Vertrauensübung - Susan Choi - E-Book

Vertrauensübung E-Book

Susan Choi

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Beschreibung

Freundschaft, Liebe, Sex und Macht: »Vertrauensübung« ist ein intensiver Roman, der mutmaßliche Wahrheiten erdrutschartig mit sich reißt Sarah und David gehören zu den Auserwählten, die an der Elite-Schauspielschule CAPA aufgenommen werden. Sarah stammt aus einfachen Verhältnissen, David aus reichem Elternhaus. Wie ihre Mitschüler:innen konkurrieren sie um die Sympathien ihres Lehrers Mr Kingsley, dem eigentlichen Star der Schule. Kingsley ist ein Charismatiker, der jeden Raum zum Leuchten bringt und dann durchschneidet wie eine Messerklinge. Selbst die Eltern haben keinen Einfluss darauf, was innerhalb der Schulmauern geschieht. Als Sarah und David ihren Unterschieden zum Trotz eine Beziehung anfangen, ziehen sie alle Aufmerksamkeit auf sich – und setzen damit eine Dynamik in Gang, die der Welt außerhalb der Schule über Jahre Rätsel aufgibt. Bis zwei Außenseiterinnen sich Gehör verschaffen und unseren Blick auf das, was damals geschah, auf Intimität und Inszenierung, Fakt und Fiktion, Geltung und Gewalt radikal verändern.

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Seitenzahl: 468

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Susan Choi

Vertrauensübung

Roman

Aus dem Amerikanischen von Tanja Handels und Katharina Martl

Autofahren können sie beide nicht. David wird nächsten März sechzehn, Sarah nächsten April. Jetzt ist Anfang Juli und weder sie noch er auch nur in Sichtweite der Sechzehn oder eines Autoschlüssels. Vom Sommer sind noch acht Wochen übrig, eine schier endlose Spanne, auch wenn sie intuitiv spüren, dass es gar nicht so lang ist und sehr schnell vorbeigehen wird. Ihre Intuition ist immer hochgradig aufgereizt, wenn sie zusammen sind. Sie sagt ihnen aber nur, was sie wollen, nicht, wie sie es erreichen können, und das ist unerträglich.

Ihr Verhältnis hat erst diesen Sommer ernsthaft angefangen, aber der Vorlauf nahm das ganze zurückliegende Schuljahr in Anspruch. Den zurückliegenden Herbst und Frühling haben sie ausschließlich in Bezug aufeinander verbracht und wurden von allen anderen stillschweigend als Duo betrachtet. Diese angespannten, sogar gefährlichen Energieströme zwischen ihnen, kaum kommentiert, aber allseits empfunden. Wann es damit angefangen hatte, ließ sich weniger leicht sagen. Sie hatten beide schon Erfahrung – weder sie noch er war Jungfrau –, was das, was sich da vollzog, vielleicht ebenso beschleunigte wie bremste. Im Herbst waren beide mit Freund beziehungsweise Freundin, die auf eine andere, normalere Schule gingen, ins erste Jahr gestartet. Ihre Schule war eine besondere, mit dem Ziel, in bewusster Selektion die Talentiertesten aus den öffentlichen Bildungseinrichtungen der ganzen Stadt und in den trostlosen Orten außerhalb abzuschöpfen. Zehn Jahre zuvor noch ein gewagtes Experiment, war sie inzwischen eine Eliteanstalt und kürzlich in einen kostspieligen, »professionell« und »auf Weltklasseniveau« ausgestatteten Neubau umgezogen. Diese Schule sollte absondern, Bande kappen, die auch besser gekappt und auf die Kindheit beschränkt gehörten. Sarah und David nahmen das als genau die Art von schmerzlichem Ritual hin, die ihr Ausnahmeleben ihnen abverlangte. Überschütteten den verkümmernden Freund, die verkümmernde Freundin vielleicht sogar mit besonderer Zärtlichkeit, während sie sich von ihnen lösten. Die Schule trug den Namen »Citywide Academy for the Performing Arts«, aber sie und alle anderen Schülerinnen und Schüler sowie die Lehrkräfte sprachen, reichlich hochtrabend, immer nur von der CAPA.

An der CAPA hatten die Neuzugänge mit Schwerpunkt Bühne im ersten Schuljahr Fächer wie BÜHNENKUNDE, SHAKESPEARE, VOM-BLATT-SINGEN und, im Rahmen des Schauspielunterrichts, VERTRAUENSÜBUNGEN, lauter Begriffe, die sie ausschließlich in Blockschrift zu schreiben lernten, wie es ihrem künstlerischen Wert entsprach. VERTRAUENSÜBUNGEN gab es in scheinbar endlosen Variationen. Bei manchen wurde viel geredet, sie erinnerten eher an Gruppentherapie. Andere erforderten Schweigen, Augenverbinden, sich rückwärts von Tischen oder Leitern in ein Gewirk aus Mitschülerarmen fallen lassen. Fast täglich lagen sie auf dem kalten Linoleumboden, in einer Haltung, die Sarah sehr viel später im Leben unter der Bezeichnung Totenstellung im Yoga wiederfinden sollte. Ihr Lehrer, Mr Kingsley, schlich dann katzenhaft in seinen spitz zulaufenden, weichen Lederslippern zwischen ihnen umher und deklamierte ein Mantra zur Muskelentspannung. Geht mit eurer Aufmerksamkeit zu euren Schienbeinen, lasst die Aufmerksamkeit hineinfließen und sie langsam ausfüllen, vom Knöchel bis zum Knie. Eure Schienbeine werden weich und schwer. Und während ihr jede einzelne Zelle spürt, sie mit eurer geschärften Aufmerksamkeit umschließt, lasst ihr sie los. Lasst sie los. Lasst los. Sarah hatte sich den Zugang zur Schule mit einem Monolog aus dem Carson-McCullers-Stück Mit von der Partie verdient. David, der schon im Schauspiel-Sommerlager gewesen war, hatte Willy Loman aus Tod eines Handlungsreisenden gegeben. Am ersten Schultag schnitt Mr Kingsley wie eine Messerklinge in den Raum – er bewegte sich auf geräuschlose, hinterhältige Weise –, und als sie alle schwiegen, also praktisch sofort, warf er einen Blick auf sie, den Sarah noch immer nicht aus dem Kopf bekam. Ihr seht ja nach gar nichts aus, fuhr dieser Blick auf sie herab wie eisiger Wassernebel. Um dann provokant zu ergänzen: … oder täusche ich mich? BÜHNE, hatte Mr Kingsley in großen, vernichtenden Kreidelettern an die Tafel geschrieben. »So sagt man«, erklärte er. »Wenn ihr jemals ›Theater‹ schreibt, seid ihr durchgefallen.« Tatsächlich waren das die ersten Worte, die er an sie richtete, nicht das höhnische »Ihr seht ja nach gar nichts aus«, das Sarah sich eingebildet hatte.

Sarahs Markenzeichen war eine bestimmte Jeans. Obwohl sie die Hose in der Mall gekauft hatte, sollte sie nie jemand anders damit sehen; sie gehörte spezifisch zu ihr, sehr eng und aufwändig bestickt. Die Stickerei zog sich in Wirbeln und Mustern vom Po abwärts, vorn und hinten über die Oberschenkel. Sonst hatte niemand auch nur eine Jeans mit besonderer Waschung; die Mädchen trugen alle klassische 501 von Levi’s oder Leggings, die Jungs die gleichen Levi’s 501 oder, zumindest eine Zeit lang, Ballonseidehosen im Michael-Jackson-Stil. Einmal, im Spätherbst vielleicht – David und Sarah waren sich da nie ganz sicher, sie sprachen erst im Sommer darüber –, machte Mr Kingsley während VERTRAUENSÜBUNGEN im fensterlosen Probenraum das Licht aus und stürzte sie in ein verschlossenes, lichtloses Verlies. Am einen Ende des rechteckigen Raums befand sich eine erhöhte Bühne, vom Boden aus rund achtzig Zentimeter hoch. Sobald das Licht gelöscht war, hörten sie in der völligen Stille, wie Mr Kingsley an der Wand entlangstrich und schließlich auf die Bühne trat, deren Rand sie in etwa ausmachen konnten, weil dort in Abständen Schnipsel von Leuchtklebeband angebracht waren und wie ein schwächliches Sternbild schimmerten. Auch als sich ihre Augen längst umgewöhnt hatten, blieb das alles, was sie sahen: eine Dunkelheit wie im Mutterleib oder im Grab. Von der Bühne ertönte seine strenge, leise Stimme, die sie von aller vorangegangenen Zeit löste. Ihnen alles Wissen nahm. Sie waren blinde Neugeborene, mussten sich ins Dunkel wagen und sehen, was sie dort finden würden.

Also Krabbeln auf allen vieren, weil das die Verletzungsgefahr gering und sie auch von der Bühne fernhalten würde, wo er saß und lauschte. Auch sie lauschten aufmerksam, als sie sich, ebenso gehemmt wie enthemmt von der Dunkelheit, der Tarnung, die sie bot, ans Wagen wagten. Eine hörbare Unruhe aus Scharren und Rascheln, die sich immer weiter ausbreitete. Der Raum war nicht groß; sofort trafen Körper aufeinander und schraken zurück. Das hörte Mr Kingsley oder vermutete es. »Ist da noch ein anderes Geschöpf mit mir im Dunkeln?«, flüsterte er, als Bauchredner ihrer Beklommenheit. »Was hat es – und was habe ich? Vier Gliedmaßen, die mich vorwärts- und zurücktragen. Haut, die Wärme und Kälte spürt. Raues und Glattes. Was ist es. Was bin ich. Was sind wir.«

Zum Krabbeln kam jetzt: Berühren. Nicht nur hingenommen, sondern erwünscht. Vielleicht sogar verlangt.

