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Dror Mishani

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Beschreibung

In einem Vorort von Tel Aviv wird vor einem Krankenhaus ein Neugeborenes gefunden. Am selben Tag verschwindet ein Tourist und lässt sein Gepäck im Hotelzimmer zurück. Inspektor Avi Avraham hat genug von Bagatellfällen und häuslichen Dramen. Deshalb stürzt er sich gleich in den rätselhaften Vermisstenfall. Doch bald merkt er, dass auch das Private Sprengstoff birgt – und gerät in ein Labyrinth aus Gewalt und Täuschung, das ihn bis nach Paris führt und nicht nur mit dem Mossad in Konflikt bringt.

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Dror Mishani

Vertrauen

Ein Fall für Avi Avraham

Roman

Aus dem Hebräischen von Markus Lemke

Diogenes

»Geh aus deinem Vaterland und von deiner Verwandtschaft und aus deines Vaters Haus.«

1. Buch Mose 12:1

ERSTER TEILVerschwinden

1

Kommandant Benny Saban, Chef des Ayalon-Polizeidistrikts, versuchte erst gar nicht, seine Fassungslosigkeit zu verbergen. Verärgert zog er die Schublade seines Schreibtischs auf und holte ein blaues Samtetui heraus und daraus wiederum ein Gerät aus dunkelblauem Glas, das an einen altmodischen Füllfederhalter erinnerte. »Das glaub ich dir nicht, Avi«, sagte er. »Das kannst du nicht ernst meinen.«

Doch Oberinspektor Avraham Avraham meinte es sehr ernst. Er hatte zwar erst am Morgen um dieses Treffen gebeten, aber er hatte es seit dem Frühsommer geplant und wartete darauf, seit er aus dem Urlaub zurück war. Saban fragte: »Das stört dich nicht, oder? Der Dampfer?« Und Avraham schüttelte den Kopf.

Ilana Liss, die vor Saban Distriktkommandantin gewesen war, hatte aus ebendieser Schublade gerne einen der durchsichtigen Plastikbecher geholt, ein bisschen Wasser hineingefüllt, ihn auf den Schreibtisch gestellt und Avraham gebeten: »Mach uns mal eine Zigarette an«, obwohl das Rauchen auf dem Revier untersagt war. Er hatte immer erst eine Zigarette angesteckt und sie ihr gereicht und sich dann selbst eine angezündet. Nur ganz am Anfang ihrer Zusammenarbeit, als sie noch jung gewesen waren, hatte er sich einfach zwei Zigaretten auf einmal in den Mund gesteckt und beide mit einer einzigen, langen Flamme entzündet.

Sabans Vaporizer stieß eine rosa Wolke aus, und sein Vorgesetzter redete aus dieser Wolke heraus weiter auf Avraham ein. »Aber du bist doch erst höchstens zwei Jahre, Avi … Ich verstehe dich nicht. Wie alt bist du jetzt? Sechsundvierzig? Siebenundvierzig?«

»Dreiundvierzig.«

»Im Ernst? Trotzdem. Wohin, denkst du, kannst du in dem Alter noch wechseln?«

Er wusste nicht genau, wohin. Wollte versuchen, zu einer der landesweit operierenden Abteilungen der Polizei versetzt zu werden. Zur Einheit für internationale Ermittlungen oder zum Dezernat für Betrugsfälle. Ja, vielleicht sogar zu einem der anderen Sicherheitsorgane. Und genau genommen war er auch schon fast vierundvierzig.

»Was denn für andere Sicherheitsorgane, Avi? Wovon redest du? Willst du etwa zum Inlandsgeheimdienst, willst du mir auf einmal zum Shabak-Agenten werden?«

Wie immer, wenn er sich aufregte, zwinkerte Saban stark. Und Avraham dachte, dass er ihn mehr mochte, als er bei ihrer ersten Begegnung in diesem Büro für möglich gehalten hätte. An dem Tag war Saban vor allem der Mann gewesen, der im Sessel von Ilana Liss Platz nahm, nachdem sie sich wegen ihrer Erkrankung hatte beurlauben lassen müssen. Wie Avraham es geahnt hatte, war er ein weit weniger inspirierender Vorgesetzter – Saban versuchte vor allem, den Etatrahmen nicht zu überziehen und »unsere Zahlen zu verbessern« –, aber er hatte Avraham in der ganzen Zeit nicht ein einziges Mal belogen und mühte sich vergebens, seinen Hang zu Überaufgeregtheit und Stress zu kaschieren, was bei Avraham Vertrauen weckte, ja vielleicht sogar Sympathie. Aber mit Saban über die Gründe für sein Versetzungsgesuch reden wollte er nicht. Was hätte er ihm sagen können? Ihm den Moment im Wald schildern, als aus dem glasklaren Wasser des Sees die Erkenntnis aufgestiegen war, dass er andere Fälle wollte?

»Ich verstehe wirklich nicht, was das Problem ist«, beharrte Saban. »Du bist jetzt gerade mal zwei Jahre Leiter des Ermittlungsdezernats und machst einen ziemlich guten Job, einen ziemlich sehr guten sogar. Gib dir noch ein Jahr, anderthalb, vielleicht ziehe ich ja weiter, wer weiß, und dann kannst du befördert werden, wirst Vizekommandant, kannst versuchen, einen Distrikt zu bekommen. Warum das jetzt alles über Bord werfen? Du hast doch gerade erst geheiratet. Was brauchst du noch mehr Veränderungen?«

Säße Ilana noch in diesem Sessel, hätten sie jetzt ausführlich miteinander über das gesprochen, was Avraham während des Sommers erlebt hatte. Aber Ilana war nicht im Zimmer – zumindest nicht wie einst, denn für einen flüchtigen Moment sah Avraham sie dennoch, wie sie aufstand, um das Fenster zu öffnen, ihre Gegenwart luzide und schwebend, und er schloss die Augen, als wollte er das Bild unter seinen Lidern festhalten, ehe es sich auf‌löste.

*

Ilana war zu Beginn des Sommers gestorben, und in die tiefe Trauer über ihren Tod hatte sich Wut gemischt, Wut darüber, dass sie sich geweigert hatte, ihn zu sehen, und ein Schuldgefühl, weil er nicht bei ihrer Beerdigung gewesen war.

Seit dem Pessachfest hatte sie sich in ihrem Haus verschanzt und niemanden mehr empfangen bis auf ihre Familie und einige wenige Freunde, zu denen er nicht zählte. Avraham war, so hatte sie es offenbar beschlossen, nicht einer der nahen Menschen, die sie bei ihrer Krankheit und ihrem Sterben begleiten sollten, und er hatte resigniert, hatte aufgehört, sie anzurufen und ihr Nachrichten zu schicken, hatte nur noch ab und an mit Gerry telefoniert, um zu erfahren, wie es ihr ging.

Zu Marianka hatte er gesagt, er verstehe Ilana, aber die Wahrheit war, dass er nicht verstand. Wofür bestraf‌te sie ihn? Warum durf‌ten Kollegen, die sie weit weniger gut kannten als er, sie treffen, während Avraham selbst auch nur ein einziger Besuch versagt blieb? Er wusste natürlich, dass sie den Moment, in dem ihr Herz zu schlagen aufhörte, nicht extra so gelegt hatte, dass er bei der Beerdigung nicht dabei sein konnte, und dennoch fühlte sich der Zeitpunkt ihres Todes in ihrem Haus in Ramat Hasharon mitten während seiner Hochzeitsreise mit Marianka in Slowenien wie ein weiterer Beleg für ihre Absicht, ihm wehzutun, an.

Genau wie der Abschiedsbrief.

Als Avrahams Mitarbeiter Eliyahu Maalul ihn von ihrem Tod in Kenntnis setzte, rief er sofort Gerry an, um ihm sein Beileid auszudrücken und sich dafür zu entschuldigen, dass er nicht zur Beisetzung kommen würde, und Gerry sagte, Ilana habe einen Abschiedsbrief für ihn geschrieben, den er gerne abholen könne, wenn er zurück in Israel wäre.

