«

»Nein«, platzte ich heraus. »Auf gar keinen Fall«, fügte ich mit Nachdruck hinzu. Ich versuchte, mich aus Adams Umarmung zu befreien, doch er hielt mich mit überraschender Kraft fest.

»Ich muss wissen, dass alles gut wird, wenn ich nicht mehr da bin, Lily. Du musst dich mit ihm treffen.«

»Nein, muss ich nicht«, sagte ich, diesmal sanfter, aber nicht weniger entschlossen. »Ich komm schon klar, mein Schatz. Das habe ich dir doch gesagt. Ich werde zwar traurig sein und mein Herz für eine sehr lange Zeit, vielleicht für immer, gebrochen, aber ich muss mich nicht mit demMann treffen, dessen letzte Worte an mich waren, dass er mich nie wiedersehen will.«

»Das war meine Schuld«, sagte Adam mit brüchiger Stimme.

»Ich habe mich für dich entschieden, nicht für Josh«, erinnerte ich ihn und drückte ihm einen Kuss auf die Lippen, die sich so trocken anfühlten wie Sandpapier. »Ich werde mich immer für dich entscheiden. In diesem Leben wie im nächsten.«

Adam schüttelte den Kopf, und eine der Maschinen, an die er angeschlossen war, gab ein beunruhigend hektisches Piepsen von sich. All das regte ihn auf, und das war das Letzte, was ich wollte.

»Bitte, Lily. Tu’s für mich. Geh zu ihm. Hör dir an, was er zu sagen hat. Und wenn du es dir angehört hast, verzeih ihm. Und dann verzeih mir.«

»Das ist doch Unsinn«, sagte ich mit zitternder Stimme. War das der Anfang vom Ende? Man hatte mich vorgewarnt, dass Adam unter Verwirrung, vielleicht sogar Wahnvorstellungen leiden würde, und mir das Versprechen abnehmen zu wollen, den Mann zu treffen, den ich abgewiesen hatte, um mit ihm, Adam, zusammen zu sein, konnte nur ein Hirngespinst sein.

»Du brauchst noch nicht zu erfahren, weshalb ich dich darum bitte, aber du musst mir versprechen, dass du es tust.«

Ich seufzte tief. »Na schön. Wenn es dir so viel bedeutet, dann mache ich es.«

»Und warte nicht zu lange. Geh bald zu ihm. Versprich es mir.«

»Ich verspreche es.«

Wahrscheinlich ist ein besonderer Platz in der Hölle für Leute reserviert, die jemanden anlügen, der im Sterben liegt. Nun, ich war auf dem besten Weg dorthin.

*

Es geschah in den dunkelsten Stunden nach Mitternacht, wenn so viele schließlich den Kampf verlieren. Dass der Zeitpunkt näher rückte, war mir klar, als ich den besorgten Blick der Krankenschwester sah, die nach ihm schauen kam.

Ich wollte aus dem Bett aufstehen, aber die ältere Frau, mit der ich nie richtig warm geworden war, hielt mich davon ab, indem sie mir fest die Hand auf die Schulter legte.

»Sie sind da genau richtig«, sagte sie leise.

Nur mit Mühe gelang es mir, den Kloß in meinem Hals hinunterzuschlucken.

»Möchten Sie, dass jemand zu Ihnen ins Zimmer kommt?« Sie deutete auf eine dunkle Ecke. »Er könnte ganz still dort drüben sitzen.«

Ich schüttelte den Kopf. »Ich glaube, ich möchte lieber mit ihm allein sein.«

Sanft drückte sie erneut meine Schulter. »Das ist absolut in Ordnung. Rufen Sie uns, falls Sie es sich anders überlegen.«

Adam kämpfte darum, die Augen so lange wie möglich offen zu halten, um in jeder Sekunde, die uns noch blieb, ganz bei mir zu sein. Aber sein Körper verlor den Kampf, und ich machte es ihm noch schwerer, wenn ich zuließ, dass er sich bemühte, für mich noch länger durchzuhalten.

»Mach die Augen zu, mein Schatz.«

»Ich will aber nicht. Ich möchte dich sehen.«

Ich beugte mich vor und küsste ihn sanft. »Ich bin da, egal, ob deine Augen offen oder geschlossen sind.«

»Du bist die Liebe meines Lebens und wirst es immer sein, Lily.«

»Und du meine.«

Er schloss kurz die Augen. »Bitte vergiss nicht, worum ich dich gebeten habe.«

»Das vergesse ich nicht. Ich erinnere mich an alles«, sagte ich. Wenigstens das war nicht gelogen. Es gab ein paar Dinge, die mir für immer im Gedächtnis bleiben würden.

»Ich mache jetzt die Augen zu«, sagte er mit so schwacher Stimme, dass ich es kaum hörte.

»Das ist gut so.«

»Wir sehen uns bald wieder, Lily.«

»Ganz bestimmt.«

Und das war die zweite Lüge, die ich ihm in dieser Nacht auftischte.

Eine Viertelstunde später wurden die Abstände zwischen seinen Atemzügen immer größer, und dann hörte Adam Tennant, mein Ehemann, mein bester Freund und die Liebe meines Lebens, mit der ihm eigenen Würde und Tapferkeit einfach auf zu leben.

Ich blickte auf sein Gesicht hinunter, das zum ersten Mal seit Wochen nicht mehr schmerzverzerrt war. Aus seinem Augenwinkel war eine einzelne Träne geflossen und lag wie ein schimmernder Diamant auf seiner Wange.

Ich beugte mich vor und küsste sie sanft fort.

Kapitel 1

Ein Jahr später

Ich war schon lange vor dem Weckerklingeln wach und beobachtete, wie der tiefschwarze Februarhimmel sich allmählich grau färbte. Obwohl ich geglaubt hatte, auf den heutigen Tag vorbereitet zu sein, fühlte ich mich nun, da er gekommen war, nur noch überfordert.

Ich spürte, wie sich etwas neben meinen Füßen bewegte, und entdeckte Fletcher, der gemerkt zu haben schien, dass die »Nicht-aufs-Bett-springen«-Regelheute womöglich nicht galt. Ich klopfte auf die leere Seite des Bettes, und Adams Hund – der jetzt meiner war – rückte wie ein tierisches Kommando vor und ließ sich neben mir nieder.

Schwer zu sagen, was schlimmer gewesen war: monatelang mitten in der Nacht aufzuwachen, nach Adam zu suchen und nur die kalte Bettwäsche zu ertasten; oder der Tag, an dem auch mein Unterbewusstsein endlich einsehen musste, dass Adam nie wieder dort liegen würde.

Und doch war er nun, zwölf Monate nach seinem Tod, immer noch überall um mich herum präsent, und nie mehr als heute, ein Jahr nach dem Tag, an dem ich ihn verloren hatte.