David staunte, wie viel er allein über den Geruch erkennen konnte, eine Sinneswahrnehmung, an die er sonst keinen Gedanken verschwendete; jetzt drängten die Informationen nur so auf ihn ein. Wie ein Bluthund oder ein Fährtenleser taxierte er und mied. Die anderen fünf Jungs, vor allem William, oberflächlich betrachtet sein offensichtlichster Rivale, der aber gar kein Rivale war. William verströmte Deogeruch, maskulin und künstlich, wie von einer Überdosis Waschmittel. Er war attraktiv, blond, schlank, anmutig, er konnte tanzen, beherrschte eine Art Erbwissen konventioneller Galanterie, wie man einem Mädchen in den Mantel half zum Beispiel oder aus dem Auto, wie man ihr die Tür aufhielt, und konnte das sicher nicht von seiner strengen, verrückten Mutter gelernt haben, weil sie mit ihren zwei Vollzeitstellen zwanzig Stunden am Stück außer Haus war, und war sie doch mal da, schloss sie sich in ihrem Zimmer ein und weigerte sich, ihren Kindern, William und seinen beiden Schwestern, beim Essenmachen oder dem Haushalt zu helfen, geschweige denn bei diffizileren Dingen wie Hausaufgaben; so etwas erfuhr man über seine ebenfalls vierzehnjährigen Mitschülerinnen und Mitschüler innerhalb weniger Wochen, wenn man mit Schwerpunkt Bühne an der CAPA war. William war der große Schwarm der gläubigen Julietta, der dicken Pammie und auch von Taniqua, die ebenfalls tanzen konnte, und ihrem Gefolge, Chantal und Angie, die vor Begeisterung kreischten, wenn William Taniqua herumschwenkte und hintenüberneigte, sie wie einen Kreisel durch den Raum wirbelte. William seinerseits ließ keinerlei Sehnsüchte erkennen, er wollte nichts als Tango mit Taniqua; seine Energie war so frei von sexueller Hitze wie sein Schweiß von Geruch. David umschiffte William, streifte nicht mal seine Fersen. Als Nächstes kam Norbert: der fettige Geruch seiner Pickel. Colin: Kopfhautgeruch, der von seinen lächerlichen Clownslocken aufstieg. Ellery, bei dem sich Fett- und Kopfhautgeruch zu etwas Erträglicherem, fast schon Anziehendem vereinten. Und schließlich Manuel, laut Jahrbuch-Steckbrief »hispanischer« Herkunft, von der es an der CAPA sonst praktisch niemand gab, trotz offenbar gewaltigem Prozentsatz in der städtischen Bevölkerung. Vielleicht war das auch die Erklärung für Manuels Anwesenheit, vielleicht war er eine Art Alibi, das die Schule für ihre Zuschüsse brauchte. Steif, still, ohne erkennbares Talent, aber mit einem schweren Akzent, der ihn sichtlich befangen machte. Ohne Freunde, selbst in diesem Treibhaus aus vielfach entlockten, bereitwillig gewährten Vertraulichkeiten. Manuels Geruch: der staubdurchwirkte, ungewaschene Mief seiner mit künstlichem Schaffell gefütterten Cordjacke.

David war jetzt in Bewegung, er krabbelte rasch, geschickt, ohne auf das ganze Scharren und Schieben und Aufkeuchen zu achten. Ein Knäuel aus Flüstern und duftenden Haarpflegeprodukten: Chantal, Taniqua und Angie. Als er vorbeikrabbelte, fasste ihm eine von ihnen an den Hintern, aber er hielt nicht an.

Sarah war praktisch auf Anhieb klar geworden, dass ihre Jeans sie markierte wie eine Botschaft in Brailleschrift. Ähnlich unverkennbar war nur Chantal. Sie trug ausnahmslos jeden Tag eine schenkellange Wolljacke in einer auffälligen Farbe wie Scharlachrot, Fuchsia oder Petrol, dazu einen eng gezogenen Taillengürtel mit doppelter Ringschnalle und punkigen Nieten. Verschiedene Jacken, immer derselbe Gürtel oder womöglich auch mehrere identische. Kaum war das Licht ausgegangen, da war schon jemand neben Sarah gerutscht, hatte hastig tastend nach ihren Brüsten gegrapscht und fest zugedrückt, als hoffte er, Saft herauszupressen. Norbert, da war sie sich sicher. Er hatte in ihrer Nähe gesessen, als das Licht noch an war, und sie angestarrt, wie meistens. Sie hatte sich nach hinten gelehnt, sich mit den Handballen auf dem Boden abgestützt und ihn mit beiden Beinen weggeschubst, ein Jammer, dass sie nur ihre weißen Ballerinas anhatte, die inzwischen reichlich schmuddelig und grau aussahen, und nicht die spitzen Stiefel mit den drei Schnallen und den metallgespickten Absätzen, die sie sich neulich von ihrem Verdienst aus der Bäckerei Esprit de Paris gekauft hatte, wo sie wochenends jobbte, beide Frühschichten hatte sie übernommen, musste also die ganze Woche über vor sechs Uhr aufstehen, obwohl sie oft nicht vor zwei ins Bett kam. Der Busengrapscher, wer immer es gewesen war, taumelte stumm zurück ins Dunkel, nicht mal ein Keuchen ließ er hören, und seither rutschte sie auf Handballen und Füßen herum, im Krebsgang, den Hintern am Boden, die Schenkel geschlossen. Vielleicht war es auch Colin gewesen oder Manuel. Manuel, der sie nie anstarrte, der niemandem in die Augen sah, bei dem sie nicht mal sicher wusste, ob sie seine Stimme je gehört hatte. Vielleicht war er ja voll aufgestauter Lust und Gewaltbereitschaft. »... lauter Schemen da im Dunkeln. Der hier ist kalt, mit harten Kanten, wenn ich mit den Händen danach fasse, reagiert er nicht. Der da ist warm und so komisch rundlich: Wenn ich mit den Händen danach fasse, bewegt er sich …« Mr Kingsleys Stimme, die sich durchs Dunkel ringelte, war dazu gedacht, sie zu öffnen, alles war dazu gedacht, sie zu öffnen, aber Sarah hatte zugemacht und sich Stachelschweinstacheln wachsen lassen, sie war eine Versagerin, ihr letzter SHAKESPEARE-Monolog war grauenhaft gewesen, sie steif am ganzen Körper, voller zwanghafter Tics.

Vor allem hatte sie Angst, auf Julietta oder Pammie zu stoßen, beide so ernsthaft und unbefangen, wie Kinder. Die würden bestimmt gleich alles freudig streicheln, worauf ihre Hände stießen.

Dann war sie gefunden. Eine Hand umfasste ihr linkes Knie, fuhr flach über die Vorderseite ihres Oberschenkels, die vorstehenden Stickereiwirbel. Sie spürte die Wärme durch ihre Jeans. Und einfach so fand sich eine Höhlung tief in ihrem Magen ein, tat sich geräuschlos eine Falltür auf, als hätte Mr Kingsleys Stimme wie ein hartnäckiger Wind vergeblich an dem Schloss gerüttelt, das diese Hand jetzt sprengte.

Die eine Hand verharrte auf Sarahs Oberschenkel, zugleich griff eine zweite nach ihrer rechten Hand und hob sie hoch, legte die ganze Hand an ein sanft rasiertes Gesicht. Nahm Sarahs Daumen, schlaff und hilflos, rückte ihn zurecht und drückte dagegen, wie um einen Daumenabdruck zu hinterlassen. Unter der Kuppe spürte sie eine leichte Wölbung, wie die Quaddel eines Mückenstichs. Davids Muttermal, ein flacher, schokoladenbrauner Fleck vom Durchmesser des Radiergummis unten an Bleistiften, auf seiner linken Wange, unweit der Küstenlinie seines Munds.

Zu diesem Zeitpunkt ihrer flüchtigen Bekanntschaft hatten sie noch nicht über Davids Muttermal gesprochen. Welche Vierzehnjährigen sprechen auch über Muttermale, registrieren sie überhaupt? Aber Sarah hatte es wortlos wahrgenommen. Und David wusste wortlos davon. Es war seine Markierung, seine Brailleschrift. Ihre Hand lag jetzt nicht mehr passiv an seinem Gesicht, sondern trug es, als wollte sie es auf dem Hals im Gleichgewicht halten. Mit dem Daumen fuhr sie über seine Lippen, ähnlich charakteristisch in ihrer Form wie das Muttermal. Es waren volle Lippen, aber keine femininen, sie erinnerten eher an einen Affen. Ein bisschen wie bei Mick Jagger. Seine Augen waren zwar klein, aber tief und ähnelten blauen Achaten. Auch sie hatten etwas von einem intelligenten wilden Tier. Nach üblichen Maßstäben war er kein bisschen attraktiv, aber das hatte er auch gar nicht nötig.