Seine gesamten Flitterwochen mit Marianka hatte Avraham überlegt, was Ilana ihm wohl geschrieben haben könnte. Sie hatten zweimal geheiratet, einmal im Rathaus von Koper, der Stadt, in der Marianka geboren und aufgewachsen war, und einmal in einer kleinen, direkt an der Adriaküste gelegenen Kirche. Dabei gewesen waren außer ihnen nur Bojan und Annika Milaniç, Mariankas Eltern, die aus ihrem Bedauern keinen Hehl machten, wenn sie den Mann, der ihnen ihre Tochter wegnahm, pfl‌ichtschuldig umarmten. Außerdem noch einige Verwandte, deren Namen sich Avraham partout nicht merken konnte, und zwei Jugendfreundinnen von Marianka, Eva und Monica, die ihr aufgeregt gestanden, er erinnere sie an den Hauptdarsteller aus der Serie Fauda, und beim Mittagessen im Anschluss an die Trauung Avraham fragten, ob er sich bei seiner Arbeit denn auch als Araber verkleide und gegen Terrororganisationen kämpfe. In jener Nacht hatten ihn Eva und Monica im Traum heimgesucht, und da alle seine Versuche, sie daraus zu vertreiben, scheiterten, fügte sich Avraham wohl oder übel in ihre erregende Anwesenheit in dem kurzen Traum, der zum Glück schon bald von einem anderen abgelöst wurde, in dem er als Halbwüchsiger mit seinem Vater in ihrem weißen Subaru die Schnellstraße hinauf nach Jerusalem fuhr. Im Traum war sein Vater ungefähr so alt wie er jetzt, rauchte die ganze Fahrt über und erzählte dem jungen Avraham eine lange Geschichte, an die er sich am Morgen nicht mehr erinnern konnte. Offenbar Avrahams Art, seinen Vater, der wegen seines Gesundheitszustands nicht mehr fliegen konnte, an seiner Hochzeit teilhaben zu lassen.

Sie waren fünf Nächte in Koper geblieben und dann in die Wälder gefahren, in einem alten Fiat ohne Klimaanlage, den ein Onkel von Marianka meinte ihnen leihen zu müssen. Sie hatten viel gelesen und Wanderungen unternommen, von denen Marianka mit Körben voller Preiselbeeren und frischen Pilzen zurückgekehrt war. Immer wieder gab es Momente, da konnte er es nach wie vor nicht glauben, dass diese Frau mit ihm zusammen in Cholon leben würde. Sie hatte begonnen, in Israel für eine Detektei zu arbeiten, die sich auf Nachforschungen und Observationen spezialisiert hatte, insbesondere im Auf‌trag von Frauen, die in Scheidungsverfahren steckten. Und gelegentlich wurde sie von der Polizei angeheuert, um bei Vernehmungen von Touristen zu übersetzen oder bei Online-Befragungen von Zeugen im Ausland. Er selbst fand nichts Trauriges daran, Tausende Kilometer weg von zuhause, von seinen Eltern und seinen Freunden zu heiraten, denn diese Hochzeit gehörte nur ihnen beiden und niemandem sonst. Der Priester hatte Englisch gesprochen, und als Avraham nicht verstand, was er tun sollte, flüsterte Marianka es ihm ins Ohr.

Es war gegen Abend gewesen, sie saßen an einem See, dessen Wasser in dunklen Farben die Kronen der Bäume ringsherum nachzeichnete. Marianka saß mit angezogenen Knien auf einer Holzbank vor der Hütte, die sie gemietet hatten, und schrieb mit Bleistift in ein rotes Heft, Worte in einer Sprache, die er nicht verstand, und Avraham las den letzten Fall von Kurt Wallander, bei dem sein Lieblingsermittler in die Keller des schwedischen Geheimdienstes und zu Atom-U-Booten geführt wurde, finsteren Geheimnissen aus den Tagen des Kalten Krieges auf der Spur. Als Marianka ihn fragte: »Worüber denkst du nach?«, sagte er, über gar nichts, weil er meistens so antwortete, besann sich dann aber und erzählte es ihr. »Ich weiß nicht, ob ich noch zurückkann«, sagte er, und als sie fragte, ob er zurück nach Cholon meine, erwiderte er: »In den Job. Zu all den kleinen, gewöhnlichen Fällen.« Und natürlich hing es, wie Marianka gleich vermutete, mit Ilana zusammen, aber das war nicht der einzige Grund.

Die meisten Fälle, in denen er in den letzten Jahren ermittelt hatte, waren tragische Gewalttaten gewesen, deren Aufklärung niemandem mehr geholfen hatte. Wem hat es genützt, dass er herausgefunden hat, dass Raphael Sharabi seinen Sohn Ofer getötet hat? Oder dass Chaim Sara seine Frau Jennifer erwürgt und sie vor dem Haus seiner Mutter verscharrt hat? Es ist, als würde er nur in bedeutungslosen Kriegen kämpfen, die nicht zu gewinnen sind. Bei denen es nur Verlierer gibt.

»Wie kannst du sagen, dass das keine wichtigen Fälle waren?«, fragte Marianka, und er antwortete: »Klar waren sie wichtig für diejenigen, die daran beteiligt waren, aber sie zu lösen hat nichts am größeren Bild verändert. Und selbst den Opfern und Angehörigen ist nicht geholfen.« Ofer Sharabi und Jennifer Salazar hatte es naturgemäß nichts mehr genützt, dass er denjenigen überführte, der sie ermordet hatte – aber ihren Familien auch nicht. Hannah Sharabi hatte nicht nur ihren Sohn, sondern auch ihren Ehemann verloren. Und die Kinder von Jennifer Salazar mussten jetzt nicht nur ohne Mutter, sondern auch ohne ihren Vater auskommen. »Ich glaube, meine größte Leistung in den letzten Jahren war, den Schimpansen einzufangen, meinst du nicht?«

Marianka erinnerte ihn daran, dass es ein Orang-Utan gewesen war.

In Wahrheit hatte Avraham den Affen noch nicht einmal selbst eingefangen, sondern ihn nur entdeckt, wie er da auf einer Steinmauer in einem Villenviertel am Strand von Rishon Lezion kauerte, und über Funk mitgeteilt, wo sich der Primat befand. Er war gerade auf dem Rückweg zum Revier gewesen, nach einem Termin im Hafen von Ashdod im Zusammenhang mit dem Schmuggel von gefälschten Viagra-Tabletten, als er über Funk von der Flucht eines gefährlichen Menschenaffen aus dem Tierpark hörte und von der Schnellstraße abbog, um bei der Suche zu helfen. Am nächsten Tag erschien sein Foto auf der letzten Seite der Israel Hayom, und die Pressesprecherin der Polizei hatte ihn genötigt, sich in einer der Morgenshows im Fernsehen interviewen zu lassen, gemeinsam mit einer Tierpflegerin des Zoos, aus dem der Affe ausgerissen war. Der Moderator hatte ihn gefragt: »Und hatten Sie denn keine Angst? Der Affe hätte Sie doch angreifen können.« Avraham verneinte.

Der Affe hatte sich ja nicht bewegt. Als hätte er längst begriffen, dass sein Fluchtversuch gescheitert war, und resigniert.

Das Tier hatte sich auch nicht gewehrt, als die Tierpflegerin sich näherte, es war von der Mauer herunter in ihre Arme geklettert, und zusammen waren sie in einen Pick-up des Zoos gestiegen und verschwunden. Dennoch hatte der Moderator, als er Avraham verabschiedete, ihm für seinen Mut gedankt.

