Verstörende Erinnerung - Katharina Kohal - E-Book
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Katharina Kohal

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Beschreibung

Ein ehrgeiziger Locationscout, eine Filmcrew und ein folgenschweres Flashback:


Jan Rothig glaubt, für die Schlüsselszene eines neuen Spielfilms die passende Location gefunden zu haben: ein leerstehendes altes Gebäude in einem verwilderten Park.
Als die Filmschauspielerin Marion Lehenstein zum ersten Mal vor dem maroden Bauwerk steht, stürzen plötzlich verdrängte Erinnerungen auf sie ein. Für ein paar Sekunden entsinnt sie sich an jede Einzelheit – auch an den Fremden, den sie damals aus dem Auto steigen und in das Gebäude gehen sah.
Wenig später erfährt Jan, dass genau an dieser Stelle vor Jahrzehnten ein Mord verübt und dieser nie aufgeklärt wurde. Spontan vermutet er einen Zusammenhang zwischen Marions Flashback und dem damaligen Ereignis. Und er hat die düstere Vorahnung, dass ein weiteres Verbrechen geschehen wird.


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Prolog
Ein Meeting
Lost Place
Flashback
Spur in die Vergangenheit
Urbane Impressionen
Unheilvolle Begebenheit
Am Set
Frustrationen
Entscheidungen
Vor Ort
Der Neue
Ankunft
Der Drehtag
Auswertung
Nächtens
Der nächste Tag
Vernehmungen
Ein erster Hinweis
Eine vage Theorie
Hintergründe
Ein Zwischenfall
Ein pensionierter Kommissar
Die Anhörung
Ein weiteres Verbrechen
Sichtweisen
Ein neuer Aspekt
Ein Kammerspiel
Tags darauf
Abgedreht
Gewissheit
Impressum
Zum Schluss
Über die Autorin
Leseprobe

 

 

 

 

 

Katharina Kohal

Verstörende Erinnerung

 

 

 

 

Kriminalroman

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Prolog

 

Nur selten noch, und dann meist, wenn er zu viel getrunken hatte, tauchten sie auf – jene bruchstückhaften Erinnerungen, die wie Unrat in einem trüben Gewässer plötzlich an die Oberfläche drangen. Aus dem Nichts, ohne einen erkennbaren Anlass.

In all den Jahren hatte er gelernt, damit zu leben und diese verstörenden Gedanken aus seinem Bewusstsein zu verbannen. Generell war er ein Meister im Verdrängen, trotzdem gelang es ihm nicht immer. Und auch jetzt fragte er sich, was wohl passiert wäre, wenn er damals nicht so fluchtartig den Ort verlassen hätte. Hätte das Geschehen dann einen anderen Verlauf genommen? Und noch ein weiterer Umstand, den er in seiner damaligen Verfassung nicht beachtet beziehungsweise übersehen hatte, wurde ihm im Nachhinein bewusst: Er war zu jenem Zeitpunkt nicht allein – jemand hatte ihn beobachtet.

Dieser Gedanke und die Tatsache, dass ihre Beziehung, nachdem das Verbrechen publik wurde, recht bald auseinanderging, quälte ihn noch heute. Nie hatte sie ihm den wahren Grund genannt, warum sie sich von ihm trennte. Doch für ihn war klar: Das Zusammentreffen der folgenschweren Ereignisse sprach gegen ihn. Er fühlte sich schuldig – wenn auch nicht in dem Sinn, wie sie wohl annahm.

Sie hatten sich aus den Augen verloren. Umso überraschter war er, als er sie nun unverhofft wiedersah. Die Begegnung verlief kühl und sachlich. Doch sie bedachte ihn mit einem Blick, den er zu kennen glaubte – und der ihn zutiefst beunruhigte.

 

Ein Meeting

 

Die erste Phase, die Projektentwicklung, war abgeschlossen, jetzt begannen die Vorbereitungen zu den Dreharbeiten des neuen Films, der unter dem Arbeitstitel „Nur ein Verdacht“ produziert werden sollte.

Genervt sah Jan Rothig in die Runde. Normalerweise mochte er die Besprechungen – jene aufgeregte Atmosphäre, eine Mischung aus Kreativität und angespannter Konzentration. Doch diesmal schien alles festgefahren. Alle Aufgaben waren besprochen, anhand des Drehbuchs war das Storyboard erarbeitet worden und alle Abläufe standen fest. Nach Jans Ansicht blieb kaum Raum für weitere Ideen. Er war unzufrieden, und die Schuld daran gab er nicht zuletzt Susanne Albrecht. Er arbeitete das erste Mal unter ihrer Regie. Altersmäßig schätzte er sie auf Anfang oder Mitte fünfzig. Sie war eine dominante Persönlichkeit und bekannt für ihren rüden Umgangston. Mitunter neigte sie zu impulsiven Wutausbrüchen, und es schien, als stünde die gesamte Crew, mit zwei, drei Ausnahmen vielleicht, unter ihrer Fuchtel. Eine Marotte von ihr war, dass ihr beim Gestikulieren ständig ein paar Haarsträhnen ins Gesicht fielen und sie diese dann mit energischer Geste wieder zurückschob. Doch das schien sie nicht zu beeinträchtigen. Unermüdlich agierte sie weiter. Und trotz der zwiespältigen Meinungen, die über sie kursierten, hatte Jan bei dem Angebot, die Filmarbeiten als Aufnahmeleiter zu begleiten, sofort zugesagt. Finanziell gesehen blieb ihm keine andere Wahl. In den letzten zwei, drei Jahren war die Anzahl der Aufträge ziemlich spärlich ausgefallen, so kam diese Chance gerade recht.

Neben den organisatorischen Aufgaben, der Koordination zwischen Crew und Technik, ging Jan regelmäßig seiner kreativen Neigung nach – seiner eigentlichen Berufung, wie er fand. Doch davon konnte er nicht leben. Als Locationscout war sein Name nicht bekannt. Trotzdem war er ständig auf der Suche nach neuen Motiven und Örtlichkeiten. Vor ein paar Tagen glaubte er, eine passende Location für eine Schlüsselszene gefunden zu haben – genau die richtige Atmosphäre, um der Handlung des Films etwas mehr Drive zu geben. Doch wie sollte er Susanne Albrecht zu einer Besichtigung des Ortes bewegen, wenn sie nicht einmal an seinen Fotoaufnahmen interessiert war?