David nahm ihren Daumen in den Mund, umzüngelte ihn sanft, ohne ihn zu besabbern, und entließ ihn dann mit einem Kuss, bis er wieder auf seinen Lippen lag. Der Daumen fuhr den Spalt seines Munds nach, als wollte er ihn vermessen.

Mr Kingsleys Stimme musste wohl fortgefahren sein, weiter ihre Weisungen entfaltet haben, aber sie hörten sie nicht mehr.

Noch nie hatte David einen Kuss so hinausgezögert. Er fühlte sich wie aufgespießt vom Verlangen, als könnte er einfach so hängen bleiben, auf dem Schmerz dahintreiben. Seine Hände flossen zeitgleich in die Höhe und schlossen sich um ihre Brüste. Sie zitterte und drückte sich an ihn, und er löste die Hände eine Winzigkeit, sodass seine Handflächen ihre Brustwarzen, die sich durch den dünnen Baumwollstoff ihres T-Shirts drängten, allenfalls streiften. Falls sie einen BH trug, konnte es nur ein Hauch von einem sein, ein seidenes Tüchlein rund um ihren Brustkorb. In seiner Vorstellung regneten ihre Brustwarzen wie glitzernde Edelsteine herab, Diamanten und Quarze und diese aufgeschichteten, steinernen Kristallstrukturen, die man am Faden im Becher züchten konnte. Ihre Brüste waren idealtypisch klein, sie passten exakt in seine Hand. Er wog sie, vermaß sie, bestaunte sie, streifte sie, mit den Handflächen oder mit den Fingerspitzen, immer wieder auf dieselbe Weise. Mit seiner jetzt abgelegten Freundin von der alten Schule hatte er »das Schema« entwickelt, in dem er seither festsaß: als Erstes Zungenküsse über einen festgelegten Zeitraum, dann Brüste über einen festgelegten Zeitraum, Fummeln über einen festgelegten Zeitraum und schließlich, zum Abschluss, Vögeln. Nie wurde ein Schritt ausgelassen oder etwas an der Reihenfolge verändert. Ein Sexrezept. Jetzt stellte er erschüttert fest, dass es so nicht sein musste.

Knie an Knie hockten sie da, seine Hände hielten ihre Brüste, ihre Hände umschlossen zu beiden Seiten seinen Kopf, ihr Gesicht drängte sich an seine Schulter, der Stoff seines Polohemds wurde an der Stelle heiß und feucht von ihrem Atem. Er drehte das Gesicht hinein in ihr schweres Haar, suhlte sich in ihrem Geruch, jubelte stumm darüber. Wie er sie gefunden hatte. Es ließ sich mit keinem Wort beschreiben, bis auf: erkennen. Irgendeine chemische Verbindung ließ sie für ihn sein, ihn für sie; das Leben hatte sie noch nicht so versaut, dass ihnen das nicht klar gewesen wäre.

»Bewegt euch jetzt allmählich hin zur Wand und bleibt dort sitzen. Hände und Arme entspannt neben euch. Die Augen lasst ihr bitte geschlossen. Ich werde das Licht Stück für Stück wieder einschalten, um den Übergang zu erleichtern.«

Lange bevor Mr Kingsley mit seiner Ansprache fertig war, hatte Sarah sich schon gelöst, krabbelte weg wie auf der Flucht vor einem Feuer, bis sie an eine Wand stieß. Zog die Knie an die Brust, drückte sich das Gesicht an den Knien platt.

David hatte ein Brennen im Mund und fühlte sich wie im Würgegriff seiner Unterhose. Seine Hände, gerade noch so außerordentlich empfindsam, waren klobig, als steckten sie in Boxhandschuhen. Immer wieder strich er sich mit der flachen Hand die kurzen, immer gleichen Haare aus der Stirn.

Als das Licht anging, starrten beide stur nach vorn in die leere Raummitte.

Das entscheidende erste Jahr des Lernens ging weiter für sie. In Klassenzimmern mit Pulten saßen sie an unterschiedlichen. In Klassenzimmern mit Stuhlreihen saßen sie nie in derselben. Zwischendurch, auf dem Flur, in der Schulkantine oder auf den Bänken beim Rauchen, schlossen sie sich unterschiedlichen Gesprächskernen an, manchmal mit nur wenigen Zentimetern zwischen sich, aber voneinander abgewandt. Nur in den Übergangsmomenten, wenn alles in Bewegung kam, brannte Davids Blick ein Loch in die Luft, und der von Sarah schnellte vor und wieder weg, wie eine Peitsche. Auffällig wie Leuchttürme waren sie, ohne es auch nur zu ahnen. Im Ruhezustand, selbst wenn beide bloß geradeaus schauten, war der Draht zwischen ihnen gespannt, und ihre Mitschülerinnen und Mitschüler machten Umwege, um nicht darüber zu stolpern.

Sie brauchten Abstand, um neue Dunkelheit daraus zu schöpfen. Am Ende des Schuljahrs blieb David, mit rastlos wippendem Knie, in die hinterste Ecke gerichtetem Blick und wie wild knackenden Fingergelenken, neben Sarah stehen und bat sie heiser um ihre Adresse. Er fahre mit seinen Eltern nach England. Wolle ihr eine Postkarte schicken. Sie schrieb die Adresse rasch auf, reichte sie ihm, und er machte auf dem Absatz kehrt.

Eine Woche später fing es mit den Postkarten an. Vorn drauf nichts Besonderes: die London Bridge, die humorlosen Wachposten vor dem Buckingham Palace, ein pittoresker Punker mit meterhohem Iro. Im Gegensatz zu David, der mit seinen Eltern regelmäßig reiste, an Orte wie Australien, Mexiko oder Paris, war Sarah noch nie im Ausland gewesen, aber sogar sie erkannte diese Postkarten als Massenware, wahllos aus dem Drehständer eines Souvenirladens gefischt. Mit den Rückseiten sah es anders aus, sie waren dicht beschrieben von Rand zu Rand, Adresse und Briefmarke passten kaum noch zwischen die Zeilen. Sarah war dem Briefträger dankbar, dass er sie immer weiter zustellte; wahrscheinlich entzifferte er sie genauso mühsam, wenn auch mit anderen Empfindungen, wie sie. Mindestens eine Postkarte pro Tag, manchmal mehrere, die sie aus dem Briefkasten fischte, sobald der Briefträger da gewesen war, die Rechnungen und Rabattmarken ließ sie drin, bis ihre Mutter von der Arbeit nach Hause kam. Davids Handschrift war extravagant, fast feminin, mit großen Kringeln und weit ausholenden Schnörkeln, dabei aber sehr ordentlich, alle Buchstaben im identischen Neigungswinkel, jedes t und jedes l genau gleich hoch. Ihr Inhalt entsprach weitgehend der Form: berstend vor Beobachtungen und trotzdem geschickt bemessen. Jede Karte eine kleine Vignette. Und ganz unten, in der rechten Ecke, noch neben ihre Postleitzahl gequetscht, das eine oder andere zaghafte Kosewort, das ihr alle Luft aus der Lunge presste.

Die weitläufige Stadt im Süden, in der sie lebten, war reich an Land und arm an allem anderen – keine größeren Gewässer, kein Stausee, keine Berge, überhaupt keinerlei topografische Abwechslung, kein öffentlicher Nahverkehr und noch nicht mal das Bewusstsein, dass er fehlen könnte. Wie Weinreben ohne Spaliergitter wucherte die Stadt spärlich und sinnwidrig, und allgemeine Unorganisiertheit war das einzig verbindende Element. Freundliche Stadtviertel mit Lebenseichen und stämmigen Backsteinbauten, wie das, in dem David wohnte, lagen dicht an dicht mit Schotterwüsten, Bürogebäuden der US Postal Services, die an Armeestützpunkte, oder Abfüllanlagen von Coca-Cola, die an Klärwerke erinnerten. Und die geschmacklosen, labyrinthischen Wohnsiedlungen aus vielen hundert dreistöckigen steinernen Schuhschachteln rund um zahllose algenverseuchte, in den Boden eingelassene Swimmingpools, so wie die, in der Sarah wohnte, verliefen sich am östlichsten Ende vielleicht in einen breiten, von zerzausten Palmen gesäumten Boulevard, der auf der anderen Straßenseite den Zugang zum renommiertesten jüdischen Club der Stadt streifte. Nach der Rückkehr der Familie aus London war Davids Mutter freudig überrascht, dass er sich plötzlich dafür interessierte, im Jewish Community Center Racquetball zu spielen und schwimmen zu gehen, wofür er, seit er auf die CAPA ging, eigentlich nur noch Geringschätzung übrig hatte. »Hast du denn überhaupt noch einen Schläger?«, wollte sie wissen.