*

Saban versuchte, seine E-Zigarette auszumachen, ohne Erfolg, am Ende legte er das Gerät einfach in das aufgeklappte Etui, wo es weitersummte und parfümierte Schwaden ausstieß. »Hör zu, Avi.« Er seufzte. »Ich werd dein Gesuch weiterleiten, was bleibt mir anderes übrig, aber du weißt, das kann Wochen, sogar Monate dauern, ja? Und hast du eine Idee, wer dich ersetzen könnte? Meinst du, man muss jemanden von außen holen, oder ist Wahabe schon reif für den Job?« Avraham erwiderte, seiner Meinung nach leiste Esthi Wahabe hervorragende Arbeit. Als Saban fragte, ob er eine Inspektorin namens Orna Ben-Chamo kenne, die vor Kurzem einen Rechtsanwalt aus Givatayim überführt hatte, der zwei Frauen umgebracht und ihren Tod als Selbstmord inszeniert hatte, sagte Avraham, er habe sie noch nie getroffen, von Ilana Liss aber viel Gutes über sie gehört.

An der Tür seines Büros verharrte Saban und legte eine Hand mit akkurat geschnittenen und polierten Nägeln auf Avrahams Schulter. »Ich glaub, ich kapiere, was mit dir los ist«, sagte er. »Auch wenn du meinst, ich sehe es nicht. Du denkst, der Distrikt und die Ermittlungen hier sind eine Nummer zu klein für dich, ist es nicht so, Avi? Du bist so ein Stiller und tust so bescheiden, aber im Grunde genommen bist du überzeugt, du gehörst in die oberste Liga. Ich hab auch die Geschichten darüber gehört, dass du meinst, alle Ermittler und Detektive im Fernsehen und in Büchern lägen irgendwo immer falsch, und nur du weißt, was die tatsächliche Lösung ist. Geht es nicht darum?«

Avraham lächelte und sagte, das sei es nicht, und Saban schloss plötzlich die schon geöffnete Tür wieder, als sei das, was er ihm nun sagen wollte, streng vertraulich. »Aber damit du Bescheid weißt, du irrst dich gewaltig, wenn du so über unsere Arbeit hier denkst. Nicht von ungefähr heißt das Ministerium jetzt ›Ministerium für innere Sicherheit‹ und nicht mehr ›Polizeiministerium‹. Wir sind Teil des Sicherheitsapparats von Israel, und was wir hier machen, ist nicht weniger wichtig als das, was andere Organisationen leisten. Außerdem, vergiss nicht, das ist dein Zuhause hier. Wie viele Jahre bist du jetzt schon hier? Mindestens fünfzehn, oder?«

Auf dem Weg zu seinem Büro sah Avraham, wie Eliyahu Maalul sich in der Teeküche am Ende des Ganges den vierten oder fünf‌ten schwarzen Kaffee an diesem Tag einschenkte, und dachte, dass er Saban vielleicht hätte bitten sollen, sein Versetzungsgesuch vertraulich zu behandeln. Ilanit war nicht an ihrem Platz, und obwohl er annahm, sie sei in der Mittagspause, rief er sie an, um zu fragen, ob es etwas Neues gebe. »Nur was heute Morgen schon da war«, sagte Ilanit. »Sonst nichts.«

»Was-heute-Morgen-schon-da-war« waren Fälle, wie er sie seit bald zehn Jahren bearbeitete, seit er zum Distrikt gestoßen war. 9:07: Avi, von der Intensivstation des Wolfson ist eine Meldung gekommen über einen wenige Tage alten Säugling, der vor dem Krankenhauseingang gefunden wurde, ohne Identifikationsmerkmale. Wahabe hinschicken? 9:53: Ein geistig verwirrter 36-Jähriger hat versucht, seine Mutter in ihrer Wohnung in der Aharonowitsch-Straße anzuzünden, und einen Sozialarbeiter mit einem Küchenmesser angegriffen. 10:37: Die Rechtsanwältin des Verdächtigen in der Viagra-Schmuggelsache will dich unbedingt sprechen. Wann rufst du sie zurück? 11:19: Der Direktor eines Hotels in Bat Yam meldet einen Touristen, der verschwunden ist, ohne seine Zimmerrechnung zu bezahlen. 11:22: Ein dreijähriger Junge, der in einem Auto auf dem Parkplatz der Sahav-Shopping-Mall vergessen wurde, ist im Zustand extremer Dehydrierung in die Notaufnahme gekommen und nach einer Stunde gestorben. Möchtest du, dass wir die Eltern noch heute zur Vernehmung herbringen, oder sollen wir bis nach der Beisetzung warten?

Jenseits dessen, was Saban als »dein Zuhause« bezeichnet hatte, gab es hochkomplexe Geheimoperationen, um den Wettlauf der Iraner zur Atombombe zu stoppen, gab es heroische Vereitelungen von Terrorakten und Ermittlungen gegen Staatspräsidenten, Regierungschefs und Minister und hinter all dem Menschen, deren Arbeit tatsächlich etwas bewirkte. Die in wirklich wichtigen Kriegen kämpf‌ten, bei denen es die Möglichkeit gab zu siegen; Kriege, bei denen es nicht nur Verlierer gab, sondern auch Sieger und Helden. Und er sollte unterdessen verzweifelte Eltern zur Vernehmung einbestellen, die ihren Sohn im Auto gelassen hatten und losgegangen waren, um nur rasch eine Spülmaschine zu kaufen. Oder einen geistig Verwirrten zum Sprechen bringen, der versucht hatte, in einem Wutanfall seine eigene Mutter umzubringen, um seine Motive zu ergründen. Doch Saban irrte. Er dachte nicht, dass diese Fälle eine Nummer zu klein für ihn waren. Aber er wollte endlich das tun, wovon er geträumt hatte, als er zur Polizei gegangen war, und was er nur Ilana verraten hatte, bei seinem Einstellungsgespräch für den Posten im Distrikt, das auch ihre erste Begegnung gewesen war: Leben retten und Grausamkeit, Gewalt und das Böse bekämpfen.

Ilana hatte ihn damals gefragt, mit einem Lächeln, das er mit den Jahren erst zu deuten lernte: »Denkst du, die Polizei ist der richtige Ort, um das zu tun?« Und als Avraham bejahte, sagte sie: »Ich wünschte, ich könnte dir sagen, du hast recht.«

 

Er rief Ilanit an und bat sie, ihm aus der Cafeteria Reis mit Bohnen mitzubringen. Schrieb Marianka, er habe vor, heute früh Schluss zu machen, und ob sie mit ihm am Strand laufen gehen wolle, und sie antwortete ihm vierzig Minuten später, sie habe Karatetraining und würde nicht vor neun zu Hause sein. Ilanit brachte ihm grünen Salat mit Avocado und Ei mit, weil die Bohnen schon aus waren. Und sagte, die Rechtsanwältin des Verdächtigen bei der Geschichte mit dem gefälschten Viagra wolle die Vernehmung ihres Mandanten verschieben, weil dieser gerade erst eine Blinddarmoperation hinter sich habe.

Er hätte eigentlich nach Hause fahren können.

Esthi Wahabe war im Wolfson-Krankenhaus, sammelte Informationen über das wenige Tage alte Mädchen, das jemand vor dem Portal ausgesetzt hatte, und nahm die Zeugenaussagen der Ärzte auf, die den Jungen behandelt hatten, der im Wagen zurückgelassen worden und dann gestorben war. Und Eliyahu Maalul wartete noch auf den Sozialarbeiter, der von dem Mann, der versucht hatte, seine Mutter umzubringen, angegriffen worden war, und befragte in der Zwischenzeit dessen Psychiater am Telefon.