Jan beobachtete die anderen in der Runde. Neben der Regisseurin saß Franziska Muldau, die beflissene Regieassistentin, sichtlich bemüht, ihrer dominanten Chefin alles recht zu machen. Die beiden schienen ein ungleiches Paar. Franziska mochte Anfang vierzig sein und wirkte in ihrem Auftreten verhuscht und überkorrekt. Doch möglicherweise täuschte er sich auch, vielleicht war sie viel eigenständiger, als er annahm? Neben ihr hatte Harry Lenz, ein ehemals gefragter Schauspieler, Platz genommen. Altersmäßig schätzte Jan ihn auf Ende fünfzig oder etwas älter. In früheren Jahren spielte er die Hauptrolle in einer beliebten Vorabendserie. Er war einer der wenigen in der Runde, der es wagte, Susanne Albrecht zu widersprechen. Neben ihm saß eine Kollegin gleichen Alters, die Jan zuvor noch nie gesehen hatte; sie hieß Dorothea Riedel. Mit distanzierter Miene hörte sie Susanne Albrechts Ausführungen zu, enthielt sich aber jeden Kommentars. Jan schaute weiter in die Runde – und direkt in die Augen einer jungen Frau, sie mochte Mitte dreißig sein. Er wusste, dass sie Nadine Seitz hieß und Schauspielerin war. Der Moment, in dem sich ihre Blicke trafen, währte nicht einmal eine Sekunde lang. Ihr Sitznachbar, der Schauspieler Tobias Korth sagte etwas zu ihr, sie nickte und konzentrierte sich wieder auf die Besprechung. So hatte Jan Gelegenheit, sie einen Augenblick länger zu betrachten. Ihre Gestik, die Art, wie sie den Kopf neigte, und dann plötzlich dieses unerwartete Lächeln, das leider nicht ihm galt – das alles berührte ihn. Es schien ihm vertraut, so als würde er sie seit Ewigkeiten kennen, hätte sie zwischenzeitlich aus den Augen verloren und jetzt endlich wiedergefunden – obwohl er sie zuvor noch nie gesehen hatte. Vielleicht, so dachte er mit einer Portion Selbstironie, sind wir uns ja schon einmal im Traum begegnet? Das war natürlich Blödsinn, und generell lagen ihm derartige Klischees fern, doch jetzt schien ihm der Vergleich angebracht. Ihre Gesichtszüge würde er nicht im herkömmlichen Sinn als hübsch bezeichnen, und doch konnte er sich ihrem Zauber nicht entziehen. Noch nie hatte ihn vordergründige Schönheit interessiert, es war das Verborgene, das sich nicht auf den ersten Blick erschloss, was ihn faszinierte. Ihre Augen, in denen ein verhaltenes Lächeln lag, das dunkelblonde Haar – alles an ihr gefiel ihm. Ihre Stimme hatte er bisher noch nicht gehört. Doch er stellte sich vor, dass sie sanft und melodisch klang. Schade, dachte Jan. Er würde Nadine nicht näher kennenlernen. Sie und Tobias schienen eng befreundet, wahrscheinlich waren sie sogar ein Paar.

Während er sich weiter umsah, fing er Marion Lehensteins Blick auf. Sie sah ihn nicht einfach nur an, beiläufig und zufällig – nein, sie schien ihn beobachtet zu haben. Sie war ebenfalls Schauspielerin und außer der Regisseurin selbst die wohl auffälligste Persönlichkeit hier in der Runde. Soweit Jan sie bisher kennengelernt hatte, war sie meist charmant, impulsiv und unterhaltsam. Mitunter gab sie sich auch kapriziös und eigensinnig und nervte die Kollegen mit ihren Launen. Doch manchmal, wenn sie sich unbeobachtet fühlte, schien sie plötzlich tief in Gedanken versunken. Solche Augenblicke währten nur kurz, im nächsten Moment war sie wieder voll da. Obwohl Jan sie recht attraktiv fand, war sie nicht sein Typ: eine Spur zu überdreht und exaltiert. Für ihr Äußeres hatte Marion wohl einiges getan – beziehungsweise machen lassen. Sie hatte volle Lippen, etwas zu prall, um natürlich zu wirken, und die Augenpartie war auffallend straff. Längst hatte Jan bemerkt, dass sie und die Regisseurin offensichtlich einen guten Draht zueinander hatten, vielleicht sogar befreundet waren. Diesen Umstand fand er interessant – und sah darin eine einmalige Chance. Warum sollte er sie nicht nutzen? Andere, so dachte er im Stillen, würden es an seiner Stelle ebenfalls tun. Also lächelte er zurück und sah Marion ein paar Sekunden länger an, als er es unter anderen Umständen für angemessen hielt.

Jetzt meldete sich Gerald Trommer, der Produktionsleiter, zu Wort. Ihn und den Kameramann Lars Eckstein kannte Jan von vorigen Filmprojekten her und kam bestens mit ihnen klar. Beide waren Mitte fünfzig, Gerald vielleicht etwas jünger. Wenn Jan sich unter diesem Gesichtspunkt hier in der Runde umsah, stellte er fest, dass fast alle – außer Nadine und Tobias, älter als er waren – Marion Lehenstein eingeschlossen. Doch in ihrem Fall konnten es höchstens drei oder vier Jahre sein. Er schätzte sie auf Anfang vierzig.

Endlich schien sich die Besprechung dem Ende zu nähern. Nach Jans Ermessen dauerte sie schon viel zu lange. Susanne Albrecht dominierte in gewohnter Weise und ließ dabei kaum jemand anderen zu Wort kommen. Nur Harry Lenz verschaffte sich mit energischer Stimme hin und wieder Gehör. Er gefiel sich in der Rolle des ewig nörgelnden Kritikers. Doch es schien, als kannten sich beide recht gut, denn trotz der Streitereien und gegensätzlichen Meinungen war ein vertrauter Umgangston herauszuhören. Die anderen hielten sich aus den Wortgefechten weitestgehend heraus. Während der Plänkeleien schaute Marion Lehenstein wieder zu Jan und bedachte ihn mit einem eindeutigen Blick. Es bestand kein Zweifel daran, dass sie den Kontakt zu ihm suchte.

„Der Schwachpunkt des Films ist und bleibt das Drehbuch!“, wetterte Harry. „Wer hat diesen Blödsinn eigentlich geschrieben?“

„Das weißt du doch, Harry. Und die Autorin hat sich sehr wohl was dabei gedacht.“

„Das sollte man annehmen! Ich habe andere Vorstellungen von einer tragfähigen Story.“

„Dann steig doch aus! Jetzt wäre der rechte Zeitpunkt dafür. Ich bin auf niemanden hier angewiesen.“ An diesem Punkt endete die Diskussion. „Noch Fragen? Wenn nicht, machen wir Schluss für heute.“

Keiner aus dem Team sagte etwas dazu, auch Harry Lenz schwieg. Offensichtlich waren dessen beste Zeiten längst vorbei. Ein alternder Schauspieler, der seine Eitelkeiten pflegte und bei den rarer werdenden Rollenangeboten zugreifen musste, dachte Jan mit einem Anflug von Überheblichkeit. Doch im Grunde genommen gab er Lenz recht. Und wäre er selbst finanziell nicht auf den Job angewiesen, hätte er ihn abgelehnt. Fast schämte er sich dafür, an dem Projekt mitzuwirken. Die Autorin hieß Bettina Högner. Jan wusste kaum etwas über sie, nur, dass sie früher selbst einmal Schauspielerin war. Wahrscheinlich, das unterstellte er zumindest, wurde ihr Skript nur angenommen, weil sie mit der Regisseurin befreundet war. Und womöglich, dachte er voller Bosheit, konnte Susanne Albrecht den Film nur drehen, weil sie mit dem Produzenten eine Affäre hatte. Einmal mehr drängte sich ihm der Eindruck auf, dass das Filmgeschäft vor allem von Beziehungen lebte.

Am Ausgang des Besprechungsraumes wartete er, bis Marion Lehenstein auf seiner Höhe war. „Gehen wir noch einen Kaffee trinken?“ Er vermied die direkte Anrede, da er nicht sofort zum saloppen Du übergehen wollte. Und erst in diesem Moment bemerkte er, dass Franziska Muldau, die Regieassistentin, direkt hinter Marion war und die Einladung auch auf sich bezog.

„Super Idee, ich hätte Zeit.“

Für einen Augenblick fühlte Jan sich überrumpelt, doch sein nächster Gedanke war: Warum nicht? Es wäre die passende Gelegenheit, auch mit ihr, sozusagen Susanne Albrechts rechter Hand, ins Gespräch zu kommen. Natürlich wäre das nicht in Marions Sinn, doch was sollte er machen? Mit einem entschuldigenden Lächeln in ihre Richtung lud er die beiden ein.

Zehn Minuten später saßen sie, jeder einen Latte macchiato vor sich, in der Cafeteria des Filmstudios. Gegen Jans Befürchtungen schien es Marion nicht zu stören, dass sie nun zu dritt waren. Im Gegenteil, sie ging souverän mit der Situation um.

