Vertrauen – Die unsichtbare Macht - Martin Hartmann - E-Book

Vertrauen – Die unsichtbare Macht E-Book

Martin Hartmann

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Beschreibung

Alle wollen es – Banken, Politik, Wissenschaft, das Internet und die Liebe: unser Vertrauen! Doch das Vertrauen steckt in der Krise, viele fühlen sich betrogen, von Medien, Parteien, Unternehmen. Der Philosoph Martin Hartmann analysiert in einer inspirierenden Gegenwartsdiagnose, was dran ist an der Krise. Und entdeckt ein grundlegendes Dilemma: Wir preisen das Vertrauen, wir vermissen es und beklagen seinen Verlust. Doch viele haben Angst vor der Verletzlichkeit, die mit Vertrauen einhergeht. Neue Formen der Überwachung werden hingenommen, an scheinbar bestätigten Meinungen festgehalten. Das führt zu Konflikten, Unsicherheit und Stillstand. Grund genug für vertrauensbildende Maßnahmen! Eine erhellende Lektüre, die verstehen hilft, was Vertrauen eigentlich ist und für unser Leben bedeutet. Martin Hartmann ermutigt uns, wieder mehr Vertrauen zu wagen – für ein besseres Miteinander. Philosophie für alle!

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Martin Hartmann

Vertrauen

Die unsichtbare Macht

FISCHER E-Books

Inhalt

[Widmung]»Seit ich klein war, [...]Vorwort Das Vertrauen ringt nach LuftKapitel 1 Die große KriseDie Diagnose und die Atmosphäre: Sinkende Vertrauenswerte und wachsende AngstVielfalt als BedrohungOffene Lügen, Fake News und VerschwörungenTerror: Angriff auf das GrundvertrauenKapitel 2 Die Fülle des VertrauensAlle wollen VertrauenNiemand will vertrauenVertrauensbedarfsgesellschaftVier Argumente gegen die Fülle des VertrauensKapitel 3 Was ist Vertrauen?Die Gefahr der IsolierungLiebe, Freundschaft, NäheVerletzen und missbrauchenVertrauen und Sich-verlassen-aufVertrauenswürdigkeit erkennenKönnen wir Institutionen vertrauen?Alles hängt am KlimaDie vielen Krisen des VertrauensKapitel 4 Sie müssen mir einfach vertrauen!Mysteriös und existenziellDie erste Bank – ein GetreidelagerFalsches VertrauenStrukturen der BlindheitDas Ende der TreuhandschaftKapitel 5 Transparenz als Lösung?Transparenz, Öffentlichkeit, RechenschaftspflichtTransparenz und Vertrauen (1): Was Transparenz nicht leisten kannLaientransparenz: Ein VorschlagTransparenz und Vertrauen (2): Transparenz braucht Vertrauen und kann es nicht herbeiführenKapitel 6 Theodore liebt Samantha: Über Technik, künstliche Intelligenz und e-trustMan kann nur Dingen vertrauen, die einen Willen habenVielleicht haben manche technische Dinge einen WillenDie Entwertung der LeiblichkeitDas Paradox technischer SicherheitKapitel 7 »Die da oben«: Über politisches VertrauenVertrauen »die da oben« denn »denen da unten«?Früher war alles besserDie Erfahrbarkeit von Politik: Was fehltUnd das Gemeinwohl?Schluss: Dem Vertrauen Luft zum Atmen gebenDank

Für Karen, Katharina und Charlotte, meinen Vater, Peter Hartmann (1937–1975), meine Mutter, Hilka Hartmann, und Melanie Dailey in Texas

»Seit ich klein war, hatte mein Vater mir beigebracht, dass die Welt schlecht ist. Die Welt ist schlecht, und der Mensch ist auch schlecht. Trau keinem, geh nicht mit Fremden und so weiter. Das hatten mir meine Eltern erzählt, das hatten mir meine Lehrer erzählt, und das Fernsehen erzählte es auch. Wenn man Nachrichten guckte: Der Mensch ist schlecht. Wenn man Spiegel TV guckte: Der Mensch ist schlecht. Und vielleicht stimmt das ja auch, und der Mensch war zu 99 Prozent schlecht. Aber das Seltsame war, dass Tschick und ich auf unserer Reise fast ausschließlich dem einen Prozent begegneten, das nicht schlecht war. Da klingelte man nachts um vier irgendwen aus dem Bett, weil man gar nichts von ihm will, und er ist superfreundlich und bietet auch noch seine Hilfe an. Auf so was sollte man in der Schule vielleicht auch mal hinweisen, damit man nicht völlig davon überrascht wird.«

 

Wolfgang Herrndorf, Tschick

VorwortDas Vertrauen ringt nach Luft

Vertrauen ist wie die Luft zum Atmen. Solange alles in Ordnung ist, bemerken wir sie gar nicht. Wir bemerken nicht einmal unser Atmen, wir tun es einfach. Erst wenn Schwierigkeiten auftreten, fällt auf, was sonst unbemerkt bleibt. Wir erkälten uns, und das Atmen fällt schwerer. Die Luft ist verschmutzt und erzeugt ein Kratzen im Hals. Oder sie wird dünner und erzwingt ein anderes, viel angestrengteres Atmen. Plötzlich bemerken wir, was wir die ganze Zeit schon tun, plötzlich drängt es sich auf und verliert seine Selbstverständlichkeit.

So ist es mit dem Vertrauen, wenn es intakt ist, wenn es »gesund« ist. Wir leben in ihm, wir zehren von ihm, wir brauchen es, wir atmen es gleichsam ein und aus – erst wenn Schwierigkeiten auftreten, wenn es weg ist oder zerstört wird, fällt es uns auf, und wir fangen an, darüber nachzudenken, überlegen, was es eigentlich ist und warum es sich uns plötzlich aufdrängt. Man kann fast sagen, dass das Nachdenken über Vertrauen nicht zum Vertrauen gehört, denn zum Vertrauen gehört in einem ganz profunden Sinne ein gehöriges Maß an Gedankenlosigkeit. Es lebt davon, unbemerkt und so unauffällig wie nur möglich zu bleiben. All die guten Wirkungen, die Vertrauen hat, hat es, weil es unsichtbar ist und keine eigene Arbeit verlangt. Vertraue ich jemandem, dann denke ich nicht weiter nach, bin nicht misstrauisch und vorsichtig. Nachdenken, so scheint es, zerstört Vertrauen, zersetzt es und macht es schwer, verleiht ihm Gewicht, obwohl es vorher, um im Bild zu bleiben, leicht war wie die Luft. Mehr noch, es kann im schlimmsten Fall sogar darauf hinweisen, dass die Luft gar nicht so sauber war, wie wir dachten.

Die Feinstaubproblematik, die zur Zeit so präsent ist, lässt uns viel über Autos reden, über Motoren und die Manipulation von Abgaswerten. Aber sie hat eine weitere Seite, die vielleicht viel dramatischer ist und die wir gern verdrängen. Sie führt uns nämlich vor Augen, dass unser Atmen, zumindest in bestimmten Gegenden, Gefahren mit sich bringt, die sich erst aufdrängen, wenn es zu spät ist, wenn schon ein Schaden angerichtet ist. Aber diese Gefahren – und das ist jetzt entscheidend – waren natürlich schon da, als wir uns noch ganz gedankenlos auf unser Atmen verlassen haben. Ja, es war unsere Gedankenlosigkeit, die überhaupt dazu beigetragen hat, dass die Gefahren so lange unbemerkt bleiben konnten.

Auch dieser Aspekt lässt sich auf das Nachdenken über Vertrauen übertragen. Es kann zeigen, was Vertrauen ist oder warum es wichtig ist, es kann zeigen, was wir verlieren, wenn wir nicht mehr vertrauen können, aber es kann eben auch zeigen, warum es in manchen Fällen nicht gut ist zu vertrauen, es kann zeigen, dass Vertrauen manchmal schuld ist an den Krisen, unter denen es dann selbst leidet. Das ist kein schöner Gedanke. Aber das Nachdenken über Vertrauen kann nicht anders, es zeigt die hellen und die dunklen Seiten des Vertrauens, es trauert um seinen Verlust.