Er rief Gerry an, um zu fragen, ob er vorbeikommen und Ilanas Abschiedsbrief abholen könne, und wie bei allen vorherigen Versuchen ging niemand ran. Als er in seinen weißen Hyundai stieg, war ihm noch nicht klar, wohin er wollte, aber am Ende fuhr er zu dem Hotel in Bat Yam, weil sonst keiner mehr da war, den er hätte hinschicken können. Im Radio ging es um die nächste mysteriöse Vergiftung eines russischen Oppositionellen, mutmaßlich durch Vladimir Putins Geheimdienst, und Avraham malte sich unwillkürlich aus, wie der CIA und der MI6 ihn anheuerten, um das Rätsel zu lösen.

»Inspector Avraham? This is Langley calling. We know you expected our call.«

Der Anblick des Palace Hotel rief ihm in Erinnerung, dass er sich auf dem Ben-Gurion-Weg in Bat Yam befand.

Obgleich Avraham laut dem Schild in einem der Fenster ein »Exklusives Suite-Hotel« vor sich hatte, sah das Palace aus wie ein heruntergekommenes Mietshaus, dem das Meer den Putz von den Wänden geschält hatte. Die meisten der Plastikblenden vor den Fenstern waren jahrelanger Vernachlässigung zum Opfer gefallen und die verbliebenen in unterschiedlichen Schattierungen von Dreck eingefärbt. Der einzige Vorzug war die Lage. Die Balkone überblickten die Strandpromenade und das Meer, das überall dasselbe war und Avraham jedes Mal erfreute, wenn er es sah. Auf einem der Balkone des Palace standen drei junge Männer mit nacktem Oberkörper und rauchten, doch als sie Avraham auf den Hoteleingang zugehen sahen, hatten sie es eilig, in ihr Zimmer zu verschwinden.

Avraham kannte wenige Orte, wo die Diskrepanz zwischen den Dingen und den Namen, die sie für sich beanspruchten, so groß war wie hier. Aber nicht nur beim Palace. Nebenan befand sich ein Restaurant namens Élégance, dessen mit fleckigem Wachstuch bedeckte Tische den Weg auf der Strandpromenade versperrten. Daran reihte sich das Venezia, ein geschlossenes Fischrestaurant, und ein De-Luxe-Feinkostladen, der in einen Kiosk umgewandelt worden war und vor allem Zigaretten und billigen Alkohol im Angebot hatte. Das Hotel unmittelbar neben dem Palace war sogar noch heruntergekommener, machte ihm aber mit klingendem Namen Konkurrenz – Monaco Hotel: Sea Shore Luxury and More.

Aber ist das nicht auch genau deine Geschichte? An der Tür deines Büros hängt ein Schild mit der Aufschrift »Leiter der Ermittlungs- und Aufklärungsabteilung«. Und auf dem Schreibtisch mitten im Raum thront die braune Mahagonipfeife, die Marianka dir auf dem armenischen Markt in der Jerusalemer Altstadt gekauft hat.

Du bist ein »Detektiv«.

Wie Kurt Wallander, nur mit blätterndem Putz an den Wänden, mit fleckiger Wachstuchdecke und schadhaften Fensterläden.

Ein Detektiv, der es mit trauergebeugten Eltern, versehrten Kindern und kleinen, traurigen Fällen zu tun hat, deren Aufklärung der Welt nur weiteres Leid beschert.

Die Lobby des Palace überraschte ihn trotz allem.

Sie war nur durch eine gläserne Schiebetür von der Straße getrennt und im fernöstlichen Stil gehalten. Auf dem Marmorboden gleich am Eingang waren zwei riesige Porzellangefäße platziert, die Avraham um Haupteslänge überragten und mit Frauen in Kimonos und japanischen oder chinesischen Schriftzeichen bemalt waren, gigantische Vasen, aus denen langstielige grellbunte Plastikblumen wuchsen, und gleich dahinter ein Kübel mit einem Zierkirschbaum, dessen Echtheit ebenfalls angezweifelt werden konnte. Hinter dem hohen Holztresen am Empfang lugte der helle Haarschopf eines Mannes hervor, der in einem Buch las. Er brauchte einige Zeit, um zu verstehen, in welcher Angelegenheit Avraham ins Hotel gekommen war, aber dann trat ein breites Lächeln auf sein Gesicht: »Ach, das hat sich schon erledigt. Da gibt’s kein Problem mehr.« Am Mittag, einige Stunden nachdem der Hoteldirektor bei der Polizei angerufen hatte, waren zwei Verwandte des Touristen erschienen, hatten gesagt, er wohne ab jetzt bei ihnen, sein Gepäck mitgenommen und die Zimmerrechnung bezahlt. Oleg hatte die Polizei nicht informiert, weil er sicher gewesen war, die würde ohnehin niemanden vorbeischicken.

So musste dieser Tag ja enden.

Avraham hätte im Restaurant Élégance Platz nehmen und Spezialitäten der georgischen Küche bestellen können, die Chinkali-Teigtaschen oder das mit Käse gefüllte Chatschapuri-Brot, die auf den Fotos im Restaurantfenster verführerisch ölig glänzten, und warten, bis Marianka mit ihrem Karatetraining fertig war. »Woher wissen Sie, dass es seine Verwandten waren?«, fragte er den Mann am Empfang.

»Na, das haben die mir gesagt. Sie haben ja auch für ihn bezahlt.«

»Na und?«

»Was soll das heißen, ›na und‹? Warum sollte einer für jemanden bezahlen, mit dem er nicht verwandt ist?«

»Sie haben also zwei Leute, die Sie nicht kennen, die Koffer eines Gastes mitnehmen lassen, nur weil die Sie darum gebeten haben?«

Oleg wirkte jetzt doch verlegen. Er sagte zu Avraham: »Na, aber er war doch schon seit zwei Tagen nicht mehr hier. Ist nach zwei oder drei Stunden weg und nicht wiedergekommen. Und ohnehin waren die Koffer leer.« Und als Avraham fragte: »Woher wissen Sie das?«, wurde er rot.

»Hab ich denen angesehen. Die sahen vollkommen leer aus.«

»Haben Sie sie geöffnet, in seinem Zimmer vielleicht?«

»Was soll das? Wieso sollte ich seine Koffer aufmachen?«

Als Oleg von seinem Stuhl aufstand, verstand Avraham, warum man ihn für die Rezeption eingestellt hatte. Er war großgewachsen und wirkte durchtrainiert. Sollte es im Palace Probleme mit Gästen geben, und Avraham hatte das Gefühl, dass das durchaus mal der Fall sein konnte, würde Oleg sie zu lösen wissen. »Haben die Ihnen einen Namen dagelassen? Eine Telefonnummer?«, fragte er weiter, und der Mann am Empfang wurde immer verlegener.

»Von wem?«

»Von den Verwandten. Das ist doch, was die gesagt haben, oder nicht? Dass sie zu seiner Familie gehören?«

»Ja. Aber die haben mir keine Nummer gegeben.«

»Sonst irgendwelche Angaben?«

»Nein, nichts.«

»Wie haben sie bezahlt?«

»In bar. Sechshundert Schekel in Zweihunderterscheinen. Vierhundert für die beiden Nächte, die er sozusagen schon da war, und zweihundert für die eine Nacht, die er noch reserviert hatte. Insgesamt hatte er für drei Nächte gebucht.«

»Gibt es hier eine Kamera? Kann man die mal sehen?«

»Sicher. Die ist hier genau über uns, an der Decke.«

»Nein, ich meine nicht die Kamera. Die Verwandten. Auf der Aufnahme der Überwachungskamera.«

»Ah, ja sicher. Wollen Sie sie jetzt sofort sehen?«

Noch nicht. Erst wollte er das Zimmer in Augenschein nehmen und fragte den Mann am Empfang: »Wissen Sie noch, was die über ihn wussten?«

»Wie, was die wussten? Die haben gesagt, der Tourist, der hier wohnt, sie sind Verwandte von ihm und gekommen, um für ihn zu bezahlen. Und das war’s.«

»Dann wussten sie nicht, wie er heißt? Haben die Ihnen seinen Pass oder irgendeinen anderen Ausweis gezeigt?«

Jetzt wirkte Oleg ehrlich betroffen. »Denken Sie, die hatten gar nichts mit ihm zu tun?«, fragte er. »Und dass er jetzt jeden Augenblick zurückkommen könnte und keine Koffer mehr hat?«

Avraham sagte: »Ich habe keine Ahnung. Kommen Sie, zeigen Sie mir sein Zimmer.«

 

Das Zimmer lag im zweiten Stock.