Die kleine Zusammenkunft entwickelte sich erfreulich locker. Mit der größten Selbstverständlichkeit gingen sie zum Du über. Im Nachhinein empfand Jan es sogar als Vorteil, dass Franziska mit dabei war. So, wie sich die Lage darstellte, war es für ihn eine Leichtigkeit, das Gespräch auf das Thema Drehbuch zu lenken.

„Wollt ihr meine ehrliche Meinung dazu hören?“

„Nur zu!“

„So berauschend finde ich die Story nicht“, erklärte er unumwunden. „Am Ende des Hauptteils fehlt meiner Ansicht nach der Plotpoint – die Verankerung zum letzten Teil, der Auflösung der ganzen Geschichte. Somit entsteht keine überzeugende Storyline, die die Handlung voranbringt. Die Spannung bleibt aus.“

„Siehe da! Einer, der es ganz genau zu wissen glaubt. Aber die Autorin ist kein Neuling auf dem Gebiet. Sie weiß, wie sie eine Story aufbauen muss“, konterte Marion mit einem Lächeln und sah ihn dabei herausfordernd an.

„Verstehe. Du verteidigst sie, weil du die Hauptrolle spielst.“

„Und du? Warum schreibst du eigentlich keine Drehbücher, wenn du dich in dem Metier so gut auskennst?“ Mit übereinandergeschlagenen Beinen saß sie ihm gegenüber und lehnte sich gelassen zurück. Dabei ließ sie ihn nicht aus den Augen.

„Ich bin Aufnahmeleiter und Locationscout“, erwiderte er. Absichtlich nannte er auch den zweiten Beruf, seine eigentliche Passion.

Bis dahin hatte Franziska still zugehört. „Hast du eine Idee, was noch geändert werden könnte?“

„Zum Inhalt hab ich keine, aber mit der entsprechenden Location ließe sich leichter ein Spannungsbogen aufbauen – und halten. Möglichst bis zum Schluss.“

„Demnach hast du eine konkrete Vorstellung?“

Jan zuckte betont gleichgültig mit den Schultern. „Schon möglich.“

„Warum hast du dich nicht vorhin dazu geäußert?“, fragte Franziska.

„Erstens weiß ich noch gar nicht, ob meine Idee tauglich ist. Ich war erst einmal vor Ort und müsste nochmal hinfahren, um mir die Sache genauer anzusehen. Und zweitens war die Atmosphäre während des Meetings nicht gerade ermunternd. An dir lag’s nicht“, versicherte er an Franziska gewandt.

Sie wusste, worauf er anspielte und erklärte: „Ich kenne Susanne seit Jahren. Manchmal ist sie kompliziert, aber sie respektiert jeden, der freiweg seine Meinung äußert.“

„Wer’s glaubt.“ Gleich darauf wurde er wieder ernst und verkniff sich einen weiteren Kommentar. Schließlich konnte er nicht wissen, wie eng die beiden Frauen mit der Regisseurin vertraut waren.

„Jetzt sag schon! Was genau hast du vor Augen?“, drängte nun auch Marion.

„Ich habe einen sogenannten Lost Place gefunden, circa zwei Stunden Autofahrt von hier entfernt. Es handelt sich um ein ziemlich verwahrlostes Gelände mit morbiden Gebäuden.“ Jan ließ eine bedeutsame Pause entstehen. Dann meinte er in beiläufigem Ton: „Aber was soll’s. Das Fotoboard liegt komplett vor. Warum sollte sich da noch jemand für eine neue Idee interessieren? Die Sache ist gegessen.“

Franziska meinte mit Bedauern: „Schade, dass wir nicht schon früher mal darüber gesprochen haben. Jetzt ist sicher alles zu spät.“

„Das denke ich nicht“, widersprach Marion. „Manchmal lässt sich Susanne auch nachträglich noch umstimmen. Und der Charme eines verwilderten Terrains hat doch was Besonderes.“ Sie sah Jan mit einem verheißungsvollen Lächeln an. „Warum fahren wir nicht einfach hin und schauen uns die Sache gemeinsam an? Danach kann ich ja mal mit Susanne reden.“ Hinter der Idee steckte die Absicht, einen Tag allein mit Jan zu verbringen. Vielleicht sogar mit einer Übernachtung. Und natürlich ohne Franziska.

Er war zufrieden, die Angelegenheit entwickelte sich ganz nach seinen Vorstellungen – aber nicht nach Marions: Franziska zückte ihr Smartphone und scrollte den Terminkalender durch. Dann erklärte sie: „Am Freitagnachmittag steht nur eine kurze Besprechung an. Danach könnten wir losfahren.“

Lost Place

 

Jan warf einen flüchtigen Blick auf den Tacho. Mit überhöhter Geschwindigkeit raste er auf der A9 in Richtung Süden. Entgegen Susanne Albrechts Ankündigung hatte die „kurze“ Besprechung, wie sie es nannte, bis in den späten Freitagnachmittag angedauert, so dass sie erst vor einer Dreiviertelstunde aufbrechen konnten. Alles war viel zu spät geworden. Die Zeit drängte.

Neben Jan saß – oder genauer gesagt – lag Marion. Sie klagte über Kopfschmerzen und dass sie die halbe Nacht nicht geschlafen hätte. Mit der größten Selbstverständlichkeit hatte sie es sich auf dem Beifahrersitz bequem gemacht, die Lehne weit nach hinten geklappt und eine kühlende Augenmaske aufgelegt. In ihren Ohren steckten Kopfhörer, über die sie Musik hörte. Auf diese Weise war sie komplett von der Außenwelt isoliert.

Franziska hingegen war hellwach und verfolgte das Verkehrsgeschehen. Dass sie selbst zwischen den beiden Vordersitzen hindurch nach vorne schauen musste und Marion auf dem Beifahrersitz vermutlich schlief, ärgerte sie.

Auf der Ausschilderung war jetzt Lutherstadt Wittenberg zu lesen. „Wie lange werden wir noch unterwegs sein?“, fragte sie.

„Noch mindestens zwei Stunden.“ Auch Jan war genervt. Sie waren in den Feierabendverkehr geraten, und die Umfahrung mehrerer Baustellen würde die Ankunft zusätzlich verzögern. Es ging stockend weiter, vorbei an Dessau und Halle. Bald darauf nahm Jan die Ausfahrt auf die A14 in Richtung Wiedemar – Delitzsch.

Er fluchte, vor ihnen kündigte sich erneut ein Stau an. Sie würden ihr Ziel erst bei einbrechender Dunkelheit erreichen und das verlassene Gelände heute voraussichtlich nicht mehr erkunden können. Zumindest nicht mit den beiden Frauen. Für ihn alleine wäre es kein Problem, es würde ihm nichts ausmachen, das Terrain auch im Finsteren zu durchstreifen, aber nicht mit Marion und Franziska: Der einen unterstellte er einen Hang zur Hysterie, die andere hielt er für pedantisch. Er war froh darüber, dass sie gleich von Anfang an zwei Übernachtungen eingeplant hatten. So wären sie zwei volle Tage vor Ort, und er könnte in aller Ruhe und bei guten Lichtverhältnissen fotografieren.

Franziska mussten wohl ähnliche Gedanken gekommen sein. „Heute wird’s wohl nichts mehr mit der Besichtigung werden. Bis wir da sind, ist es stockdunkel. Könntest du mir endlich mal verraten, wo wir eigentlich hinwollen?“

Er antwortete nicht sofort, der Stau hatte sich unvermittelt wieder aufgelöst und Jan beschleunigte das Tempo. „Ich habe eine Ferienwohnung mit drei Schlafmöglichkeiten in der Nähe des Markkleeberger Sees gebucht. Dort fahren wir erstmal hin“, verkündete er dann.