Wir denken zurzeit viel nach über Vertrauen, und wenn ich recht habe, dann ist das an sich schon ein Krankheits- oder Krisensymptom. Um weiterhin im Bild zu bleiben: Das Vertrauen hustet, es atmet schwer, es ringt nach Luft. Es ist wichtig zu verstehen, warum das so ist, aber wir müssen auch verstehen, was wir dagegen tun können. Schließlich müssen wir verstehen, ob wir uns das Husten manchmal nicht einfach nur einbilden. Vielleicht wollen wir gar nicht gesund sein, wollen gar nicht vertrauen, auch wenn wir so tun. Vielleicht macht uns Vertrauen Angst, so wie wir uns einbilden, krank zu sein, weil uns Krankheit von bestimmten Belastungen befreit, die Gesundheit mit sich bringt. Überspitzt formuliert: Alle wollen Vertrauen, aber niemand will vertrauen.

Wenn das stimmig ist, dann gewinnt die Rede von der Krise des Vertrauens eine neue Wendung. Die Krise besteht dann nicht darin, dass wir nicht mehr vertrauen können, weil niemand mehr vertrauenswürdig ist, die Krise besteht vielmehr darin, dass wir den Wert des Vertrauens kennen, aber aus eingebildeter oder berechtigter Angst nicht mehr in der Lage sind, Bedingungen zu schaffen, die der Ausbildung von Vertrauen zuträglich sind. Diese komplexe Konstellation gilt es in allem, was folgt, im Blick zu behalten, sie markiert die Grundspannung dieses Buches. Wir wollen und wir wollen nicht, wir trauern um den Verlust des Vertrauens, aber fürchten uns vor heilenden Maßnahmen. Immerhin, wenn wir die Krise des Vertrauens an manchen Punkten herbeireden, bedeutet das auch, dass sie in Wirklichkeit gar nicht so groß ist, wie wir glauben. Der Ausschnitt aus Wolfgang Herrndorfs Tschick, der diesem Buch als Motto dient, formuliert genau diesen Verdacht. Es ist, als würde der Arzt zu uns sagen: »Sie sind gesund, gehen Sie nach Hause.« So einfach verhält es sich mit dem Vertrauen leider nicht, aber es verhält sich eben auch nicht ganz so schlimm, wie wir oft meinen, wir müssen nur die Orte aufsuchen, an denen wir offenbar trotz der Rede von der Krise des Vertrauens weiterhin die Möglichkeit haben, ein kritisch aufgeklärtes Vertrauen zu entfalten. Eine andere Frage ist es, ob wir diese Möglichkeit dann tatsächlich wahrnehmen wollen.

Meine Perspektive ist die eines Philosophen, aber das Drängende des Themas Vertrauen entspringt nicht philosophischem Tiefsinn, sondern eher alltäglichen Fragen und Sorgen, die sich uns allen stellen. Deswegen habe ich eine ganze Menge anderer Literatur gelesen, etwa politikwissenschaftliche oder soziologische Studien, die mir zum Teil etwas näher an der vielbeschworenen Realität zu sein scheinen. Ich weiß, dass man sich damit bei den philosophischen Fachkolleginnen und -kollegen nicht gerade beliebt macht, ein wesentlicher Teil der deutschsprachigen Philosophie ist dominiert von begriffsorientierten Analysen, die zwar auch mit Beispielen und Fällen arbeiten, diese zumeist aber fingieren. Dagegen ist nichts zu sagen, aber es hätte mir für dieses Buch nichts gebracht, so zu arbeiten, was nicht bedeutet, dass ich mir nicht auch gelegentlich begriffliche Fragen vornehme. Trotzdem wollte ich kein Fachbuch verfassen, sondern die realen Zweifel am Vertrauen und die reale Suche nach Vertrauen philosophisch reflektieren.

Lange hielt man das Thema Vertrauen in der Philosophie für ein weiches Thema. Doch das ist falsch. Vertrauen ist kein weiches Thema, es ist, ganz im Gegenteil, ein hartes Thema. Die besten philosophischen Schriften zum Vertrauen stammen von der feministischen Philosophin Annette Baier, die in einem ihrer berühmtesten Texte die Ungleichheit in der Ehe zum Anlass nimmt, um über Vertrauen nachzudenken. Ein bekannter Satz von ihr lautet: »Es waren die Kriminellen, nicht die Philosophen, die eine Expertise für die verschiedenen Formen des Vertrauens entwickelt haben.«[1] Der Kriminelle muss das Vertrauen seiner Opfer gewinnen, wenn er nicht gleich gewalttätig sein will, das macht ihn zum Experten des Vertrauens. Wer vertraut, macht sich verletzlich, das ist das, was manchmal als Risiko des Vertrauens bezeichnet wird. Der Vertrauenswürdige nutzt diese Verletzbarkeit nicht aus, aber nicht jeder ist vertrauenswürdig. Deswegen will gar nicht jeder vertrauen. Eine Aufgabe, die ich mir in diesem Buch vornehme, ist die, zu zeigen, dass ein richtig verstandenes Vertrauen Biss hat. Im Vertrauen steht etwas auf dem Spiel, und wer mein Vertrauen will, der muss bereit sein, das zu tun, was den Vertrauenswürdigen auszeichnet. Viele wollen unser Vertrauen, aber sie wollen es billig erwerben, durch Marketing oder bloße Rhetorik. Ein verschwommener Vertrauensbegriff lässt diesen Wunsch zu, aber ein philosophisch reflektierter kann ihm entgegentreten.

Intaktes Vertrauen, so hieß es, sei gedankenlos. Trägt dann das philosophische Nachdenken über Vertrauen nicht zur Krise bei? Nein. Es mag zwar Symptom der Krise sein, aber dieses Nachdenken könnte ja zeigen, dass Vertrauen ein bisschen Reflexion schon aushält oder dass die Gedankenlosigkeit im Vertrauen nicht einfach vorausgesetzt werden kann, sondern sich erst entwickelt und zu einer Art zweiten Natur wird. Hegel hat diesen Gedanken in seiner Philosophie des Rechts (§ 268) einmal ganz schlicht ausgedrückt: »[D]ie Gewohnheit macht das unsichtbar, worauf unsere ganze Existenz beruht. Geht jemand zur Nachtzeit sicher auf der Straße, so fällt es ihm nicht ein, daß dieses anders sein könne, denn diese Gewohnheit der Sicherheit ist zur anderen Natur geworden, und man denkt nicht gerade nach, wie dies erst die Wirkung besonderer Institutionen sei.« Schließlich unternehmen gute philosophische Analysen immer den Versuch, unsere Praxis neu zu beschreiben, und versuchen sie dadurch auf eine Weise beim Wort zu nehmen, die ihr selbst fremd ist oder die sie sich hat ausreden lassen. Wie gesagt, Vertrauen ist kein weiches Thema. Wer das glaubt, kennt es nicht.

 

Ich habe versucht, den Text möglichst lesbar zu halten, deswegen habe ich alle Anmerkungen und Zitatnachweise an das Ende des Buches verbannt. Wer an Details und an meinen Quellen interessiert ist, kann sich in diese Anmerkungen vertiefen. Alle Übersetzungen stammen von mir, sofern nicht eine deutsche Übersetzung des Textes vorliegt. Ein Wort zur geschlechtergerechten Sprache: Da ich die ständige Nennung beider Geschlechter schwerfällig finde, changiere ich und wähle manchmal die männliche, manchmal die weibliche, manchmal beide Formen. Wo der Kontext es nicht eindeutig macht, sind immer beide Geschlechter gemeint.