Das erste Jahr ist das schlimmste, hatten die Leute bei der Beerdigung zu mir gesagt. Vermutlich wollten sie mich damit trösten, mir damit zu verstehen geben, dass es irgendwann besser werden würde, aber damals hatte es sich so angefühlt, wie noch getreten zu werden, wenn man am Boden lag.

Diese ersten dreihundertfünfundsechzig Tage waren wie ein Spießrutenlauf der »ersten Male« gewesen. Einige schmerzten wie Messerstiche, andere unerwartet und scharf, wie wenn man sich an Papier schnitt. Man erwartete zwar, dass das erste Weihnachten, der erste Geburtstag und der erste Hochzeitstag ohne den Partner schmerzlich sein würden – und das waren sie auch. Aber noch schlimmer waren die Situationen, die einen kalt erwischten. Wie etwa das erste Mal, wenn ein Fremder nichts ahnend fragte:»Und, sind Sie verheiratet?«,und man nicht recht wusste, was man antworten sollte, weil man es im Herzen noch war und immer sein würde.

Fletcher hatte anscheinend beschlossen, an diesem Tag die Grenzen auszutesten, denn er war noch höher gekrochen und hatte den Kopf auf das weiche, unberührte Kissen neben mir gelegt.

»Netter Versuch, Hund, aber im Bett zu schlafen, kannst du dir abschminken.«

Ich lächelte flüchtig, als mir der Gedanke kam, dass der Hund meine freie Hälfte des Bettes längst in Beschlag genommen hätte, wäre Adam statt mir allein zurückgeblieben.

Es hatte fast ein halbes Jahr gedauert, bis ich mich dazu durchringen konnte, Adams Kopfkissenbezug zu waschen. Jeden Abend hatte ich sein Kissen an mich genommen und wie ein Junkie seinen noch verbliebenen Geruch eingeatmet, bis fast nichts mehr davon übrig war. Es war ein wichtiger Meilenstein gewesen, als ich den Bezug endlich in die Waschmaschine steckte. Nach der Wäsche hatte ich das Gesicht in dem nassen Stoff vergraben, doch alles, was ich noch riechen konnte, war Weichspüler. Der Name des Produkts war äußerst irreführend, denn sein Duft war eher deprimierend als belebend.

Ich schwang die Beine aus dem Bett und ging ins Bad. Adams Toilettenartikel hatte ich bereits aus dem Regal genommen, nur seine Zahnbürste stand immer noch neben meiner im Glas auf dem Waschbecken. Ich wollte danach greifen, doch dann zog ich die Hand zurück, ohne genau zu wissen, ob ich sie hatte wegwerfen oder benutzen wollen. Ich konnte nicht genau sagen, was schlimmer war.

Auch Fletcher war aus dem Bett gesprungen und wartete geduldig bei der Arbeitsplatte, als ich die Küche betrat. Ich aß zwei Bissen von einer Scheibe Marmeladentoast und legte den Rest in seinen Napf. Kein Wunder, dass ich im letzten Jahr ab-, Fletcher dagegen zugenommen hatte. Ich konnte praktisch hören, wie Adam deshalb mit mir schimpfte, und so zog ich eine dick gefütterte Jacke an und bereitete mich darauf vor, einen längeren Spaziergang als sonst mit Fletcher zu machen, um meinen Fehler auszubügeln.

»Pass gut auf meinen Hund auf«, hatte Adam zu mir gesagt, und dann, in ebenso eindringlichem Ton zu seinem Hund: »Und du, pass gut auf meine Frau auf.«

Fletcher und ich gaben uns wirklich Mühe, aber an manchen Tagen war es schon eine Herausforderung, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Ich hatte gelernt, dass man nicht vor der Trauer davonlaufen kann, weil sie immer weiß, wo sie einen findet. Aber man kann,damit man nicht von einer Lawine der Traurigkeit überrollt wird, ein so geschäftiges Leben führen, dass der Trauer nur übrig bleibt, sich in die Lücken zu drängen.

Dementsprechend war meine Tortenmanufaktur noch nie so ausgelastet und lukrativ gewesen. Raegan, die ich anfangs nur für zwei Tage die Woche als Aushilfe eingestellt hatte, war jetzt in Vollzeit für mich tätig. Ich arbeitete härter und länger als je zuvor, und der Erfolg zeigte sich schwarz auf weiß in der Buchhaltung. Adam wäre sehr stolz auf mich gewesen. Er hatte immer an mich und meine Träume geglaubt, sich meine Pläne angehört und mich unterstützt, als ich beschloss, den Schritt zu wagen und mit meiner Firma aus der winzigen, beengten Küche meiner alten Wohnung in ein richtiges Ladenlokal umzuziehen. Eine Entscheidung, die ich – im Gegensatz zu einigen anderen, die ich getroffen hatte – nie bereut habe.

Diese Überlegungen riefen die Erinnerung an mein gebrochenes Versprechen in mir wach, was wie immer von Gewissensbissen begleitet war, die sich wie tausend Nadelstiche anfühlten. Zum Glück brachte mich Fletcher, der mit einem Stöckchen angelaufen kam, auf andere Gedanken. Ich warf es ihm immer wieder zu, bis mir der Arm wehtat und es selbst ihm zu dumm wurde.

Zurück in der Wohnung, begann ich mindestens ein halbes Dutzend Hausarbeiten, nur um sie alle gleich wieder abzubrechen. Das war nicht die Ablenkung, die ich brauchte – so konnte ich nicht zur Ruhe kommen. Normalerweise war mir das Gefühl, dass Adam immer noch bei mir war, in dem Zuhause, das wir uns gemeinsam geschaffen hatten, ein riesiger Trost. Ich spürte ihn in der leuchtend bunten Tapete mit dem geometrischen Muster, die er für den Flur ausgesucht hatte, jener Tapete, von der er behauptet hatte, ich würde sie »eines Tages lieben lernen« – ein Tag, der nie gekommen war. Und ich spürte ihn in dem furchtbar unpraktischen cremefarbenen Sofa, das er ausgesucht hatte und auf dem, wie ich vorausgesehen hatte, jeder einzelne Schmutzfleck mehr als deutlich zu sehen war. Das Sofa, das sich als völliger Fehlgriff erwiesen hätte, wenn wir Kinder bekommen hätten – ein Gedanke, vor dem ich zurückschreckte, als hätte ich mich verbrannt. Die Tassen im Küchenschrank, die Bilder an den Wänden, alles, was wir besaßen, erzählte seine ganz eigene Geschichte unseres Zusammenlebens. Es war wie eine Art Chronik, die den Anschein erweckte, Adam würde immer noch hier leben.

Aber heute spürte ich noch etwas anderes. Nicht zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, Adam könne von mir enttäuscht sein.

Als hätten sie mich persönlich beleidigt, prügelte ich die cremefarbenen Sofakissen in Form. Ich dachte nicht gern an Adams letzte Stunden zurück, weil er nicht gewollt hätte, dass ich ihn so in Erinnerung behielt. Aber der Gedanke an das Versprechen, das er mir abgerungen hatte – das einzige, das ich immer nochnicht eingelöst hatte –, ließ sich nicht mehr verdrängen.