„Noch nie gehört, aber klingt gut.“ Franziska griff nach ihrem Smartphone und googelte nach dem See. „Meinst du den Seepark Auenhain?“

„Genau den.“

Auf der Ausschilderung war nun Leipzig zu lesen, und Franziska sah sich in ihrer Vermutung bestätigt. Schon als sie die Lage ihrer Unterkunft am Markkleeberger See recherchiert hatte, erkannte sie Jans Absicht. Doch bis jetzt hatte sie keine Ahnung, welchen Lost Place er ihnen in der Nähe der Großstadt zeigen wollte. Ein urbanes Gelände mit alten Industrieruinen vielleicht? Sie konnte sich nicht vorstellen, inwiefern eine solche Kulisse als potentieller Drehort in Betracht käme. Trotzdem, so nahm sie sich fest vor, würde sie sich das Setting unter dem Gesichtspunkt einer möglichen Skriptänderung unvoreingenommen anschauen.

Jan nahm die Ausfahrt Markkleeberg Ost, Dölitz Dösen. Die Sonne stand schon tief am Himmel, das Licht drang nur noch schwach durch eine dünne Wolkenschicht. Bis zum Einbruch der Dunkelheit war nicht mehr viel Zeit. Er warf einen flüchtigen Blick in Richtung Marion. Es schien, als wäre sie unter ihrer Augenmaske und akustisch abgeschirmt durch die Ohrhörer in der Zwischenzeit fest eingeschlafen. Sie atmete tief und gleichmäßig. Von ihrer Seite aus wäre demnach kein Protest zu erwarten. Spontan änderte er seinen Plan. Anstatt wie vorgesehen erst einmal zum gebuchten Quartier zu fahren, bog er auf die Chemnitzer Straße, Richtung Bornaer Chaussee ab. Minuten später lenkte er den Wagen durch eine Toreinfahrt. Vor ihnen tat sich eine Art Allee auf, die von hohen, alten Bäumen umsäumt war. Dahinter lag im fahlen Licht der untergehenden Sonne ein verwildertes, parkähnliches Gelände. Der Belag des Straßenabschnittes, auf dem sie weiterfuhren, war stark beschädigt. Links und rechts des Weges wucherten Büsche; dichtes Gestrüpp verstellte teilweise die Sicht.

„Wo fährst du denn hin?“, monierte Franziska vom Rücksitz aus.

„Wie angekündigt zum Lost Place.“

„Wir wollten doch erst einmal zu unserer Unterkunft fahren und uns das alles hier morgen bei Tageslicht ansehen.“

„Dann wäre die Atmosphäre futsch. Am helllichten Tag wirkt der Ort weniger geheimnisvoll – nicht mehr so, wie ich ihn mir für die Filmszene vorgestellt habe. Deshalb mein Vorschlag, den Erkundungsrundgang zeitlich vorzuziehen. Die Ferienwohnung läuft uns ja nicht weg.“

Franziska fühlte sich zwar überrumpelt, doch ihr blieb nichts anderes übrig, als zuzustimmen. Und sie wollte ihn nicht enttäuschen.

Unvermittelt machte der Weg eine Biegung und mündete in eine Fläche, die wohl früher einmal ein Parkplatz war. Jan fuhr noch ein paar Meter weiter und stellte dann den Motor aus. „So, da wären wir.“

Er stieg aus und ging zum Kofferraum, um Kameraausrüstung, LED-Leuchte und ein Stativ herauszuholen. Franziska kroch von der Rückbank hinaus ins Freie und sah sich argwöhnisch um. Ihr Blick fiel auf ein großes, leerstehendes Gebäude mit maroder Backsteinfassade. In der einbrechenden Dämmerung wirkte es geisterhaft.

„Nicht gerade einladend“, stellte sie mit einem leichten Schaudern fest.

„Früher wird es wohl mal das Verwaltungsgebäude gewesen sein“, meinte Jan. „Im Stil erinnert es an ein altes Herrenhaus.“

Unterdessen war Marion wachgeworden. Noch etwas verschlafen quälte sie sich aus ihrer Liegeposition, nahm die Augenkompresse ab und die Ohrhörer heraus und klappte die Lehne des Beifahrersitzes wieder hoch. Dann stieg sie ebenfalls aus – und blieb wie angewurzelt stehen. Entsetzt starrte sie auf das alte Bauwerk.

Franziska hatte sich ein paar Schritte entfernt. Als sie sich umdrehte, sah sie Marions bestürztes Gesicht. „Was ist denn los?“, wollte sie wissen.

Marion stand noch immer reglos da. Sekunden später schien der Spuk vorbei, sie hatte sich wieder gefasst. „Nichts, vergiss es.“

„Du sahst aus, als wäre dir ein Geist begegnet.“

„So ähnlich war’s auch. Ich hatte gerade ein Déjà-vu.“ Als Franziska sie verständnislos ansah, fragte sie: „Hast du das noch nie erlebt?“

„Was?“

„Eine Erinnerungstäuschung – das seltsame Empfinden, eine bestimmte Situation früher schon einmal erlebt zu haben, obwohl man noch nie an dem Ort gewesen ist.“

„Das ist mir bisher noch nicht passiert. Aber vielleicht warst du doch schon mal hier und hast es bloß vergessen?“

„Nein, auf keinen Fall.“

Von dem kurzen Intermezzo hatte Jan nichts mitbekommen. Er war mit der Kameraausrüstung beschäftigt und gerade dabei, ein paar Außenaufnahmen zu machen. Als er fertig war, fragte er: „Was ist, gehen wir rein? Oder wollt ihr lieber im Auto warten?“

„Nein, nein, ist schon in Ordnung, wir kommen mit“, meinte Franziska etwas zögerlich.

Zur hölzernen Eingangstür des Gebäudes führten ein paar Steinstufen hinauf. Die Tür war versperrt, die Fenster teilweise zerschlagen oder mit Holzplatten zugenagelt. Vor einigen hingen marode Jalousien.

„Hier kommen wir nicht rein.“ Franziska klang fast erleichtert. Ebenso wie Marion war es ihr nicht geheuer, das leerstehende Haus im Dunkeln zu betreten.

„Das dachte ich auch, als ich vor ein paar Tagen hier war.“ Jan öffnete eine kleine Werkzeugtasche, die er in weiser Voraussicht mitgenommen hatte. „Diesmal bin ich besser vorbereitet“. Wenig später hantierte er an der verriegelten Tür. Argwöhnisch beobachteten ihn die beiden Frauen dabei.

„Dir ist schon bewusst, dass du etwas Gesetzwidriges machst?“ Franziska deutete auf das Absperrschild, das unübersehbar angebracht war. Die Worte „Betreten verboten“ waren gut erkennbar. „Außerdem ist das Gebäude sicher baufällig, und so im Dunkeln ...“

Jan schnaufte verächtlich. Er hatte es ja geahnt! „Also sagt es doch gleich, wenn euch die Sache zu brenzlig wird. Ich kann auch erstmal allein reingehen.“ Inzwischen war es ihm gelungen, die Türverriegelung unbeschädigt zu öffnen.

Franziska sah sich nach allen Seiten um, aber weit und breit war außer ihnen kein Mensch zu sehen. Nicht zu dieser abendlichen Stunde – noch dazu bei Einbruch der Dunkelheit. Um nicht als Quertreiber dazustehen, stieg sie die steinernen Stufen empor. An der Tür drehte sie sich nochmal nach Marion um. „Kommst du nicht mit?“

„Doch, natürlich!“ Entschlossen folgte sie den beiden ins Innere des Gebäudes.

Interessiert sahen sie sich um. Wie mochte das heruntergekommene Bauwerk wohl vor Jahren ausgesehen haben? Das Entree, das im Schein von Jans LED Leuchte sichtbar wurde, ließ erahnen, wie prachtvoll es einst ausgestattet war. Tastend glitt der Lichtstrahl weiter und blieb am Fuße eines geschwungenen Treppenaufgangs hängen.