Er zog den Schläger aus den hintersten Winkeln seines Kleiderschranks. Sogar ein Handtuch zauberte er hervor. Beides hing schlaff in seiner Hand, als er vor Sarahs Tür stand. Die tatsächliche Strecke vom Club quer über den Boulevard bis zu Sarahs Wohnungstür war erheblich weiter gewesen, als die zahlreichen Verbindungslinien nahelegten. Der Fußweg – ganz ohne Annehmlichkeiten wie Gehwege oder Ampeln, denn zum Zufußgehen war diese Stadt nicht gedacht – vom Parkplatz des JCC bis zum Südtor von Sarahs Siedlung hatte fast zwanzig Minuten gedauert, bei Höllenhitze, er verlief über einen Mittelstreifen, der mit verdorrten Rhododendronbüschen, aber nicht einem Baum bepflanzt war, und unterwegs hatten mehrere Autofahrer unabhängig voneinander angehalten, um David zu fragen, ob er Hilfe brauche. Zu Fuß gingen in dieser Stadt nur die Ärmsten der Armen oder die Opfer frisch begangener Verbrechen. Und als er endlich in Sarahs ausufernder, labyrinthischer Siedlung stand, war David ganz benommen – sie war riesig, fast eine eigene Stadt, und unbeschildert. Sarah war mit zwölf dorthin gezogen, zusammen mit ihrer Mutter, ihr fünfter Umzug in vier Jahren, aber der erste ohne ihren Vater. In dem Irrgarten aus Stellplätzen hatten sie und ihre Mutter sich erst dann nicht mehr verlaufen, als sie mit Kreide ein X auf das verblichene Holztor gemalt hatten, das den ihnen zugewiesenen Parkplatz von der Veranda hinter ihrem Haus trennte. Juli in ihrer Stadt: eine durchschnittliche Tagestemperatur von 36 Grad. Aus dem einzigen Hinweis, den David besaß – ihrer Wohnungsnummer –, hätte er niemals schließen können, dass sie sich am vom Club aus entgegengesetzten Ende der Siedlung befand, unweit des anderen Zugangs. Sarahs Wegbeschreibung vom Westeingang her hatte er sich nicht gemerkt, weil er ja wusste, dass er nicht von dort kommen würde. Sein Plan fußte darauf, zum Club gefahren zu werden, aber um ihr das zu erklären, hatte er sich zu sehr geschämt, zu sehr dafür geschämt, kein eigenes Auto zu haben, dabei hatten sie doch beide kein Auto, sie waren ja erst fünfzehn und noch ein Jahr von der offiziellen Fahrerlaubnis entfernt. Ihm kam gar nicht in den Sinn, dass sie die ungeheure Einschränkung, in dieser Autostadt keines fahren zu dürfen, ebenso sehr empfand. Es war Teil des quälenden Zwischenzustands, kein Kind mehr zu sein und doch keine der Befugnisse zu besitzen, wie die Erwachsenen sie genossen. Die »Straßen« der Siedlung waren überhaupt keine richtigen Straßen, sondern unermüdlich wuchernde Metastasen aus Lauf- beziehungsweise Fahrwegen; erstere waren durch Rabatten vor sich hin welkender Fleißiger Lieschen gekennzeichnet, letztere durch die angrenzenden Parkplätze. David brauchte mehr als eine Stunde, um Sarahs Wohnung zu finden. Er musste vier bis fünf Kilometer zurückgelegt haben. Eigentlich hatte er sich ausgemalt, sie in die Arme zu nehmen, so wie damals an dem Tag im Dunkeln, aber dann stand er nur wie festgewachsen an ihrer Schwelle, und sein sonnengesottenes Blut tanzte ihm in Flecken vor den Augen. Er fürchtete, dass ihm übel werden, dass er in Ohnmacht fallen könnte. Dann wehte ihn die Luft an, die sie seit der Kindheit teilten: diese ganz besondere Luft ihrer Stadt, muffig und kühl von ihrem endlosen Weg durch verborgene Ventilationsschächte, die kein Sonnenstrahl je erreichte. Egal, ob man ein Anwesen bewohnte oder eine kleine Backsteinschuhschachtel, die Luft roch immer gleich. David trat blindlings darauf zu. »Ich muss duschen«, brachte er heraus.

Durch seinen Vorwand war er gezwungen gewesen, Shorts, Kniestrümpfe, kindlich weiße Turnschuhe und ein sporttaugliches T-Shirt anzuziehen. Sarah war von dieser Aufmachung peinlich berührt. Sie fand ihn fremd darin, unattraktiv, auch wenn diese kleinliche Sichtweise nur schwach unter der harten Last ihrer Lust hervorlugte. Die Lust wiederum wurde von einer anderen, nie da gewesenen Emotion überstrahlt, dem Ansturm einer traurigen Zärtlichkeit, als hätte sich in dem Jungen für einen kurzen Augenblick der Mann gezeigt, der er einmal werden würde, voll unvermuteter Dunkelheit und Schwäche. Der Junge schob sich jetzt an ihr vorbei und schloss sich in ihrem Bad ein. Ihre Mutter absolvierte irgendwo lange Arbeitstage; Mutter und Tochter teilten sich dieses winzige, schäbige Bad, das so ganz anders war als jedes der vier Bäder bei David zu Hause. In diesem sonderbaren Reich duschte er jetzt mit einem glatten Stück Ivory-Seife, fuhr sich damit zwischen die Beine, seifte entschlossen jeden Millimeter ein, sorgsam und geduldig, denn er war ernsthaft verängstigt: Er hatte noch nie mit einem Mädchen geschlafen, das er liebte. Bisher hatte er mit zwei Mädchen geschlafen, und beide verflüchtigten sich jetzt aus seinen Gedanken. Seinen Gedanken, die sich allmählich weiteten, je mehr sich seine Körpertemperatur vom gefährlichen Siedepunkt entfernte. Er hatte die Dusche kühl eingestellt, fast schon kalt. Vorsichtig verließ er ihr Bad, ein Handtuch um die Taille geschlungen. Sie erwartete ihn in ihrem Bett.

Ihr Lehrer, Mr Kingsley, lebte mit einem Mann zusammen, den er als seinen Gatten bezeichnete; wenn er das sagte, zwinkerte er ihnen provokant zu. Es war das Jahr 1982, New York weit weg. Niemand unter ihnen, mit Ausnahme von Sarah, war je einem Mann begegnet, der einen anderen Mann als seinen Gatten bezeichnet und dabei provokant gezwinkert hätte. Niemand unter ihnen war je einem Mann begegnet, der jahrelang in New York gelebt, zur Broadway-Originalbesetzung von Cabaret gehört und, wenn er in Erinnerungen an diese Zeit schwelgte, von Joel Grey einfach als »Joel« gesprochen hätte. Und niemand unter ihnen, wiederum mit Ausnahme von Sarah, war je einem Mann begegnet, an dessen Bürowand, neben weiteren ebenso faszinierenden wie schlüpfrigen Erinnerungsstücken, das Foto einer ausgelassenen, spärlich bekleideten und stark geschminkten Frau hing, die die ausgebreiteten Arme weit nach oben reckte und, obwohl nicht die geringste Ähnlichkeit bestand, doch auf merkwürdige Weise an Mr Kingsley erinnerte, gerüchtehalber tatsächlich Mr Kingsley sein sollte, auch wenn das niemand so ganz glaubte. Sarahs Cousin, der Sohn der Schwester ihrer Mutter, war eine »Ledertunte«, wie Sarah ganz gelassen vor den tellergroßen Augen ihrer Mitschülerinnen und Mitschüler berichtete; dieser Cousin lebte in San Francisco, zog häufig Frauenkleider an, um darin Schnulzen zu schmettern, und versorgte Sarah ganz allgemein mit einem Zugang zu Mr Kingsleys Unbegreiflichkeiten, der ihren Altersgenossen gänzlich fehlte. So war sie David überhaupt aufgefallen: durch die Aura des Wissens, die sie umgab. Manchmal sah er sie mit Mr Kingsley lachen, und es wirkte, als lachten sie gemeinsam auf derselben entlegenen Ebene. Darum beneidete David sie, so wie alle anderen auch, und er wollte diese Ebene für sich annektieren.

1982 war niemand unter ihnen, mit Ausnahme von Sarah, je einem homosexuellen Menschen begegnet. Ebenso sah 1982 aber auch niemand unter ihnen in Mr Kingsleys Homosexualität etwas anderes als einen weiteren Beweis dafür, dass er allen übrigen Erwachsenen in ihrer Welt haushoch überlegen war. Mr Kingsley war unfassbar geistreich und manchmal unfassbar sarkastisch, die Aussicht auf ein Gespräch mit ihm so beängstigend wie elektrisierend; man sehnte sich danach, seinem Scharfsinn gerecht zu werden, und fürchtete zugleich, dass das gar nicht möglich sein würde. Selbstverständlich war Mr Kingsley schwul. Das richtige Wort dafür kannten sie noch nicht, empfanden aber instinktiv den entsprechenden Kitzel: Mr Kingsley war nicht nur schwul, er war ein Bilderstürmer, der erste, dem sie je begegnet waren. So etwas wollten sie auch selber sein, so wenig sie es noch in Worte fassen konnten. Alle waren sie Kinder, denen es bis dahin nicht gelungen war, sich anzupassen, oder denen es, bis hin zur tiefsten Verzweiflung, nicht gelungen war, eine Zufriedenheit zu empfinden, und so hatten sie, in der Hoffnung auf Rettung, den Anstoß zum Kreativsein mit beiden Händen ergriffen.