Es war großzügig geschnitten, vielleicht, weil das Gebäude ursprünglich nicht als Hotel gedacht gewesen war, und ziemlich düster, weil das große, geschlossene Fenster nicht aufs Meer blickte, sondern auf einen Hinterhof und ein schäbiges Gebäude, das ihm alles Sonnenlicht raubte. Avraham zog den muffigen Vorhang beiseite, der mal cremefarben gewesen war, öffnete die seit Jahren nicht mehr gereinigten Sonnenblenden und schaute hinaus. Auf der schmutzigen Fensterscheibe stand etwas, das ein Finger in den Staub geschrieben hatte – Yaakov Ben-Chayat. Wer den Raum einst geplant hatte, musste ihn sich tatsächlich als Gemach in einem Palast vorgestellt haben: An der Decke waren Blumengirlanden aus Stuck, und an den Wänden hingen mächtige Gemälde in vergoldeten Rahmen, als wäre man in einem Museum in Florenz. Zwei Details weckten sofort Avrahams Aufmerksamkeit: die Minibar und eine Porzellantasse auf dem Waschbecken im Badezimmer.

»Hat jemand das Zimmer sauber gemacht, seit die hier waren?«, fragte er, und Oleg schüttelte den Kopf. »Die Putzfrau kommt einmal die Woche. Morgen früh ist sie da.«

»Und haben Sie die Minibar aufgefüllt oder war die voll?«

»Das macht auch die Putzfrau.«

In den wenigen Stunden, die der Tourist in seinem Zimmer verbracht hatte, hatte er offenbar keinen Alkohol getrunken. Hatte sich aber mit dem elektrischen Wasserkocher einen Kaffee gemacht. Sollte man seine Fingerabdrücke benötigen, würden sich diese wohl finden lassen. »Waren Sie dabei, als die in das Zimmer wollten?«, fragte Avraham, und Oleg schüttelte erneut den Kopf. Er sei ganz allein im Hotel gewesen und habe die Rezeption nicht verlassen können.

»Woher wussten Sie überhaupt, dass er Tourist ist?«

»Wer?«

»Der Mann, der das Zimmer genommen hat. Und verschwunden ist. Welche Sprache hat er gesprochen?«

»Englisch, aber er hatte einen Akzent. Französisch, glaub ich. Und er hat auch seinen Pass vorgelegt, ich kann das für Sie überprüfen.«

»Waren Sie an dem Tag hier, als er ankam?«

»In der Nacht. Ich arbeite immer nachmittags und nachts, jeden Tag.«

»Und was hat er gesagt?«

»Nichts Besonderes. Aber er hat Englisch gesprochen, mit Akzent, und er ist in ’nem Taxi vom Flughafen gekommen. Ich hab’s gesehen.«

Avraham bat Oleg, das Zimmer abzuschließen und dort niemanden mehr hineinzulassen. Auf dem Weg nach unten fragte er, wie viele Gäste gerade im Hotel wohnten, und Oleg sagte, im Augenblick seien nur zwei Zimmer mit Gästen belegt, aber ein Teil der Zimmer würde stundenweise vermietet. »Naja, Sie wissen schon, Pärchen, Verheiratete und auch noch andere Leute. Aber Touristen sind nur in den Suiten. Und im vierten Stock sind Chinesen. Die die U-Bahn bauen. Ingenieure.«

Warum hatte der Tourist dann, nach dessen Namen Avraham noch immer nicht gefragt hatte, ein Zimmer zum Hinterhof bekommen und nicht eins mit Meerblick?

Oleg sagte, der Gast habe danach gefragt. Ein Zimmer nicht zur Straße.

Als sie wieder an der Rezeption waren, bat Avraham Oleg zu überprüfen, unter welchem Namen und wie der Tourist das Zimmer reserviert hatte, worauf Oleg einen bejahrten Rechner anwarf und fast fünf Minuten warten musste, bis er hochgefahren war. Der Mann hieß Jacques Bartoldi und hatte das Zimmer nicht im Voraus reserviert, sondern war einfach ins Hotel gekommen, hatte gefragt, ob sie noch ein Zimmer frei hätten, und es für drei Nächte gebucht. Und tatsächlich hatte er Oleg die Nummer eines Schweizer Passes hinterlassen, die Avraham in sein Notizbuch übertrug. Doch bis er Bartoldi auf der Aufnahme der Überwachungskamera würde sehen können, musste Avraham mit dem vorliebnehmen, woran Oleg sich erinnerte. Aus der Brusttasche seines Hemdes holte er einen blauen Stift und schrieb damit in das schöne, schwarze Heft, das Marianka ihm in Slowenien gekauft hatte: Ungefähr sechzig, großgewachsen, mindestens 1,85 m, sehr hager, ziemlich dunkler Teint und silbergraues, für einen Mann seines Alters relativ dichtes Haar. Trug braune Anzughose und braunes Jackett, als er nachts im Hotel eintraf, und auch, als er es am nächsten Morgen gegen fünf oder sechs verließ.

»Als er frühmorgens aufgebrochen ist, hat er da irgendetwas zu Ihnen gesagt?«, fragte Avraham, und Oleg wirkte einen Moment wie jemand, der tatsächlich angestrengt versuchte, sich zu erinnern.

»Nu, ja. Auch deswegen haben wir angerufen. Er hat gefragt, ob es ein Restaurant gibt, das ich empfehlen kann, und als ich gesagt hab, ich kenn ein gutes, hat er gefragt, ob ich abends im Hotel bin, wenn er zurückkommt, und ihm zeige, wie er da hinkommt. Ich hab gemeint, er soll sich keine Sorgen machen, ich bin den ganzen Abend hier, und er hat gesagt: ›Schön, dann sehen wir uns in ein paar Stunden.‹ Auf Englisch. Verstehen Sie? Deshalb waren wir sicher, er kommt wieder.«

 

Auf dem Nachhauseweg schaltete Avraham das Radio nicht ein.

Die Überwachungskamera des Palace lag auf dem Beifahrersitz, aber Avraham sah vor seinem geistigen Auge bereits einen etwa sechzigjährigen Mann, großgewachsen und hager, der mitten in der Nacht an der Strandpromenade von Bat Yam vor dem Hotel aus einem Taxi steigt, auf Englisch mit französischem Akzent um ein nicht zur Straße gelegenes Zimmer bittet, jedoch nicht schlafen geht, ja sich noch nicht einmal aufs Bett legt, um auszuruhen, sondern sich einen Kaffee macht, früh am Morgen sein Zimmer verlässt und verspricht, gegen Abend zurück zu sein – aber nicht wiederkommt. Und dann hatten zwei Männer sein Gepäck abgeholt, noch ehe Avraham Gelegenheit fand, wegen der Anzeige im Palace vorbeizuschauen oder einen Beamten hinzuschicken. Doch warum beschlich ihn das Gefühl, er würde noch bedauern, es nicht früher nach Bat Yam geschafft zu haben, um der Sache nachzugehen? Denn momentan hatte er ja keinerlei Grund zu der Annahme, der Tourist könnte sich in Gefahr befinden, einmal abgesehen vielleicht von dessen Versicherung Oleg gegenüber, am Abend wäre er wieder da.

Und da war auch noch die Antwort des Rezeptionisten auf die letzte Frage, die Avraham ihm gestellt hatte.