„Wow!“ Franziska war sichtlich beeindruckt. „Das perfekte Setting für die Schlüsselszene!“

Auch Marion hatte die Treppe entdeckt. Ihr Blick wanderte weiter, das Geländer hinauf bis zur Balustrade im oberen Stockwerk. Dabei sprach sie kein Wort. Es schien, als versuchte sie, die Atmosphäre dieses verlassenen Ortes zu ergründen.

Während die beiden Frauen, jede auf ihre Weise, die unheilvolle Stimmung auf sich wirken ließen, ging Jan in einen Nebenraum. Durch die oberen Scheiben eines der Fenster drang spärliches Licht, der Rest lag im Dunkeln. Jan ließ den Lichtstrahl über die Wände gleiten. Die Farbe war abgeblättert, an einigen Stellen war der Putz aufgehackt und Reste von elektrischen Leitungen kamen zum Vorschein. Von der Zimmerdecke hingen Kabel. Vorsichtig stieg er über Schutthaufen, die am Boden lagen. Es war unverkennbar, dass hier Renovierungsarbeiten begonnen und später wieder abgebrochen wurden. „Wo bleibt ihr denn?“, rief er den beiden Frauen zu. „Aber passt auf, dass ihr nicht im Dunkeln stürzt!“

Franziska folgte ihm und hielt sich dicht in seiner Nähe auf. „Was war das eigentlich früher mal für eine Institution?“, wollte sie wissen.

„Auf dem Gelände war ein Parkkrankenhaus mit verschiedenen Bereichen untergebracht. Soweit mir bekannt ist, gehörte das Gebäude, in dem wir uns jetzt befinden, zur Verwaltung.“

„Und seit wann steht das alles hier leer?“

„Erzähl ich euch später, wenn wir in der Ferienwohnung sind.“

Sie verließen den Raum und gingen ins Foyer zurück. Dort stand Marion noch immer vor dem geschwungenen Treppenaufgang und starrte hinauf. Als sie die beiden kommen hörte, wandte sie sich ihnen rasch zu. „Ich finde es gruselig hier.“

„Ach was. Kommt, wir gehen jetzt hoch.“ Jan leuchtete die Stufen aus und ging voran, dicht gefolgt von Marion und Franziska. Die erste Etage zeigte sich ähnlich marode wie die Eingangshalle. Durch die Fenster fiel kaum noch Licht, in Kürze würde es vollkommen dunkel sein. Zumindest war der Gang beräumt, so dass sie nicht Gefahr liefen, über Bauschutt zu stolpern. Jan versuchte, die breite Flügeltür zu öffnen, die direkt gegenüber dem Treppenaufgang lag. Doch sie war fest verschlossen. Die nächste Tür ließ sich problemlos öffnen. Gleich darauf betraten sie ein kleineres Zimmer, augenscheinlich das Sekretariat, und gelangten von diesem in einen repräsentativen Raum, der hinter der verschlossenen Flügeltür lag. Es handelte sich eindeutig um das ehemalige Direktorenzimmer.

„Na, wer sagt’s denn, wir befinden uns in der Chefetage“, stellte Jan zufrieden fest. „Hier könnten wir doch während der Dreharbeiten unser Quartier einrichten.“

Mit Unbehagen sah Marion sich um. Franziska hatte sie verstohlen beobachtet, und ihr entging nicht deren ungewohnte Schweigsamkeit.

„Was ist? Hast du gerade wieder ein Déjà-vu-Erlebnis?“

Sichtlich verärgert, weil Franziska sich über sie lustig machte und wohl auch, weil sie selbst vorhin für einen Moment die Kontrolle verloren hatte, wandte sie sich brüsk ab.

Diesmal hatte Jan die gereizte Stimmung bemerkt. Und dafür konnte es seines Erachtens nur einen Grund geben: Die beiden Frauen, insbesondere Marion, empfanden die Atmosphäre hier in dem düsteren, verlassenen Gebäude bedrohlich. Er sah sich noch einmal um und entschied: „Einen ersten Eindruck haben wir gewonnen. Morgen bei Tageslicht sieht alles übersichtlicher aus.“ Und an Marion gewandt schlug er vor: „Du musst ja nicht unbedingt wieder mitkommen. Es reicht durchaus, wenn Franziska und ich nochmal hier herfahren.“

Aber das war nicht in Marions Sinn. „Kommt nicht in Frage“, erwiderte sie kalt. Ihre ursprüngliche Absicht war ohnehin, die Wochenendtour allein mit Jan zu unternehmen. Dass Franziska sich ihnen förmlich aufgedrängt hatte, empfand sie als reine Zumutung.

Die Ferienwohnung im Seepark Auenhain war ein Volltreffer: geräumig, großzügig ausgestattet und mit hellen, modernen Möbeln eingerichtet. Normalerweise war um diese Jahreszeit alles ausgebucht. Ein weiterer Glücksumstand war, dass die Unterkunft nicht weit vom ehemaligen Krankenhausgelände entfernt lag.

Zufrieden sah Jan sich um. „Nicht übel! Hier könnte ich Urlaub machen.“ Er warf seine Tasche auf die Schlafcouch im Wohnzimmer. Das separate Schlafzimmer mit dem breiten Doppelbett überließ er Marion und Franziska. Nachdem sie das Nötigste ausgepackt hatten, schlug er vor: „Jetzt gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder fahren wir nach Leipzig und suchen in der Innenstadt ein schönes Restaurant, oder wir gehen gleich hier nebenan in die Seerose. Soll auch sehr gut sein.“

„In die Seerose“, entschied Marion. „Momentan ist mir nicht nach weiteren Erkundungen. Vielleicht morgen wieder.“

Das Restaurant Seerose befand sich in unmittelbarer Nähe zu ihrem Quartier. Für die Außenterrasse war es zu kalt geworden, also wählten sie einen Platz im Innenraum, direkt am Fenster.

Nachdem die Getränke gebracht wurden und sie die Speisen bestellt hatten, lehnte Jan sich entspannt zurück. Er konnte zufrieden sein: Den ersten Eindruck, den er vor Tagen bei der allein unternommenen Erkundungstour gewonnen hatte, sah er heute bestätigt. Seiner Ansicht nach war das verwilderte Parkgelände mit den maroden, leerstehenden Bauwerken bestens als Schauplatz für ein paar Filmszenen geeignet. Und längst hatte er bemerkt, dass Franziska von dem alten Verwaltungsgebäude mit seinem prachtvollen Entree und dem imposanten Treppenaufgang angetan war und es als möglichen Drehort in Betracht zog. Inwieweit sie Einfluss auf Susanne Albrechts Entscheidungen hatte, wusste er nicht. Doch er rechnete fest damit, dass sie zumindest mit ihr darüber sprechen würde. Bei Marion war er sich da nicht so sicher. Im Gegensatz zu Franziska schien sie dem gemeinsamen Vorhaben plötzlich ablehnend gegenüberzustehen. Als er aufschaute, begegnete er ihrem Blick. Wieder fiel ihm das intensive Blau ihrer Augen auf. In ihnen lag ein Ausdruck, den er nicht missverstehen konnte. Ganz eindeutig bedauerte sie, dass sie nicht allein mit ihm war. Aber darauf durfte er jetzt keine Rücksicht nehmen. Seine Absicht war, es weder mit ihr noch mit Franziska zu verderben. Insofern war es ein Fehler, das Wochenende hier zu dritt zu verbringen, dachte er und unterdrückte ein Grinsen. Doch komme was wolle, die Erkundungstour musste er durchziehen und dabei ein paar spektakuläre Fotoaufnahmen machen, um sie am Montag der Regisseurin vorzulegen. Dann würde sich zeigen, wie hilfreich Franziskas oder Marions Anwesenheit dabei wäre.

Nachdem sie angestoßen und den ersten Schluck des Müller-Thurgaus genommen hatten, erinnerte Franziska daran, dass Jan ihnen etwas über die Geschichte des Parkkrankenhauses erzählen wollte.