Seltsam passende Störungen und Erschütterungen kündigten das Ende des Sommers an. Von der Karibik her kroch der Hurrikan Clem auf sie zu und wirbelte durch die abendlichen Nachrichtensendungen. Sarahs Mutter nahm ihre Woche Urlaub, hockte zu Hause, musterte Sarah mit müdem Misstrauen und ließ sie die Fenster mit Kreppband verkleben und alle Krüge mit Wasser füllen. Sarah entwischte nur mit der Behauptung, sie müsse in die Bibliothek auf dem Campus des Colleges, ganz bei David in der Nähe. David und sie ließen sich weit voneinander weg absetzen und versehentlich auch noch weit weg von der Bibliothek, und als sie einander endlich gefunden hatten, fühlten sich beide irgendwie schlecht behandelt. In schwindelerregender Hitze wanderten sie über den sommerstarren Campus, vom einen Ende zum anderen, vergeblich auf der Suche nach einem Platz für sich und sogar zu erhitzt und entnervt, um sich an den Händen zu fassen. Hin und wieder fuhr ein Wartungsarbeiter in einem mit Planen und Sandsäcken beladenen Golfwägelchen an ihnen vorbei und beäugte sie. Studierende waren keine zu sehen. Alle Gebäude hatten geschlossen, einschließlich der Bibliothek. Mitten auf dem Asphaltmeer eines Parkplatzes stießen sie auf ein Football-Stadion, stumm und sonnenbleich stand es da mit seinen unüberdachten Tribünen, wie eine römische Ruine. Sie zwängten sich durch ein verbogenes Absperrgitter. Hinter einer Snacktheke, gleich unter der Popcornmaschine, auf zwei gefalteten Pappkartons, die nach ranzigem Fett rochen, ließ Sarah sich von David vögeln, den Mund an sein Ohr gedrückt, die Beine um seine Taille geschlungen, suchte sie mit den Händen Halt an seinem schweißglitschigen Rücken. Sein rhythmisch gequältes Keuchen brannte an ihrem Hals, als er kam. Sie kam zum ersten Mal nicht und fühlte sich alleingelassen. Zum Anziehen drehten sie sich voneinander weg. David machte keine Anstalten, die Abfallreste wegzuwischen, die ihr an den Beinen klebten, und sagte auch nichts, woraus Sarah hätte schließen können, dass sie lachen durfte. Während er mit den Schnürsenkeln seiner Turnschuhe kämpfte, wünschte er sich, er wäre nicht ohne sie gekommen. Er wünschte sich, er hätte sie nicht so angespannt unter sich spüren müssen, auf diesem Bett aus Pappkartons. Es war so ganz anders gewesen als die Male bei ihr in der Wohnung, wo sie ihr Bett, den Teppichboden in ihrem Zimmer und im Flur und sogar das Sofa und den Sessel im Wohnzimmer zur Verfügung gehabt hatten, um ihr Verlangen darauf auszubreiten, wo sie manchmal wie aus einem Traum auftauchten und über die neue Umgebung lachten, in der sie sich befanden, und er jeden Millimeter ihrer Haut mit den Lippen berührt, ihr die Zunge in die Möse geschoben und ihre beiden Hände ergriffen hatte, wenn sie sich aufbäumte und aufschrie, beide zugleich erschrocken und begeistert von ihrer Lust.

Wieder angezogen verließen sie den Campus, weil sie schon so nah am Rand gelandet waren, und stellten fest, dass sie sich auf dem Platz befanden, wo Sarahs französische Bäckerei lag. David sah ihr zu, wie sie in einem Laden, den sie mochte, Schmuck anprobierte, komisches, handgefertigtes Zeug aus ungeschliffenen Steinen. Als draußen vor dem Schaufenster der Toyota ihrer Mutter hielt, verschwand Sarah hastig und erlaubte ihm nicht, sie vor der Verkäuferin zu küssen. David blieb länger und ging mit einer kleinen, verschnürten Schachtel.

Erinnerungen an den unfassbaren Ereignisreichtum aus Zeit, Wandel und Emotion, zusammengepresst wie Schießpulver im Gewehrlauf. Erinnerungen an die Ausdehnung, die Zerstreuung, die Jahre innerhalb weniger Tage. Ihre waren endlos; ganze Leben erblühten und welkten zwischen Aufstehen und Mittagessen. Hurrikan Clem traf auf Land und verwandelte den Boulevard, den David zur Sommermitte überquert hatte, in einen reißenden braunen Fluss, der Autos vom Bordstein schluckte und Bäume auf den Kopf stellte. Der erste Schultag verschob sich um eine Woche und bestätigte ihren Verdacht, dass nicht nur ein Sommer, sondern eine Lebensspanne vergangen war. Sie konnten unmöglich immer noch fünfzehn sein. Und weil sie Schauspielerinnen und Schauspieler waren, führten sie den in diesem Alter natürlichen Ehrgeiz, die Altersgenossen mit sommerlichen Metamorphosen zu schocken, zu neuen Extremen. Chantal kehrte mit einem Afro in die Schule zurück. Norbert versuchte mit zweifelhaftem Erfolg, sich hinter einem Vollbart zu verstecken. Und die leidenschaftlichsten Mädchenfreundschaften waren irgendwie erloschen. Sarah wusste selbst nicht, warum sie am ganzen Körper starr wurde, als sie durch die Türen der Black Box kam und Joelle Cruz quietschend auf sie zu rannte. Vergangenes Frühjahr hatte sie praktisch bei Joelle gewohnt. Joelles ältere Schwester, Martine, ging auch auf die Schule, und Sarah hatte deutlich weniger Nächte zu Hause verbracht als zusammen mit Joelle auf dem Rücksitz von Martines siffigem Wagen, mit dem sie herumkurvten, immer auf der Suche nach Alkohol, Drogen oder einem Türsteher, der auf ihre gefälschten Ausweise hereinfiel. Joelle hatte Sarah ans Koksen herangeführt, an die Rocky Horror Picture Show und daran, Ballerinas zur Jeans zu tragen; jetzt ekelte allein ihr Körper Sarah regelrecht an. So feucht und rosa. Sarah konnte Joelles Achselhöhlen riechen. Ihr kam es nicht vor, als würde sie sich groß anders verhalten; sie war nur anders. Sie ließ Joelle nicht abblitzen. Sie sprach auch nicht kühl mit ihr. Trotzdem: Sie hatte sich verändert. Sie war nicht mehr Joelles Freundin. Das schien ihr so gottgegeben, den völlig neuen Umständen des zweiten Highschool-Jahrs so eingeschrieben, dass sie überzeugt war, Joelle wisse es ebenfalls, führe es womöglich sogar selbst herbei, ganz unverhohlen aktiv, sodass Sarah bloß darauf reagieren musste.

Dabei war selbst Joelles Bedeutungslosigkeit für Sarah bedeutungslos, noch während Joelle vor ihr stand und auf sie einredete. Für Sarah war nichts von Bedeutung, außer David. Sie malte sich aus, wie das Einvernehmen ihr aus ihm entgegenblitzen würde wie ein Spiegel. David und sie waren, nur zu zweit, bereits so weit vorausgereist; sie waren längst hinter dem Horizont verschwunden, hatten ihr Schul-Ich beide zurückgelassen. An den abgeworfenen Häuten hielten sie nur noch zur Tarnung fest. Für Sarah war es selbstverständlich, dass der Sommer ihr Geheimnis bleiben würde, wie ein Olymp (hätte sie damals schon gewusst, was das war), auf dem sie göttergleich miteinander flüsterten. Ihr war gar nicht eingefallen, das mit David zu besprechen. Sie ging davon aus, dass er es längst wusste.

David stürmte die Black Box nicht wie ein sanfter Spiegel, sondern wie ein Scheinwerfer, der heiß und grell auf sie niederging, die schlackernden Arme hielt er leicht angewinkelt. Er verbarg etwas, das er im Versuch, es zu verstecken, umso mehr ausstellte, flankiert von den Mitschülerinnen und Mitschülern, die wie Staubflusen an seinem Charisma klebten. Ehe Sarah sich versah, hielt sie eine kleine Geschenkschachtel mit Schleife in der Hand, und alle starrten sie an.

Colin krähte: »David kniet gleich nieder!«

»Wenn du dich sehen könntest, rot wie eine Tomate!«, lachte Angie.

»Mach schon auf, Sarah«, bettelte Pammie.

Sarah drückte ihm das Schächtelchen wieder in die Hand. »Ich mach’s später auf.«

»Mach es jetzt auf«, drängte David. Vielleicht waren Colin, Angie, Norbert und Pammie und all die anderen, derer sich Sarah auf so groteske Weise bewusst war, für ihn ja unsichtbar, und er hörte gar nicht, was sie sagten. Das flackernde Bild, sie ganz allein im Herzen seines Blicks, hielt sich kaum einen Moment. Ihr kam es wie eine Mutprobe vor, wie ein Test, dass ihn das Publikum ringsum so gleichgültig ließ. Und gegen diesen zornigen Gedanken half es auch nicht, dass sein Kopf genauso heiß und gerötet aussah wie ihrer; war ihr Gesicht rot wie eine Tomate, so war seins rot wie eine Feuersbrunst, er hatte lauter hektische Flecken entwickelt, die sich mit seinen spärlichen Jungsbartstoppeln mischten und Chaos in seinem Gesicht säten.

»Ich mach’s später auf«, sagte sie, und da kam auch schon Mr Kingsley herein und wedelte mit beiden Armen hoch über dem Kopf, um zu signalisieren, dass so ein Wiedersehen zwar eine großartige Sache sei, sie aber jetzt bitte schön die Klappe halten und ihre Plätze einnehmen sollten.