»Die Männer, die gekommen sind, um seine Koffer abzuholen, sahen die ihm ähnlich?«, hatte er gefragt, und Oleg wurde erneut rot und sagte dann: »Ich weiß nicht mehr, wie sie genau aussahen, aber einer war ziemlich klein. Und blond. Kann man auf dem Video sehen. Aber Verwandte sehen sich ja nicht unbedingt alle ähnlich, oder?«

2

Die Polizisten kamen um Viertel nach fünf.

Sie waren offensichtlich davon ausgegangen, sie würden sie wecken, aber Liora war schon dabei, die Waschmaschine auf dem zum Hauswirtschaftsraum umfunktionierten Balkon zu befüllen, weshalb sie sie nicht die Treppe zum dritten Stock hinaufsteigen hörte. Als sie an die Tür hämmerten und sie lautstark auf‌forderten: »Polizei, sofort aufmachen«, erschrak sie zwar – aber die würden keine Chance haben zu finden, wonach sie suchten.

Sie hatte sich gut vorbereitet, und die Wohnung war so blitzsauber wie vor dem Pessachfest. Gut dreißig Jahre als Reinigungskraft hatten sie zu einer Expertin im Spurenverwischen gemacht.

 

Der Polizist war fett, schwitzte und stank nach Thunfisch. Er ging einmal durch die ganze Wohnung, fragte Liora, ob sie allein sei, und als er den Wäschekorb vor der Maschine bemerkte, forderte er sie auf, die Trommel zu leeren, und kontrollierte die schmutzigen Kleidungsstücke, eins nach dem anderen. Er rief die äthiopische Polizistin und flüsterte ihr etwas ins Ohr, worauf sie begann, die Unterhosen und BHs zu betasten und daran zu schnuppern wie ein hungriger Köter. Dann nahmen sie sich das Zimmer der Mädchen vor, leerten Schränke und Schubladen, machten im Bad und auf der Toilette weiter und stiegen auf die Leiter, um die Abstellkammer im Flur zu inspizieren, der einzige Teil der Wohnung, den Liora nicht sauber gemacht hatte, weil dort Davids Werkzeug und Baumaterialien lagerten. Sie sagte zu dem Polizisten: »Können Sie mir mal erklären, was Sie überhaupt wollen? Was suchen Sie denn hier?« Und als er fragte: »Wo sind Ihre Töchter?«, erwiderte sie: »Schlafen woanders«, und fügte dann hinzu: »Warum, haben meine Töchter was ausgefressen? Sind Sie hier, um sie zu verhaften?«

Die Enttäuschung der Polizisten war mit Händen zu greifen.

Sie schwankte, ob sie Avi Edri anrufen sollte, und entschied sich dann dagegen, holte aber ihr Handy und fing an zu filmen. Die achtlos auf die Betten geworfenen Kleidungsstücke, die Kissen, die im Wohnzimmer einfach vom Sofa gefegt worden waren, die Schubladen auf dem Fußboden und ihr durchwühlter Inhalt. In Danielles Zimmer leuchtete die äthiopische Polizistin mit einer Taschenlampe unter das Bett und zog ein bordeauxfarbenes Laken darunter hervor, und Liora erschrak kurz, aber die Staubflusen daran zeigten deutlich, dass es schon seit Wochen dort gelegen hatte. Sie sagte: »Ich möchte, dass Sie alles, was Sie durcheinandergebracht haben, wieder aufräumen«, und der Polizist sagte: »Kein Problem, machen wir.« Sie richtete die Kamera auf ihn, denn einer wie er ließ sich bestimmt nicht gern filmen, und sagte: »Können Sie mir sagen, wie Sie heißen? Ich seh den Namen nicht. Und sagen Sie auch in die Kamera, was Sie hier suchen, weil, das hab ich nicht verstanden.« Er wollte schon gehen, aber die Polizistin durchsuchte noch die Küche, den Kühlschrank, den Tiefkühler, und dann auch die Schränke mit den Konserven, die Besteckschubladen. Wie zwei enttäuschte Einbrecher, die in ein Haus mit einem Tresor eingestiegen sind und feststellen müssen, dass er leer ist. Am Ende packten sie ein paar Handtücher und Kindersachen in einen Karton. Sie filmte noch immer, als sie ihr mitteilten, sie sei vorläufig festgenommen und sie müsse mit aufs Revier kommen. Und als Liora sagte: »Warum denn mitkommen? Erklären Sie mir erst mal, wieso!«, antwortete der Polizist: »Fürs Erste wegen Verletzung der Aufsichtspfl‌icht gegenüber einem minderjährigen Kind und Gefährdung schutzbefohlener Minderjähriger. Alles Weitere wird man Ihnen auf dem Revier sagen.« Und Liora sagte: »Aber die Mädchen schlafen doch bei meiner ältesten Tochter! Was denn, sind Sie nicht ganz bei Trost? Kommen Sie, wir rufen sie an. Was soll das denn, Verletzung der Aufsichtspfl‌icht?«

All das war Teil ihres Plans, den sie im Kopf hatte für den Fall, dass die Polizei trotz allem auf sie kam. Auch wenn sie nie geglaubt hätte, dass es so schnell geschehen würde.

Die Straße war leer und dunkel, als sie in den Streifenwagen stieg.

Die Nachbarn standen nicht am Fenster, obwohl alle das Klopfen und die Schreierei der Polizisten gehört haben mussten, aber das war nichts Ungewöhnliches im Viertel, und wer davon wach geworden war, hatte sich vielleicht einfach umgedreht und weitergeschlafen.

Sie wusste nicht, wie es der Polizei gelungen war, sie zu identifizieren – auch wenn sie so ihre Vermutungen hatte –, aber sie hatte keine Angst, auch nicht, als der Streifenwagen am Krankenhaus vorbeifuhr, zufällig oder vielleicht in der Absicht, sie in Panik zu versetzen. Die Beamtin fuhr, und der Polizist saß neben ihr auf dem Beifahrersitz, tippte mit einer Hand auf einem Tablet herum und hielt in der anderen ein halbaufgegessenes Thunfischsandwich fest, als drohte irgendjemand, es ihm wegzunehmen. Da die Scheiben des Streifenwagens abgedunkelt waren, sah Liora nicht, ob an der Kontrollschleuse am Eingang zum Einkaufszentrum vor dem Krankenhaus die Sicherheitsfrau saß oder der alte Wachmann und ob dort noch mehr Polizisten oder Streifenwagen waren.

Wenn du mich jetzt sehen würdest, dann würdest du mich gar nicht wiedererkennen, sagte sie insgeheim zu David. Könntest nicht glauben, dass ich mir keine Angst einjagen lasse.

Du bist bei mir und Gott auch, und diesmal weiß ich, was zu tun ist.

*

So war es gewesen von der Sekunde an, als der Arzt endlich aus der Wohnung war. Alles, was sie tat, war sorgfältig geplant.

Das Krankenhaus hatte sie sich vorher genau angeschaut. Es hatte zwei Eingänge – einen durch die Tiefgarage, wenn man mit dem Auto kam, und einen, wenn man zu Fuß war, durch das Einkaufszentrum. Liora begriff, dass es zu gefährlich für sie wäre, mit dem Auto zu kommen, da die Security-Leute an der Einfahrt zum Parkhaus die Fahrzeuge genau kontrollierten, und auch, weil sie beim Herausfahren auf keinen Fall aufgehalten werden wollte. Wenn ein Wagen aus irgendeinem Grund beim Verlassen des Parkhauses eine Panne hätte oder so, würde sie dahinter feststecken, sie musste aber den Krankenhauskomplex so schnell wie möglich wieder verlassen. Im Parkhaus gab es auch mehr Überwachungskameras, und sie spürte, da waren noch weitere Augen, die sie nicht sehen konnte. Am Eingang zum Einkaufszentrum dagegen hing nur eine einzige Kamera, neben der Taschenkontrolle, und wenn sie mit Kopfbedeckung käme oder ihr Gesicht im richtigen Augenblick wegdrehte, würde es unmöglich sein, sie zu erkennen. Und der alte Wachmann am Eingang zum Einkaufszentrum verlangte nie, dass man seine Taschen aufmachte, und das war am allerwichtigsten. Er fuhr bloß mit seinem Metalldetektor, der bestimmt noch nicht mal funktionierte, darüber, ohne auch nur hinzuschauen. Und selbst wenn er sie auf‌fordern sollte, ihre Tasche aufzumachen, bliebe noch Zeit, den Rückzug anzutreten, ihm zu sagen, sie hätte was vergessen und würde gleich wiederkommen.