Ich sank auf die Couch, und Fletcher sprang sofort ebenfalls darauf und legte den Kopf auf meinen Schoß. Selbst er schien mich vorwurfsvoll anzuschauen.

»Nicht du auch noch«, murmelte ich und kraulte ihn.

Ich hatte alles getan, worum Adam mich gebeten hatte. Die Mechaniker in der örtlichen Werkstatt kannten mich mittlerweile alle mit Vornamen, und ich hatte unsere geplante Australienreise nicht abgesagt, sondern lediglich auf einen späteren Zeitpunkt verschoben. Aber – und das war ein großes Aber – ich hatte keinen Kontakt zu Josh aufgenommen.

»Ich weiß ja nicht mal, wie ich das tun sollte«, sagte ich zu meinem gleichgültigen Hund. »Ich habe keine Ahnung, wo er wohnt oder wie ich ihn erreichen kann.« Und genau so hatte Josh es gewollt.

Du wirst nichts mehr von mir hören, Lily. Ich denke, es ist für alle das Beste, wenn wir uns darauf einigen, den Kontakt abzubrechen.

Hatte ich ihm das damals wirklich abgenommen? Oder hatte ich geglaubt, die verletzenden Worte, die wir uns wie Messer entgegengeschleudert hatten, würden mit der Zeit in Vergessenheit geraten und wir könnten wieder Freunde sein? Falls ja, hatte ich mich gewaltig getäuscht. Josh hatte es todernst gemeint, hatte seine Benutzerkonten in den sozialen Medien gelöscht und sogar seine Telefonnummer geändert. Ich hatte keine Ahnung, wo er lebte und arbeitete. Und wenn ich ehrlich war, wollte ich, dass es auch so blieb. Unser Streit hatte eine tiefe Kluft zwischen uns aufgerissen, die unsere Freundschaft verschluckte, als hätte es sie nie gegeben.

Über Nacht war Josh von einem der wichtigsten Menschen in meinem Leben zu einemehemaligen Bekannten geworden. Und so war es in den letzten sechs Jahren geblieben. Und es hätte weiterhin so bleiben können, hätte mein Mann mir nicht das Versprechen abgenommen, ihn ausfindig zu machen.

Mich überkam das Gefühl, die Wände der Wohnung würden immer näher rücken, und ich sprang so hastig auf, dass ich dabei fast den erschrockenen Fletcher zu Boden warf. Ich hatte für den heutigen Tag viele Angebote aus dem Freundeskreis und der Familie erhalten, mir Gesellschaft zu leisten. Sogar eine Einladung von Andie – meiner besten Freundin von der Uni –, sie in New York zu besuchen. Doch ich hatte alles abgelehnt. Allmählich fragte ich mich, ob das ein Fehler gewesen war.

»Was hast du diesen Samstag vor, Lily?« Die Frage hatte mir Raegan zwei Tage zuvor von der anderen Seite eines Berges von Brandteiggebäck und gesponnenem Zucker gestellt. Ich war einen Schritt zurückgetreten, um den fertigen Croquembouche zu bewundern, für dessen Herstellung wir den Großteil des Tages gebraucht hatten.

Dann hatte ich überraschend unverblümt erwidert: »Schokolade essen, traurige Musik hören und alte Fotoalben durchblättern.«

Raegan war hinter der französischen Hochzeitstorte aufgetaucht.

»Verbring den Tag doch lieber mit Polly und mir«, sagte sie und legte den Kopf schräg, etwas, was sie sich, das hätte ich schwören können, von meinem Hund abgeschaut hatte. »Du weißt, dass meine Tochter dich mehr liebt als mich.«

Ich lächelte und wischte mir die klebrigen Hände an einem Tuch ab. »Das beruht absolut auf Gegenseitigkeit, aber nicht einmal deine goldige Fünfjährige kann mich umstimmen. Ich wäre sowieso keine gute Gesellschaft.«

Eigentlich war die Freundschaft zwischen Raegan und mir nicht unbedingt zu erwarten gewesen. Sie war acht Jahre jünger als ich, alleinerziehende Mutter und hatte sich mit einer Reihe von Teilzeitjobs mehr schlecht als recht über Wasser gehalten. Sie gab freimütig zu, dass sie Fondant immer mit Fondue verwechselte, und doch hatte ich bereits nach fünf Minuten Vorstellungsgespräch beschlossen, ihr den Job zu geben.

»Du hast sie wegen ihres Sinns für Humor eingestellt?«,hatte Adam mich später am Abend ungläubig gefragt.

»Irgendwie schon«, hatte ich schulterzuckend erwidert, ohne meine Entscheidung auch nur im Geringsten zu bereuen. Etwas, woran sich vier Jahre später nichts geändert hatte.

Eine von Raegans besten Eigenschaften war, dass sie wusste, wann sie nachhaken und wann sie einlenken musste.

»Scheiße, Lily. Ich wusste, dass du Nein sagen würdest«, sagte sie, öffnete ihre Haarspange und fuhr sich mit den Fingern durch die tiefvioletten Strähnen. Das Einzige, was noch krasser war als Raegans Sprache, waren ihre Haare, die praktisch jeden Monat die Farbe wechselten. »Trotzdem bleibt mein Angebot bestehen«, hatte sie bekräftigt und mich in eine kurze, aber feste Umarmung gezogen.

So verlockend ihre Einladung auch klang, als ich mich in meinem Zuhause umsah, das so voll von Erinnerungen an Adam und doch ohne ihn so leer war, gab es eigentlich nur einen Ort, an dem ich jetzt sein wollte.

Ich holte eine alte Reisetasche aus dem oberen Fach des Kleiderschranks, froh, endlich etwas zu tun zu haben. Doch als ich ein vergessenes Paar schwarzer Socken von Adam in einem Winkel der Tasche entdeckte, brachte mich das aus der Fassung.

»Socken!«, sagte ich ungläubig, schnäuzte mich geräuschvoll und warf zehn Minuten später einen Haufen feuchter Taschentücher in den Müll. Eigentlich hätte ich wissen müssen, dass ich diesen Tag nicht ohne Tränen überstehen würde, aber ich hatte nicht erwartet, dass alte Socken der Anlass sein würden.

Ich warf ein paar Sachen in die Tasche und füllte dann eine weitere mit Futternäpfen und Hundefutter. Meine Eltern hatten keine eigenen Haustiere, aber sie bezeichneten Fletcher gern als ihren »Enkelhund«, woraufhin Adam immer gelacht und die Augen verdreht hatte. Es war nicht zu übersehen gewesen, dass meine Eltern in Adam vernarrt waren. Seit ich ihn zum ersten Mal mit nach Hause gebracht hatte, nannte mein Vater ihn »Sohn«, und wer meinen Vater kannte, wusste, dass das keine Kleinigkeit war. In den letzten zwölf Monaten hatten sie mit mir getrauert, und ich weiß wirklich nicht, wie ich hatte glauben können, dass ich den heutigen Tag ohne sie überstehen würde.