Er zog einen Computerausdruck aus der Jackentasche und las ein paar Stichpunkte vor: „Laut Wikipedia wurde die Heilanstalt im sächsischen Ort Dösen durch Otto Wilhelm Scharenberg im Pavillonstil erbaut. Die Klinik umfasst zwanzig Gebäude. Sie stehen bis heute unter Denkmalschutz. Charakteristisch sind die Klinkerfassaden mit der auffallenden Ornamentik und den Sprossenfenstern. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde die Einrichtung zur Sächsischen Landesanstalt für Psychiatrie. In der Folgezeit übernahm sie weitgehend die psychiatrische Versorgung psychisch Kranker und Behinderter in Leipzig. Davon abgeleitet entstand in der Leipziger Umgangssprache die Redewendung: Du bist wohl aus Dösen? im Sinne von: Du bist komplett verrückt. Der wohl bekannteste Patient war Daniel Paul Schreber, der Sohn des Namensgebers der Schrebergärten. Jahre später, in der Zeit des Nationalsozialismus begann ein besonders düsteres Kapitel: Ab 1934 wurden hier Menschen zwangssterilisiert und 624 Kinder in der sogenannten ‚Kinderfachabteilung‘ ermordet.“

Nach einem betroffenen Schweigen meinte Marion: „Das ist ja grausam ... Ich will nichts mehr darüber hören!“

„Es gehört aber zur Historie des Ortes“, entgegnete Jan und nahm wieder den Computerausdruck zur Hand. „Zum Gedenken an die NS-Opfer der Heilanstalt Dösen wurde gegenüber dem ehemaligen Haupteingang eine Stolperschwelle mit einer Inschrift verlegt. 1946 erhielt Dösen den Klinikstatus mit fast allen medizinischen Sparten. Im gleichen Jahr wurde die sächsische Mundartdichterin Lene Voigt als Patientin eingewiesen. Nach ihrer Heilung blieb sie freiwillig in der Einrichtung und arbeitete bis zu ihrem Tod in der Verwaltung. 1958, also zu DDR-Zeiten, wurde aus dem Komplex das Bezirkskrankenhaus für Psychiatrie Leipzig-Dösen. 1993 fusionierte das Krankenhaus mit der Städtischen Klinik für Orthopädie und Rehabilitation Dr. Georg Sacke. Zusammen wurden sie 1999 privatisiert und 2002 an einen neuen Standort im Stadtteil Probstheida verlegt. 2002 wurde der Klinikbetrieb in Dösen eingestellt und nur noch Einzelgebäude genutzt. Das gesamte Areal wurde 2009 an eine Investmentfirma verkauft. Übrigens: Sollte der Ort tatsächlich für unser Filmprojekt in Betracht kommen, können wir nicht ewig warten. Wir müssten die Dreharbeiten hier vorziehen.“

„Warum denn?“, wollte Franziska wissen. „Das Verwaltungsgebäude steht doch leer.“

„Wer weiß wie lange noch. Auf dem ehemaligen Gebiet des Parkkrankenhauses – so sieht es das städtebauliche Konzept vor – soll demnächst die Parkstadt Dösen mit luxuriösen Wohnquartieren entstehen. Dafür muss die denkmalgeschützte Bausubstanz erhalten bleiben und durch Neubauten ergänzt werden. Das heißt also, dass in absehbarer Zeit mit der Restaurierung und der Neubebauung begonnen wird.“

Franziska nickte. „Wahrscheinlich ist das schon geschehen. Wir haben es ja an dem Bauzaun und den Verbotsschildern gesehen. Und den aufgehackten Wänden und Schuttbergen.“

„Das ist altes Material, was da rumliegt“, entgegnete Jan. „Im Verwaltungsgebäude selbst wurde sicher ewig nichts gemacht. Ein weiteres Problem dürfte die Drehgenehmigung werden. Wir brauchen die Zustimmung des Investors.“

„Darum würde ich mich kümmern, sobald wir Susanne von dem Lost Place überzeugt haben“, bot Franziska an.

„Das dürfte schwer werden.“

„Was? Die Genehmigung oder die Überzeugungsarbeit?“

„Beides“, meinte Jan.

Unterdessen hatte die Bedienung das Essen gebracht: für Jan Rotbarschfilet in knuspriger Panade, mit gebuttertem Karottengemüse und Kartoffelstampf. Die beiden Frauen hatten Pasta Verde mit hausgemachtem Bärlauch-Pesto und gebratenen Streifen vom Hähnchenbrustfilet gewählt.

Die nächsten Minuten verbrachten sie schweigend und widmeten sich ihren Gerichten.

Schließlich fragte Marion: „Wie bist du eigentlich auf das ehemalige Parkkrankenhaus gekommen?“

„Durch einen Freund. Sein Vater hatte zu DDR-Zeiten hier gearbeitet.“

Nachdem sie fertiggegessen und noch eine Flasche Müller-Thurgau bestellt hatten, fragte Jan in beiläufigem Ton: „Was war das eigentlich für ein Déjà-vu-Erlebnis vorhin?“

Also hatte er Franziskas Bemerkung mitgehört. Marion ärgerte sich ein weiteres Mal, dass sie sich beim Anblick des alten Gebäudes so hatte gehen lassen. „Eine Erinnerungstäuschung, mehr steckt nicht dahinter“, wiegelte sie ab. Da er sich mit dieser knappen Antwort nicht zufrieden gab, erklärte sie etwas ausführlicher: „Als ich so unvermittelt vor dem Bauwerk stand, hatte ich plötzlich das Gefühl, schon mal hiergewesen zu sein, obwohl es nicht sein kann. Den Ort habe ich zuvor noch nie gesehen.“

Zu ihrer Überraschung erklärte Jan: „Dieses Phänomen kenne ich. Vor ein paar Jahren ging ich über eine italienische Piazza. Und plötzlich kam mir die Situation so vertraut vor, als hätte ich sie in der Vergangenheit schon mal erlebt.“ Mit einem Grinsen ergänzte er: „Verrückt, nicht wahr? Aber ich habe gelesen, dass mehr als fünfzig Prozent der Deutschen schon einmal so einen Sinneseindruck hatten.“

Dankbar lächelte sie ihn an, seine verständnisvollen Worte taten ihr jetzt gut. Ein weiteres Mal kam ihr in den Sinn, wie absurd die Situation war: das Erschrecken, als sie verschlafen aus dem Auto stieg und plötzlich vor dem Gebäude stand. Und überhaupt, die Konstellation, dass sie jetzt zu dritt hier saßen, fand sie abwegig. Auch wenn sie Franziska als Regieassistentin ein professionelles Interesse an dem Ort zugestand, störte sie deren Anwesenheit gewaltig. Jan hatte sie gemeint, und nur sie allein, als er die gemeinsame Erkundungstour vorschlug, dachte Marion erbost.

„Ich denke, dafür gibt es eine einfache Erklärung“, riss Franziska sie aus ihren Gedanken.

„Wofür denn?“, entgegnete sie schroff.

„Für Jans vermeintliche Erinnerung an die Piazza. Zum Teil liegt es wohl daran, dass er sich in Vorbereitung der Reise mit den Sehenswürdigkeiten befasst und natürlich vorher auch schon Fotos gesehen hat. Dann kann das Hirn für einen Moment nicht unterscheiden, ob man die Situation selbst erlebt hat oder sie einem durch das vorherige Betrachten der Bilder bekannt vorkommt. Ähnlich wird es wohl mit Erinnerungen aus der Kindheit sein. Zum Schluss weiß man nicht, ob es eigene Erfahrungen sind oder man die Ereignisse nur vom Erzählen her kennt.“

Marion stieß die Luft aus. „Das ist mir alles zu abstrakt.“

„In dem Fall mit der Piazza könnte die Erklärung zutreffen“, griff Jan Franziskas Überlegungen auf. „Aber Marion konnte sich gar nicht auf die Location vorbereiten. Sie wusste ja nicht, dass wir hierherkommen.“

„Vielleicht habe ich ja unbewusst die schreckliche Historie dieses Ortes gespürt?“

„Dann wärst du hellsichtig“, äußerte Franziska nicht ohne Ironie.