Die Filiale des Café Roladin befand sich gleich am Eingang des Einkaufszentrums. Sie hatte einen Kaffee Hafuch bestellt und ein gerade frisch aus dem Backofen gekommenes Käseteilchen mit Rosinen und setzte sich so hin, dass sie den Kontrollposten und den Ausgang zur Straße im Blick hatte.

Jede Minute kam ein Bus an. Linie 140, Linie 26, Linie 12 und wieder ein 140er. Manchmal fuhren auch zwei oder drei auf einmal vor. Die Entfernung von ihrem Tisch im Café bis zur Haltstellte betrug vielleicht fünfzig Meter, und die könnte sie in dreißig oder vierzig Sekunden zurücklegen. Könnte in gut einer Minute in einem abfahrenden Bus sitzen, ohne dass irgendjemand die Tasche bemerkte, die sie unter dem Tisch zurücklassen würde. Und selbst wenn sie jemandem auf‌fiel und er ihr hinterherrufen sollte: »Hallo, die Dame, Sie haben hier Ihre Tasche vergessen«, könnte Liora immer noch kehrtmachen, sich bedanken und es ein andermal versuchen.

Erst hatte sie gedacht, der ideale Zeitpunkt wäre in den frühen Morgenstunden oder aber nachts, unmittelbar vor Fahrplanende, aber dann würden sich auch weniger Menschen im Einkaufszentrum aufhalten und die Busse seltener fahren. Besser, das Café brummte und beim Wachmann am Eingang war richtig Betrieb. Außerdem, war das nicht genau die richtige Art, Verbrechen in diesem Land zu begehen, am helllichten Tage und vor den Augen möglichst vieler Leute? Wer nachts in Wohnungen einbrach, wurde mitunter ja noch gefasst und bestraft, aber wer wirklich schwere Verbrechen beging, am helllichten Tag und am besten, wenn alle Welt dabei zusah, wurde nicht erwischt, nie. Und falls doch, hatte er Rechtsanwälte, die ihm halfen, ungeschoren davonzukommen.

Es war das erste Mal, dass sie das Polizeirevier in Cholon durch den Hintereingang betrat, vom Parkplatz aus. Und sie trug keine Handschellen, als der dicke Polizist mit ihr die Treppe zum zweiten Stock hochstieg. Er führte sie in einen kleinen Vernehmungsraum ohne Fenster, die Klimaanlage war nicht eingeschaltet, und sie spürte, wie ihr das T-Shirt an Brust und Hals klebte, aber das machte ihr nichts aus. Mehr als eine Stunde verging, ehe etwas geschah, doch sie hatte in ihrer Handtasche eine kleine Bibel, und das Lesen beruhigte sie, verlieh ihrem Körper ein Gewicht und eine Stabilität von innen.

Als die Kriminalbeamtin den Raum betrat, verhielt sie sich anfangs, als wäre Liora gar nicht dort. Sie ließ sich vor dem Computer nieder und fing an, etwas zu tippen, wobei ihr Gesicht zu nah am Bildschirm klebte. Erst als sie sich vorstellte und dabei gezwungen war, den Blick auf Liora zu richten, verstand diese, warum die Polizistin versucht hatte, ihre Augen zu verbergen. Sie hatte eine Sehschwäche oder schielte, ihr Blick fiel immer einige Zentimeter vor das, was sie anschauen wollte. Und ihre Augen waren gerötet und wässrig, wie von einem feuchten Häutchen überzogen.

Inspektorin Esthi Wahabe bat sie, ihren Namen anzugeben und die Nummer ihres Personalausweises, und sie nannte beides mit lauter Stimme, der man hoffentlich anhörte, dass sie keine Angst hatte. »Liora Talias. Und der Personalausweis ist 35655131.«

Eine Kamera nahm sie aus einer Ecke des Raumes auf.

»Geburtsdatum?«

»Der Dritte des Monats Tevet.«

Die Kriminalbeamtin blickte zu ihr auf, und Liora spürte, dass ihr die Sehbehinderung der Beamtin zusätzliche Sicherheit verlieh. »Was ist das nach westlichem Kalender?«, fragte die Polizistin, und Liora sagte: »Warum, ist der hebräische nicht gut genug?«, fügte dann aber hinzu: »23. Dezember 1979.« Als sie nach ihrer Adresse gefragt wurde, antwortete sie: »Sie kennen doch meine Adresse. Sie haben ja die beiden Clowns losgeschickt, um mich aus meiner Wohnung zu holen, oder etwa nicht? War wohl sehr wichtig, dass sie morgens um fünf an die Tür bollern und rumschreien, als wären wir Schwerverbrecher. Und was haben sie gefunden? Gar nichts.«

Die Ermittlerin schaute Liora so unverwandt an, wie sie nur konnte. »Ihre Wohnadresse?«, fragte sie, und Liora antwortete: »Hagiborim 2, Bat Yam.«

»Vielen Dank. Ich beginne mit der Vernehmung. Zu Ihrer Information, diese wird in Bild und Ton aufgezeichnet. Es ist jetzt 8:40 Uhr, Dienstagmorgen, der 26. August. Dies ist eine Vernehmung unter Anfangsverdacht. Können Sie mir erklären, warum Sie das Baby ausgesetzt haben?«

Liora antwortete umgehend: »Ich hab überhaupt kein Baby ausgesetzt. Ich weiß echt nicht, was Sie von mir wollen.«

»Am gestrigen Montag, dem 25. August, haben Sie in einer schwarzen Tasche ein Baby im Wolfson-Krankenhaus zurückgelassen. Genau genommen nicht im Krankenhaus selbst, sondern im Einkaufszentrum davor. Sie haben die Ladenpassage mit einer schwarzen Tasche betreten und ohne die Tasche wieder verlassen.«

Für einen kurzen Augenblick war sie wieder dort, vor dem Eingang zum Einkaufszentrum.

Schon von weitem hatte sie gesehen, dass der alte Wachmann nicht da war und an seiner Stelle ausgerechnet eine junge Sicherheitsfrau Dienst tat, die sich die Taschen aufmachen ließ. Sie hatte ein, zwei Sekunden gezögert, mehr nicht. Die Securitymitarbeiterin verlangte nicht von allen, ihre Taschen zu öffnen, und griff auch nicht mit der Hand hinein. Sie schaute nur flüchtig in die Gepäckstücke und fuhr mit dem Metalldetektor außen entlang. Liora sagte zu der Polizistin: »Ich hab keine Ahnung, wovon Sie reden. Woher sollte ich denn ein Baby haben, um es irgendwo abzustellen, he? Und wenn, warum sollte ich’s in eine Tasche stecken?«

»Ich glaube, Sie haben ein Baby. Und dass Sie es dort abgestellt haben.«

»Dann irren Sie sich halt.«

Plötzlich wurde Liora klar: Die Stunde, die sie allein im Vernehmungsraum verbracht hatte, hatte ihr, anstatt sie unter Druck zu setzen, geholfen. Sie hatte sich an das Zimmer gewöhnt und daran, sich darin zu befinden. Die früheren Gespräche, die sie in Vernehmungsräumen geführt hatte, vielleicht sogar genau in diesem hier, gaben ihr zusätzliche Kraft. Gebe Gott, du könntest mich jetzt sehen, sagte sie unhörbar zu David.