Kapitel 1Die große Krise

Die Diagnose und die Atmosphäre: Sinkende Vertrauenswerte und wachsende Angst

Fangen wir mit der Krise an. Jede Studie über Vertrauen fängt mit der großen Krise an. Das einflussreiche Edelman Trust Barometer2017 formuliert unumwunden: Überall auf der Welt befindet sich das Vertrauen in einer Krise. Ob Unternehmen, Regierungen, Nichtregierungsorganisationen oder die Medien – fast überall leiden diese Institutionen unter einem Vertrauensschwund. Entsprechend dramatisch und alarmistisch sind die Formulierungen: Das »System« sei zerbrochen, Führungsebenen in Wirtschaft und Politik hätten an Glaubwürdigkeit verloren, eine Welt des Misstrauens breite sich aus. Grundlage dieser Daten sind Umfragen in 28 Ländern (nicht gerade die »Welt«), die seit 2012 durchgeführt werden. Befragt werden per »Online-Interview« jeweils 1150 Personen der »allgemeinen Bevölkerung« sowie 200 »Meinungsführer«. Für die Daten von 2017 gilt dabei folgende Auffälligkeit: Vor allem die allgemeine Bevölkerung verliert ihr Vertrauen, während die Daten der Meinungsführer stabil bleiben oder sogar steigen. So ist nach dem Edelman Trust Barometer das Vertrauen in Basisinstitutionen wie Banken, Regierungen oder Medien unter den »Meinungsführern« zwischen 2012 und 2017 gestiegen (von 53 % auf 60 %), und selbst unter der »allgemeinen Bevölkerung« hat es einen minimalen Zuwachs des Vertrauens gegeben (von 44 % auf 45 %). Die Diskrepanz zwischen den Eliten und der Bevölkerungsmehrheit aber bleibt hoch und scheint sich zu vergrößern. Selbst wenn die gesellschaftlichen Eliten also ein recht hohes Vertrauen in wichtige Basisinstitutionen haben (vielleicht ja, weil sie einen viel größeren Einfluss auf diese Institutionen haben), gilt dies nicht für die Mehrheit der Menschen in den Staaten, die an der Studie beteiligt sind. Der Datensatz von 2018 spricht mittlerweile explizit von einer Polarisierung des Vertrauens, auch wenn das Vertrauen in die Regierung unter den »Meinungsführern«, zumindest in den USA, zwischen 2017 und 2018 ebenfalls deutlich gesunken ist.[2]

Es gibt weitere Daten, die einen Trend belegen sollen. Die deutsche Shell Jugendstudie von 2015 stellt fest, dass die Jugendlichen den Parteien, Unternehmen, Kirchen und Banken wenig Vertrauen entgegenbringen (größer ist das Vertrauen in Polizei, Gerichte und Menschenrechts- und Umweltschutzgruppen, aber siehe die Edelman-Daten über Nichtregierungsorganisationen).[3] Der World Values Survey stellt in regelmäßigen Abständen (unter anderem) folgende Frage: »Würden Sie ganz allgemein sagen, dass man den meisten Menschen vertrauen kann oder dass man gar nicht vorsichtig genug sein kann?« 2013 haben immerhin mehr als 50 % der Deutschen geantwortet, dass man sehr vorsichtig sein muss (der eigenen Familie vertrauen immerhin fast 75 % stark und knapp 20 % schwach). Zum Vergleich: In China sagen nur 35 % der Befragten, man müsse sehr vorsichtig sein, in den USA dagegen 64 %. Immerhin zeigt der World Values Survey, dass die Zahl derjenigen in Deutschland, die angeben, den meisten Menschen könne man nicht vertrauen, zwischen 2006 und 2013 etwas zurückgegangen ist, nämlich von 57,9 % auf 53,8 %, aber der niedrigere Wert erscheint immer noch ziemlich hoch. Es bleibt dabei, dass die Mehrheit der Deutschen ihren Mitmenschen kein Vertrauen entgegenbringt.

Ähnlich bedenklich sind Zahlen, die das Vertrauen in die Demokratie betreffen. Laut einer Studie von 2005 waren im Jahr 2004 nur 51 % der Deutschen zufrieden mit der Demokratie, in Ostdeutschland sogar nur 28 %. Noch wenige Jahre zuvor, nämlich im Herbst 2002, waren die Zahlen deutlich besser, 66 % der Deutschen vertrauten in das demokratische System (44 % der Ostdeutschen, 71 % der Westdeutschen).[4] Vor allem in südeuropäischen Ländern sind die Zahlen noch viel dramatischer. Das im Auftrag der Bertelsmann Stiftung erstellte Populismusbarometer2018 kommt zu dem Schluss, dass 30,4 % der Wahlberechtigten in Deutschland populistische Einstellungen haben. Sie gehen also davon aus, dass den Eliten ein »Volk« gegenübersteht, das den wahren politischen Willen repräsentiert, der durch direktdemokratische Verfahren erfasst werden sollte, und weigern sich, innerhalb dieses »Volkes« eine Pluralität von Meinungen und Einstellungen zu erkennen.[5]

Auch mit Blick auf die Demokratie befinden wir uns offenbar in einer historischen Phase, in der die Grundinstitutionen unserer demokratischen Gesellschaft und die sie begleitenden Annahmen fragiler erscheinen, als das vorher der Fall war. Selbstverständlichkeiten werden brüchig, Tabus verlieren an Wirkung, Undenkbares wird denkbar.

Man nehme nur einige Buchtitel der jüngeren Zeit: Wie Demokratien sterben (Steven Levitsky und Daniel Ziblatt), How Democracy Ends (David Runciman), Der Zerfall der Demokratie (Yasha Mounk), Der Weg in die Unfreiheit (Timothy Snyder) oder Das Zeitalter des Zorns (Pankaj Mishra). Pankaj Mishra spricht in einem Interview sogar davon, dass die Aufklärung ausgedient habe, andere skizzieren angesichts der Krise die Alternative Aufklärung oder Untergang.[6] Die Finanzkrise von 2008 hat zahllose Analysen hervorgebracht, die mit der Kategorie des Vertrauens arbeiten. Die weiteren Stichworte der Gegenwart sind bekannt: Polarisierung, Fake News, Filterblase, illiberale Demokratie, Putin, Trump, Erdogan, Orban, AfD, FPÖ, Front National, Brexit, Fünf Sterne, Krise der Mitte, Krise der Sozialdemokratie, Krise der Volksparteien, Neoliberalismus, wachsende globale Ungleichheit, das eine Prozent …

Das sind die Daten und Schlagworte, weitere ließen sich auflisten. Manchmal formulieren die Daten sehr umfassend und reden von einem allgemeinen Vertrauensschwund, manchmal geht es um konkrete Institutionen oder um die Demokratie an sich.

Aber was bedeuten diese Daten? Die Antwort auf diese Frage wird eines der Themen dieses Buches sein.

Ich will einen Augenblick bei der Antwort auf die Frage danach bleiben, ob man den meisten Menschen vertrauen kann. Nehmen wir an, es stimmt, was diese Daten sagen, nämlich dass es in vielen Ländern schon seit längerem ein sinkendes allgemeines Vertrauen gibt. Es sei daran erinnert, es geht bei dieser Frage nicht um unser Vertrauen in die Politik, die Medizin oder die Polizei, es geht um unser Vertrauen in die Mitmenschen. In alle Mitmenschen, egal, was sie tun, man spricht auch vom generellen Vertrauen.

Wo ist das Problem? Was ist so schlimm daran, wenn wir anderen nicht mehr vertrauen? Die Frage klingt rhetorisch, weil die Antwort so eindeutig zu sein scheint, aber in einer philosophischen Studie muss sie doch gestellt werden.

Die Antwort lautet häufig, dass Vertrauen die Gesellschaft zusammenhält. Diese Antwort ist natürlich zu vage, deswegen muss man schon angeben, worauf sich denn das Vertrauen richtet, das die Gesellschaft zusammenhält. Gilt dieses Vertrauen der Friedfertigkeit der Menschen? Ihrer Wahrhaftigkeit? Ihrer Aufrichtigkeit? Was immer wir hier antworten, das Vertrauen kann nur in Verbindung mit seinem Gegenstand oder seinem Objekt Gesellschaft zusammenhalten. Man könnte dann sagen: Vertrauen auf die Friedfertigkeit des anderen hält Gesellschaften zusammen. Tatsächlich leuchtet das in gewisser Weise ein, zu den sehr allgemeinen Formen des Vertrauens in andere gehört die Erwartung, dass sich diese anderen nicht ohne Anlass aggressiv verhalten.