David landete zwei Reihen hinter Sarah; sie brauchte gar nicht hinzusehen, um genau zu wissen, wo er war. Den Blick stur geradeaus, brannte das Gefühl von Unrecht in ihr. Von ihr begangen oder ihr zugefügt? Sie würde den Kopf nicht drehen, nicht zu ihm hinsehen, wie sehr er sie auch stumm darum beschwor. In beiden tobte das Adrenalin mit seiner dunklen, dringlichen Warnung. Nur Minuten zuvor war David durch die breite Flügeltür marschiert, vielmehr gehüpft, vielmehr im Silly Walk gelaufen, weil ihm so leicht ums Herz war, denn nun konnte er endlich in der Rolle ihres festen Freunds auf die Bühne treten. Und Sarah in der seiner festen Freundin. Diese Rollen waren David heilig; keine wollte er lieber spielen. Wen juckte da noch Hamlet? Er hatte befürchtet, das Schächtelchen wäre vielleicht zu klein und sie vielleicht enttäuscht, ein Geschenk zu bekommen, das sie mit einer Hand umschließen konnte. Aber wenn sie es dann öffnete, würde die silberne Kette sich entrollen, der blaue Stein würde in der Kuhle unten an ihrem Hals zu liegen kommen, die er so liebte. Und etwas wie sein eigenes Strahlen würde auch ihr entströmen – nicht die Angst, nicht die Abscheu, die er gesehen hatte. Oder Scham? Für ihn, das stand fest.

David mühte sich, die Schachtel irgendwo außer Sichtweite zu verstauen. Er musste sie in seinen Spind bringen, sie zerstören, die unerträgliche Beule, die sie vorn an seiner Jeans entstehen ließ, war ein Witz. Für David hieß Lieben sich offenbaren. War das nicht der einzige Sinn? Für Sarah hieß Lieben ein Geheimnis teilen. War das nicht der einzige Sinn? Die ganze Unterrichtsstunde über spürte Sarah Davids Blick auf sich und verhielt sich vollkommen still, hielt ihn fest mit ihren Gedanken. Jahre danach, in einer Zukunft, in der sie nur noch in Bühnenhäuser gehen wird, um Teil des Publikums zu sein, wird Sarah einmal ein Stück sehen, in dem jemand fragt: »Kann es denn keine stumme Sprache geben?«, und staunen, weil ihr Tränen in die Augen treten. Zwei Reihen vor David, unter Qualen bemüht, sich vollkommen ruhig zu verhalten, damit sein Blick nicht wie eine Motte von ihrem Nacken auffliegt, sind Sarah die Worte dieser Sprache, die keine Worte hat, noch nicht geläufig. Sie wird nicht begreifen, was es heißt, wenn David nicht mehr in dieser Sprache mit ihr redet.

»Die Rekonstruktion des Egos«, sagte Mr Kingsley, »verlangt ein Fundament. Nun, meine herzallerliebsten Sophomores: ein Jahr älter und klüger als bei unserer ersten Begegnung. Was für ein Fundament könnte das wohl sein?«

Sie wollten ihm unbedingt gefallen. Aber es fand sich nie eine klare Antwort darauf, wie das gehen sollte. Das Richtige sagen? (Aber was konnte das sein?) Bewusst etwas Falsches, dafür aber Lustiges sagen? Auf seine Frage mit einer Gegenfrage antworten, wie er es oft mit ihren Fragen machte?

Pammie meldete sich, eifrig und hoffnungsfroh. »Bescheidenheit?«

Er lachte sie ungläubig aus. »Bescheidenheit! Erklär mir doch mal, wie du das meinst, und sei bitte bloß nicht bescheiden dabei. Protze mit deinen Überlegungen, Pammie, vielleicht gelingt es mir dann ja, ihnen zu folgen.«

Pammies rundliches Gesicht errötete bis an die von goldenen Haarspangen gekrönten Haarwurzeln. Aber sie besaß eine seltsame Sturheit, die Fähigkeit, auf ihrem Standpunkt zu beharren und ihn zu verteidigen. Sie war gläubige Christin, eine Neigung, die jenseits der Mauern ihrer Schule nichts Besonderes war, diesseits aber auf wenig Unterstützung, sogar auf Spott stieß, und im letzten Schuljahr war es ihr zur Gewohnheit geworden, sich zu rechtfertigen. »Menschen mit zu viel Ego sind eingebildet«, sagte sie. »Bescheidenheit ist das Gegenteil von Arroganz.«

»Eins muss ich doch noch einmal klarstellen: ›Zu viel‹ Ego gibt es nicht – solange wir Kontrolle darüber haben.«

Kontrolle über das eigene Ich: Sie fürchteten alle, die nicht zu haben. Sarah, zum Beispiel. Anfang des Jahres hatte sie ihre Mutter gebeten, einen Antrag auszufüllen, um ihr eine Härtefallbewilligung zu verschaffen, eine Fahrerlaubnis für Jugendliche ab vierzehn, die diese benötigten, um ihre Eltern finanziell zu unterstützen, was Sarah für sich in Anspruch nahm und ihre Mutter damit vollends aufbrachte. Während des folgenden Streits hatte Sarah mit einem Küchenstuhl das Glas der Schiebetür zur hinteren Veranda zertrümmert, die Reparatur hatte sie ihren Bäckereiverdienst des gesamten Sommers gekostet. »Und du glaubst, du kannst Auto fahren«, kommentierte ihre Mutter.

Oder David, zum Beispiel. An dem Tag, als Sarah ihm die Schachtel zurückgab, hatte er sie mit nur einer Hand zerquetscht und sich dabei die Handfläche verletzt. Als sie später ankam und fragte: »Kann ich’s jetzt aufmachen?«, hatte er erwidert: »Ich glaube, ich weiß nicht, was du meinst.« Ob diese Beispiele nun von Selbstkontrolle zeugten oder von einem Mangel daran, war ihm nicht so ganz klar.

»Das Fundament, das wir zur Rekonstruktion des Egos benötigen, ist die Dekonstruktion des Egos«, schloss Mr Kingsley. Davon hatten sie alle schon vergangenes Jahr gehört, von den damaligen Sophomores und jetzigen Juniors, die ununterbrochen von diesem geheimnisvollen Vorgang redeten, ohne auch nur das kleinste Detail preiszugeben. »Wenn’s soweit ist, werdet ihr schon sehen.« »Ihr seid noch Freshmen! Versucht mal nicht, die unteren Sprossen der Leiter auszulassen.« »Meines Wissens kann man keine Brücke überqueren, wenn man in der Mitte anfängt.« Die damaligen Sophomores und jetzigen Juniors waren ein reichlich exaltierter, verschworener Haufen und offenbar mit einer besonderen Aura gesegnet, die den jetzigen Sophomores fehlte und nicht nur auf dem Altersvorsprung beruhte. Die damaligen Sophomores und jetzigen Juniors waren auch fotogener, einzeln und als Gruppe. An dieser Schule ohne Sportschwerpunkt wirkten sie wie ein Cheerleader-Corps. Ihre Kleidung war aufeinander abgestimmt, ihre Zähne waren gerade und weiß. Sie hatten sich früh und dauerhaft zu Paaren zusammengefunden, und die einzige Ausnahme, Brett und Kayley – die Saga von ihrem Zerwürfnis, Schmerz und freudigem Aussöhnen innerhalb weniger Wochen des vergangenen Schuljahrs war von der gesamten Schule mit einem Eifer verfolgt worden, wie er sonst nur Seifenopern vorbehalten blieb –, war eine von der Art, die die Regel bestätigt. Die wenigen damaligen Sophomores, die unverbandelt blieben, wurden exklusiv beigeordnet, als fünftes Rad am Wagen oder beste Freundin/bester Freund. Es gab keine Einzelgänger wie Manuel und auch keine hoffnungslosen Loser wie Norbert. Es gab niemanden wie Sarah, die das schreckliche Geheimnis hütete, dass sie während der Brett-und-Kayley-Pause einmal eine Nacht mit Brett in der Eigentumswohnung von dessen Vater verbracht hatte, in deren Verlauf er nur über Kayley geredet und geweint und irgendwann das Knutschen mit Sarah unterbrochen hatte, um sein gesamtes Bettzeug aus dem Fenster zu werfen. Nachdem Kayley und er sich wieder versöhnt hatten, packte Brett Sarah im Kulissendunkel bei den Proben für eine Talentshow am Handgelenk und zischte ihr zu: »Erzähl das bloß keinem!« Und sie hatte solche Angst vor dem Makel, den sie für sein Image darstellen könnte, dass sie nicht einmal David davon erzählt hatte.

Wobei David sich jetzt wegdrehte, wenn er sie kommen sah. Begegneten sie sich, was unvermeidbar war, im Unterricht, starrte er sie nur kalt an, und Sarah starrte noch viel bitterkälter zurück, sie wetteiferten darum, die Kälte aufzuhäufen, die sie sich wutentbrannt aus dem Herzen schaufelten.

»Bilden wir einen Kreis«, sagte Mr Kingsley.