Als ich zu Hause anrief und niemand ans Telefon ging, war ich nicht beunruhigt, denn seit meine Eltern im Ruhestand waren, hatten sie noch mehr zu tun als je zuvor. »Wir unternehmen jetzt alles, was wir uns vorgenommen haben, damit wir uns später um eure Kinder kümmern können«, hatte mein Vater vor ein paar Jahren scherzhaft zu mir gesagt. Es war nur eine leichtfertige Bemerkung gewesen, doch mein Gehirn weigerte sich, sie zu vergessen. Hätten wir doch nur …, dachte ich traurig, als ich mich hinter das Steuer meines Wagens setzte. Manchmal war es schwer zu beurteilen, ob das letzte Jahr besser oder noch viel schrecklicher gewesen wäre, wenn Adam und ich unsere Babypläne nicht so lange aufgeschoben hätten. Wie dumm von uns zu glauben, wir hätten alle Zeit der Welt, um uns diesen Traum zu erfüllen.

*

Die Fahrt verlief ohne Zwischenfälle, aber auf den Straßen war so viel los, dass ich gezwungen war, mich auf den Verkehr zu konzentrieren. Das Haus, in dem ich meine Kindheit verbracht hatte, war bereits in Dunkelheit gehüllt, als ich die Einfahrt erreichte. Fletcher, der zu wissen schien, dass wir an jenem Ort angekommen waren, wo man ihn immer heimlich mit Keksen fütterte, sprang aufgeregt auf dem Rücksitz herum.

Lächelnd blickte ich zu ihm nach hinten. Ich hatte zwar kein Kind in meinem Leben, aber das vergangene Jahr mit Fletcher zu teilen, der Adam ebenso geliebt hatte wie ich, hatte die Zeit zumindest etwas erträglicher gemacht.

Ich ging ins Haus, und Fletcher schoss mit ungefähr hundert Meilen pro Stunde an mir vorbei und suchte erfolglos nach meinen Eltern. Die Tatsache, dass ihr Wagen nicht in der Einfahrt stand, hatte mir bereits bestätigt, dass sie immer noch nicht zu Hause waren.

Ich betrat die Küche und atmete den vertrauten Geruch meines Elternhauses ein, der mir so viel bedeutete, dass ich am liebsten immer eine Flasche davon bei mir gehabt hätte. Ich füllte für Fletcher eine Schüssel mit Wasser und den Wasserkocher für mich. Während ich darauf wartete, dass das Teewasser kochte, schloss ich die Hintertür auf, damit der Hund in den Garten konnte, und folgte ihm hinaus ins rasch schwindende Tageslicht. Als ich von der gepflasterten Terrasse auf den Rasen trat, überkam mich ein vages Gefühl der Irritation. Irgendetwas stimmte nicht. Etwas war anders. Ich blickte auf und schnappte so geräuschvoll nach Luft, dass Fletcher aufhörte, die Blumenbeete zu beschnüffeln, und zu mir zurückgelaufen kam.

Der Baum war verschwunden. Der alte, majestätische Bergahorn im Garten unserer Nachbarn, auf den ich schon wohl tausendmal geklettert war und dessen Zweige in unseren Garten ragten, stand nicht mehr dort.

Ich betrachtete das Nachbarhaus. Seit der Zeit, in der ich auf Bäume geklettert war, hatte es mehrmals den Besitzer gewechselt. Obwohl ich nicht wusste, wer heute dort wohnte, nahm ich es demjenigen übel, dass er dem Baum aus meinen Jugenderinnerungen derart rücksichtslos den Garaus gemacht hatte.

Fletcher rannte mir aufgeregt um die Füße, während ich mir einen Weg durch das Unterholz zu jenem Teil des Zauns bahnte, wo die Latten lose sein mussten. Doch meine tastenden Finger fanden die Stelle nicht, an der ich früher hindurchgeschlüpft war, während mein damaliger Komplize die Bretter beiseitegehalten hatte.

*

»Er ist im Januar bei dem schrecklichen Sturm umgestürzt«, erklärte mir meine Mutter, während sie die Zutaten für unser Abendessen aus dem Kühlschrank nahm.

»Wieso hast du mir nichts davon erzählt?« Meine Mutter, die gerade das Verfallsdatum auf einer Packung inspizierte, sah auf und schaute mich traurig an. »Ich dachte, du hättest zu viel anderes im Kopf als alte Bäume«, sagte sie freundlich.

Ich nickte bedächtig. Der November war keine gute Zeit für mich gewesen. Es war der Monat meines Hochzeitstages. Der erste, den ich ohne Adam verbringen musste.

»Trotzdem«, sagte ich und war mir bewusst, dass ich besonderes Aufhebens um etwas machte, was mir eigentlich nicht so viel hätte bedeuten sollen. Doch das tat es.

»Ich halte es immer noch für ein Wunder, dass du dir beim Sturz aus diesem verdammten Baum nicht das Genick gebrochen hast«, sagte Dad und zerwühlte mir das Haar, als wäre ich immer noch ein furchtloser elfjähriger Wildfang. »Hätte ich geahnt, was für gefährlichen Unsinn du da drüben mit dem jungen Burschen, den die Bakers aufgenommen hatten, getrieben hast … Wie hieß er noch gleich?«, fragte er meine allwissende Mutter. Doch ich antwortete zuerst. Warum auch nicht? Schließlich war sein Name mir den ganzen Tag nicht aus dem Kopf gegangen.

»Josh. Sein Name ist Josh.«

*

Meiner Mutter gelang das kulinarische Kunststück, aus einem Abendessen für zwei ein Festmahl für drei zu zaubern, und ich fragte mich, ob sie geahnt hatte, dass ich heute vor ihrer Tür stehen würde. Es war wohl auch kein Zufall, dass sie eines der Lieblingsgerichte aus meiner Kindheit vorbereitet hatte.

Mein Besuch zu Hause hatte genau die erhoffte Wirkung. Ich war am Boden zerstört gewesen, und irgendwie baute mich die Rückkehr an jenen Ort, an dem ich aufgewachsen war, wieder auf. Nicht jeder hatte das Glück, starke Wurzeln zu haben, das war mir schon in jungen Jahren bewusst geworden. Ich verdrängte den Gedanken, denn ich ahnte, wohin er führte. Und heute Abend wollte ich nur an Adam denken.

Jemand klopfte leise an meine Zimmertür. Ich saß auf meinem Fensterplatz, wo so viele Kindheitsträume und -pläne ihren Anfang genommen hatten. Es war noch derselbe Platz, derselbe sternenübersäte Himmel, doch ich war jetzt zu alt, um daran zu glauben, dass eine Sternschnuppe mir Wünsche erfüllen würde.