Aber Friedfertigkeit reicht natürlich nicht aus, um aus einem losen Bund von Menschen eine Gesellschaft zu machen, auch wenn sie vielleicht eine wichtige Voraussetzung für den Aufbau einer Gesellschaft ist. Der Philosoph Bernard Williams hat einmal süffisant bemerkt, es sei unwahrscheinlich, »dass man sich sicher fühlt, wenn der andere sagt: ›Ich verspreche dir, dich nicht zu ermorden.‹«[7] Damit das Vertrauen in die Friedfertigkeit der anderen ganz zum Tragen kommen kann, muss es gleichsam ganz und gar selbstverständlich geworden sein und lebt dann davon, dass aggressive Formen des Verhaltens gar nicht mehr als Möglichkeit reflektiert werden, zumindest nicht als alltägliche Form des Verhaltens. Man verlässt das Haus und denkt nicht daran, dass der Mann auf der anderen Straßenseite ein Mörder sein könnte. Vom Handschlag hat man gelegentlich gesagt, er sei eine zivilisatorische Errungenschaft, da derjenige, der dem anderen die Hand reicht, sie nicht mehr nutzen kann, um mit ihr eine Waffe zu führen. Der Handschlag aber steht nicht am Anfang der Zivilisation, er steht mitten in ihr und zehrt in seiner symbolischen Dimension von zahllosen kulturellen Voraussetzungen, die ihn erst möglich machen.

Wenn viele Menschen also sagen, sie würden ganz allgemein anderen nicht mehr vertrauen, dann bleibt vorerst unklar, was genau damit gemeint ist. Ohnehin geben die Daten, die vorliegen, kaum Auskunft über gestiegene Aggressionen in den westlichen Gesellschaften. Wir müssen im Normalfall keine Angst vor anderen haben. Im Gegenteil, in vielen Regionen und Ländern sind die Kriminalitätsraten gesunken, zumindest die, die sich auf Kapitalverbrechen beziehen.

Hier aber zeigt sich eine Eigenart des Vertrauens, die noch häufiger in diesem Buch zur Sprache kommen wird. Die Bereitschaft, anderen zu vertrauen, beruht weniger auf Daten und Fakten als auf Stimmungen und einer allgemeinen Atmosphäre. Es gibt, so scheint es, eine Stimmung, die die Frage nach der Krise des Vertrauens als Kitt der Gesellschaft plausibel erscheinen lässt. Wir wissen vielleicht nicht genau, was mit der Rede von dieser Krise gemeint ist, aber sie wirkt trotzdem plausibel, sie fängt etwas ein von unserer Gegenwart.

Wer die Stichworte »Vertrauen« und »Krise« oder »trust« und »decline« googelt, erhält zahllose Einträge, vor allem in den USA besitzt der Krisendiskurs mittlerweile enorme Dimensionen. Vergleicht man die Daten des schon genannten Edelman Trust Barometer von 2017 und 2018, dann ist in den USA das Vertrauen in die Regierung allein in diesem einen Jahr um 14 % gesunken, das Vertrauen in die Medien ist um 5 % gesunken, das Vertrauen in die Wirtschaft und in Nichtregierungsorganisationen wiederum um 10 und 9 %. Dieser Niedergang des Vertrauens hat sich innerhalb nur eines Jahres vollzogen, und zwar eines Jahres, in dem die Wirtschaftsdaten in den USA alles andere als negativ waren, bis heute ist die Arbeitslosigkeit auf einem niedrigen Niveau. Der Leiter des Unternehmens, das die Studie durchführt, Richard Edelman, versetzt sich in die Befragten und paraphrasiert ihre Stimmung mit folgenden Worten: »Aufgrund der Robotisierung und der Globalisierung bin ich nicht sicher, was die Zukunft meiner Arbeit angeht; ich bin unsicher mit Blick auf mein Gemeinwesen, denn viele neue Leute kommen zu uns; auch meine ökonomische Zukunft ist unsicher, ja, sie sieht sogar ziemlich düster aus, da ich eher nach unten mobil bin.«[8]

Ich werde in späteren Kapiteln auf die Frage eingehen, was Vertrauen in all diesen Kontexten eigentlich bedeuten kann. Auch werde ich fragen, ob wir es hier mit einer großen Krise oder nicht doch eher mit vielen kleinen und einigen größeren Krisen zu tun haben. Der Sinn und Unsinn von Umfragen zum Vertrauen wird mich ebenfalls beschäftigen. Zunächst aber möchte ich die offenbar wirklich vorhandene Stimmung aufgreifen und weiter mit Beispielen unterfüttern.

Vielfalt als Bedrohung

Da ist zum einen die Krise des sogenannten sozialen Kapitals. Der Begriff des Sozialkapitals ist seit einigen Jahren nicht mehr wegzudenken aus den Sozialwissenschaften und verweist auf Beziehungen, die Bürgerinnen und Bürger außerhalb der Familien- und der Marktsphäre zu anderen haben, also etwa im Kontext von Vereinen, Kirchen, lokaler Nachbarschaft, politischen Parteien, sozialen Bewegungen, ehrenamtlichen Tätigkeiten oder anderen zivilgesellschaftlichen Assoziationen. Eine vieldiskutierte Annahme war und ist, dass ein hohes Engagement in all diesen Kontexten des sozialen Kontakts das gegenseitige Vertrauen der beteiligten Bürgerinnen und Bürger erhöht, also jenes Phänomen, das ich eben auch schon mit dem Begriff des generellen oder allgemeinen Vertrauens bezeichnet habe. Soziales Kapital wurde auch als Netzwerkkapital verstanden, als Kapital, das sich aus Kontakten ergibt, über die ich verfüge. Vereine etwa bringen Menschen unterschiedlicher Herkunft, unterschiedlicher Ethnizität und aus unterschiedlichen ökonomischen Schichten in relativer Gleichheit zusammen und bewirken so positive Grundannahmen über »fremde« andere, mit denen man sonst gar nicht in Kontakt käme. Was sich also in diesen sozialen Kontexten entwickelt, ist soziales Kapital, die Fähigkeit, mit anderen auf vertrauensvoller Basis zusammenzuarbeiten, um gemeinsame Projekte voranzubringen. Das gegenseitige Vertrauen ist im Rahmen der Sozialkapitalanalysen schnell zur zentralen Kategorie avanciert, ja, man kann sagen, dass der Vertrauensindex häufig direkt als Maß für die Höhe des Sozialkapitals genommen wird. Je höher das soziale Kapital (sprich: das Vertrauen) in einer Region ist, desto weniger Kriminalität gibt es, desto besser ist die wirtschaftliche Entwicklung und desto besser funktioniert die Demokratie im Allgemeinen. Der amerikanische Politikwissenschaftler Robert D. Putnam von der Harvard University, berühmt für seine Sozialkapitalanalysen, hat das einmal sehr pointiert so formuliert: »Gutes Regieren … ist ein Nebeneffekt von Gesangsgruppen und Fußballvereinen.«[9] Regierungen, so die Annahme, können einfach besser arbeiten, wenn die Zivilgesellschaft von Reziprozitäts- und Vertrauensnormen geprägt ist, weil das generelle Vertrauen, das man im Rahmen der zivilgesellschaftlichen Assoziationen erwirbt, auch auf die politischen Institutionen einer Region ausstrahlt.

Welche Rolle spielt das Vertrauen für diese Diskussionen? Wie nicht anders zu erwarten, haben sich eine Menge Krisendiagnosen an die Sozialkapitalanalysen gehängt. Putnam wiederum ist maßgeblich für einige dieser Diagnosen. Besonders bekannt wurde sein Aufsatz »Bowling Alone« aus dem Jahr 1995, in dem er feststellt, dass immer weniger Amerikaner in Gruppen zum Bowling gehen, und daraus weitreichende Schlüsse zieht, die vor allem das politische Engagement der Bürgerinnen und Bürger betreffen. Immer ist es das generelle Vertrauen, das durch den Niedergang des zivilgesellschaftlichen Engagements betroffen ist und damit Einfluss auf die politische Kultur nimmt.