»Es gibt Aufnahmen von der Überwachungskamera im Einkaufszentrum, die Sie mit der Tasche, in der sich das Baby befindet, beim Betreten der Ladenpassage zeigen und beim Verlassen ohne Tasche. Man sieht zweifelsfrei die Tasche und man sieht, dass Sie sie in der Hand halten. Ich sage nicht, dass es vorsätzlich war. Möglich, dass Sie sie versehentlich vergessen haben. Vielleicht haben Sie das Baby ja dort vergessen, haben es erst ein paar Stunden später bemerkt und sind dann in Panik geraten. Kann es sein, dass es das ist, was passiert ist?«

Liora lächelte, und der Blick der Ermittlerin geriet erneut zu kurz. Das war die Phase, in der die andere annahm, Liora wäre beschränkt und würde gleich bei der ersten Lüge gestehen. Liora sagte: »Meinen Sie, wenn Sie mir sagen, ich hätt’s versehentlich vergessen, würd ich Ihnen sagen, es gehört mir?« Und als die Polizistin fragte: »Wollen Sie die Kleine mal sehen? Vielleicht hilft Ihnen das ja, sich zu erinnern?«, blaff‌te sie zurück: »Sagen Sie mal, sind Sie noch ganz dicht? Denken Sie, bloß weil Sie mir irgend ’n Baby zeigen, sag ich Ihnen, ich hätt’s ausgesetzt? Sie lassen die Wohnung einer stinknormalen Familie von zwei Polizisten stürmen, morgens um fünf, mit Durchsuchungsbeschluss und Haftbefehl wegen eines Babys, das es nicht gibt, und jetzt wollen Sie, dass ich mitkomm und es mir anschaue? Ich kapier’s nicht, spielen Sie mir hier was vor, oder ist das in echt?« Ihr schien, die Polizistin sei erschrocken, vielleicht weniger wegen ihrer Worte als wegen des Tons. Und jetzt wusste sie zumindest, das Baby lebte. Nicht, dass sie Zweifel gehabt hatte – sie war davon ausgegangen, dass der Säugling innerhalb weniger Minuten gefunden und sofort versorgt werden würde. Trotzdem, in den Meldungen im Internet über das Baby, das am Eingang des Wolfson gefunden worden war, stand nichts über seinen Zustand, und jetzt wusste sie, sie hatte recht gehabt und die Kleine würde durchkommen.

Die Polizistin gab nicht auf, aber je mehr Zeit verging, desto sicherer fühlte Liora sich ihrer selbst und ihrer Kräfte und ließ sich auch nicht beirren, als die andere anfing, sie herunterzumachen.

»Der Ton, in dem Sie mit mir reden, macht mir keine Angst«, sagte die Kriminalerin zu Liora. »Ich habe in diesem Raum schon Menschen gegenübergesessen, die waren ein bisschen furchterregender als Sie. Ich schlage daher vor, Sie wechseln mal die Platte und begreifen, ich kann Ihnen helfen. Und noch möchte ich Ihnen gerne helfen, aber kann sein, dass das nicht mehr allzu lange der Fall ist. Wir wissen, dass Sie das Baby dort ausgesetzt haben, nicht nur wegen der Kamera am Eingang und wegen der Tasche. Glauben Sie mir, ich würde hier nicht vor Ihnen sitzen und behaupten, das ist Ihr Baby, wenn ich nur etwas auf der Überwachungskamera gesehen hätte. Noch gibt es ein Zeitfenster, und Sie haben die Chance zu sagen: ›Ich hab einen Fehler gemacht, hatte nach der Geburt Depressionen.‹ Was weiß ich. ›Doch jetzt hab ich mich wieder gefangen, geben Sie mir bitte mein Baby zurück und gut ist.‹ Das wird nicht einfach werden, es wird eine Untersuchung vom Jugendamt geben, und die Anzeige wegen Kindeswohlgefährdung lässt sich auch nicht so leicht aus der Welt schaffen, aber vielleicht bleibt es dabei. Das hängt vom Zustand des Säuglings ab. Doch wenn Sie weiter so mit mir reden wie eben, kriegen Sie richtig Scherereien.«

Siehst du, wie blind sie ist, David? Wie sie an die Geschichten glaubt, die sie sich selbst erzählt?

Sie gab der Polizistin zu verstehen, dass sie nicht mehr antworten würde, dennoch unternahm Inspektorin Esthi Wahabe einen letzten Versuch.

»Liora, hören Sie mir einen Moment zu. Ich bin nicht gegen Sie. Ich kann mir denken, dass Sie das nicht aus Bosheit getan haben. Sie sind morgens aufgewacht, hatten vielleicht überhaupt nicht geschlafen, das Baby hat geschrien und geschrien, hat vielleicht gespuckt und nichts essen wollen, und da hatten Sie plötzlich keine Kraft mehr. Oder haben Panik gekriegt, weil Sie gedacht haben, die Kleine ist krank und dass Sie sich nicht richtig um sie gekümmert haben. Und niemand hat Ihnen geholfen. Das kann jeder Mutter mal passieren und dafür wird man Sie nicht verurteilen.«

Liora sah, wie das Lächeln, das auf ihr Gesicht trat, sich im frustrierten Blick der Polizistin spiegelte.

»Dürf‌te ich erfahren, wer der Rechtsanwalt ist, mit dem Sie sich beraten haben, bevor Sie hergekommen sind?«, fragte Wahabe.

»Avi Edri.«

»Und dieser Avi Edri hat Ihnen geraten, alles abzustreiten?«

»Avi Edri hat mir überhaupt nichts geraten. Ich brauch keine Beratung. Wer die Wahrheit sagt, braucht keinen Rechtsanwalt. Nur die, die lügen.«

»Weiß Ihr Mann Bescheid? Oder haben Sie deshalb das Baby dort ausgesetzt? Damit er nichts mitbekommt?«

Das war die einzige Frage der Polizistin, die sie überraschte, und ihre Antwort platzte aufgebracht und ungeplant aus ihr heraus. »Wenn Sie Ihre Arbeit gemacht hätten, wüssten Sie, mein Mann David ist gestorben. Nein, nicht gestorben, Verzeihung. Ermordet worden ist er. Haben Sie überhaupt keinen Schimmer, wen Sie hier zur Vernehmung herbringen lassen? Also, sagen Sie mir jetzt doch mal, wo sollte ich denn ein Baby herhaben?«

Die Ermittlerin erhob sich von ihrem Stuhl. Als Liora sagte: »Ich will jetzt gehen. Ich muss zur Arbeit«, erwiderte die andere: »Ich werde klären, was weiter passiert, und Ihnen dann Bescheid sagen. Bis dahin bleiben Sie hier. Möchten Sie, dass ich Avi Edri etwas ausrichte?«

*

Ausgerechnet nachdem die Polizeibeamtin den Raum verlassen hatte, spürte Liora zum ersten Mal an diesem Tag, dass noch immer etwas von der Angst in ihr war, die sie nicht ganz losgeworden war. Vielleicht, weil die Konfrontation mit der Ermittlerin all ihre Kraft in Anspruch genommen hatte, oder vielleicht, weil sie jedes Mal, wenn sie den Mord an David erwähnte, Schwäche befiel. Sie dachte an das Baby, an den Blödsinn, den die Polizistin über die Kleine gesagt hatte. Sie hatte nicht geschrien, hatte nicht gespuckt, sondern im Gegenteil gut getrunken. Und trotz allem, was sie durchgemacht hatte, war ihr Schlaf friedlicher gewesen als bei allen anderen Neugeborenen, denn Gott wollte offenbar, dass sie lebte.

Sie holte die Bibel hervor und las erneut die Verse, die sie bestärkt hatten, von dem Augenblick an, da sie begriffen hatte, was sie tun musste.