»Alles in Ordnung, mein Schatz?«

Ich wandte mich vom Fenster ab und fühlte mich wieder wie eine Elfjährige, als meine Mutter auf mich zukam. Sie schlang die Arme um mich, und ich schmiegte das Gesicht an ihren Oberkörper.

»Es war vorherzusehen, dass der heutige Tag beschissen sein würde, Lily.«

Ich unterdrückte einen Laut, der halb Schluchzen, halb Lachen war. Mum benutzte sonst nie Kraftausdrücke, und es sagte einiges, dass sie es jetzt tat.

»Glaubst du, er wird mir immer so schrecklich fehlen, Mum? Ich dachte, mit der Zeit würde es besser werden … aber es ist immer noch unendlich schwer ohne ihn.«

Sie verkniff sich den Spruch, dass die Zeit alle Wunden heilte, und auch alle anderen gut gemeinten Binsenweisheiten, sondern zog mich nur noch fester an sich und legte das Kinn auf meinen Kopf.

»Dein Vater und ich sprechen auch immer noch jeden Tag von ihm«, sagte sie mit leicht zitternder Stimme. Ich löste mich von ihr, und wir lächelten uns unter Tränen an. Ihre Augen hatten früher denselben Grünton gehabt wie meine.

»Das hätte ihm gefallen«, sagte ich in dem Wissen, dass es stimmte.

Mum nickte. »Aber es würdeihm nicht gefallen, wenn er wüsste, dass du immer noch so traurig bist. Er würde wollen, dass du wieder glücklich wirst. Da bin ich mir absolut sicher.«

Das Versprechen drängte sich erneut in den Vordergrund meiner Gedanken, wie ein arroganter Typ in einer Schlange, der sich weigert zu warten, bis er an der Reihe ist. Niedergeschlagen nahm ich ihre Worte zur Kenntnis. Vielleicht hatte es mehr als einen Grund gegeben, warum ich den Drang verspürte, heute hierherzukommen. Vielleicht hatte es auch damit zu tun, dass ich, um den nächsten Schritt zu tun, dorthin zurückkehren musste, wo alles seinen Anfang genommen hatte.

Kapitel 2

Zwanzig Jahre zuvor
Josh

Hau ab!«

Lily war vom Klettern außer Atem, und nach der ungehobelten Begrüßung des fremden Jungen blieb ihr auch noch das letzte bisschen Luft weg.

»Du bist aber nicht besonders nett«, keuchte sie schließlich und schwang das Bein über den dicken Ast, an dem sie sich gerade hochgezogen hatte.

»Das hör ich öfter«, entgegnete der Junge. Mürrisch starrte er sie an, und Lily starrte zurück. »Was willst du hier überhaupt? Das ist mein Baum.«

»Genau genommen, gehört der Baum unseren Nachbarn, Mr und Mrs Baker. Und sie lassen mich immer darauf rumklettern.«

»Lügnerin«, sagte der Junge.

Lily blinzelte. In den elf Jahren ihres bisherigen Lebens war noch nie jemand so unhöflich zu ihr gewesen, und sie hatte keine Ahnung, wie sie darauf reagieren sollte. Der Junge machte ihr ein wenig Angst.

Als klar wurde, dass Lily nichts weiter sagen würde, sah sich der Junge offenbar gezwungen, die unbehagliche Stille zu füllen. »Ich merke immer, wenn man mich anlügt.«

»Woran?«, fragte Lily.

Der Junge zuckte mit den Achseln. Er sah groß aus, obwohl das zugegebenermaßen schwer zu beurteilen war, wenn jemand knapp viereinhalb Meter über dem Boden auf dem Ast eines Baumes hockte. Bei dem Gedanken daran wurde es ihr leicht mulmig. Der Junge hatte recht. Sie war noch nie auf einen Baum geklettert, und die Gefahr, in die man sich begab, wenn man sich so hoch hinaufwagte, war ihr bis zu diesem Moment gar nicht richtig bewusst gewesen.

»Wenn dich die Leute ständig anlügen, wirst du irgendwann gut darin, sie zu durchschauen. Scheiße, du fällst jetzt aber nicht in Ohnmacht, oder?«

Plötzlich schien Lily viel zu viel Spucke im Mund zu haben, und sie begann zu schwitzen, obwohl es für einen Hochsommertag recht kühl war.

»Ich weiß nicht. Ich bin noch nie in Ohnmacht gefallen. Woher soll ich es also wissen?«

Wieder tat der Junge ihre Worte mit seinem Mir-doch-egal-Schulterzucken ab. »Frag mich nicht. Ich schätze, wir wissen es spätestens, wenn du auf dem Boden aufschlägst.«

Lily spürte, wie die Frosties, die sie zum Frühstück gegessen hatte, wild in ihrem Magen rumorten.

»Wehe, du kotzt auf meinen Baum!«

»Du bist der unhöflichste und doofste Junge, den ich je getroffen hab. Warum bist du so?«, fragte Lily. Ihre Neugierde war zum Glück stärker als der Drang, sich zu übergeben.

»Keine Ahnung. Das musst du meinen Sachbearbeiter fragen. Steht wahrscheinlich alles in meiner Akte.«

»Welche Akte? Und was ist ein Sachbearbeiter?«

Der Junge seufzte tief, als wäre es schon schlimm genug, den Baum mit einem Mädchen teilen zu müssen, ohne dass es dumme Fragen stellte.

»Das ist jemand, der sich um dich kümmert.«

»So was wie eine Mum oder ein Dad, meinst du?«

Lily wusste, dass sie sich den flüchtigen Ausdruck von Traurigkeit auf dem Gesicht des Jungen nicht eingebildet hatte, auch wenn er rasch von einer verächtlichen Miene verdrängt wurde.

»Tja … Von denen kriegt nicht jeder tolle Exemplare ab.«

Lilys Übelkeit war zum Glück verflogen, und sie machte es sich auf dem dicken Ast bequem, umklammerte ihn mit den Oberschenkeln, als würde sie auf einem Pony reiten.

»Bist du deshalb so sauer? Weil du keine Eltern hast?«

»Ich hab Eltern. Nur eben beschissene, das ist alles. Deshalb bin ich bei den … wie heißen die Leute noch gleich, die hier wohnen?«

»Die Bakers. Janette und Gordon. Sie sind echt nett.«

Der Junge verzog das Gesicht. »Ich werd wohl nicht lange genug hier sein, um rauszufinden, ob das stimmt.«

»Warum nicht?«

»Sie verlegen mich ständig woandershin. Ich mache oft Ärger.«

Er sagte es, als wäre es ein Orden, den er mit Stolz trug.

»Das ist aber traurig«, sagte Lily, deren kindliches Herz bereit war, mit jedem Mitleid zu haben, sogar mit unhöflichen Jungen, die sie anschnauzten.