Ebenso bekannt wurde eine viel spätere Analyse Putnams, die unter dem Titel »E Pluribus Unum: Diversity and Community in the Twenty-first Century« im Jahr 2007 erschienen ist. Hier ist es nicht der Niedergang zivilgesellschaftlichen Engagements, der die Krisendiagnose trägt, sondern, politisch ungleich heikler, die kulturelle Vielfalt einer Gesellschaft. Wenn Menschen unterschiedlicher kultureller oder ethnischer Herkunft an einem Ort zusammenleben, so die These, verringert sich nicht nur das Vertrauen zwischen den unterschiedlichen Gruppen, sondern auch das Vertrauen innerhalb der kulturell oder ethnisch homogenen Gruppe verringert sich. Wie Putnam sagt: »Bei hoher [kultureller, ethnischer] Diversität misstrauen die Amerikaner nicht nur den Leuten, die nicht aussehen wie sie, sondern auch jenen, die aussehen wie sie.«[10] In amerikanischen Orten, in denen etwa Weiße und Schwarze zusammenleben, ist nicht nur das Vertrauen zwischen Weißen und Schwarzen niedrig, auch das Vertrauen der Weißen und Schwarzen untereinander ist niedrig, niedriger zumindest als in ethnisch homogenen Städten, Regionen oder Orten.

Das ist nach Putnam ein dramatischer Befund. Er räumt nämlich nicht nur mit der Annahme auf, dass regelmäßige Kontakte zwischen kulturell oder ethnisch unterschiedlichen Gruppen gegenseitige Vorurteile beseitigen und Vertrauen erhöhen (die sogenannte Kontakt-Hypothese), sondern auch mit der Annahme, dass die Spaltung zwischen der einen und der anderen Gruppe das eigentliche Problem multikultureller oder multiethnischer Gesellschaften ist (wie Konflikttheorien annehmen). Vielfalt, so Putnam, löst nicht so sehr eine Spaltung in Eigen- und Fremdgruppe aus, sie bedingt vielmehr »Anomie und soziale Isolation«, sie desintegriert also die ganze Gesellschaft (und macht die Menschen im Übrigen auch unglücklicher, verringert ihre Spendenbereitschaft, reduziert die Menge an Freundschaften und lässt, das kennen wir nun schon, das zivilgesellschaftliche Engagement verkümmern). Ethnisch-kulturelle Vielfalt der Menschen um uns herum verringert unser Vertrauen in alle Menschen – das ist die zentrale Botschaft. Da wir nun wissen, wie viel am Vertrauen hängt, kann man sich denken, dass das niedrige Vertrauen in ethnisch-kulturell bunten Gesellschaften keine Lappalie ist. Selbst Ökonomen arbeiten mit dieser Theorie, wenn sie nach Gründen suchen, warum ein zu hohes Maß an Einwanderung in eine Gesellschaft Gefahren für das Vertrauen der Menschen untereinander mit sich bringt.[11] Berücksichtigt man dann, dass nach jüngeren Umfragen etwa jeder zweite Ostdeutsche und jeder dritte Westdeutsche der Meinung ist, Deutschland sei durch den Zuzug von Ausländern »überfremdet«, dann sieht man, wie explosiv Putnams Thesen sind.[12]

Putnam ahnt das natürlich und versucht, schon im ursprünglichen Artikel einige differenzierende Überlegungen anzuführen. Dennoch muss man nicht so tun, als wäre die Hauptthese nicht ziemlich eindeutig. Ethnisch-kulturelle Vielfalt schadet dem Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger untereinander und damit der ganzen Gesellschaft. Anomie ist ein Begriff der Durkheim’schen Soziologie und steht für eine mangelnde normative Integration eines sozialen Verbunds oder einer Gesellschaft.

Der Ansatz Putnams ist vielfältig kritisiert worden. Vertrauen ist hier wie in vielen anderen Ansätzen auch ein Fragebogenergebnis. »Wie hoch ist Ihr Vertrauen in Weiße, Schwarze, asiatische Amerikaner, Latinos?« – das ist so eine Frage. Man muss zusätzlich wissen, welcher Ethnie der Befragte selbst angehört und ob er in einer ethnisch homogenen oder »bunten« Stadt lebt. Hat man diese Daten und »kontrolliert« noch einige andere Faktoren, die ja auch eine Rolle für die Einstellungen der Befragten spielen können, dann scheint die Kausalität zwischen Buntheit oder Homogenität der eigenen Lebensumgebung und den vertrauensrelevanten Einstellungen gegeben zu sein. Man sieht die Selbstverständlichkeit, mit der Vertrauen die zentrale Kategorie ist, die für den Zusammenhalt der Gesellschaft steht. Ethnisch-kulturelle Vielfalt verursacht niedriges Vertrauen, niedriges Vertrauen verursacht niedriges soziales Kapital, niedriges soziales Kapital verursacht wirtschaftliche und politische Probleme, reduziert Wachstum und Produktivität, bedingt Gleichgültigkeit und Zynismus im Politischen. Vertrauen wird zur Megakategorie, an der die politisch-ökonomische Qualität ganzer Gesellschaften hängt, auch wenn es bei Putnam eigentlich vor allem um die amerikanische Gesellschaft geht.

Putnam ist nicht allein. So hat man auch in anderen Forschungszusammenhängen behauptet, dass in ethnisch bunten Gesellschaften das Vertrauen der Menschen zueinander abnehme. Der Titel einer Studie des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung lautet: »Fremdeln in der Vielfalt. In ethnisch bunten Gesellschaften nimmt das Vertrauen ab.«[13] Was genau heißt nun hier Vertrauen? Die Studie macht das nicht ganz klar, aber genannt werden Faktoren wie die »Kooperationswahrscheinlichkeit« oder die Frage des sozialen Engagements oder der sozialen Zurückgezogenheit. Ethnische »Heterogenität«, so heißt es schließlich zusammenfassend, »schwächt« den sozialen Zusammenhalt. So hat man zum Beispiel festgestellt, dass adressierte und frankierte Briefe, die man bewusst auf dem Gehsteig liegen lässt, in »ethnisch heterogenen Ortsteilen« seltener weitergeleitet werden als in »ethnisch homogenen Ortsteilen« (also in einen in der Nähe befindlichen Briefkasten geworfen werden). Andere Studien behaupten, dass Menschen, die in innerstädtischen Gebieten leben, also in Gebieten, die in der Regel ethnisch »bunt« sind, weniger Vertrauen in ihre Nachbarn haben als Menschen, die in ethnisch weniger »bunten« Vororten leben.[14]

Es ergeben sich Fragen. Wie kann man etwa auf der Basis des Briefexperiments behaupten, dass ethnisch »bunte« Gesellschaften weniger Vertrauen aufweisen? Es ist geradezu fahrlässig, wie hier Überschriften produziert werden, die globale Zusammenhänge suggerieren. So wird in der Berliner Studie zum Beispiel eingeräumt, dass die Tendenz, Briefe weiterzuleiten, auch in sozioökonomisch ärmeren Vierteln niedriger ist als in wohlhabenden Vierteln, ohne dass darauf eingegangen wird, was das für das Gesamtergebnis bedeutet. Andere Studien wiederum zeigen, dass Menschen, die innerstädtisch leben, viel tolerantere Einstellungen gegenüber fremden Lebensformen haben als Menschen, die in Vororten oder gar auf dem Land leben. Wie geht das zusammen mit der Behauptung, dass sie insgesamt ihren Nachbarn weniger Vertrauen entgegenbringen? Was soll es überhaupt heißen, dass Menschen, die in weniger bunten Gegenden leben, Fremden mit mehr Vertrauen begegnen als Menschen, die in »bunten« Gegenden leben? Sie begegnen ihnen ja schließlich kaum, da kann man im Fragebogen schon mal freundlich sein.