„Das ist ein ganz anderes Thema. Ich kann nicht in die Zukunft sehen und weiß auch nicht, was in diesem Moment irgendwo an einem anderen Ort gerade passiert. Zum Glück nicht.“ Entschlossen erklärte sie: „Aber eins weiß ich genau: In dem halbverfallenen Gebäude werde ich keine einzige Szene drehen.“

„Nun dramatisiere die Sache mal nicht“, meinte Franziska. Dann fiel ihr ein: „Vielleicht erinnert dich der Ort ja an etwas Gruseliges, was du vor Jahren gesehen und danach wieder vergessen hast.“

Bei dieser Erklärung wollten sie es vorerst belassen. Bald erörterten Jan und Franziska, inwieweit das alte Verwaltungsgebäude für einen Filmdreh geeignet wäre und welche Vorbereitungen getroffen werden müssten. Und Marion war erleichtert, dass keiner der beiden nochmal auf ihre seltsamen Empfindungen zu sprechen kam.

Flashback

 

Es war schon spät, als sie beschwingt vom Wein die Ferienwohnung betraten. Auch Marion schien bester Stimmung. Sie wollte den Abend noch ein wenig ausklingen alles. Am liebsten allein mit Jan. Doch der ignorierte ihre Blicke. Ebenso wie Franziska mahnte er, dass sie am nächsten Morgen nicht zu spät aufstehen sollten.

„Ich möchte beizeiten vor Ort sein. Außerdem befürchte ich, dass wir nicht die Einzigen auf dem Gelände sind.“

„Wer außer uns sollte sonst noch dort sein?“

„Mitarbeiter der Investmentfirma zum Beispiel, oder Bauarbeiter.“

„Morgen ist Samstag“, erinnerte Marion.

„Trotzdem.“

„Spielverderber.“ Enttäuscht packte sie den Rest ihrer Sachen aus. Sie einigten sich, wer zuerst ins Bad durfte. Eine halbe Stunde später kehrte Ruhe ein – Marion und Franziska lagen im breiten Doppelbett, Jan auf der Schlafcouch im Wohnzimmer.

In den frühen Morgenstunden wurden sie von einem Schrei geweckt.

„Was ist los?!“ Jan sprang auf und stand Sekunden später in der Tür zum Schlafzimmer.

Mit weit aufgerissenen Augen saß Marion im Bett. Sie wirkte verwirrt und stammelte: „Nichts passiert! Alles gut! Ich hab nur schlecht geträumt. Habe ich geschrien? Oh, das tut mir leid! Ich wollte euch nicht wecken. Aber es ist wirklich nichts passiert!“, wiederholte sie ein weiteres Mal.

Franziska beobachtete sie von der Seite. Aber der Verdacht, die Schauspielerin wolle mit einer makabren Selbstinszenierung die Aufmerksamkeit auf sich lenken, zerschlug sich sofort: Marion war schweißgebadet, ihr Gesicht kalkweiß und sie zitterte am ganzen Leib.

„Was hast du denn geträumt“, fragte Franziska vorsichtig.

„Ob du’s glaubst oder nicht: Ich weiß es nicht mehr.“

„Und ich glaub es nicht.“ Da Marion schwieg, ging Franziska jetzt behutsamer vor. „Du wirkst echt erschüttert. Hatte dein Traum etwas mit dem alten Gebäude zu tun?“

Marion hob die Schultern. „Schon möglich“, meinte sie vage, und dann: „Ach, ich weiß selbst nicht, was mit mir los ist. Es kam so unvermittelt über mich – wie ein Flashback. Am besten, wir vergessen die ganze Sache.“

„Aber das geht doch nicht“, drängte Franziska. „Du verbindest mit dem Ort etwas Schreckliches, das du verarbeiten musst. Möchtest du darüber reden?“

Auch Jan war besorgt, er hatte sich auf die Bettkante gesetzt und den Arm um sie gelegt. „Was genau war das für ein Flashback, das da so plötzlich auftauchte?“

„Ich kann es nicht benennen. Eher das Gefühl einer diffusen Gefahr, einer Bedrohung.“ Nach ein paar Augenblicken, Jan hatte sich wieder erhoben und war auf dem Weg zurück ins Wohnzimmer, entschloss sie sich zu einer detaillierteren Schilderung – wohl auch, um ihn ein wenig länger in ihrer Nähe zu halten. „Es ging nochmal um das marode Gebäude. Als ich im Traum davor stand, spielte sich blitzartig eine Szene vor meinem inneren Auge ab. Sie währte nur Sekunden. Dann war alles wieder vorüber.“

„Was genau hast du gesehen?“, hakte Jan nach.

Marion zuckte mit den Schultern, sie überlegte einen Augenblick, dann meinte sie: „Ich hatte plötzlich das Empfinden, als würde ich eine Bedrohung erleben – aber aus einer eigenartigen Perspektive heraus, so als wäre ich nicht persönlich beteiligt. Dann bin ich aus dem Schlaf hochgeschreckt.“

Die beiden anderen schwiegen für einen Moment, schließlich meinte Franziska: „Meines Erachtens gibt es für das Phänomen nur eine Erklärung: Du hast vor Jahren etwas Schreckliches gesehen und die Angelegenheit verdrängt, sozusagen als Schutzreaktion. Aber das erklärt nicht, warum du dich ausgerechnet hier an diesem Ort daran erinnerst. Wenn du noch nie hiergewesen bist.“

„Ich kann es ja selbst nicht verstehen.“ Dann kam Marion auf die Begründung zurück, die sie bereits beim Abendessen in der Seerose gegeben hatte. „Das Ganze muss etwas mit der Historie der Heilanstalt zu tun haben. Die Morde, die hier geschehen sind ...“

„Hör auf damit“, unterbrach Franziska sie. „Ich glaube nicht an übersinnliche Fähigkeiten. Niemand kann sehen, was vor seiner Zeit passiert ist. Es wird wohl eher so gewesen sein, dass die Erinnerung an eine besonders schockierende Filmszene wieder hochkam. Womöglich wurde sie an einem ähnlichen Ort wie diesem hier gedreht und du hast vor Jahren selbst eine Rolle darin gespielt.“

„Besten Dank auch“, entgegnete sie bissig. „Soweit reicht mein Verstand gerade noch, um mich an meine Filmrollen zu erinnern. Dann wüsste ich ja, woher die Wahrnehmungen kommen.“

„Schon gut, so hatte ich es nicht gemeint.“ In versöhnlichem Ton schob Franziska nach: „Du reagierst eben sehr empfindsam und nimmst deine Umgebung mit allen Sinnen wahr. Für den Schauspielberuf mag das hilfreich sein, aber im Alltag ist es irritierend.“

„Wollen wir die Angelegenheit nicht erst mal auf sich beruhen lassen?“, schlug Jan vor. „Ihr könnt ja morgen weiter diskutieren.“

„Morgen ist schon heute“, stellte Franziska mit einem Blick auf die Uhr fest. „Aber egal. Ich bin hundemüde und würde jetzt gern weiterschlafen.“ Demonstrativ schaltete sie das Licht der Nachttischlampe aus und drehte sich auf die andere Seite.

Spur in die Vergangenheit

 

Sie saßen zu dritt am Frühstückstisch in der Seerose.