»Ach Quatsch. Ich komm gut allein klar.«

»Lügner«, sagte Lily, schockiert über ihre scharfe Erwiderung. So hatte sie noch nie jemanden genannt. »Ich glaube, du bist einfach nur einsam. Du brauchst einen Freund.«

»Ja, klar. Deshalb bin ich auch auf diesen großen alten Baum geklettert. Um einen Freund zu finden.«

»Na ja, hat doch geklappt, oder? Du hast mich gefunden. Ich kann deine Freundin sein.«

»Spar dir die Mühe. Ich bin, wie gesagt, eh nicht lange hier.«

Lily runzelte verwirrt die Stirn. Er war wirklich ein schwieriger Junge. Ganz anders als die in ihrer Klasse.

»Wie alt bist du eigentlich?«, fragte sie.

»Zwölf. Bald werde ich dreizehn.«

»Ach ja, wann denn?«, fragte Lily.

»Wozu willst du das wissen? Willst du eine Party für mich schmeißen? Mir einen Kuchen backen?«

Lily schenkte ihm ein breites Lächeln. »Vielleicht. Ich backe gern mit meiner Mum. Am liebsten mag ich Cupcakes.«

»War ja klar«, sagte der Junge übellaunig. »Du bist bestimmt eins von den Mädchen, die auf Cupcakes und Regenbögen steht.«

»Cupcakes und Regenbögen. Wie nett.«

»War nicht nett gemeint«, sagte der Junge, der immer noch entschlossen schien, gemein zu sein – oder zumindest kam es Lily so vor.

»Was hast du überhaupt hier oben gemacht, als ich hochgeklettert kam?«

»Gemacht? Gar nichts.« Er ging sofort in Abwehrhaltung.

»Wohl hast du was gemacht«, sagte Lily und rutschte auf dem Zweig ein Stück seitwärts, froh darüber, dass sie an diesem Morgen Jeans und keine Shorts angezogen hatte. »Als ich aufgetaucht bin, hast du dich schnell umgedreht und so geguckt, als wärst du bei was ertappt worden.«

Der Junge drehte unwillkürlich den Körper so, dass er den Stamm verdeckte.

»Was versteckst du da?«

»Du bist echt das neugierigste kleine Mädchen der Welt!«

»Ich bin nicht mehr klein! Bald werde ich zwölf.«

»Zwölf und verdammt neugierig«, erklärte der Junge.

»Wie heißt du eigentlich? Ich kann dich doch nicht den Jungen vom Baum nennen, oder?«

»Du brauchst mich gar nichts zu nennen. Aber wenn du es unbedingt wissen musst: Das hier habe ich gemacht, als du raufgeklettert kamst.« Er lehnte sich zurück, und neben seinen Beinen entdeckte Lily nun ein gefährlich scharf aussehendes Taschenmesser und drei Buchstaben, die in die Baumrinde geritzt worden waren. »Ich hinterlasse meinen Namen überall dort, wo sie mich hinstecken.«

»J… O… S…«, sagte sie laut, als wäre sie wieder in der Grundschule und würde versuchen, ein neues Wort vorzulesen. »Heißt du Josh?«

Fast hätte der Junge gelächelt, doch er unterdrückte es rasch.

»Ich heiße Lily. Schnitzt du meinen Namen auch in den Baum, wenn du mit deinem fertig bist?«

Der Junge zuckte unverbindlich mit den Schultern, aber Lily wusste bereits, dass er es tun würde.

Kapitel 3

Fletcher! Fletcher!«

Flüstern reichte offensichtlich nicht, also rief ich Fletcher so laut, wie ich mich traute, und schaute mich besorgt um für den Fall, dass jemand von der Nachbarschaftswache auftauchte und sich über die frühmorgendliche Störung beschwerte.

Fletcher war entweder taub geworden oder hatte viel zu viel Spaß, um auf meine Rufe zu reagieren. Es war meine eigene Schuld, dass ich ihn in der Einfahrt von der Leine gelassen hatte. Doch statt gehorsam zur Haustür meiner Eltern zurückzutrotten, hatte er urplötzlich die Ohren gespitzt, als hätte ihn jemand gerufen.

Ich sah zu, wie er die Nachbareinfahrt mit einer Geschwindigkeit hinaufschoss, die man ihm bei den Unmengen von Toast, die er sich im letzten Jahr einverleibt hatte, gar nicht zugetraut hätte. Selbst das Gartentor konnte ihn nicht aufhalten. Er kroch einfach durch den schmalen Spalt darunter und verschwand aus meinem Blickfeld.

Ich schaute mich um, überzeugt, dass ringsum hinter jedem Fenster Gardinen beiseitegeschoben wurden, während ich meinem Hund hastig folgte und dabei einen Blick auf das verwitterte »Zu-verkaufen«-Schild warf, das nebenan im Vorgarten stand. Mum hatte gestern Abend erwähnt, dass das Haus derzeit leer stand und seit etwa sechs Monaten zum Verkauf angeboten wurde.

Einen schrecklichen Moment lang dachte ich, ich müsste über den Zaun klettern, um meinen entlaufenen Hund zurückzuholen, aber das Tor war nicht verschlossen, sondern klemmte nur, und mit einem kräftigen Ruck ließ sich der Riegel lösen. Der Garten war der reinste Vorstadt-Dschungel und war kein Vergleich zu damals, als die Bakers noch dort gewohnt hatten. Obwohl ich zwischen meinem elften und fünfzehnten Lebensjahr viele Stunden hier verbracht hatte, erkannte ich das Grundstück heute kaum wieder.

Ich erhaschte einen flüchtigen Blick auf Fletchers buschigen Schwanz, bevor er im Dickicht verschwand, und hoffte inständig, dass die Leute, die zuletzt hier gewohnt hatten, die Zäune in gutem Zustand gehalten hatten. Der Gedanke, Adams Hund zu verlieren, war mir unerträglich.

Ich bahnte mir hastig einen Weg durch das Gestrüpp, ohne auf die Dornen des Rosenstrauchs, die sich in meiner Steppjacke verfingen, oder das Pieksen der Brennnesseln zu achten. Doch den riesigen, auf der Erde liegenden Bergahorn, der mir den Weg versperrte, konnte ich nicht ignorieren. Ich hatte geglaubt, er wäre längst fortgeschafft worden, doch er lag noch genau dort, wo er hingestürzt war. Seine großen Wurzeln ragten wie ein Gewirr aus Tentakeln in die Luft, als suchten sie den Boden, dem sie entrissen worden waren.

Einen Moment lang war ich traurig über das unwürdige Schicksal des Baumes, aber dann wandte ich meine Aufmerksamkeit wieder Fletcher zu, der es irgendwie geschafft hatte, den umgestürzten dicken Baumstamm zu erklimmen und sich zwischen den Zweigen zu verfangen. Er bellte laut genug, um alle Anwohner der Straße zu wecken, bei denen es mir bisher noch nicht gelungen war.