Was ich mit diesen Fragen nur erneut andeuten will, ist die Schwierigkeit, die darin liegt, Vertrauen zu einer sozialen Megakategorie zu machen, an der alle möglichen Phänomene aufgehängt werden, allemal, wenn es nur um fragebogengeneriertes Vertrauen geht, das nichts über die konkrete Praxis des Lebens mit ethnisch-kultureller Vielfalt verrät. Ethnische Vielfalt schwächt offensichtlich dann nicht den sozialen Zusammenhalt, wenn unter ihr eine Akzeptanz oder ein Aushalten kultureller, religiöser oder politischer Differenzen verstanden wird. Vielleicht ist es eine große Errungenschaft, eine solche Akzeptanz – die sicher nicht mit emphatischer Anerkennung zu verwechseln ist – zu erreichen, auch wenn ein auf dem Gehsteig liegender Brief nicht eingeworfen wird. Vielleicht sind andere Dinge im Zusammenleben der Menschen eines solchen Viertels wichtiger, etwa das Phänomen des respektvollen Einander-aus-dem-Weg-Gehens. Das ist Zusammenleben, auch wenn vielleicht das eigentliche Engagement eher nach innen gerichtet wird, also zu den Angehörigen der eigenen Gruppe, der eigenen Familie, des eigenen Clans (wie sollte das auch anders sein in eher feindlichen Umgebungen?).[15]

Ich will die Dinge hier nicht idealisieren, aber man könnte etwas polemisch fragen, ob nicht die offenbar höhere Intoleranz der Menschen, die in Vororten leben, die ja gepaart zu sein scheint mit einem höheren Vertrauen in die eigene (homogene) Nachbarschaft, das größere Problem für das soziale Zusammenleben ist. Der Historiker Geoffrey Hosking schreibt, Vertrauen baue »scharfe Grenzen um sich herum auf, und zwar vor allem in Konfliktsituationen; über diese Grenzen hinweg« werde, wie er sagt, »Misstrauen projiziert«.[16] So gesehen ist Vertrauen in gewisser Weise das Problem und nicht die Lösung. Gerade weil wir Vertrauen suchen und auch brauchen, halten wir an dem Vertrauen fest, das wir haben, und reagieren mit Unbehagen auf alle Faktoren, die wir als vertrauensgefährdend einstufen.

Vertrauen ist manchmal nicht einfach nur das Opfer einer Krise, sondern muss durchaus auch die Täterschaft für manche Probleme übernehmen, darauf werde ich noch häufiger eingehen. Wenn es stimmt, dass Vertrauen in ethnisch-kulturell homogeneren Städten und Regionen höher ist als in bunten Städten und Regionen, und wenn das Vertrauen in Form des Sozialkapitals all die gewichtigen Effekte haben soll, die ihm zugesprochen werden, dann kann Vertrauen schnell zu einer Kampfkategorie werden, zu einer Kategorie, die den innersten Kern unserer Gesellschaften beschreibt, der offenbar angegriffen wird, wenn das Vertrauen angegriffen wird. Dabei sollte klar sein, dass es in all diesen Zusammenhängen oft gar nicht um die Frage geht, wie hoch oder niedrig das Vertrauen in andere ist, sondern um die Frage, wie wir zusammenleben wollen. Wie viel kulturelle Vielfalt wollen wir als Mitglieder einer noch immer überwiegend national orientierten Gesellschaft annehmen, akzeptieren oder schlicht aushalten? Besitzen wir genug Selbstvertrauen, um davon auszugehen, dass unsere wesentlichen normativen Leitvorstellungen in der Form, in der wir sie leben, ein wachsendes Maß an kultureller Vielfalt aushalten werden? Das sind größere Fragen als die Fragen, die nur auf das Vertrauen zielen, aber es ist nötig, das Vertrauen viel stärker zu kontextualisieren, als das oft geschieht.

So oder so: Das Vertrauen eignet sich offenbar, um die Ängste und Unsicherheiten einer Gegenwart zu artikulieren, in der vieles ins Rutschen gekommen ist, in der viele überkommene Gewissheiten unter Spannung stehen. Ein weiteres Problemfeld mag helfen, diesen Aspekt weiter zu vertiefen.

Offene Lügen, Fake News und Verschwörungen

Kann es sein, dass wir niemandem mehr vertrauen, weil wir niemandem Aufrichtigkeit unterstellen? Weil wir annehmen, fast jeder belüge uns? Oder weil zwar nicht jeder uns belügt, wir aber nicht mehr leicht unterscheiden können, wer uns belügt und wer nicht? Wissen wir eigentlich noch, was Aufrichtigkeit im Zeitalter sozialer Medien bedeutet?

Wenn es keine Wahrheit gibt, kann es kein Vertrauen geben – das ist ein häufig hergestellter Zusammenhang.[17] Ebenso üblich ist es, einen Zusammenhang zwischen Vertrauen und Aufrichtigkeit herzustellen. Wir vertrauen denen, von denen wir glauben, dass sie aufrichtig sagen, was sie denken oder beabsichtigen. Wir vertrauen jenen nicht, die uns anlügen, täuschen oder die unwahrhaftig sind. Wenn wir doch jemandem Vertrauen schenken, der uns anlügt, kann das ein Unglück sein.

All diese Zusammenhänge sind in Wirklichkeit viel komplizierter, als wir gemeinhin annehmen. Selbst die Lüge muss nicht zwangsläufig Vertrauen zerstören, wenn sie etwa geäußert wird, um einen guten Freund zu schonen oder um andere nicht zu verletzen. Oder wir lügen, weil wir jemandem versprochen haben, sein Geheimnis nicht preiszugeben, so dass die Lüge Bestandteil des Spielraums ist, der durch Vertrauen eingeräumt wird.

Mir geht es jetzt aber nicht um diese Komplikationen, sondern um ein Phänomen, von dem wir noch gar nicht wissen, wie wir damit umgehen sollen und welche Effekte es auf unser Vertrauen in andere, vor allem in die Medien und bestimmte Teile der Politik, hat. Ich meine das Phänomen, das ich als offene Lüge bezeichnen möchte, der Lüge also, die sofort als Lüge durchschaut wird und trotzdem kommunikative Funktionen zu erfüllen scheint. Die Sprachphilosophie kennt das Phänomen der offenkundig wahren Aussage. Bernard Williams etwa wehrt sich gegen Modelle, die behaupten, eine Aussage müsse, um eine Aussage zu sein, andere über Dinge informieren, die sie nicht kennen. Für ihn ist unbestreitbar, dass »die Menschen ständig Wahrheiten äußern, von denen sie wissen, dass sie für ihre Hörer genauso offenkundig sind wie für sie selbst«. Mit anderen Worten, wir erzählen anderen oft Dinge, von denen wir wissen, dass sie sie auch wissen, und liefern damit keine neuen Informationen. Warum tun wir das? Williams stellt verschiedene Überlegungen an, aber eine ist besonders interessant: Offenkundig wahre Aussagen erinnern uns daran, so Williams, »dass wir an derselben Welt teilhaben und dieselben Dinge hervorstechend finden«.[18]

Offene Lügen oder offenkundig unwahre Aussagen scheinen demgegenüber die Idee einer gemeinsamen Welt zu attackieren oder gar zu untergraben. Es wird noch deutlich werden, dass der Begriff der offenen Lüge nicht ganz glücklich ist, denn zum einen scheint eine Unwahrheit, die ich als Hörerin mit dem Wissen des Sprechenden als solche durchschaue, keine Lüge zu sein, wenn zur Lüge zwingend eine Täuschungsabsicht gehört. Wenn ich weiß, dass mich jemand anlügt, und er weiß auch, dass ich es weiß – haben wir es dann mit einer Lüge zu tun? Niemand wird getäuscht. Ich werde trotzdem an dem Begriff der offenen Lüge festhalten, weil ich mit der offenbaren Unwahrheit weiterhin eine Täuschung unterstelle, wenn auch nicht die, die offensichtlich ist. Wer mich offen anlügt, täuscht mich in einer gewissen Hinsicht nicht, aber er sagt mir auch nicht die Wahrheit. Ich gehe davon aus, dass das einen Grund hat. Zum anderen ist wichtig anzugeben, wer die offene Lüge als solche durchschaut. Ich will nicht sagen, dass jeder die geäußerte Unwahrheit als solche durchschaut, sondern nur derjenige, der über alternative Möglichkeiten der Informationsbeschaffung verfügt und sie auch nutzt. Es gibt leider eine Menge Länder, in denen die Medien staatlich kontrolliert werden. In diesen Ländern sind die Lügen, die ich als offen bezeichne, schlicht Lügen.