Wie schon so oft waren sie sich alle unangenehm ihres Unterleibs bewusst, als sie sich im Schneidersitz niederließen und ihnen vom Kontakt mit dem eiskalten Linoleum der Hintern taub wurde. Fast alle waren sie im Stillen schon zu dem Schluss gekommen, dass die De- und Rekonstruktion des Egos eine Art nicht-fleischliche Orgie werden würde, und erröteten jetzt wehrlos, spürten das Kribbeln von Erregung und Angst auf der Haut. Die Spiegelwand verdoppelte ihren Kreis, um den Mr Kingsley seine Umlaufbahn zog. Sein Blick war auf etwas jenseits von ihnen gerichtet. Dieser Blick allein sprach ihnen nur allzu deutlich davon, wie weit sie zurückblieben hinter … den letztjährigen Sophomores? Ihrem eigenen Potenzial? Den Schauspielerinnen und Schauspielern, die er noch aus New York kannte? Weil sie nicht einmal die Maßeinheit erahnen konnten, empfanden sie ihre Defizite nur umso intensiver. Sarah versuchte, David zu erspähen, aber er hatte sich so dicht rechts oder links neben sie gesetzt, dass sie ihn nicht sehen, und doch weit genug weg von ihr, dass sie ihn auch nicht spüren konnte. Würde David auserwählt werden? Würde Sarah auserwählt werden?

»Joelle«, raunte Mr Kingsley mit mahnend-bedauerndem Unterton. Es grenzte an Trauer über ihr Versagen, aber was hatte Joelle schon getan? Sie war das ganze Jahr über rosig, und die gesammelten Sonnenbrände des Sommers ließen sie fleckig aussehen und sorgten dafür, dass sie sich schälte, im ganzen Gesicht, bis hinunter zu ihrem von einem engen Top mit V-Ausschnitt weithin freigelegten Dekolleté. Die frische, verwundbar rosige Haut wurde jetzt knallrot, als ihr Name ertönte; es schien, als raschelten all die toten, halb abgeschälten, ringeligen Hautfetzchen vor Angst. Sarah fand sie äußerlich ekelerregend. »Joelle, stell dich bitte genau in die Mitte unseres Kreises. Du bist das Zentrum. Von dir verlaufen unsichtbare Linien zu jedem einzelnen deiner Klassenkameraden. Das sind die Speichen. Zusammen mit diesen Speichen bildet ihr ein Rad, deine Klassenkameraden und du. Und du, Joelle, bist die Radnabe.«

»Okay.« Joelle errötete heftig, unter ihrer Haut pochte eine Fontäne aus Blut.

»Jetzt möchte ich, dass du dir eine Speiche aussuchst. Diese Speiche blickst du in ganzer Länge entlang. Am anderen Ende ist jemand. Ein Mensch, mit dem dich diese Speiche verbindet, sie verläuft durch dich und diese andere Person. Wer ist der Mensch, den du da anschaust?«

Auf einmal ist das Linoleum nicht mehr kalt. Bitte nicht, wird es Sarah klar, sie blickt direkt auf Joelles Körpermitte, ihren weichen Bauch, der sich unter dem engen Top verbirgt.

»Ich schaue Sarah an«, sagt Joelle heiser, fast ist ihre Stimme ein Flüstern.

»Sag ihr, was du beobachtest.«

»Du hast den ganzen Sommer nicht angerufen«, bringt Joelle gepresst heraus.

»Weiter«, sagt Mr Kingsley, sein Blick ist kilometerweit entfernt; er sieht nicht einmal in Joelles Richtung. Vielleicht nutzt er ja den Riesenspiegel, um Joelles flammende Haut, die glitzernden Augen, das zu enge Top aus dem Augenwinkel zu beobachten.

»Ich hab bei dir angerufen, und du hast nie zurückgerufen, und, also, vielleicht liegt’s ja an mir, aber das ist, ich fühle mich wie …«

»Steh zu dem, was du fühlst, Joelle!«, kläfft Mr Kingsley.

»Wir waren beste Freundinnen, und jetzt tust du so, als würdest du mich gar nicht kennen!« Der erstickte Schmerz in Joelles Stimme ist viel schwerer zu ertragen als ihre Worte. Sarah ist stocksteif, eine Statue, blindlings starrt sie auf die Wand gegenüber mit der Tür hinaus auf den Gang, als könnte sie sich durch reine Willenskraft aus dem Raum befördern, aber dann ist es plötzlich Joelle, die abhaut: Sie stolpert geradewegs durch den Kreis, trampelt Colin und Manuel regelrecht nieder, sie reißt die Tür auf, lässt ein Jaulen hören und verschwindet den Gang entlang. Hinter ihr hält alles den Atem an, niemand blickt woandershin als zu Boden, niemand schaut auch nur flüchtig zu Sarah. Das Leben steht still. Unvermittelt fährt Mr Kingsley zu Sarah herum.

»Was machst du denn?«, faucht er, und Sarah zuckt erschrocken zusammen. »Geh ihr gefälligst nach!«

Sarah rappelt sich hoch und zur Tür hinaus, sie kann sich die Gesichter, die sie zurücklässt, nicht vor Augen rufen, nicht einmal das von David. Sie kann auch nicht herausfinden, wo im Kreis er sitzt.

Die Schulgänge sind leer, der rutschige, schwarz-weiße Boden mit seinem Schachbrettmuster schlägt barsch gegen die harten Sohlen ihrer Stiefel. Ihre Punkerinnenstiefel, mit grausamer Spitze, Metallabsätzen und je drei großen quadratischen Silberschnallen. Hinter den geschlossenen Klassenzimmertüren im Westflur dämmern sich Freshmen und Juniors durch ihre Pflichtfächer, Englisch und Algebra, Sozialkunde und Spanisch. Aus dem Süd- und dem Ostflur ist das wahre Leben der Schule zu vernehmen: Die Jazzband plänkelt sich durch Duke Ellington; im Ballettsaal tänzeln die Finger des einsamen Pianisten über die Tasten, dazu das Trommeln blutiger, verbundener Füße. Der Raucherhof ist verlassen, auf seinen sonnenbleichen Bänken finden nur die Früchte der riesigen Lebenseiche Platz. Auch der Freiluftklassenraum, ein ummauertes Rasenrechteck mit einem Podium an einem Ende, ist leer, das Tor zur Straße hin mit einem Vorhängeschloss versperrt. Sarah will David und nicht Joelle an diese verschwiegenen Orte beschwören, David auf der verlassenen Raucherbank, David unter der Eiche. Der Hinterausgang führt auf den hinteren Parkplatz, wo die Schülerinnen und Schüler ihre Autos abstellen und bei schönem Wetter auch ihr Mittagessen auf den Kühlerhauben verzehren. Draußen hinter den Türflügeln steht Joelle, vornüber gekrümmt, vom Schluchzen geschüttelt. Aus einer Faust schaut der Schlüssel zu ihrem Mazda; offensichtlich hat sie vor, mit dem Auto zu flüchten, aber der Schmerz macht sie langsam. Es handelt sich um den nagelneuen, raketenschnellen kleinen Mazda, den Joelle bar bezahlt hat – mehr als zehntausend Dollar in bar, einmal hat sie Sarah das Geld gezeigt, in eine Kaffeedose unter ihrem Bett gestopft. Sarah hatte keine Ahnung, wo das Geld herkam. Drogenverkäufe, vermutete sie; vielleicht aber auch etwas anderes. Joelle fährt den Wagen jeden Tag bis zum Haus einer Freundin, ein paar Straßenecken vor ihrem Elternhaus, und geht dann den Rest des Wegs zu Fuß, damit ihre Eltern ihn nicht sehen. Joelle ist nicht komplex, sondern schlicht, nicht düster, sondern ein Sonnenschein, und trotzdem führt sie das weitreichende Doppelleben einer Berufsverbrecherin, das hat Sarah früher fasziniert. Jetzt wirkt Joelle regelrecht nackt, auf ihren Kern reduziert. Sie ist ein Partygirl, mehr nicht, übertrieben erpicht darauf, gemocht zu werden. Die Erkenntnis erschreckt Sarah, nicht, weil sie so lieblos wäre, sondern weil, wie sie plötzlich weiß, es genau die Sorte Erkenntnis ist, die Mr Kingsley ihnen ständig entlocken will. Vergangenes Jahr lief er ungeduldig auf und ab, als sie einander in BEOBACHTUNG Dinge sagten wie: »Du bist wirklich ein nettes Mädchen« oder »Ich finde dich attraktiv«. Jetzt aber, auch das weiß Sarah, entfaltet sich eine Geschichte, in die das, was sie wirklich fühlt, nicht passt. Von ihr wird erwartet, Joelle zu umarmen, es wiedergutzumachen. Das weiß sie so sicher, als stünde Mr Kingsley neben ihr, um das Ganze zu überwachen. Sie hat das starke Empfinden, dass er tatsächlich hier ist.

Joelle, frühreif üppig und stark riechend, verkörpert so selbstvergessen das Fleischliche, dass Sarah ihre eigene, bewusste Fleischlichkeit mit einem Mal verabscheut, mitsamt ihrem eigenen Körper, ihrem eigenen Geruch. Joelles riesige Brüste sind voller Sommersprossen, die eingequetschten Falten und Furchen ständig schweißnass; ihr Unterleib, von der Jeans umschlossen, zieht ein Geruchsbanner hinter sich her wie eins dieser klebrigen Nachtgewächse, die im Urwald die Fledermäuse anheizen. Joelle schläft mit viel älteren Männern; die Jungs in der Schule ignoriert sie, als wären sie nicht einmal auf dem Weg zum Mann. Sie hat nur Augen für Sarah.