»Schhhhh«, zischte ich. »So was passiert nun mal, wenn du nicht kommst, obwohl ich dich rufe.«

Ich zog meine Jacke aus, bevor sie noch mehr Schaden nahm, und kletterte zu meinem Hund, der jetzt winselte und sich selbst schrecklich leidtat.

Es kam mir wie eine seltsame Fügung vor, wieder auf dem alten Bergahorn herumzurutschen, etwas, von dem ich nie erwartet hätte, es etwa zwanzig Jahre nach meinem ersten Abstecher noch einmal zu tun. Nach ein, zwei Minuten war ich Fletcher nahe genug, um die Erleichterung in seinen Augen zu sehen. »Du sollst mich vor Gefahren retten, nicht umgekehrt«, murmelte ich, während ich mit den Zweigen rang, um ihn herauszuholen. Ich befreite den völlig aufgelösten Fletcher – und enthüllte dabei jenen Teil des Stamms, den er bisher verdeckt hatte.

Fletcher, der offenbar seine Lektion gelernt hatte, versuchte, auf meinen Schoß zu krabbeln und mir dankbar das Gesicht abzuschlecken, aber ich spürte es kaum. Ungläubig den Kopf schüttelnd, streckte ich die Hand aus und zeichnete die Furchen in der Rinde nach, denen die Zeit kaum etwas hatte anhaben können. Joshs und mein Name waren noch genauso deutlich im Baumstamm zu erkennen wie an jenem Tag vor über zwanzig Jahren, als er sie ins Holz geritzt hatte.

Fletcher hätte sich überall verfangen können – und doch war er an genau der Stelle gelandet, die den Beginn meiner Freundschaft mit Josh markierte. Diese beiden eingeritzten Namen weckten die Erinnerung an den Tag, an dem ich in meinem Zimmer am Fenster gestanden und beobachtet hatte, wie ein fremder Junge im Garten unserer Nachbarn auf einen Baum geklettert war und ich aus einem unerfindlichen Grund beschloss, ihm zu folgen. Das war der Beginn einer Freundschaft, die mir so viel bedeutete, dass es mir das Herz gebrochen hatte, als die Bakers und ihre Pflegekinder vier Jahre später wegzogen. Zu jenem Zeitpunkt gehörte mein törichtes Teenagerherz schon ihm. Nicht, dass ich je den Mut aufgebracht hätte, ihm das zu gestehen.

Und nun, zwanzig Jahre später, nach dem unangenehmen Vorfall zwischen uns und der Bitte meines verstorbenen Mannes, die ich nicht mehr aus dem Kopf bekam, hatte mich das Schicksal an genau jenen Ort zurückgeführt, an dem alles begonnen hatte.

Ich schaute zum Himmel auf, als würde sich Adam tatsächlich dort oben befinden, verborgen hinter den grauen Wolken, die sich zusammenbrauten.

»Schon gut, mein Liebster, ich hab’s verstanden. Du hast dich klar genug ausgedrückt. Ich werde mich bemühen, ihn zu finden. Gott weiß, wie, aber ich tue es … aber nur, weil du mich darum gebeten hast.«

*

»Die Bakers? Du liebes bisschen, an die habe ich schon ewig nicht mehr gedacht. Wieso willst du das wissen?«

»Ich hab mich nur gefragt, ob du ihre aktuelle Adresse kennst, nichts weiter«, sagte ich in dem vergeblichen Versuch, beiläufig zu klingen. Mum hörte auf, die Wäsche aus dem Wäschetrockner zu nehmen, und betrachtete mich einen Moment lang mit schräg gelegtem Kopf. Eine Haltung, die ich von früher kannte.

»Weißt du etwa nicht, dass Mrs Baker – Janette – von uns gegangen ist?« Mum scheute sich, anders als viele andere, normalerweise nicht, in meiner Gegenwart das Wort »gestorben« in den Mund zu nehmen. Ich schwöre, dass ich im letzten Jahr alle möglichen blumigen Ausdrücke gehört habe, von »das Zeitliche segnen« bis hin zu »über die Regenbogenbrücke gehen«, was, wie ich mir ziemlich sicher bin, eigentlich nur in Bezug auf Hunde und Katzen gesagt wird.

Mum war sich offensichtlich noch des gestrigen Jahrestages bewusst. Und sie konnte unmöglich wissen, dass ich bereits vom Tod von Joshs Pflegemutter wusste. Ich war vor acht Jahren sogar bei der Beerdigung gewesen.

»Doch, das weiß ich. Ich war nur neugierig, ob du die Adresse von Gordon Baker hast, von, na ja, von den Weihnachtskarten oder so.«

Das Interesse meiner Mutter war geweckt, obwohl ich genau das hatte vermeiden wollen. Und sie wirkte zerknirscht. »Nein, Lily. Wir haben leider im Laufe der Jahre den Kontakt verloren. Ich glaube, sie sind mehrmals umgezogen, nachdem sie von hier fort sind.«

Das stimmte, soweit ich wusste.

»Dann habe ich von einer gemeinsamen Freundin erfahren, dass Gordon vor ein paar Jahren in ein Pflegeheim gezogen ist. Der Arme. Seine Demenz hat sich sehr verschlimmert, nachdem er Janette verloren hat.«

Das hatte ich nicht gewusst. Eine schmerzliche Traurigkeit überkam mich bei dem Gedanken an das Paar, das immer unglaublich nett zu mir gewesen war. Im nächsten Moment wich die Traurigkeit einem Kummer wegen Josh, da ich wusste, dass er zwei Menschen verloren hatte, die eher Mutter und Vater für ihn gewesen waren als seine leiblichen Eltern.

»Du weißt nicht zufällig, in welches Pflegeheim?«

Mum, die gerade am Küchentisch mit einem Spannbettlaken kämpfte, das sie zu einem ordentlichen Rechteck zusammenzufalten versuchte, beugte sich vor. Ich fühlte mich wie eine unglaubwürdige Zeugin, die von einem hartgesottenen Staatsanwalt ins Kreuzverhör genommen wird.

»Was hat deine Fragerei zu bedeuten, Lily?«

Ich war mir nicht sicher, wie viel ich ihr erzählen wollte. Irgendwie hatte ich nie den richtigen Moment gefunden, um ihr von den Ereignissen vor sechseinhalb Jahren zu berichten, von der unmöglichen Situation, in der ich mich damals befunden hatte. Wenn deine Eltern fröhlich Tausende von Pfund für eine riesige Hochzeit ausgegeben hatten, wollten sie vermutlich nicht hören, dass achtundvierzig Stunden vor dem großen Tag etwas passiert war, das dich plötzlich daran zweifeln ließ, ob du die richtige Entscheidung getroffen hast.

Glücklicherweise hatten sich das ganze Chaos und die Unentschlossenheit während meines explosiven Streits mit Josh in Wohlgefallen aufgelöst, und ich brauchte keinem zu erzählen, wie nahe ich daran gewesen war, zwei Herzen auf einmal zu brechen.