Begriffe wie Fake News, Postfaktizität oder »Lügenpresse« scheinen zu dem Phänomenbereich zu gehören, um den es mir hier geht, aber man tut gut daran, einzelne Phänomene auseinanderzuhalten. Wer bestimmten Medien vorwirft, Fake News zu produzieren, behauptet, sie würden lügen, und nimmt damit eine Wahrheit in Anspruch, auf die er sich in seinem kritischen Urteil stützt. »In Wirklichkeit ist es anders, als ihr behauptet« – so ungefähr lautet der Vorwurf. Dass dieser Vorwurf selbst unehrlich oder unaufrichtig geäußert wird, steht zunächst auf einem anderen Blatt. Ähnlich verhält es sich mit der »Lügenpresse«. Mir geht es dagegen eher um Lügen, die man selbst äußert und von denen man annimmt, dass andere sie leicht als solche durchschauen oder durchschauen können. In den westlichen Gesellschaften steht vor allem Donald Trump für dieses Phänomen – seine Lügen werden mittlerweile gezählt –, aber manche Autoren sehen Russland als eigentliches »Vorbild« für die staatlich gelenkte, systematische Verbreitung offener Lügen.

Die offene Lüge hängt mit der vielbeschworenen Postfaktizität zusammen, da sie in gewisser Weise die Unterscheidung von Lüge und Wahrheit untergräbt und damit zugleich die Idee der objektiven Wahrheit oder der meinungsunabhängigen Realität beseitigt. Timothy Snyder bemerkt mit Blick auf den russischen Fernsehsender Russia Today (RT): »[D]ie Faktentreue von RT-Sendungen infrage zu stellen ergab keinen Sinn, denn das, was dort gesendet wurde, war ein dauerhaftes Bestreiten von Faktizität. Der Direktor des Senders drückte es so aus: ›Es gibt keine objektive Berichterstattung.‹«[19] Wenn es keine Fakten (Objektivität) gibt, dann gibt es eigentlich auch keine Lügen mehr. Für meine Überlegungen heißt das: Im Kosmos des Postfaktischen ist die Rede von Lügen eine kritische Rede, die davon ausgeht oder darauf insistiert, dass es Wahrheit gibt. Man muss diesen Punkt unbedingt im Kopf behalten, wenn hier von offenen »Lügen« gesprochen wird. Der Fernsehdirektor sagt nicht, dass seine Sender (offen) lügen, er sagt, dass es keine objektive Wahrheit gibt. Und damit auch keine Lügen. Der Begriff der »Lügenpresse« ist somit noch gar nicht beim Postfaktischen angekommen, auch wenn es kein Zufall ist, dass Personen, die den Begriff verwenden, selten an Fakten interessiert sind.

Was bedeutet es nun für das Vertrauen, wenn eine hinreichend große Anzahl von Menschen der Meinung ist, dass in Medien und Politik (a) viel gelogen oder (b) viel offen gelogen wird? Und was bedeutet es zu glauben, es gebe keine objektive Berichterstattung?

Ich definiere Lüge als Behauptung, deren Inhalt der Sprecher für falsch hält, die er aber mit der Absicht aufstellt, andere mit Blick auf diesen Inhalt zu täuschen. Wenn ich gestern nicht im Kino war, aber meiner Partnerin sage, ich sei im Kino gewesen, ist das eine Lüge. Ich weiß, dass meine Behauptung falsch ist, äußere sie aber, weil ich meine Partnerin täuschen will. Sie soll glauben, dass ich im Kino war. Wichtig ist hier, dass es ein Faktum (eine Wahrheit) gibt, also einen Ort, an dem ich gestern wirklich war, und eine Täuschungsabsicht. Diese Absicht kann ich nur verfolgen, weil meine Partnerin glaubt, dass das, was ich sage, eine wahre Behauptung ist.

Es ist relativ leicht zu sehen, dass diese und ähnliche Lügen das Vertrauen in einer Beziehung empfindlich stören oder sogar zerstören können, weswegen oft gesagt wird, die Lüge, wenn sie denn bemerkt wird, markiere das eigentliche Ende des Vertrauens.[20] Ich habe zwar eben erwähnt, dass es in manchen Kontexten und manchen Beziehungen durchaus sinnvoll sein kann zu lügen oder unaufrichtig zu sein, aber damit soll nicht bestritten sein, dass wir unter »normalen« Umständen davon ausgehen, dass andere die Wahrheit sagen. Wenn jemand uns dauerhaft anlügt, brechen wir in der Regel das Verhältnis zu ihm ab.

Was genau ist das Problem der Lüge für das Vertrauen? Williams schreibt, das Problem der Lüge oder der Täuschung bestehe für den Belogenen darin, dass ich als Lügner »die Wirkung der Welt auf ihn durch meinen Willen ersetze«, und das ist eine Form von Gewalt und von Freiheitsberaubung.[21] Wenn meine Partnerin glaubt, dass ich gestern im Kino gewesen bin, glaubt sie, was ich ihr weismache, und nicht, was wirklich der Fall ist. In diesem Sinne schiebe ich meinen Willen zwischen sie und die Welt und beraube sie der Möglichkeit, eigenständig auf die Welt zu reagieren. Will man sagen, worauf man vertraut, wenn man den Behauptungen oder Aussagen anderer vertraut, dann kann man sagen: darauf, dass er uns den Teil der Welt zugänglich macht, der sich ihm, nicht aber uns, erschlossen hat. Das nennt man darauf vertrauen, dass der andere die Wahrheit sagt. Oft ist dabei weniger zentral, was tatsächlich die Wahrheit ist, als dass der andere das, was er sagt, für wahr hält. Das nennen wir Aufrichtigkeit.

Die offene Lüge oder offenkundig unwahre Aussage kompliziert die Dinge ungemein. Sie scheint keine Täuschungsabsicht zu haben, denn ich habe sie ja als Lüge definiert, die die Hörerin der Lüge sofort als solche durchschaut. Sie weiß, dass sie mit einer Lüge konfrontiert ist. In philosophischen Abhandlungen wird manchmal gesagt, offene Lügen behaupten gar nichts, weil zum Behaupten gehört, den Zuhörer von einer Aussage bzw. dem Inhalt der Aussage zu überzeugen. Die offene Lüge aber will die Zuhörer von nichts überzeugen, sie weiß ja, dass man ihr den Inhalt gar nicht abnimmt.