Mit halb geschlossenen Lidern, fast schon mit zusammengebissenen Zähnen, nimmt Sarah Joelle in den Arm. Joelle hält sie dankbar umklammert, durchtränkt ihr die Schulter mit Tränen und glitschigem Rotz. Auch das ist Selbstkontrolle, denkt Sarah. Das Ich so brutal in die Aktion zu zwingen. Bis jetzt hat Sarah geglaubt, nur Beherrschung sei Selbstkontrolle: den Stuhl eben nicht durch die Scheibe schleudern.

»Tut mir echt leid«, hört sie sich nuscheln. »Ich bin einfach gerade ziemlich daneben. Ich wollte nicht auf Distanz gehen. Es war nur alles total der Wahnsinn …«

»Was war denn los? Ich hab doch gewusst, dass bei dir was nicht stimmt. Ich hab’s gewusst …«

Und schon ist der Schwindel perfekt. Sarah wollte sich niemandem anvertrauen, und falls doch, dann auf keinen Fall Joelle. Aber jetzt, als würde sie aus einem Drehbuch lesen, erzählt sie Joelle von dem Alibi-Racquetball-Schläger, von der verlassenen Imbisstheke. Nach erfolgter Beichte ist sie wieder im Besitz von Joelles ganzer Hingabe. Joelles Schluchzen wird zu Heiterkeit, ihr jämmerliches Flehen zu Entzücken. Jetzt klammert sie sich nicht mehr an Sarah, weil der Schmerz sie schwächt, sondern vielmehr, um nicht ausgelassen über den Gehweg zu kugeln. Und nachdem Sarah nun das, was ihr am meisten bedeutet, entweiht hat, um sich eine Freundschaft zurückzukaufen, an der ihr nichts mehr liegt, weiß sie, dass es im Grunde egal ist, als sie Joelle zu einem »Stillschweigen« verpflichtet, das Joelle endgültig in Verzückung versetzt. Joelle hat sich praktisch wie eine Schlingpflanze um Sarah gewunden, als sie zurück Richtung Klassenzimmer stolpern und fast buchstäblich in David hineinlaufen, denn sie waren so lang draußen, dass die Stunde nun vorbei ist, und David ist als Erster aufgesprungen, um zu entkommen. Als Joelle ihn sieht, prustet sie los und hält sich die Hände vors Gesicht. David drängt sich rüde an Sarah vorbei, und Sarah spürt, wie sich unter ihrer Haut Feuer entzünden. Mr Kingsley, auch er auf dem Weg nach draußen, sagt, als wäre es ihm gerade eingefallen: »Sarah, komm doch morgen in der Mittagspause zu mir ins Büro.«

Nicht einmal David auf seiner Flucht entgeht diese Order, und ihm entgeht auch nicht, was sie bedeutet. Selbst Joelle, die den kompletten Austausch mit Sarah so grob missverstanden hat, begreift, was Mr Kingsleys Order bedeutet. Mit schwesterlichem Neid drückt ihre heiße Hand Sarah noch fester. Sarah ist zu just dem Problem geworden, das sie alle gern wären.

»Das war gestern sehr lieb von dir«, hob Mr Kingsley an, nachdem sich die Tür mit vernehmlichem Klacken hinter ihr geschlossen hatte. Er hatte auf den Sessel gedeutet, in den sie sich setzen sollte, und vielleicht war es ja das ungewohnte Gefühl, in einem Sessel in seinem Büro zu sitzen, das sie zu der sofortigen Erwiderung veranlasste: »Lieb wollte ich gar nicht sein.« Sie war sich des gefährlichen Drangs bewusst, sich mit ihm anzulegen.

»Warum denn nicht?«, fragte Mr Kingsley.

»Ich fühle mich Joelle einfach nicht mehr nahe. Und nach allem, was Sie uns beigebracht haben, fand ich, ich sollte auch zu dem stehen, was ich fühle. Aber gestern kam es mir vor, als wäre es egal, wie ich mich fühle.«

»Inwiefern?«

»Sie wollten, dass ich ihr nachgehe und sie tröste und ihr erzähle, wir wären immer noch die besten Freundinnen. Das habe ich auch gemacht. Und jetzt muss ich immer weiter lügen, weil sie glaubt, wir wären wieder beste Freundinnen.«

»Wie kommst du denn darauf, dass ich das wollte?«

»Sie haben mir doch gesagt, ich soll ihr nachgehen!«

»Ja, aber mehr auch nicht. Ich habe nicht gesagt, du sollst sie trösten. Ich habe nicht gesagt, du sollst lügen und behaupten, dass ihr immer noch Freundinnen seid.«

»Was hätte ich denn sonst machen sollen? Sie hat geweint. Ich hatte ein schlechtes Gewissen.« Jetzt weinte auch Sarah, obwohl sie sich geschworen hatte, es nicht zu tun. All der Zorn, den sie mit in dieses Büro gebracht hatte, verwandelte sich in Tränen. An der Ecke von Mr Kingsleys Schreibtisch, die ihrem Sessel am nächsten war, stand eine Packung Kleenex, als säßen dort, wo sie jetzt saß, häufig Menschen und weinten, ob nun aus Zorn oder anderen Emotionen. Sie zog ein paar Taschentücher heraus und putzte sich die Nase.

»Du solltest in dem Moment bei ihr sein, beharrlich und ehrlich. Und genau das hast du getan.«

»Ich war aber nicht ehrlich. Ich habe gelogen!«

»Und du bist dir deiner Lüge bewusst und weißt, aus welchem Grund du sie erzählt hast. Du warst in diesen Umständen präsent, Sarah. Präsenter als Joelle.«

Dass es womöglich als unehrliches Verhalten seitens Mr Kingsleys gewertet werden konnte, wenn er Sarahs Klassenkameradin derart vor ihr herabsetzte, kam Sarah in dem Moment gar nicht in den Sinn. Seine Bemerkung schien in mancher Hinsicht wahr zu sein, und für den Augenblick versiegten ihre Tränen. »Ich verstehe aber immer noch nicht, wieso ich mit einer Lüge dem treu bleibe, was ich fühle, außer Sie meinen, dass es wichtiger ist, jemanden zu trösten, als die Wahrheit zu sagen.«

»Das meine ich keineswegs. Ehrlichkeit ist ein Prozess. Zu den eigenen Emotionen stehen ist auch ein Prozess. Es heißt nicht, dass man alle anderen rücksichtslos niedertrampeln soll. Aber du würdest bestimmt nicht hier sitzen und mich wegen des Vorfalls gestern angehen, wenn du kein integrer Mensch wärst.« Sarah spürte ein wachsames Kribbeln, als sie ihn sagen hörte, sie würde ihn »angehen«. Damit war sie offensichtlich auf dem richtigen Weg. »Und auf diese Integrität in dir setze ich auch, wenn im Frühjahr die Austauschklasse aus Großbritannien kommt«, fuhr er fort. »Sie werden jemanden wie dich zur Orientierung brauchen.«

Diese zukunftsweisende Rolle als Anführerin erschien Sarah sehr viel weniger real als die aktuellen Krisen. »Mir kommt’s vor, als würde ich jetzt selbst in der Falle sitzen, weil ich ihr gesagt habe, wir wären noch Freundinnen.«

»Du wirst schon wieder rausfinden.«

»Und wie?«

»Ich sagte, du wirst wieder rausfinden.«

Daraufhin heulte Sarah mit frischer Kraft los, so lange, bis sich schließlich der Eindruck eines ungewohnten Luxus in ihr breit machte. Meistens weinte sie allein, ganz selten einmal vor ihrer Mutter, aber immer mischte sich auch Ungeduld in den Schmerz. Ihre eigene Ungeduld, die ihrer Mutter, weil Sarah weinte. Aber Mr Kingsley schien immer vergnügter und geduldiger zu werden, je mehr sie weinte. Er saß mit gütigem Lächeln da. Eingelullt von seiner Geduld, war sie in Versuchung, ihm den wahren Grund für die Tränen zu erzählen, aber als sie daran dachte, musste sie viel zu sehr weinen, um noch ein Wort herauszubringen, und schließlich hatte sie so viel geweint und nachgedacht, dass sie sich fühlte, als hätte sie tatsächlich von David erzählt, vielleicht sogar einen Rat bekommen, was sie tun sollte, und ein seltsamer Friede kam über sie, vielleicht war es auch nur Erschöpfung. Mr Kingsley lächelte immer noch gütig. Er wirkte zunehmend zufrieden.

»Erzähl mal von deinem Leben nach der Schule«, sagte er, als ihr flackernder Atem wieder ruhig ging.

»Wie? Ähm. Ich wohne mit meiner Mutter in der Windsor-Siedlung.«

»Wo ist die denn?«

»Die kennen Sie nicht? Oh Gott, das ist so ungefähr die größte Wohnsiedlung auf der ganzen Welt. Jedes Haus, jeder Parkplatz und jeder Baum sehen gleich aus. Im ersten Jahr, als wir da wohnten, haben wir uns auf dem Heimweg jedes Mal verlaufen. Irgendwann mussten wir mit Kreide ein X an unser Törchen malen.« Darüber musste er lachen, und in ihr quoll die Freude.