Aber all das spielte jetzt sowieso keine Rolle mehr. Denn Adam war die richtige Wahl gewesen. Ich hatte ihn von ganzem Herzen geliebt und würde es bis zu dem Tag tun, an dem ich starb. Was den Versuch, Josh zu kontaktieren, noch alberner und sinnloser machte. Aber ein Versprechen ist nun einmal ein Versprechen.

»Ich glaube, Muriel – die gemeinsame Freundin, die ich erwähnt habe – könnte vielleicht die Adresse des Pflegeheims wissen. Soll ich sie danach fragen, wenn ich das nächste Mal in die Stadt fahre?«

Ich zögerte. Dann sagte ich: »Mum, kannst du sie noch heute darum bitten? Sofort?«

Ich sah ihr an den Augen an, dass sie eine Million Fragen hatte. Aber sie verkniff sie sich. Das war eins der Dinge, die ich am meisten an meiner Mutter liebte. Sie wusste, wann sie nachbohren musste, aber was noch wichtiger war, sie wusste auch, wann sie besser schwieg.

Kapitel 4

Eine riesige Menge Trockenfutter landete klackernd in Fletchers Napf, und nach kurzem Zögern schüttete ich noch etwas hinterher. Ich war mir nicht sicher, wie lange ich im Pflegeheim bleiben oder ob man mich überhaupt zu ihm lassen würde.

Ich hatte mir das Heim online angesehen, als ich am letzten Wochenende von meinen Eltern zurückgekommen war. Schwer zu sagen, was ich erwartet hatte, aber die luxuriöse, fast hotelähnliche Unterkunft und die schicke Einrichtung überraschten mich schon. Ich hatte bereits in Fünf-Sterne-Hotels gewohnt, die weniger nobel waren.

Während mein Handy mich ans Ziel lotste, versuchte ich, mich an alles zu erinnern, was ich über die Bakers wusste. Allerdings hatte ich der Familie nebenan als Teenagerin nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Ich wusste, dass sie keine eigenen Kinder hatten und erst recht spät Pflegeeltern geworden waren, und dass sie sich um ältere Kinder mit komplexen Problemen und aus schwierigen familiären Verhältnissen gekümmert hatten. Ich umklammerte das Lenkrad fester, denn mit Josh hatten sie sicher alle Hände voll zu tun gehabt – zumindest am Anfang. Regeln waren für ihn nur dazu da, um gebrochen zu werden, wie er mir gern erklärte. Ich glaube, er genoss es, mich zu schockieren.

Erst Jahre später fiel mir auf, dass er zwar große Reden geschwungen hatte, ich mich aber nicht daran erinnern konnte, dass er je etwaswirklich Schlimmes getan hatte. Es sei denn, es galt als Straftat, jemandem das Herz zu brechen. In dem Fall wäre Josh ein Wiederholungstäter.

*

Am Anfang der gewundenen Auffahrt, die zum Haupteingang des Redmount Care Home führte, befand sich ein schmiedeeisernes Tor. Ich fuhr hindurch, und das Hauptgebäude tauchte ständig auf und verschwand dann wieder hinter den Bäumen der Allee. Die kurzen Blicke, die ich darauf erhaschte, waren jedoch beeindruckend.

Ich folgte der Beschilderung zu einem Besucherparkplatz und fuhr in eine freie Bucht. Durch die Windschutzscheibe betrachtete ich das Gebäude, das mit seinem ordentlich gestutzten Efeubewuchs am Mauerwerk wie ein Herrenhaus aus einem Historiendrama anmutete. Die frühnachmittägliche Sonne stand tief am Himmel und färbte das Glas der Fensterscheiben orangefarben.

Als ich aus dem Wagen stieg, bereute ich sofort, dass ich mich für eine legere schwarze Jeans und einen Pullover entschieden hatte. Alle Fahrzeuge auf dem Parkplatz – außer meinem – sahen teuer aus. Als mir einfiel, wie nahe ich daran gewesen war, mit dem kleinen weißen Lieferwagen, den wir für Auslieferungen benutzten, herzufahren, musste ich lächeln. Doch selbst mein fünf Jahre alter Fiesta wirkte hier fehl am Platz.

Aber zumindest war ich zur richtigen Zeit gekommen. Der Parkplatz füllte sich rasch; am Samstagnachmittag kamen offensichtlich viele zu Besuch. Auf halbem Weg über den gekiesten Vorplatz gerieten meine Schritte ins Stocken. Was, wenn Josh ausgerechnet den heutigen Tag gewählt hatte, um seinen Pflegevater zu besuchen? Obwohl es kühl war, bildete sich plötzlich ein feiner Schweißfilm auf meiner Oberlippe.

Ich hatte mich auf das Treffen mit meinem ehemaligen Nachbarn vorbereitet, hatte sogar geübt, was ich zu ihm sagen würde. Aber den Menschen wiederzusehen, der mir als Junge das Herz gestohlen hatte und nun zu einem Mann herangewachsen war, der es nicht ein-, sondern sogar zweimal gebrochen hatte, war eine ganz andere Angelegenheit.

Als ich das Gebäude betrat, verstärkte sich der Eindruck, dass es sich statt um ein Pflegeheim eher um ein exklusives Country-Club-Hotel handelte, in dem möglicherweise eine Hochzeit abgehalten wurde. Das Foyer mit den eleganten Stilmöbeln und dem beeindruckenden Empfangstresen aus Mahagoniholz hatte nichts Funktionales oder Klinisches an sich. Mich überkam das Gefühl, dass ich einen schicken Hut tragen und eine Schachtel Konfetti dabeihaben sollte.

»Guten Tag. Kann ich Ihnen helfen?«

Ich lächelte etwas gezwungen. »Ja, das hoffe ich. Ich möchte einen Ihrer Bewohner besuchen. Mr Gordon Baker.«

Die Frau griff, ebenfalls lächelnd, nach einem Klemmbrett auf dem Schreibtisch. »Erwartet er Sie?«

»Ähm … nein. Nicht unbedingt.« Ich fragte mich, ob sie merkte, dass das eigentlich »Überhaupt nicht« bedeutete. »Tut mir leid. Ich bin zum ersten Mal hier. Ich wusste nicht, dass man sich anmelden muss.«

Das Lächeln der Empfangsdame blieb unverändert strahlend. »Das brauchen Sie nicht. Unsere Türen stehen Angehörigen und Freunden stets offen.« Sie sah mich erwartungsvoll an, und ich merkte, dass sie auf eine Erklärung wartete, in welche Kategorie ich gehörte. Die Antwort lautete: in keine von beiden.

»Ich bin eine ehemalige Nachbarin«, sagte ich wahrheitsgemäß. »Und ich bin heute Nachmittag zufällig in der Gegend.« Das war allerdings eine dreiste Lüge. Die Fahrt hierher hatte zwei Stunden gedauert, aber das brauchte sie ja nicht zu erfahren.