„Wie geht es dir?“, fragte Jan teilnahmsvoll. „Möchtest du mit, wenn wir nachher nochmal rüber auf das Gelände fahren, oder willst du lieber hierbleiben?“

„Ich komme mit.“

„Du könntest auch mit den öffentlichen Verkehrsmitteln nach Leipzig fahren und dir die City ansehen“, schlug Franziska vor. „Von hier aus fährt ein Bus.“

Ohne sie eines Blickes zu würdigen, wiederholte Marion: „Ich sagte doch gerade, dass ich mitkomme.“ Sie stand auf und bediente sich ein weiteres Mal am Frühstücksbuffet. Generell achtete sie streng auf ihre Figur und hielt sich, wenn es sein musste, mit dem Essen sehr zurück. Doch nicht heute. Nicht nach dieser Nacht. Die Tatsache, dass sie sich so dünnhäutig und furchtsam gezeigt hatte, nahm sie sich selber übel und steigerte ihren Frust. Sie lud ihren Teller übervoll – was sie unter normalen Umständen nie getan hätte. Zurück am Tisch goss sie sich noch einmal Kaffee nach. Die beiden anderen vertieften sich derweil in eine Karte, die Jan vor ihnen ausgebreitet hatte. Auf ihr waren der Grundriss des Parkgeländes und die verbliebenen ehemaligen Klinikgebäude abgebildet.

Zum einen war Marion froh darüber, dass sie beschäftigt waren und die nächtliche Episode nicht noch einmal ins Gespräch kam, zum anderen fühlte sie sich ausgeschlossen, überflüssig. Mit einem verächtlichen Blick bemerkte sie, dass Franziska, die vorher neben ihr saß, die Tischseite gewechselt hatte und nun ganz dicht an Jan herangerückt war. Ihre Wangen glühten vor Eifer, wie sie über die Karte gebeugt seinen Erläuterungen folgte. Es war augenfällig, dass sie sich um ihn bemühte. Und genau dieser Umstand bestärkte Marions Vorsatz, sich nicht noch einmal gehenzulassen. Entschlossen trank sie ihren Kaffee aus und schob den Teller, von dem sie kaum etwas angerührt hatte, beiseite. Dann schaute sie ebenfalls auf die Karte und hörte still zu, wie Jan die Beschaffenheit des Parkgeländes und insbesondere die Lage der im Pavillonstil gebauten Klinikgebäude erläuterte. Ab und zu stellte sie eine Frage, hielt sich aber im Wesentlichen zurück. Sie war wieder ganz bei sich – die charmante, liebenswürdige Marion, wie Jan sie vor Tagen kennengelernt hatte.

 

Das Wetter war diesig, über den Wiesen lag Bodennebel. Diesmal wirkte der Weg fast noch unheimlicher, da der Nebel im Park dichter wurde und ihnen die Sicht nahm. Nach Jans Meinung hatte der Ort damit an Atmosphäre gewonnen – eben ein Lost Place. Wobei diese Bezeichnung nicht ganz zutraf. Viele der ehemaligen Krankenhausgebäude waren bereits eingerüstet und mit Planen verhangen; die Sanierungsarbeiten hatten im vollen Umfang begonnen. Doch außer Jan und den beiden Frauen war heute, am Samstagmorgen kein Mensch auf dem Gelände unterwegs, nicht einmal Bauarbeiter, wie Jan befürchtet hatte. Er parkte das Auto an der gleichen Stelle wie gestern, auf dem verwilderten Parkplatz gegenüber dem unsanierten Verwaltungsgebäude. Nachdem sie ausgestiegen waren, zog Marion fröstelnd die Schultern hoch.

„Möchtest du meine Jacke?“, bot Jan ihr an.

„Lieb von dir.“ Mit einem bezaubernden Lächeln blickte sie zu ihm auf und ließ sich die Jeansjacke um die Schultern legen.

Franziska verkniff sich eine gehässige Bemerkung. Es war so typisch!, dachte sie verärgert. Auf seltsame Weise gelang es der Schauspielerin immer wieder, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Eben noch gereizt und schlecht gelaunt, gewann sie Augenblicke später mit der größten Selbstverständlichkeit die Zuneigung der anderen. Insbesondere die des anderen Geschlechts. Aber so war sie nun einmal. Und obwohl sie sich im Grunde genommen gut verstanden, nervte sie Marions Bedürfnis, ständig im Mittelpunkt zu stehen. Mit betonter Gleichgültigkeit wandte Franziska sich dem alten Backsteingebäude zu. Doch das leichte Schaudern, das sie gestern noch ergriffen hatte, stellte sich nicht wieder ein. Die mystische Atmosphäre schien verflogen. Trotz des Nebels wirkte alles, so bei Tageslicht besehen, harmlos und fast banal. Beeindruckend fand sie den Baumbestand – hohe Kiefern und Laubbäume, deren Silhouetten im Nebel verschwanden. Auf dem Platz lagen herbstlich verfärbte Blätter, die unter ihren Schritten raschelten.

Die nächste halbe Stunde verbrachte Jan mit Außenaufnahmen. Er suchte nach einer Perspektive, aus der er das Gebäude effektvoll ins Bild setzen konnte. Doch das stellte sich als echte Herausforderung dar. Wenn er sich zu weit entfernte, verdeckten Nebel und Äste die Sicht; wenn er zu nah dran war, ging der Gesamteindruck verloren. Es war schwierig, die passende Einstellung zu finden.

„Wollen wir denn nicht nochmal ins Gebäude?“, drängelte Marion. Obwohl sie die Jeansjacke um die Schultern trug, war ihr noch immer kalt.

„Ich staune über deinen Mut.“ Die Bemerkung kam von Franziska, und in ihr schwang ein sarkastischer Unterton mit.

Marion gab keine Antwort darauf, sie ging zum Kofferraum, um die Werkzeugtasche zu holen.

Ein paar Minuten später hatte Jan das Türschloss geöffnet und sie betraten das Gebäude.

Das trübe Tageslicht drang schwach durch die lädierten Jalousien und erhellte den Raum nur spärlich. Trotzdem war alles gut erkennbar – das einst prunkvolle Foyer mit der breiten, geschwungenen Treppe, die in die obere Etage führte.

Jan befestigte die LED Leuchte am Stativ und begann mit den Innenaufnahmen. Wenn er sie am Montag der Regisseurin vorlegte, könnte sie einen ersten Eindruck gewinnen. Er hoffte, dass sie zumindest einen Blick darauf werfen würde. Und vielleicht, so überlegte er jetzt, wäre es hilfreich, wenn er in diesem Zusammenhang auch das merkwürdige Déjà-vu erwähnte. Das könnte Susanne Albrechts Interesse wecken. Verstohlen sah er zu Marion hinüber. Im Gegensatz zu gestern schien sie diesmal völlig entspannt.

Nachdem Jan das Licht der LED Leuchte auf den Treppenaufgang ausgerichtet und begonnen hatte, ihn aus verschiedenen Perspektiven zu fotografieren, kam ihm eine Idee. Nach seiner Vorstellung könnte er der Blickfang in einer entsprechenden Filmszene werden.

„Marion, geh doch bitte mal die Treppe bis auf halbe Höhe hinauf und komm ganz langsam wieder herunter.“

„Spielst du jetzt den Regisseur?“ Aber sie kam seiner Bitte gerne nach, stieg bis zum ersten Absatz und drehte sich dann um.

Ohne nach unten zu schauen, setzte sie die Füße graziös, genau einen vor den anderen, sicher auf die Stufen. Ihre linke Hand glitt beim Hinabsteigen spielerisch über das schmiedeeiserne Geländer. Mit einer anmutigen Geste strich sie dann das Haar zurück und blickte dabei in die Kamera. Das alles gelang ihr mit unvergleichlicher Nonchalance und Eleganz.

Franziska beobachtete die Szene. Insgeheim beneidete sie ihre Kollegin um diese Leichtigkeit.

---ENDE DER LESEPROBE---