Aber was will sie dann? Warum sollte jemand etwas behaupten, was er selbst nicht glaubt und von dem er weiß, dass die Zuhörer es auch nicht glauben? Manchmal sind wir unaufrichtig und sagen Dinge, an die wir nicht wirklich glauben, weil wir wollen, dass die Zuhörer glauben, dass wir diese Dinge glauben, aber das ist nicht das Phänomen, um das es mir geht. Mir geht es um Behauptungen, die unaufrichtig sind, an die die Sprecherin also nicht glaubt, aber bei denen auch der Hörer nicht glaubt, dass die Sprecherin sie glaubt.[22]

Zweifellos ein merkwürdiges Phänomen. Williams sagt klar, dass es sich in seinen Augen bei offenkundig unwahren Aussagen gar nicht um Aussagen oder Behauptungen handelt. In seiner Definition von Behauptung räumt er den unaufrichtigen Behauptungen zwar Platz ein, aber nicht den offen unaufrichtigen Behauptungen oder offenkundig unwahren Aussagen: »A äußert einen Satz ›S‹, der seinerseits bedeutet, dass P, womit A entweder seine Überzeugung, dass P, ausdrückt oder der angesprochenen Person weiszumachen beabsichtigt, er glaube, dass P.« Offen unwahre Behauptungen (ich weiß, dass du weißt, dass ich nicht die Wahrheit sage) kommen in dieser Definition schlicht nicht vor. Man werde nicht klug aus jemandem, »der offenbar etwas behauptet, was er selbst nicht glaubt, und seine Äußerung an Personen richtet, von denen er genau weiß, dass sie wissen, dass er es nicht glaubt.« Meine Überlegungen laufen auf die Frage hinaus, ob wir mittlerweile nicht gezwungen sind, aus solchen Personen klug zu werden, so schwer es uns fällt.

Wenn die russischen Medien (neben vielem anderen) behaupten, der über der Ukraine abgeschossene Flug MH17 sei versehentlich von ukrainischen Streitkräften abgeschossen worden, die eigentlich die Maschine des russischen Präsidenten abschießen wollten, dann werden sie wissen, dass kaum jemand im Westen diese Behauptung glauben wird. Im Zusammenhang mit Trump wird gerätselt, ob er alle seine Lügen als solche durchschaut oder nicht doch an vieles glaubt, was er von sich gibt, aber angesichts der großen Fülle an Lügen, die er produziert, ist wahrscheinlich, dass zumindest viele von ihnen einen strategischen Zweck erfüllen.

Hat die offene Lüge Wirkung auf das Vertrauen? Wie sollte das nicht der Fall sein? Auch wenn sie in gewisser Weise keine ganze oder vollständige Lüge zu sein scheint, kommuniziert sie natürlich weiterhin eine Unwahrheit, und das sollte doch eher negative Effekte auf das Vertrauen haben, weil sie uns den Zugang zu den Fakten genauso verwehrt wie die verdeckte Lüge. In einer begrifflich orientierten philosophischen Perspektive würde man sagen, dass man einer Person, die offen die Unwahrheit sagt, gar nicht vertrauen kann, weil es schon begrifflich unmöglich zu sein scheint, einer solchen Person »Vertrauen« entgegenzubringen. Vertrauen will Wahrheit, Wahrhaftigkeit oder Aufrichtigkeit.

Aber vielleicht ändert sich gerade die Natur des Vertrauens oder unseres Begriffs vom Vertrauen. Trump ist gewählt worden, trotz seiner Lügen! Wie ich im siebten Kapitel zeigen werde, gilt der Akt der Wahl in Demokratien aber nach wie vor als Vertrauensakt. Es kann sein, dass hier eine Krise des Vertrauens auftaucht, zu der ich noch gar nichts gesagt habe. Vielleicht wird mit den offenen Lügen etwas kommuniziert, was auf eigentümliche Weise Vertrauen generiert. Trump, so heißt es manchmal, ist wenigstens ehrlich im Lügen. Putin hat eigene Lügen sogar offen eingeräumt.

Zweifellos klingen diese Überlegungen abseitig und bedrohlich, aber die Gegenwart, in der wir leben, scheint eine Umwertung vieler liebgewordener Werte zu betreiben. Ohnehin ist die Psychologie des Menschen verzweigter und undurchschaubarer, als wir oft meinen. Könnte man nicht sogar in einer Liebesbeziehung froh sein, dass der andere noch lügt, um sein Fremdgehen zu kaschieren? Noch liegt einem so viel am anderen, dass man unangenehme Wahrheiten lieber verbergen möchte. Wer sagt denn auch, dass wir immer die Wahrheit hören wollen? Timothy Snyder erwähnt im Zusammenhang mit Russland die Kategorie der »bereitwilligen Ignoranz«.[23] Kann man nicht eine Person, die offen die Unwahrheit sagt, ehrlich finden, wenn man der Meinung ist, dass man in einer Welt lebt, in der andere wichtige Akteure verdeckt und damit viel heimtückischer lügen?

Mir ist klar, dass auch diese Fragen eigentümlich erscheinen, aber ich suche nach den Gründen für die Vermutung einer umfassenden Vertrauenskrise, mir geht es hier nicht um philosophische Analysen, die problematische Wirklichkeiten begrifflich wegdefinieren. So könnte ich einer Person vertrauen, die mir unangenehme Wahrheiten erspart oder die andere, von denen ich meine, dass sie verdeckt lügen, durch das offene Lügen lächerlich macht (so wird mein Ressentiment gegen diese anderen zufriedengestellt) oder die einsieht, dass sie meine Interessen nur durchsetzen kann, wenn sie den Zugang zu den Fakten strategisch verbaut, im Hintergrund aber alles tut, was mir helfen wird.

Ich gebe zu, dass ich hier etwas spekuliere. Im Grunde habe ich nur überlegt, was offene Unwahrheiten noch kommunizieren außer dem, was sie wörtlich behaupten. Sprachphilosophisch spricht man hier von Implikaturen. Wenn ich sage, dass mir ein Hund auf der Straße entgegengelaufen sei, wird die Hörerin normalerweise verstehen, dass es sich nicht um meinen eigenen Hund handelt. Das habe ich aber nicht gesagt, es wird einfach als mitgemeint verstanden, weil davon ausgegangen wird, dass ich eine andere Wendung verwendet hätte, wenn es wirklich um meinen eigenen Hund gegangen wäre. Die offene Lüge scheint in ähnlicher Weise mehr zu sagen als das, was sie vom Inhalt her sagt. Ihr Inhalt ist schlicht eine unwahre Behauptung, die auch noch unaufrichtig ist, weil der Sprecher selbst nicht an sie glaubt. Aber was sagt sie dann zusätzlich aus?

Folgende Gedanken könnten von der offenen Lüge mit kommuniziert werden: (a) Wahrheit oder Unwahrheit sind nicht so wichtig; sie sind nicht das, worauf es politisch ankommt. (b) Die Ehrlichkeit des Lügens ist eine Auszeichnung, weil sie nicht wie alle anderen verdeckt lügt, sondern eben offen, in für alle einsehbarer Weise. (c) Die Lüge soll den Feind irritieren, ablenken, beschäftigen. Was als Lüge erscheint, kann entlarvt werden. Selbst die offene Lüge kann entlarvt werden (wie das im Falle von Flug MH17 geschehen ist), aber wenn sie einmal offiziell als Lüge entlarvt ist, wird schnell eine neue offene Lüge produziert, um den Feind weiter zu beschäftigen. (d) Wer offen lügt, gibt zu verstehen, dass er etwas verbirgt, also etwa eine Wahrheit. Die verdeckte Lüge will, dass diese Wahrheit nicht ans Tageslicht kommt, die offene Lüge will das auch nicht, aber sie gibt trotzdem klar zu verstehen, dass es sie gibt. Der Journalist Charles Clover schreibt über Putin: »Putin ging zutreffenderweise davon aus, dass Lügen die politische Klasse Russlands eher einigen als spalten. Je größer und offensichtlicher die Lüge ist, desto deutlicher zeigen seine Untertanen ihre Loyalität, indem sie sie akzeptieren, und desto stärker beteiligen sie sich an dem großen sakralen Mysterium der Macht des Kremls.«[24] Loyalität heißt hier gewissermaßen die Notwendigkeit der Lüge um einer höheren Wahrheit willen einsehen und aushalten. (e) Die offene Lüge ist gar keine Lüge, sie ist nur Interpretation. »Es gibt keine objektive Berichterstattung.« Alles ist nur Interpretation, auch das, was die andere Seite behauptet. Hier wird der Schritt zur Postfaktizität vollzogen, den alles Reden vom Lügen dem Schein nach noch vermeidet.

Vor dem Hintergrund dieser etwas spekulativen Überlegungen glaube ich also, dass selbst das Phänomen der offenen Lüge